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Eigentlich war Rakel an allem schuld, aber das wusste sie natürlich nicht.

Fräulein Rakel tat dasselbe wie jeden Sonntag.

Sie wachte auf.

Duschte.

Fühlte sich schuldig, dass sie erst eine Stunde nach dem Aufwachen an Gott dachte. Sofort widmete sie eine Viertelstunde der Selbstkasteiung und beklagte ihre Unwürdigkeit vor Gottes Liebe.

Für eine Person wie Rakel hätte es sich gehört, mit Glanz und Gloria aufzuwachen. Oder zumindest in geistiger Ruhe, mit Dankbarkeit im Herzen. Aber das war nicht der Fall. Immer öfter war es wie an diesem Sonntag: aufwachen, duschen, Kaffee trinken und plötzlich bemerken, dass man Gott vergessen hatte. Schlechtes Gewissen.

Rakel war Theologiestudentin. Rakel wollte Pastorin werden.

Doppelt so schlechtes Gewissen.

Das zumindest beherrschte sie ausgezeichnet, was sie als Zeichen eines intakten – wenn auch unvollkommenen – Glaubens interpretierte. Eine Viertelstunde Selbsterniedrigung war demnach angemessen.

Rakel ließ sich auf der Küchenbank nieder und schlug die Sonntagszeitung auf. Noch zwei Stunden bis zum Gottesdienst, dort würde sie eine ganze Stunde lang nur an Gottes Herrlichkeit denken. Also Schluss mit dem dummen Zeug – der Herr will ja, dass wir uns selbst lieben. Sie trank ihren Kaffee und las die Zeitung. Schluss mit dem schlechten Gewissen.

Ja, Rakel war ein seltsamer Typ.

Aber das sah man ihr nicht an. Nein, nach außen war sie ein gewöhnliches graublondes Mädchen mit blassblauen Augen und verdrießlicher Miene. Eine graue Maus.

Ihr Haar war stets von einem braunen oder weißen Haarreif zurückgehalten, die rahmenlose Brille so sauber geputzt, dass man sie auf der geraden, nichtssagenden Nase kaum bemerkte, und die Lippen waren chronisch zusammengepresst (das Fräulein schämte sich für seine Vorderzähne).

Rakels Kleider passten sich in Grau und Beige dem Farbton ihrer Haare an, sie trug immer vernünftige braune Schuhe, und wie es sich für eine zukünftige Pastorin gehörte, bestand ihr einziger Schmuck aus einem bescheidenen goldenen Kreuz an einer kaum sichtbaren Halskette. Ein schlichter Ehering mochte eines Tages dazukommen, aber das war alles.

Minutiös pflegte das Mädchen diesen anspruchslosen Stil, denn sie dachte, dass er ihren Glauben stärke. Das schlechte Gewissen nagte nämlich ununterbrochen an ihr. Sie wusste sogar, woher es kam, offenbarte sich aber niemandem.

Fräulein Rakel gehörte nicht zu den Berufenen.

Doch, sie glaubte fest an Gott, aber sie hatte kein grenzenloses Vertrauen, konnte sich nie ganz in seine Arme fallen lassen. Er hatte nie zu ihr gesprochen, und in ihrer Brust brannte nicht jene Hingabe, die sie auf die heilige Bahn gezwungen hätte.

Rakel mochte Gott und die Kirche. Sie mochte das Christentum, und sie mochte Jesus. Und Rakel wollte anders sein. Ihr Glaube sollte den Leuten Respekt einflößen, damit man sie in Ruhe ließ.

Wenn sie Medizin oder Journalistik studiert hätte (was sie als Alternativen zur Theologie erwogen hatte), wäre der Glaube zweifelsohne ein Klotz an ihrem hübschen Bein geworden. Es war nicht leicht, zwanzig zu sein und gleichzeitig so überzeugte Christin, wie sie es trotz allem war. Säkularisierte Menschen – die meistverbreitete Sorte – schienen jungen und intelligenten Frauen, die den Weg des Glaubens gingen und nach den Zehn Geboten lebten, aus irgendeinem Grund zu misstrauen. Spätestens seit ihrer Konfirmation hatte Rakel sich damit abgefunden, dass die Mitmenschen sie schräg ansahen. Seltsam, wo sie doch in allen anderen Dingen sooo vernünftig war.

Der Rest der Welt – einschließlich der einzigen Familienmitglieder, die sie noch hatte, eine Tante und zwei Cousinen – betrachtete sie als eine Art Einstein, der gerade bemerkt hatte, dass er das Alphabet nicht fehlerfrei aufsagen konnte. Jedenfalls kam es ihr so vor.

Noch schlimmer waren die Leute, die dachten, dass der Unfalltod ihrer Eltern die Ursache ihres Glaubens sei. Sie war damals siebzehn gewesen, und nun glaubten viele, dass die Religion der Strohhalm sei, an den sie sich klammerte. Immerhin besser als Drogen oder andere Arten der Selbstzerstörung, aber sicher würde auch das vorübergehen, sobald sie den Verlust überwunden hatte, dachten sie. Das waren die Schlimmsten. Im Gegenteil hatte der Unfall die Grundpfeiler ihres Glaubens eher erschüttert.

Ein Jahr nach dem Unglück hatte sie sich damit abgefunden, dass sie immer noch an Gott glaubte. Es war anstrengend genug, nach diesem Glauben zu leben, und damit sie sich nicht tagtäglich rechtfertigen musste, beschloss Rakel, Theologie zu studieren. So könnte sie sich in Ruhe und Frieden dem geistigen Leben widmen. Sie war auf der Suche nach ihresgleichen. Schon am ersten Tag des Studiums beschloss sie, Pastorin zu werden. Alles andere wäre eine Verschwendung ihrer intellektuellen Begabung gewesen.

Pastorin.

Das klang respekteinflößend, es war wichtig und der einzige Weg, um ihre Überzeugung frei auszuleben. Und es hatte trotz allem etwas Cooles. Es faszinierte die Leute, im Gegensatz zum ordinären, privaten Glauben.

Aber es war auch schwer, wie sie bald herausfand, denn selbst in der theologischen Fakultät fühlte sie sich … mmh, anders, vielleicht sogar ein wenig ausgestoßen.

Es schien, als wären alle anderen Studenten von Gott dorthin berufen worden. Entweder direkt, in Form eines unmissverständlichen Kommuniqués, oder ganz selbstverständlich, von Kindesbeinen an. Nur Rakel hatte ihr Studienfach erst zwei Wochen vor Ablauf der Bewerbungsfrist ausgesucht, nur sie hatte alternative Fächer angegeben (nach langem Hin und Her hatte sie sich für Journalistik entschieden), und nur sie hatte die Religionswissenschaft gewählt, um einer Schar von Gleichgesinnten anzugehören. Aber das tat sie nicht.

Rakel war NFG.

Nicht Fromm Genug.

Aber während sie daran kaute, konnte sie wenigstens darauf achten, ausreichend graumäusig auszusehen, angemessen vernünftige und unmoderne Schuhe zu tragen und sich gehörig selbst zu kasteien, wenn sie sich wieder einmal dabei ertappte, dass sie nicht an Gott dachte. Sie würde es schon schaffen, glaubte sie.

Frau Bengtsson schaute im richtigen Moment von ihrer Sonntagszeitung auf, um Rakel zu erblicken, die neben Herrn Rubin und somit direkt gegenüber dem Ehepaar Bengtsson wohnte.

Das arme Mädchen.

Ganz einsam wohnte sie in dem Haus, das ihr bestimmt viel zu groß war. Sie hatte es von ihren Eltern geerbt. Frau Bengtsson hatte sie nicht gut gekannt, da sie und ihr Mann erst einen Monat vor dem tragischen Verkehrsunfall eingezogen waren, bei dem Rakels Eltern und der Golden Retriever der Familie in dem kleinen roten Toyota in eine Scheune gerast waren. Der Crash durch die hölzerne Wand wäre an sich nicht tödlich gewesen, und auch der Heuhaufen in der Scheune wiegte die Insassen des Toyotas für Sekundenbruchteile in falscher Sicherheit, aber dahinter standen allerlei Landmaschinen mit scharfen Metallteilen.

»Es war eine ziemliche Schweinerei«, erklärte der Bauer, der sie am nächsten Morgen gefunden hatte, gegenüber der Lokalzeitung und wischte sich die Stirn mit einem riesigen, knallroten Taschentuch. »Na ja, meine Maschinen kann ich ja waschen. Aber für das kleine Mädchen ist es bestimmt schlimm«, fuhr er fort und stopfte das Taschentuch in die Hosentasche, so dass nur ein Zipfel herausragte. »Ich habe gehört, dass sie eine Tochter haben. So ein Pech. Die Eltern und der Hund. Aufgespießt. Die Arme.« Er setzte seine Schirmmütze wieder auf, zog sie tief in die Stirn und spuckte auf den trockenen Boden.

»Danke. Sie haben uns sehr geholfen«, sagte der Reporter und versuchte, nicht auf den Schleimklumpen zu schauen.

Nach einem Monat hatten sie sich freundlich über den Lattenzaun hinweg zugenickt. Einmal, als Frau Bengtsson gerade eines der Schlafzimmer lavendelblau anmalte, waren die Eheleute Karlsson (so hießen Rakels Eltern) sogar mit selbstgebackenen Zimtschnecken zu Besuch gekommen, um sie im Viertel willkommen zu heißen. Es mussten also nette Leute gewesen sein. Menschen, die für ihre neuen Nachbarn Zimtschnecken buken, waren nett. Ohne Ausnahme.

Auch Rakel kannte Frau Bengtsson kaum, bevor sie ins Haus ihrer Eltern zurückzog. Das Mädchen war seit einem Jahr ausgeflogen gewesen, es musste also schon mit sechzehn ausgezogen sein, was Frau Bengtsson erschreckte und den guten Eindruck, den Rakels Eltern gemacht hatten, fast zunichtegemacht hätte, bis sie von Herrn Rubin erfuhr, dass Rakel seit Beginn der Oberstufe ein christliches Internat besucht hatte. Das Mädchen hatte es offenbar selbst so gewollt, was in der Nachbarschaft für Gesprächsstoff sorgte, denn die Eltern waren nicht religiöser als alle anderen in der Fröjdgata; sie feierten Weihnachten und Ostern, mehr nicht.

Mit siebzehn hatte sie das Haus ihrer Eltern geerbt und für ihr Alter große Reife bewiesen, weil sie beschloss, dort wohnen zu bleiben.

Rakel hielt Haus und Garten perfekt in Schuss, genau wie sie ihr eigenes Äußeres pflegte. Zwar fand Frau Bengtsson, dass sie ziemlich langweilig aussah, aber das gehörte wohl dazu, wenn man Pastorin werden wollte, dachte sie.

Ab und zu ging Frau Bengtsson zu Rakel hinüber – aber nie mit Zimtschnecken, um keine schmerzvollen Erinnerungen zu wecken. Sie wollte sehen, ob das Mädchen Hilfe brauchte, was jedoch nie der Fall war.

Rakel servierte Kaffee, und Frau Bengtsson inspizierte verstohlen den Haushalt ihrer jungen Nachbarin, der nichts zu wünschen übrig ließ. Sogar unter dem Sideboard war der Boden gründlich gesaugt. Frau Bengtsson fühlte sich übertrumpft.

Es sah aus, als hätte Rakel sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Falls sie trauerte, so tat sie es für sich und in aller Stille. Die Zeit verging, und Rakel hängte sich ein wenig an Frau Bengtsson, aber sie war nie aufdringlich.

Als sie erfuhr, dass sie zum Theologiestudium angenommen war, kam Rakel herüber und brachte ausgerechnet selbstgebackene Zimtschnecken mit, was Frau Bengtsson fast (aber auch nur fast) zu Tränen gerührt hätte. Die Schnecken besiegelten sozusagen die Mentorschaft zwischen ihr und dem jungen Mädchen. Eine moderate Mentorschaft natürlich. Frau Bengtsson wollte sich keinesfalls aufdrängen, und vor allem sollten die Nachbarn nicht denken, dass sie Rakels Ersatzmutter sei. Auch wenn es vielleicht ein bisschen so war, aber das ging niemanden etwas an.

Ungefähr einmal im Monat trafen sich die beiden Frauen zu vielen Tassen Kaffee. Jede erzählte von ihrem Monat. Nie redeten sie über den Unfall und kaum über Rakels Glauben. Frau Bengtsson hatte sie ein paarmal danach gefragt und nur knappe, reservierte Antworten bekommen, also begnügte sie sich damit, dass das Mädchen religiös war. Sicher war sie bereit, eine Herde zu leiten, so etwas studierte man ja, um Pastor zu werden. Man machte ja auch keine Kochkurse, wenn man hinterher nicht kochen wollte.

Die beiden mochten einander mehr, als die Kaffeekränzchen verrieten. Vielleicht war Frau Bengtsson doch eine Ersatzmutter für Rakel. Aber das gab sie natürlich nicht zu.

Das arme Mädchen, dachte Frau Bengtsson wie immer, wenn sie Rakel sah. Sie konnte nicht anders.

Es war halb elf, bestimmt war sie unterwegs zum Gottesdienst.

Frau Bengtsson war überzeugt, dass Rakel eine gute Seelsorgerin werden würde. Sie war ja so … so … (langweilig) reif. So vernünftig und ruhig, trotz ihrer jungen Jahre.

An diesem Sonntag trug sie einen weißen Haarreif, eine weiße Bluse, einen weißen Strickpullover, den sie über die Schultern gelegt hatte, und ein Paar beige Hosen mit Bügelfalte. Frau Bengtsson kannte keine andere Zwanzigjährige, die ihre Hosen bügelte – ja, sie würde eine gute Pastorin werden. Hinter einem so korrekten Äußeren, das nie in Eitelkeit umschlug, musste sich ein gütiges und urteilskräftiges Inneres verbergen. Jedes Wort, das Rakel bei ihren Kaffeekränzchen äußerte, bestätigte diese Theorie.

Frau Bengtsson gefiel die innere Ruhe, die Fräulein Rakel ausstrahlte. Seit dem Dienstag, an dem sie gestorben war, fehlte ihr diese Ruhe, und obwohl sie nicht hysterisch war – sie hatte ja nicht einmal geweint –, war sie innerlich aufgewühlt. Vielleicht lag es an den vielen trivialen Fragen wie die nach der kosmetischen Behandlung ihrer Leiche, aber ihr Kopf war voller Gedanken, und sie wirbelten und wirbelten darin herum; dazu gehörte auch die Trauer darüber, dass sie nicht trauern konnte.

Am Samstag hatte sie sich doch ein wenig darüber geärgert, dass ihr Ehemann den Vorfall so schnell vergessen hatte und dass auch er keine Träne über ihren Tod vergoss. Schließlich hätte er sie verlieren können, nein, er hatte sie sogar für einen Moment verloren, aber das glaubte er ihr nicht.

Andererseits hatte er den Stecker der Massagedüsen herausgezogen, das war seine Art, Fürsorge zu zeigen. Er tat alles, um ihr das Leben zu erleichtern, und kümmerte sich um ihre Sicherheit und den Unterhalt, das war seine Liebeserklärung. Herr Bengtsson war literarisch eher wenig bewandert, und sie erwartete keine poetischen Ergüsse aus seinem Mund. Sie hatte gelernt, die Worte »Ich liebe dich« in der Reparatur eines tropfenden Wasserhahns oder in zwei Überstunden pro Woche zu hören, und so verhielt es sich auch mit dieser blöden Wanne. Somit hatte sie zusätzlich ein schlechtes Gewissen, weil sie sich über Herrn Bengtssons ausgebliebene Trauer ärgerte.

Ja, es wirbelte im Kopf unserer Hausfrau, als sie am Küchentisch saß und zusah, wie Rakel gelassen aus der Tür trat und zum Gottesdienst spazierte. Sie war die Ruhe in Person, und das seit ihrem Einzug. Trotz des schweren Verlustes.

Frau Bengtsson wusste nicht, dass Rakel manchmal in ihr Kissen weinte, mit kurzen, leisen Seufzern, die man auch ohne Kissen kaum hören konnte. Aber sie weinte nicht um ihre Eltern, sondern um Rufus. Den Hund.

Wie auch immer, an jenem Sonntag begann sich Frau Bengtsson zu fragen, was das junge Fräulein Rakel so … (langweilig) ausgeglichen machte.

Das Mädchen kam heraus, hob den Blick und das charakteristische schmale Lächeln gen Himmel, schloss die Tür, richtete ihren Haarreif (der ohnehin perfekt saß) und ging – zu Fuß! – in Richtung Kirche. Es waren drei Kilometer dorthin. Aber sie trug fürwahr vernünftiges Schuhwerk. Und sie wirkte so zufrieden. Trotz allem.

Frau Bengtsson winkte ihr zu, doch die Sonne schien direkt aufs Fenster, weshalb Rakel sie nicht sah und nicht zurückwinkte. Frau Bengtsson kam sich dumm vor, obwohl niemand sie gesehen hatte.

Fräulein Rakel wäre das bestimmt nicht peinlich, dachte Frau Bengtsson. Sie ist so (langweilig) zuversichtlich.