Teil zwei

Mittwoch

16

Globale Erwärmung … von wegen«, murmelte Frau Bengtsson, als sie am Mittwochmorgen vor die Tür trat. Im vorigen Jahr hatte am selben Datum ein warmer Wind geweht, und die Sonne hatte das Thermometer auf mindestens 25 Grad steigen lassen.

Das Laub der Eberesche leuchtete rot, und der Wind zerrte an den Blättern. Es sah fast aus, als ob der Baum sich vor Lachen schüttelte. Im Grunde tat er das auch, denn Ebereschen haben keinerlei Sorgen.

»Halt’s Maul«, sagte Frau Bengtsson, drehte dem Baum den Rücken zu und ging weiter durch die Fröjdgata.

Es waren höchstens zwölf oder dreizehn Grad, und wenn es irgendwo dort oben über dem undurchdringlichen Grau eine Sonne gab, hatte sie offenbar andere Dinge zu tun. Na gut, so konnte sie die neuen braunen Lederstiefel mit den passenden Handschuhen früher als erwartet anziehen. War es nicht eine bewundernswerte Gabe, immer die lichte Seite des Daseins zu sehen? Sie schnaubte.

Es ist scheißkalt, und ich friere, basta!

Ihr Vormittagsspaziergang war ein klassischer Nachdenkspaziergang. Den hatte sie nötig.

Am Morgen war alles wie immer gewesen. Herr Bengtsson aß sein Frühstück, küsste sie auf den Mund und machte sich auf den Weg, um seine Autos zu verkaufen. Frau Bengtsson kehrte die Krümel vom Tisch, räumte den Käsehobel und die leeren Joghurtbecher ab und war trotz allem recht gut gelaunt. Das gestrige Gespräch mit Rakel hatte ihr bestätigt, dass religiöser Schmerz völlig normal oder zumindest verständlich war. Vor Gottes Angesicht fühlte man doppelt. Mit dieser Erkenntnis im Hinterkopf setzte sie sich, nachdem die Kaffeemaschine fertiggeblubbert hatte, wieder mit der Bibel an den Küchentisch. Zweites Buch Mose. Okay.

Wie selbstverständlich hatte sie einen Aschenbecher und Zigaretten bereitgestellt, ohne zu überlegen, welcher Tag heute war.

Dann mal los, dachte die Hausfrau und war bereit für gespaltene und doppelte Gefühle. Und war sehr überrascht, als bei der Lektüre nichts dergleichen auftrat. Der Notizblock lag aufgeschlagen vor ihr, sie schrieb »Zweites Buch Mose« auf ein frisches Blatt und begann zu lesen, fast – aber nur fast – so hoffnungsvoll wie bei den ersten Malen.

Die Israeliten wurden in Ägypten unterdrückt. Das war ohne Zweifel traurig. Keine gespaltenen Gefühle. Mose, der kleine Knirps, kam zur Welt, und die einzige Anmerkung, die sie dazu im Hinterkopf hatte, war: Wer sagt eigentlich, dass das hier große Literatur ist? Im Grunde ist es ziemlich schlecht geschrieben.

Der brennende Busch, der Mose seinen göttlichen Auftrag gab, war ja ein ganz nettes Bild, aber wenn sie bedachte, wie sehr Rakel darauf pochte, dass das Wort exakt mit der Wirklichkeit übereinstimmte, gab es auch hier keinen Grund, dem Autor für diesen Einfall zu gratulieren. Dann war es einfach so gewesen und das hier nicht das Phantasieprodukt eines engagierten Geschichtsschreibers.

Gott befahl Mose, die Schuhe auszuziehen, weil er auf heiligem Boden stand. In Moscheen musste man dies auch tun, warum nicht in schwedischen Kirchen? Frau Bengtsson kam zu dem Schluss, dass dies wohl mit dem Klima in den entsprechenden Kulturkreisen zusammenhing, womit sie vielleicht recht hatte.

Armer Mose, dachte sie. Wenn du wüsstest, was dich erwartet.

Und wieder ärgerte sie sich. Warum legte Gott die gesamte Verantwortung auf die Schulter eines einzigen, kleinen Menschen? Sie seufzte und trank ihren Kaffee, während Mose sich zum Pharao begab, um die Freilassung seines Volkes zu erreichen.

Der Pharao weigerte sich.

So eine Überraschung.

Das Ganze wiederholte sich mehrmals. Mose quengelte, der Pharao weigerte sich, und Mose quengelte wieder … Sie blätterte zerstreut weiter. Sie hatte Der Prinz von Ägypten gesehen. Disney hatte es eigentlich besser erzählt.

Erst als Gott die Plagen über Ägypten schickte, regten sich ihre Gefühle. Aber nein, sie waren noch immer nicht gespalten, sondern gingen deutlich in eine Richtung: Wut und Verachtung.

Alles Wasser in Ägypten wurde zu Blut. Es regnete Frösche. Mücken fielen in das Land ein, gefolgt von Ungeziefer. Das Vieh bekam die Pest, die Menschen bekamen Blattern, Hagel stürzte vom Himmel, und Heuschrecken schwärmten, dass der Himmel schwarz wurde. Dann wurde der Himmel selbst schwarz, weil Gott Finsternis über das Land senkte.

»Und wie ging es Herrn und Frau Durchschnittsägypter in dieser Zeit? Wussten sie, warum sie leiden mussten, oder glaubten sie einfach nur, das Ende der Welt sei nahe? Vielleicht hofften sie sogar darauf, nach all den Plagen?« Die Frage galt dem Buch, sie richtete sie an die Seiten, die vor ihr lagen.

Das Buch antwortete natürlich nicht, sondern fuhr ungerührt fort mit seinen mittelmäßig verfassten Berichten über die Plagen, die Gott den Ägyptern schickte. Eine Plage für jede Weigerung des Pharaos, die Israeliten ziehen zu lassen.

Frau Bengtsson wurde sauer.

Bestrafe den Pharao und bestrafe die Verantwortlichen, aber lass verdammt noch mal Herrn und Frau Durchschnittsägypter in Ruhe! Was hatten sie getan, außer nicht dem Volk anzugehören, das Gott – völlig willkürlich, wie Frau Bengtsson fand – für sich auserwählt hatte? War Gott Rassist?

Die Antwort auf diese Frage war natürlich ja, wie sie an der zehnten Plage erkannte, bei der Gott alle Erstgeborenen abschlachtete. »Auf dass ihr erfahret, wie der Herr Ägypten und Israel scheidet«, sagte Mose in 11,7.

Na bitte, dort stand die Antwort schwarz auf weiß.

Frau Bengtsson, die wie alle wohlerzogenen Durchschnittsschweden des zwanzigsten Jahrhunderts ethnische Diskriminierung jeder Art verabscheute, schauderte. Ein übler Geschmack belegte ihre Zunge. Sie versuchte, ihn mit Kaffee wegzuspülen. Vergeblich. Rassistengott!

In diesem Moment beschloss sie, spazieren zu gehen, obwohl die Welt draußen eher beschissen und wenig einladend aussah. Sie wollte nachdenken. Nicht darüber, was sie von dem Text halten sollte, nein, das saß zu tief in ihr – ein wohlerzogener und kluger Mensch akzeptierte unter keinen Umständen Rassismus oder Diskriminierung aufgrund ethnischer Zugehörigkeit. Punkt. Das stand nicht zur Debatte. Aber sie musste darüber nachdenken, was sie mit Gott tun sollte.

Diesem Rassisten.

Nein, heute waren ihre Gefühle nicht gespalten, sondern eindeutig.

Sie warf einen letzten Blick auf die Eberesche, bevor sie die Straße überquerte. Jetzt sah es fast aus, als ob sie mit ihr schauderte.

Ein Spaziergang durch die Fröjdgata war dasselbe, wie in einem Fertighauskatalog zu blättern. In jedem einzelnen der Kataloghäuser wohnten Menschen, die von dem Tag träumten, an dem sie das Allerweltsviertel verlassen und sagen würden: »Unser neues Haus ist von einem Architekten entworfen.« Auch in Jämnviken hatte man noch Träume.

Ein paar Häuser weiter schnellten Kinder hinter einem Gartenzaun auf und ab. Sie sprangen auf einem riesigen Trampolin. Natürlich hatten in Jämnviken alle Trampoline Schutznetze, so dass sie wie auf den Kopf gestellte Fangnetze aussahen. In ihrem Viertel sollte kein Kind zum unfreiwilligen Fernsehstar in Pleiten, Pech und Pannen werden, wo Amateurvideos mit dummen Kommentaren und Lachsalven untermalt wurden. In Jämnviken lachte man nur über andere, nicht umgekehrt.

Die Kinder wirbelten wie gefangene Insekten in dem Netz herum. Sie schrien und lachten und schienen dabei sogar noch eine Art Unterhaltung zu führen. Das Netz flatterte im Wind, und die Federn des Trampolins quietschten vor Freude, weil so viele Kleine dort zusammen spielten.

Nein, der Gedanke an Geschrei und kleinteilige Schmutzwäsche war wenig verlockend für Frau Bengtsson. Trotzdem fühlte sie sich für eine Weile betrogen. Letzten Endes musste es ja Gott gewesen sein, der diese Entscheidung für sie gefällt hatte. Der bestimmt hatte, dass ihre Eierstöcke unproduktiv sein sollten. Andererseits hatte er sie damit von Evas Strafe für die Banane befreit. Sie würde keine Nachkommen unter Schmerzen gebären. Trotzdem: Sie war verbittert, dass sie dies nicht selbst hatte entscheiden dürfen. Jeder Schritt in der Fröjdgata war ein Schritt weiter weg von Gott.

Plötzlich kamen ihr die springenden Kinder wie menschliches Popcorn vor, das in einer Popcornmaschine herumwirbelte. Sollte sie deswegen auf Gott wütend sein? Nein, genauso wenig, wie sie ihre Kinderlosigkeit beweinen konnte. Sie mochte überhaupt kein Popcorn.

Wenn sie Kinder gehabt hätte, hätte sie sich – als gute und engagierte Mutter – zu dem Spiel gesellt? Die Vorstellung fiel ihr schwer.

Und während sie versuchte, sich selbst unter den hüpfenden Kindern zu sehen, fiel Frau Bengtsson auf, dass sie sich nicht einmal an ihre eigene Kindheit erinnerte. Sie wusste nicht mehr, wie sie als Kind ausgesehen hatte, was sie getan hatte, was ihr gefallen und nicht gefallen hatte und ob ihre Kleider genauso verschwitzt gewesen waren.

Sie bemühte sich, die Erinnerung an ihre damaligen Freunde wachzurufen. Vergeblich. Interessen, Desinteressen … alles war verschwunden. Sie wusste nicht einmal mehr, wie das Verhältnis zu ihren Eltern in diesem Alter gewesen war. Erst ab dem Alter von zwölf oder dreizehn hatte sie ein klares Bild von sich selbst als Person. Wer sie als Kind gewesen war, wusste sie nicht mehr.

»Ist vielleicht besser so«, sagte sie, ließ die Außerirdischen in ihrem Netzkäfig links liegen und ging weiter durch die Reihen schmucker Häuser, bis die Bebauung plötzlich aufhörte und die Fröjdgata in einen schmalen Feldweg überging.

Hundert Meter weiter beschrieb der Feldweg eine leichte Linkskurve, was dazu führte, dass Frau Bengtsson nach ungefähr einem halben Kilometer mit dem Anblick der Kirche konfrontiert wurde, die auf der anderen Seite eines Ackers stand.

Der Acker war ziemlich groß, aber nicht unüberwindlich. Im Gegenteil, er war abgeerntet und eben und wirkte sogar einladend, wie eine Landschaft aus der Vergangenheit, als Schweden noch nicht voller Häuser, Straßen und Laternen gewesen war. Ein Land der Wiesen, Äcker und strohbeladenen Fuhrwerke. Bauern mit Strohhalmen im Mundwinkel hoben den Hut zum Gruß und fragten, ob man mitfahren wolle. Ein Land, in dem man Äcker überquerte, um zur Kirche zu gehen.

Vielleicht waren diese Schritte über den Acker ihr letztes Angebot an Gott. Sie ging auf den Turm zu, der sich nicht weit entfernt vor dem grauen Himmel abzeichnete.

Okay, ich komme jetzt, dachte sie. Wir treffen uns auf halbem Weg.

Schon nach ein paar Metern fand Frau Bengtsson heraus, dass der Acker nicht nur abgeerntet, sondern auch gepflügt war. Was aus der Ferne glatt und einladend ausgesehen hatte, erwies sich als wogendes Meer. Außerdem war es steinig. Und schlammig. Und es war viel weiter bis zur Kirche, als sie gedacht hatte.

Schritt für Schritt kämpfte sie sich weiter, trotz allem. Wir treffen uns auf halbem Weg, hatte sie ihm angeboten. Wenn sie ehrlich sein wollte, musste sie so weit gehen, aber jedes Mal wenn ihr Knöchel sich verdrehte, die Absätze feststeckten oder ein Fuß im Matsch versank, und mit jedem Stein, über den sie stolperte, wurde ihre Wut größer.

Verdammt noch mal, ich will dir doch nur entgegenkommen. Warum ist das so schwer? Immer, wenn ich die Initiative ergreife und mich dir aus freien Stücken nähere, verhöhnst du mich und verstellst mir den Weg.

Der Turm war kein bisschen größer geworden.

Das Kreuz auf der Spitze schien genauso fern wie vorher, aber als sie sich umdrehte, konnte sie den Feldweg nicht mehr sehen. Hier war die Mitte. Sie war da.

Frau Bengtsson schaute auf ihre neuen Stiefel herab. Ob sie sie jemals sauber bekommen würde? Sie seufzte. Auf halbem Weg, in der Mitte.

Sie setzte sich auf einen der Wellenkämme, ohne sich um den Schlamm zu kümmern, zog eine Zigarette aus der Tasche und fragte sich, ob sie wieder zu rauchen begonnen hatte. Sie kam zu dem Schluss, dass dem wohl so war, und zündete die Zigarette an. Dann blieb sie sitzen und wartete auf denjenigen, dem ihr Angebot galt. Sie wartete auf Gott, als wären ihre Bedingungen bindend für ihn.

Aber Gott wollte nicht kommen.

Weit hinter der Kirche sah sie kleine Punkte Fliegendreck – vorbeifahrende Autos. Und da saß sie, mitten auf dem Acker, mitten im Schlamm. Abgeblitzt. Weit und breit keine strohhalmkauenden Bauern, die sie mitnahmen. Kein romantischer Schimmer über grünen Wiesen, nur mittelschwedisches Grau, karg und mühsam zu beschreiten.

»Du!«, schrie sie in Richtung seines Hauses. Ein paar Meter weiter sprang ein Hase auf und rannte erschrocken davon. Nach einer Weile blieb er stehen und sah sie fragend an.

»Komm schon, gib mir ein Zeichen! Ein bisschen guter Wille wäre wohl angebracht. Du hast eingegriffen, als ich starb – jetzt sag mir, warum. Ich muss endlich wissen, ob es einen Plan für mich gibt, ob das der Grund war …«

Sie wartete ängstlich. Jetzt dachte sie nicht nur, dass sie den Herrn nicht mochte, sondern schrie es laut heraus, einer Kirche entgegen. Die Angst saß ihr im Nacken und zwang ihren Blick nach oben. Ein Beweis für ihren unerschütterlichen Glauben, aber auch dafür, dass sich etwas für immer verändert hatte.

Ihr diffuser Gottesglauben von früher war nie mit Angst verbunden gewesen. Nun aber hatte sie den wahren Gott kennengelernt, das war der Beweis. Rakel hatte ihr sein wahres Angesicht gezeigt. Und sie fühlte, wie die Angst mit jedem Wort abnahm, während die Wut immer stärker wurde.

»Warum soll ich Angst vor dir haben? Du weißt ja nicht einmal, dass es mich gibt! Du kannst unmöglich wissen, was ich in der letzten Woche alles gedacht habe, sonst hättest du mich längst aufgehalten. Oder ist es dir egal, was ich denke?«

Als die Antwort ein weiteres Mal ausblieb, fasste die Bengtsson Mut. Auch wenn es so aussah, als würde er heute nicht zuhören.

»Ja, genau. Du hast mich nicht aufgehalten. Nicht einmal ein Zeichen gegeben hast du, ob ich auf dem richtigen oder falschen Weg bin. Nichts! Was hat das zu bedeuten?«

Schweigen.

Der Hase blieb etwa zwanzig Meter entfernt sitzen und sah mit neugierigen braunen Augen die Tante an, die vor seiner Sasse saß und zeterte. Er mümmelte erwartungsvoll.

»Ich werd’s dir sagen. Es bedeutet, dass ich dir scheißegal bin«, sagte Frau Bengtsson, hob einen Stein auf und warf ihn ihrem Zuhörer entgegen. Sie verfehlte, und der Hase blieb sitzen. Er saß zwischen ihr und der Kirche und drehte Frau Bengtsson den Kopf zu.

Wäre er weiß gewesen, hätte die Hausfrau vielleicht an das Mädchen gedacht, das einem weißen Kaninchen in einen Bau gefolgt war und das Abenteuer ihres Lebens erlebte. Aber es war kein Kaninchen. Es war ein Hase, und er war braun, und im Unterschied zu dem Kaninchen in der Geschichte sagte er nicht dauernd, dass er sich verspätet habe. Im Gegenteil, er hätte gesagt, dass noch viel Zeit sei.

Aber Tiere reden nur in Fabeln und Märchen. Der Hase saß geduldig da und zeigte mit seiner unverständlichen Körpersprache, dass sie ihm folgen sollte, dass er eine Einladung und ein Versprechen war. Frau Bengtsson hob noch einen Stein auf und schleuderte ihn, und diesmal traf sie den Hasen an der Lende. Dass er sitzen blieb, sagte ihr nichts.

»Wir treffen uns hier, habe ich gesagt, auf halbem Weg. Ich bin hier, und wo zum Teufel bist du? Bei jemandem, den du lieber magst, nehme ich an. Du denkst wahrscheinlich, dass du genug für mich getan hast. ›Ich bin der Herr, dein Gott. Bla, bla, bla. Bitte schön, hier sind jede Menge Regeln, befolge sie, und du bist Christ, und wenn nicht, wird es dir schlecht ergehen.‹ Weißt du was, ich will mit deinen Regeln nichts zu tun haben, wenn du mir nicht einmal beim Nachdenken darüber hilfst. Kein Zeichen, kein Flüstern in meinem Ohr. Nichts. Nada! Der Teufel soll dich holen.« Frau Bengtsson warf die Kippe in den Matsch.

»Okay, wenn du so verdammt beschäftigt bist, dass du nicht helfen willst, obwohl man dich freundlich bittet, dann hast du vielleicht wenigstens genug Stolz, um eines deiner angeblich geliebten Geschöpfe aufzuhalten, wenn es sich total irrt? Halte mich jetzt auf! Halte mich auf, oder ich will ab sofort nichts mehr mit dir und deinen Regeln zu tun haben. Weder jetzt noch morgen noch nach meinem Tod. Alle deine ›Du sollst nicht‹. Du sollst nicht dies, du sollst nicht das. Warum denn nicht? Wer soll mich davon abhalten? Du? Wohl kaum. Bis jetzt hast du mich noch nie gebremst, wenn ich geprasst habe, in Wut geraten bin oder neidisch auf jemanden war. Du hast mich nicht im Geringsten ermuntert, als ich mich in dich verliebt habe und dich in allen Dingen ringsum gesehen habe. Das hätte es leichter gemacht. Aber jetzt ziehe ich mein Angebot zurück, du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen. Die Mitte hat geschlossen, nur dass du es weißt!«

Sie schaute immer noch in den Himmel, aber die Angst war gewichen. Sie hatte genug geschimpft und gelästert, um herauszufinden, dass es ungefährlich war – und vor allem sinnlos.

»Stinkstiefel«, fügte sie hinzu, wie um ihn ein letztes Mal zu testen.

Frau Bengtsson hatte keine Angst mehr vor Gott.

Überzeugt, dass er existierte und genau derjenige war, für den er sich ausgab, zerschlug sie die Beziehung, die sie in Gedanken aufgebaut hatte und die ihre Zukunftsvision gewesen war. Die Zweisamkeit mit Gott.

»Ich will nicht bei dir sein! Ich will nicht für dich sein. Ich will nicht bei dir enden, will dich nicht sehen, nicht dauernd an dich denken und immerzu tun, was du willst.« Sie atmete tief ein und schrie: »Ich hasse dich!«

Ein Regentropfen landete auf einem ihrer Stiefel. Dann noch einer, und ein weiterer nahm auf ihrer Stirn Platz. Frau Bengtsson stand auf und ging nach Hause. Obwohl sie mit allen Sinnen nach einem Zeichen Ausschau gehalten und sich nach einer Antwort gesehnt hatte, ging die Bedeutung des Regens völlig an ihr vorbei. Der Hase spitzte die Ohren, schüttelte sich und legte sich enttäuscht in seine Sasse. Er würde mit Sicherheit einen blauen Fleck davontragen, wo der Stein ihn getroffen hatte.

Auf dem Rückweg, mit schlammigen Stiefeln, zerzaustem Haar und erdigem Hintern, rauschte die Gelbe Gefahr an Frau Bengtsson vorbei. Natürlich legte Beggo sofort eine Vollbremsung hin, als er die Witwe sah. Besorgt lehnte er sich aus dem Fenster und fragte, ob etwas geschehen sei und ob sie Hilfe brauche.

»Ja, das kann man wohl sagen«, sagte sie verbittert. »Aber das ist eine Sache zwischen mir und Gott. Glaubst du an Gott, Beggo?«

Er dachte nicht eine Sekunde nach, sondern lachte. »Gott? Nein. ›Glaube, der kann so vieles bewegen. Hoffnung brauchst du, um den Weg zu sehen …‹«

Aha, heute ist Mara Kayser dran, bemerkte sie im Vorübergehen. »Aber weißt du, Glaube und Hoffnung ist genau das, was mir fehlt.«

Er fragte, ob er sie nach Hause fahren könne, und sie drehte ihm den Hintern zu. Als er den Lehm sah, bereute er sein Angebot sofort, aber er zog es nicht zurück.

»Es ist nicht so weit, Beggo. Ich gehe zu Fuß, dann musst du deinen Sitz nicht schrubben. Aber vielen Dank, das ist nett von dir.«

»Auf Jungs über fünfunddreißig ist immer Verlass«, antwortete er, deutlich erleichtert, und fuhr im Nieselregen davon.

Auf dem Rückweg waren die Gärten leer. Wahrscheinlich waren alle Kinder aufgepoppt. Oder sie vertrugen kein Wasser.

Beggo hatte genügend Vorsprung, er war schon außer Sicht, als sie den Briefkasten erreichte. Stromrechnung. Ein handgeschriebener Umschlag an die Eheleute Bengtsson, bestimmt eine Einladung zu irgendeinem sozialen Event.

Einladungen und Karten – das Einzige, was die Menschen noch mit der Hand schreiben, dachte sie.

Ein vierseitiger Katalog eines Elektroladens. Auf der anderen Straßenseite ging Rakel gerade die Post holen und winkte unter ihrem Regenschirm hervor.

»Hej!«, rief sie. »Wie siehst du denn aus?«

»Ich wollte in die Kirche gehen«, antwortete Frau Bengtsson. »Wer ist das denn?« Sie zeigte auf das schwarze Katzenjunge auf Rakels rechter Schulter.

»Ich habe heute Morgen eine Annonce gelesen und gleich zugegriffen. Das ist Yersinia.«

»Wie das Pestbakterium?«

»Ja, genau. Komm nachher rüber, dann könnt ihr euch kennenlernen« antwortete Rakel und ging ins Haus, ohne nach der Post zu sehen.

»Yersinia«, wiederholte Frau Bengtsson. »Na ja, warum nicht?«

Der handgeschriebene Umschlag enthielt tatsächlich eine Einladung. Ein Ove aus Herrn Bengtssons Firma wurde vierzig und wollte natürlich, dass sein Chef und dessen bezaubernde Gattin ihm die Aufwartung machten. Frau Bengtsson beschloss, dass ein Fest genau das war, was sie brauchte.

Immerhin war heute der Tag ihrer Befreiung. Der Tag, an dem sie Gott gesagt hatte, dass sie ihn hasste.

Nur eines ärgerte sie. Gott hatte in keiner Weise reagiert, und sie fürchtete, dass er dafür einen Grund hatte. Vielleicht wusste er etwas, was sie (noch) nicht wusste? War er deshalb so selbstgefällig, sie komplett zu ignorieren?

Frau Bengtsson staubsaugte und grübelte. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, wie sie das Sideboard von der Wand wegrückte, den Staubsauger umsteckte und gründlich den Staub vieler Monate beseitigte.

Staubsaugen war meditativ.

Was mochte er wissen?

Wahrscheinlich, schlussfolgerte sie, pfiff Gott auf ihr Geläster, weil er wusste, dass sie sowieso in die Hölle kommen würde. Sie hatte in ihren achtunddreißig Jahren nicht gerade sündenfrei gelebt. Es brachte also nichts, sich um ihr pathetisches Geschrei auf einem schlammigen Acker zu kümmern.

Aber war sie wirklich so gemein gewesen? Sie verletzte nie bewusst ihre Mitmenschen, war immer hilfsbereit, und die Leute beschrieben sie stets als fürsorglich. Freilich fluchte sie etwas zu viel. Und trank. Aber ihre Suche – die ehrlich, neugierig und offen begonnen hatte – wäre eine ideale Gelegenheit für den Herrn gewesen, sie zu bekehren und ihr Leben zum Besseren zu wenden. Sie wäre offen dafür gewesen. Vor nur wenigen Tagen. Eine leichte Beute für den Allmächtigen, wenn er ihr nur ein Zeichen gegeben hätte. Er hätte ihren Jasminbusch in Brand setzen können oder so.

Steckerwechsel.

Erst als der Staubsauger wieder verstaut war und sie einen Mop in der Hand hielt, fiel ihr auf, dass es noch eine mögliche Erklärung dafür gab, warum Gott ihren Kampf ignorierte.

Was, wenn er schon ganz sicher wusste, dass sie im Himmel landen würde? Wenn er allwissend und allmächtig voraussehen konnte, dass sie unter dem Strich trotz allem einen Platz bei ihm verdiente. Im Paradies.

Frau Bengtsson hielt inne.

»Das ist ja noch schlimmer!«, konstatierte sie und drückte den Mop aus. So eine Selbstgefälligkeit! Gott glaubte also, im Voraus zu wissen, dass Frau Bengtsson, sein Geschöpf, am Ende den »rechten« Weg finden und sich seiner glücklichen Schar anschließen würde. Vielleicht ging er einfach davon aus, dass sie keine Wahl hatte. Vielleicht hatte er sie so geschaffen, dass die Religion ihr Los war, wie sehr sie auch versuchte, sich zu befreien? Ja, in diesem Fall hätte es für ihn wenig Sinn, sich einzumischen. Sie würde alle Qualen und die ganze Grübelei allein durchstehen müssen, weil er sicher war, dass ihr gesamtes Lebenswerk letzten Endes christlich war.

»Verdammter alter Knacker«, bemerkte sie, stellte den Mop ab und sprang, um den frisch geputzten Boden zu schonen, von Teppich zu Teppich zur Haustür.