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Hallo?«, flüsterte sie in den dicken schwarzen Bakelithörer. »Ist dort die Polizei?«
»Ja. Mit wem spreche ich?«
»Ich möchte anonym bleiben«, flüsterte sie.
»Worum geht es?«
»Hören Sie zu.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause.
»Ja? Hallo, sind Sie noch dran?«
»Seien Sie still und hören Sie zu.« Das Spiel gefiel ihr. »Ich weiß, wer gestern Nachmittag die alte Dame im Einkaufszentrum von Jämnviken beraubt hat.«
»Aha, und woher …?«
»Pssst! Nur zuhören! Der Name des Mannes, der hinter allem steckt, ist Rubin, und er wohnt in der Fröjdgata Nummer 7, in Jämnviken.« Sie holte tief Luft. Beinahe hätte sie »hier in Jämnviken« gesagt. Aber wahrscheinlich konnte die Polizei sowieso feststellen, aus welcher Telefonzelle sie anrief. Nach einer Sekunde fügte sie hinzu: »Er steckt hinter vielen Diebstählen und Schiebereien und hortet jede Menge Diebesgut. Fröjdgata 7. Jämnviken. Bitte schön.« Sie legte den Hörer auf. Die Straße war menschenleer, und sie entfernte sich rasch von der Telefonzelle. Nach Hause. Dort setzte sie sich mit einer großen Tasse Kaffee ans Küchenfenster – natürlich hinter der Gardine – und wartete.
Als Erstes kam Rakel zur Tür heraus, überquerte die Straße und klingelte bei Frau Bengtsson.
Frau Bengtsson klopfte ans Fenster und bedeutete ihr, dass die Tür offen war und sie eintreten sollte.
»Was tust du da?«, fragte Rakelsatan schon im Flur. »Du sitzt schon seit einer halben Stunde hier und starrst zum Fenster hinaus. Und ich saß an meinem Fenster, seit ich dich entdeckt hatte, und fragte mich, was du vorhast. Aber was immer es ist, es ist bestimmt lustiger zu zweit. Mit einer Tasse Kaffee natürlich. Also: Was hast du vor?«
»In der Thermoskanne auf dem Tisch ist warmer Kaffee, bedien dich. Ich habe falsch Zeugnis geredet wider meinen Nächsten.«
»Oh! Erzähl!«, sagte der Teufel verzückt.
»Ich habe ein paar Sachen gestohlen – du weißt schon, das siebte Gebot – und sie bei Herrn Rubin abgestellt. Auch mein Fahrrad, das ich gestern als gestohlen gemeldet habe. Und vorhin habe ich die Polizei angerufen, anonym natürlich.« Frau Bengtsson klang stolz und zeigte keine Spur von Scham.
»Wie listig!«
Ja, das fand sie auch.
Satan nahm einen Stuhl und setzte sich neben sie ans Fenster. »Alle Achtung. Das darf ich nicht verpassen.«
Frau Bengtsson sah ihre Nachbarin leicht verwundert an, aber in letzter Zeit waren so viele seltsame Dinge geschehen, dass sie nicht weiter darüber nachdachte. »Wenn ich jetzt nicht in der Hölle lande!«
Satan kicherte. »Definitiv.«
Nach einer weiteren halben Stunde kam ein Polizeiauto langsam um die Ecke, und beide lehnten sich neugierig nach vorn.
»Verdammte Scheiße!«, sagte Frau Bengtsson. Direkt hinter dem Streifenwagen fuhr, ebenso langsam, die Gelbe Gefahr. Rakelsatan schwieg und schaute erwartungsvoll zu. Draußen hielt die Polizei auf der einen und die Gelbe Gefahr auf der anderen Straßenseite an. Genau gleichzeitig stiegen zwei Polizistinnen und Beggo aus ihren Autos. Er hielt eine Rose in der Hand und nickte artig den Polizistinnen zu, die den Gruß erwiderten.
»Pass auf, dass er dich nicht sieht«, zischte Frau Bengtsson und rückte einen halben Meter vom Fenster weg. Rakel tat es ihr nach, und fünf Sekunden später klingelte es an der Tür. Sie rührten sich nicht vom Fleck, saßen mucksmäuschenstill.
Es klingelte wieder.
Rakel unterdrückte ein Kichern, und Frau Bengtsson vermied ihren Blick, um nicht selbst in Gelächter auszubrechen.
Ding, dong!
Er klingelte noch ein paarmal, bevor er mit hängendem Kopf ins Auto stieg. Ohne Rose. Er startete den Motor. Auf der anderen Straßenseite hatte Herr Rubin die Tür geöffnet und die beiden Polizistinnen hereingelassen.
Rakelsatan sprang auf. »Ich hole sie!«
Wenige Sekunden später hielt Frau Bengtsson die Rose in der einen und die Karte in der anderen Hand.
»Mach sie auf. Ich platze vor Neugier!«
Frau Bengtsson schaute aus dem Fenster und sah, wie die Gelbe Gefahr noch einmal vorbeifuhr.
»Scheiße. Wir hätten warten sollen. Jetzt weiß er, dass ich daheim bin. Was denkt der sich eigentlich? Mein Mann hätte daheim sein können! Was hätte er dann gemacht, ihm die Rose gegeben?«
Der Teufel lachte. »Vielleicht denkt er, dass es keinen Unterschied mehr macht, wo ihr es doch neulich in aller Öffentlichkeit getrieben habt.«
»Hast du uns etwa gesehen?«
»Na klar«, antwortete Satan, als wäre es das Natürlichste der Welt. »Du bist nicht die Einzige, die regelmäßig aus dem Fenster glotzt, weißt du. Yersinia hat es auch gesehen. Ich soll dir ausrichten, dass es höchste Zeit war.«
»Yersinia lässt mir ausrichten«, lachte Frau Bengtsson ironisch und öffnete die Karte. Prompt verging ihr das Lachen. »Mein Gott.«
»Was? Was steht da?«
Sie reichte Rakel die Karte.
Reden mit Herr Bengtsson. Er muss wissen.
Entzückt schrie Rakelsatan auf. »Leck mich am Arsch!«
Da klopfte es an der Tür, und nun schrie Frau Bengtsson auf.
Rakel hob die Gardine an und schielte hinaus. »Das ist nur die Polizei. Mach auf, ich warte hier.«
»Guten Tag, gnädige Frau. Ich hoffe, wir stören nicht?«, sagte die Polizistin, die mit Frau Bengtssons Fahrrad vor der Tür stand.
»Guten Tag, Frau Wachtmeister. Nein, überhaupt nicht. Aber das ist ja mein Fahrrad! Das ging schnell, ich habe den Diebstahl erst gestern gemeldet. Wo haben Sie es gefunden?« Sie tat ihr Bestes, um überrascht auszusehen. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«, fügte sie hinzu, bereute es aber sofort.
»Nein, vielen Dank. Wir haben einen anonymen Hinweis auf einen Ihrer Nachbarn bezüglich eines Überfalls bekommen, und als wir sein Grundstück durchsuchten, fanden wir das Fahrrad. Komischerweise hat der Alte selbst gesagt, es sei Ihres.«
»Welcher Alte?«, fragte Frau Bengtsson und kam sich sehr schlau vor. Die Polizistin zeigte auf die andere Straßenseite und sagte: »Ein gewisser Herr Rubin.«
»Ach so. Ja, er hat sich in letzter Zeit etwas seltsam benommen.«
Die Polizistin zückte sofort ihren Notizblock.
»Können Sie das etwas genauer schildern?«
»Ja, also … Ein bisschen zwielichtig.« Frau Bengtsson wurde nervös, trat von einem Bein auf das andere und spielte mit ihren Haaren. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber wenn man so dicht nebeneinander wohnt, in einem Viertel wie diesem, dann merkt man, wenn jemand …«
»Wenn jemand …«, half die Polizistin nach.
»Wenn jemand irgendwelche Dummheiten macht. Ein anonymer Hinweis, sagen Sie? Von wem?«
Die Polizistin musterte Frau Bengtsson. »Wenn wir das wüssten, wäre es nicht anonym.«
»Natürlich, wie dumm von mir«, kicherte sie. »Würde mich nicht wundern, wenn es einer der Nachbarn war. Wie gesagt, er hat sich in letzter Zeit seltsam benommen.«
Rakel steckte den Kopf aus der Küchentür und sagte: »Guten Tag. Ich bin Herrn Rubins Nachbarin aus der Nummer 9, und er war wirklich seltsam in letzter Zeit. Es ist wahrscheinlich das Alter, wie schade.«
»Guten Tag, guten Tag. Auf welche Art seltsam?«
»Zum Beispiel ist er mit einem Kescher im Garten herumgelaufen und hat laut über die armen, kleinen Vögel geschimpft. Einmal hat er vor ein paar Kohlmeisen das Vaterunser aufgesagt. Na ja, vielleicht waren es auch Blaumeisen. Jedenfalls ist er wohl ein bisschen durchgedreht, Sie wissen schon.« Sie tippte mit dem Zeigefinger an die Stirn.
»Interessant. Kohlmeisen, sagen Sie?«
»Ja, oder irgendwelche andere kleine …«, Satan beherrschte sich im letzten Moment, bevor das Wort »Mistviecher« über Rakels Lippen kam, »… Piepmätze.«
»Okay. Haben Sie vielen Dank, Frau?«
»Karlsson. Fräulein.«
»Vielen Dank, Fräulein Karlsson. Es sieht tatsächlich so aus, als wäre der Alte schlicht und einfach durchgedreht. Wollen Sie den Fahrraddiebstahl anzeigen?«
Frau Bengtsson dachte nach. »Nein, nein. Jetzt habe ich es ja wieder, und es sieht unversehrt aus. Wozu das System unnötig belasten?«
»Da haben Sie recht. Unter uns gesagt: Es wäre sowieso nichts dabei herausgekommen«, sagte die Polizistin.
»Wieso denn?«, fragte Rakelmirakel interessiert aus der Küche.
»Er hatte merkwürdiges Diebesgut im Schuppen. Teure Cremes. Clinique-Augencreme. Was soll ein alter Knacker damit anfangen? Und dann das mit den Vögeln.« Es war unklar, ob die Polizistin sich schüttelte oder mit den Schultern zuckte. »Das mit den Vögeln ist interessant. Wir haben nämlich jede Menge tote Vögel in seinem Haus gefunden.«
»Was?«, riefen Frau Bengtsson und Rakel gleichzeitig.
»Ja, der Kescher, den Sie erwähnten, stand auf dem Balkon. Sieht aus, als hätte er damit Vögel gefangen und sie dann totgeschlagen. Meisen, Rotkehlchen, Dompfaffen und Amseln. Als wir ihn fragten, behauptete er, dass der Teufel in den Singvögeln stecke. Er sei vor kurzem von einem Vogel attackiert worden, der vom Teufel besessen war. Ein Kanarienvogel, ausgerechnet, und er habe die Carmina Burana gezwitschert. Sie sehen selbst. Der Alte hat nicht mehr alle Tassen im Schrank.«
»Was wird nun geschehen?«, fragte Frau Bengtsson mit einem Anflug schlechten Gewissens. Offenbar war Herr Rubin wirklich krank im Kopf. Satan lachte sich in Rakels Fäustchen.
»Wir fahren ihn in die Psychiatrie, die können das besser beurteilen. Für mich sieht es aus, als müsse er in ein Heim. Wer tote Singvögel in seinem Wohnzimmer sammelt, sollte besser nicht allein wohnen.«
»Nein«, sagte Frau Bengtsson, »wirklich nicht.«
»Es ist tragisch, wenn alte Menschen den Verstand verlieren. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben«, sagte die Polizistin und steckte ihren Notizblock ein. Das Einzige, was sie notiert hatte, war: »Merkwürdiges Benehmen«.
»Das ist doch selbstverständlich. Kommen Sie ruhig wieder, wenn noch etwas sein sollte. Und vielen Dank für das Fahrrad!«
»Ich danke auch. Einen schönen Tag!«
»Danke, gleichfalls«, sagte Frau Bengtsson, schloss die Tür und ging in die Küche.
»Shit«, sagte Rakelsatan. »Tote Singvögel im Wohnzimmer, stell dir mal vor!«
Frau Bengtsson lächelte unfreiwillig. »Nein, das ist total verrückt. Ein Glück, dass ich die Polizei auf ihn gehetzt habe. Wer weiß, was noch alles passiert wäre?« Sie schüttelte sich.
»Ja«, sagte Satan. »Es war gut so. Wo waren wir stehengeblieben?« Er trank einen Schluck Kaffee. »Reden mit Herr Bengtsson. Er muss wissen. Was wirst du dagegen tun?«
Frau Bengtsson starrte Fräulein Karlsson verständnislos an. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die immer noch die Karte in der Hand hielt.
»Ich weiß es nicht.«
»Irgendwas musst du tun. Aber, aber …« Rakelmirakel trank nonchalant einen Schluck Kaffee. »Noch drei Gebote übrig?«
»Eins«, sagte Frau Bengtsson und starrte fassungslos auf die Karte.
»Nur eins? Und was ist mit dem neunten und dem zehnten? ›Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus‹ und ›Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was sein ist‹?«
Sie lachte bitter. »Ich wohne in Jämnviken, Rakel, und außerdem bin ich ein Mensch. Diese zwei Gebote habe ich mein Leben lang gebrochen, und zwar jeden Tag. Ich hätte ums Verrecken nicht anders gekonnt.«
»So, so«, antwortete der Wanderer. »Dann wäre wirklich nur noch ein Gebot übrig. Hast du schon entschieden, wen du töten wirst?«
»Ja«, antwortete Frau Bengtsson, den Blick fest auf die Karte gerichtet. Ohne ein Wort ging sie zum Kühlschrank, schenkte ein großes Wasserglas voll Weißwein und trank es auf einen Zug aus.
»Ja, das habe ich.«