DRITTES KAPITEL
Ich erinnere mich, daß die Schmerzen langsam zurückgingen, daß sie mir einreden wollte, ich solle in ihrem Bett schlafen, daß ich mir zwei Sessel zusammenschob, mich hinlegte und schließlich doch in ihrem Bett aufwachte. Sie lag angezogen in den zwei Sesseln, und sie schlief tief und fest. Es war zehn Uhr. Ich ging in das Badezimmer, um mich zu besichtigen. Die Schläge in den Halsansatz hatten keine Spuren hinterlassen, nicht einmal blaue Flecken. Das war Profiarbeit. Die rechte Hüfte prangte in beinahe allen Farben des Regenbogens, aber ich mußte dankbar sein, daß ich mein Bein überhaupt noch bewegen konnte. Ich hörte, wie sich draußen im Wohnzimmer etwas rührte.
»Wer lockte Watermann nach Genf?« fragte Minna laut.
»Der Mörder«, rief ich zurück.
»Watermann kannte ihn?«
»Er muß nur überzeugend geklungen haben, sonst nichts.«
»Hast du herausgefunden, was Watermann in Genf tat?«
»Bis auf seine Mörder scheint das kein Mensch zu wissen. Er kam Samstagnachmittag an und wurde am nächsten Tag, also am Sonntag, kurz nach ein Uhr mittags tot in seiner Badewanne gefunden. Nach seinen Tagebucheintragungen traf er diesen gewissen Rohloff, der ihm angeblich Entlastungsmaterial geben wollte. Aber aus vielen Gründen ist diese Tagebucheintragung wahrscheinlich falsch. Mit anderen Worten: Kein Mensch weiß eine Antwort auf die Frage, was Watermann rund vierundzwanzig Stunden lang in Genf getan hat.«
»Also war er ständig im Hotel?«
»Darauf kann man mit Ja und mit Nein antworten. Das Hotel hat viele Eingänge, durch die man hinein- und hinausgehen kann, ohne beachtet zu werden. Angeblich ist er zusammen mit anderen Hotelgästen gesehen worden. Das ist auch so eine Merkwürdigkeit: Es gibt keine Gästeliste.«
»Du weißt aber sehr genau Bescheid.«
»Das muß man, wenn man annimmt, daß er getötet wurde.«
»Wieso fand dieser deutsche Reporter den Watermann eigentlich?«
»Fragst du das, um meinen Wissensstand zu prüfen? Oder willst du es wirklich wissen?«
»Ich finde deinen Beruf aufregend, ich will es wissen.«
»Also: Wenn ein Bonze wie Watermann sich auf die Flucht macht, sind Reporter hinter ihm her. In der Regel werden sie von den Büros der Fluggesellschaften verständigt, wer wohin fliegen will. Kaum war Watermann in seinem Ferienhaus auf Gran Canaria, tauchten schon die ersten Journalisten auf. Das ist normal, das ist unser Job, wenngleich ich diese Form von Indiskretion nicht mag. Es ist also nicht weiter verwunderlich, daß etliche Journalisten sofort wußten, daß Watermann nach Genf flog und im Hotel ›Beau Rivage‹ abstieg. Der Stern-Reporter Sebastian Knauer ging am Sonntag, ziemlich exakt um zwölf Uhr dreiundvierzig zu Watermanns Apartment, um zu klopfen und ihn um ein Gespräch zu bitten. Die Tür war merkwürdigerweise offen. Knauer ging hinein, fand ihn in der Badewanne und fotografierte ihn.«
»Hättest du das auch getan?«
»Selbstverständlich. Daß Knauer später in der Schweiz deswegen verurteilt wurde, gehört zu den Bigotterien unserer Schweizer Nachbarn, derartige Verlogenheiten sind normal, bei uns Deutschen übrigens auch. Am Samstag gibt die Zeit zwischen halb sieben und halb elf Uhr Rätsel auf. Um diese Zeit saß Watermann in einem Taxi von seinem Ferienhaus zum Flughafen Gran Canaria. Normalerweise dauert die Fahrt zwanzig Minuten. Watermann brauchte im Taxi drei Stunden, und da der Taxifahrer bis heute nicht gefunden wurde, weil kein Mensch ernsthaft nach ihm suchte, weiß niemand, was er in den drei Stunden tat. Die Maschine kam etwa um fünfzehn Uhr zehn auf dem Flugplatz Cointrin in Genf an. Um sechzehn Uhr dreißig ist Watermann im Hotel. Da fehlen also rund siebzig Minuten. Dann hat ihm um achtzehn Uhr dreißig ein Etagenkellner namens Vergori eine Flasche Rotwein mit zwei Gläsern gebracht. Angeblich ist Vergori der letzte, der Watermann lebend gesehen hat.«
»Das heißt, daß er am Samstag und Sonntag mit Ausnahme von ein paar Minuten unbeobachtet war?«
»Richtig. Was hältst du von einem Kaffee? Übrigens noch etwas: Dieser Fall ist unglaublich vertrackt. Was spricht etwa dagegen, daß er sich Wasser in die Wanne einließ, um zu baden? Daß er dann stürzte?«
»O nein, Baumeister. Wie kamen dann die Medikamente in ihn rein?«
»Richtig«, lobte ich. »Aber da die Medikamente ziemlich lange brauchen, um volle Wirkung zu zeigen, kann es ebensogut sein, daß er die tödlichen Pillen gar nicht in seinem Apartment schluckte, sondern außer Haus war. Dann wurde er als Toter in sein Apartment geschleift …«
»Hör auf, das sind doch Spekulationen. Schließlich wirst du noch behaupten, daß der Tote, der in der Badewanne lag, gar nicht Watermann war.«
»Das nicht gerade, aber behauptet worden ist auch das schon.«
»Stimmt es eigentlich, daß die Badewannenarmaturen ohne Fingerabdrücke waren?«
»Ja, das scheint zu stimmen. Es kann aber sein, daß die Hotelleitung, um das Apartment schnell weiterzuvermieten, eine Putzfrau schickte, die gründlich aufräumte. Putzfrauen haben etwas gegen Fingerabdrücke.«
»Ja, und was hat die Genfer Polizei getan?«
»Nicht sehr viel und nicht sehr gründlich. Sie haben eigentlich darauf gewartet, daß ihnen von deutschen Behörden Hinweise auf mögliche Täter oder Tätergruppen zugehen. Diese Hinweise kamen nie, statt dessen schloß die Staatsanwaltschaft die Akte.«
»Aber die Genfer ermitteln doch weiter.«
»O ja, die bleiben dran. Es wird heute noch ermittelt.«
»Du suchst also jemand, der ihn nach Genf lockte?«
»Ja. Aber im wesentlichen suche ich den, dem vorher aufgetragen wurde, es wäre schön, wenn Watermann plötzlich zu leben aufhörte.«
»Der Kaffee ist fertig, Baumeister. Das ist mir alles zu kompliziert.«
»Aber du bist fasziniert, nicht wahr? Und eigentlich ist es dir auch nicht zu kompliziert, eigentlich hast du ein wenig Angst.«
»Komm Kaffee trinken.«
Sie stand halbnackt, nur mit einem Hauch von Slip bekleidet, vor ihrem Herd und brutzelte irgend etwas. Ihre Rückseite war ein verlockender Anblick.
»Ich komme«, warnte ich.
»Ja, ja, der Kaffee wird kalt.« Dann drehte sie sich herum und hauchte: »Du lieber Gott«, und wurde fast rot dabei. Ehrlich gestanden ärgerte mich das etwas, denn wenn sie sich gedankenlos hüllenlos vor dem Herd produzierte, nahm sie mich als Mann wohl nicht ganz ernst. Aber ich sagte es nicht, ich wahrte meine Interessen.
Sie hatte Spiegeleier auf Speck fabriziert und war erheblich in meiner Achtung gestiegen. »Dies ist ein Arbeitsfrühstück«, erklärte sie. »Erzähl mir, was du jetzt machen willst. Willst du bei diesen Kielern vom Verfassungsschutz weiterbohren?«
»O nein, die wollen nur ihren Hinterhof sauberhalten. Geheimdienstarbeit ist reine Interessenarbeit, keine Spur von Edelmut.«
»Was machst du also?«
»Du hast es bereits erraten. Ich gehe nach Genf, ich sehe mir den Tatort an.«
»Hättest du etwas dagegen, wenn ich mitkomme?« Da stand sie voller Unschuld und meinte es so.
»Das geht nicht. Ich recherchiere immer allein. Außerdem mußt du deine Kneipe am Laufen halten.«
»Muß ich nicht, ich kann Ferien machen, ich habe eine Vertretung.«
»Das ist keine Ferienfahrt.«
»Das ist mir klar. Ich wollte immer schon mal in Journalismus machen.«
»Man kann nicht mal eben einfach so in Journalismus machen. Deswegen gibt es so einen Haufen mittelmäßiger Journalisten.«
»Also, du willst nicht?«
»Ich will nicht. Ich hab gerade einen Versuch in Zweisamkeit hinter mir. Es ging schief.«
»Deshalb beschäftigst du dich mit Watermann, nicht wahr?«
Sie war richtig boshaft.
»Das hätte ich ohnehin getan.« Ich wurde wütend.
»Was war denn so schlecht an ihr?« Sie hatte schmale Augen.
»Wir haben uns in Freundschaft getrennt. Sie will nur noch kommen, wenn ich Heftpflaster brauche. Bei der Recherche zu Watermann hilft alles mögliche, nur keine Analyse von Beziehungskisten.«
Sie schwieg eine Weile, biß auf der Oberlippe herum. Dann sagte sie: »Ich wollte nicht privat werden, tut mir leid.«
»Schon gut«, sagte ich. »Macht ja nichts. Paß auf, daß sie dir nicht einen neuen Karl-Heinz an die Bar stellen.«
»Was heißt das? Gehst du jetzt?«
»Ich muß mir etwas ansehen«, sagte ich. »Ich melde mich.«
»Mein Interesse am Fall Watermann ist ehrlich«, sagte sie mutlos.
»Das glaube ich. Bis später.« Ich stand auf, ging hinaus zu meinem Auto, fuhr erst einmal eine Weile ziellos durch die Gegend und atmete erleichtert durch. Nach Theresa sofort Minna? Das hätte nur Ärger bereitet. Wieso reagierte ich so gereizt? Minna hatte einmal ein Baby mit Watermann, war ihr Interesse nicht normal? Wahrscheinlich war ich nur neurotisch oder, freundlicher formuliert, nervös. Es war nicht mein Jahr, dieses Jahr, beziehungsmäßig jedenfalls.
Ich trudelte über Plön und Eutin in Richtung Lübeck, machte hier und dort halt, um einen Kaffee zu trinken oder ein Eis zu essen. Ich wußte nicht, ob Genf eine gute Entscheidung war.
Ich kannte in Genf niemanden, nicht einmal eine Kollegin oder einen Kollegen.
Seit wann, Baumeister, machst du deine Recherchen davon abhängig, ob du am Tatort jemanden kennst oder nicht? Wahrscheinlich war ich krank, irgendein Virus.
Auf krummen Wegen landete ich gegen Abend in der schönen Gemeinde Timmendorfer Strand und mietete mich im Hotel Dryade ein. Vermutlich hatte ich Angst, mit mir alleine in meinem Jeep zu schlafen. Ich aß bei irgendeinem Italiener, der mir für dreiundzwanzig Mark fünfundsiebzig genügend Nudeln für einen hohlen Zahn servierte und hockte mich dann in einem Straßencafe an einen Tisch, um trübsinnig vor mich hinzustarren.
Ich marschierte an einem Minigolfplatz vorbei, auf dem verbiesterte Bürger kleine unschuldige Bälle in irgendwelche Löcher zu schlagen versuchten und dabei genauso verklemmt aussahen wie ich. Ich dachte: Du hast dich irgendwo am Straßenrand verloren, Baumeister, du solltest versuchen, wieder zu Bewußtsein zu kommen. Ich rief also Minna im Harlekin an, und jemand sagte muffig: »Hat keine Zeit, macht Toast.«
»Sagen Sie ihr, Baumeister ist dran. Ich warte.«
Nach einer Weile hob sie den Hörer auf. »Ich dachte schon, du seist auf ewig verschwunden. Wo bist du?«
»Timmendorfer Strand, in einem Hotel. Ist Karl-Heinz bei dir an der Bar?«
»Nein. Er hat sich nicht sehen lassen.«
»Kannst du feststellen, ob er zu Hause ist?«
»Ich kann jemanden hinschicken.«
»Tu das, bitte.«
»Warum?«
»Ich hab da so eine Ahnung. Und wenn ich eine Ahnung habe, will ich wissen, ob sie richtig ist.«
»Kommst du hierher?«
»Nein. Ich fahre erst einmal zurück in die Eifel. Ich muß mich um Krümel kümmern, ich muß eilige Geldsachen erledigen. Dann fahre ich nach Genf.«
»Und? Kann ich mit?«
»Ja. Aber ich kann dich nicht ernähren.«
»Getrennte Kasse?«
»Das wäre mir recht.«
»Wann muß ich antreten?«
»Sagen wir in drei Tagen? Du fährst die Autobahn Köln-Brühl-Euskirchen. Bis ans bittere Ende. Dann links ab nach Hillesheim.« Ich gab ihr die Adresse. Später lag ich in meinem Bett und wußte plötzlich, daß ich nichts anderes tat, als wortlos um Theresa zu trauern.
Watermann interessierte mich nicht wirklich, Watermann war ein Phänomen weit draußen am Horizont meines Lebens, dort wo Traum und Wirklichkeit sich berührten. Ich schlief fast bis Mittag, frühstückte dann und rief Minna an.
»Ist Karl-Heinz da?«
»Nein. Er ist verschwunden, seit wir ihn nachts besucht haben. Wieso willst du das wissen?«
»Es interessiert mich eben. Ich werde es dir irgendwann einmal erklären. Bis dann.«
In Höhe Osnabrück erwischte mich auf der Rückfahrt ein grandioses Gewitter von fast tropischen Ausmaßen. Es dauerte nicht einmal drei Minuten, bis die Autobahn gesperrt war, weil wie üblich einige Trottel sich eisern auf die Kunst der Autokonstrukteure verließen und sich vom Gaspedal nicht trennen wollten. Jetzt hatten sie Beulen am Blech und Blessuren am Körper und sahen so aus, als würden sie alle naselang anfangen, bitterlich zu weinen.
Ich verlor auf diese sympathische Weise etwa zwei Stunden und erreichte die Eifel erst, als es schon dunkel war und auf Mitternacht zuging.
Normalerweise erwartet mich meine Katze Krümel vor der Haustür. Sie kann den Motor des Autos über Kilometer hören. Aber diesmal war Krümel nicht da.
Ich zog das Leichtmetalltor auf, das meine Garage dichtmacht, hockte mich in den Jeep, schaltete das Licht ein und wollte ihn hineinfahren.
Dann sah ich die Katze.
Sie hatten sie an einem Draht am Schwanz aufgehängt. Der Draht führte durch einen Eisenhaken an der Decke, in dem ich meistens einen Holzrechen eingefädelt habe. Die Katze war grau, sie sah aus wie Krümel, und eine Sekunde lang hatte ich ein Würgen im Hals und wollte den Rückwärtsgang einlegen, um wieder zu verschwinden. Ich stieg aus und ging zu dem Tier.
Es war steif, es war lange tot, es sah so aus wie Krümel, aber es war nicht Krümel. Es war der Kater, den ich immer den Freundlichen nannte, weil er so unermüdlich an das Gute im Menschen glaubte und seinen Kopf an den Beinen jedes Vorübergehenden schabte und dazu schnurrte. Der Freundliche war der Vater der Babys gewesen, die Krümel zwei Jahre zuvor auf meinem Schreibtisch bekommen hatte.
»Scheiße«, sagte ich laut.
Dann fuhr ich den Wagen ein paar Schritte zurück und machte das Garagentor wieder dicht. Ich schloß das Haus auf und lauschte eine Weile in die Dunkelheit. Dann hörte ich Krümel. Sie kam die leicht knarrende Treppe hinunter, und sie bewegte sich nervös und unruhig. Ihr Schwanz ging aufgeregt hin und her.
»Schöne«, sagte ich, »was war los?«
Sie kam heran und verlor etwas von ihrer Aufgeregtheit. Sie rieb sich an meinen Beinen, und ich ging voraus in die Küche und machte ihr eine Dose Seelachs auf. Während sie fraß, rief ich Dr. Schneider in Gerolstein an. Ich sagte: »Es ist mir wurscht, ob Sie mich für verrückt halten, aber Sie müssen jetzt sofort hierherkommen.«
»In der Nacht? Ist was mit Krümel?«
»Nein. Es ist nicht Krümel, es ist Krümels Exmann. Es ist wichtig.«
»Na gut«, sagte er nicht sehr begeistert.
»Ist jemand im Haus, der nicht ins Haus gehört?« fragte ich meine Katze.
Sie antwortete nicht, sie ließ sich nicht vom Fressen abhalten. Also waren wir allein. Ich ging hinauf und machte das Fenster meines Schlafzimmers auf. Es war stickig im Haus. Ich ging auf den Dachboden und sah sicherheitshalber nach, ob sich hier irgendwo jemand versteckt hatte. Ich entdeckte nichts. Dann ging ich wieder hinunter und rief Alfred an.
»Kannst du kommen?«
»Wann? Morgen früh?«
»Nicht morgen, jetzt.«
»Was ist los? Ich glaube, mein Schwein pfeift.«
»Komm schon«, sagte ich ungeduldig und legte den Hörer auf.
Sie kamen nahezu gleichzeitig. Schneider ließ seinen Wagen auf dem Hof ausrollen und fragte aus dem Fenster heraus: »Feiern Sie Geburtstag oder so was?«
»Nein«, sagte ich. »Sie müssen eine Leiche untersuchen.«
»Ich bin Tierarzt.«
»Ja, eben.«
Alfred stoppte hinter ihm. »Was ist los?«
»Fahr mal so, daß deine Scheinwerfer in die Garage leuchten«, sagte ich. Ich zog das Tor auf.
»Ach du lieber Gott«, sagte Schneider.
»Das ist ja irre«, sagte Alfred.
»Ich muß wissen, wie lange das Tier schon tot ist. Ungefähr. Hast du irgendwen im Dorf oder hier auf dem Hof gesehen?«
»Nein. Aber heute morgen, vor dem Melken, waren Fremde im Dorf. Sie haben unten bei Mechthild Zigaretten gezogen. Das ist alles. Aber ich weiß nicht, wer das war.«
»Wer hat sie gesehen?«
»Ludwig ist losgefahren, um den Milchwagen zu holen. Das muß um fünf Uhr gewesen sein oder früher. Ist jemand hinter dir her?«
»Sie haben die Katze wahrscheinlich mit Krümel verwechselt«, sagte ich.
Schneider ging los und sah das Tier aufmerksam an. Dann faßte er es an und tastete es ab. Er schüttelte den Kopf. »Ich nehme es mal ab.« Er legte sie in die Schubkarre und tastete sie erneut ab. »Das muß so zwischen achtzehn Stunden und einem vollen Tag her sein.«
»Haben sie ihr das Genick gebrochen?«
»Weiß ich nicht. Die Schweine haben das Tier wahrscheinlich lebend an dem Draht aufgehängt. Es hat sich zu Tode gestrampelt. Sehen Sie mal, rechts von dem Haken. Da hat es versucht, die Krallen in den Beton zu schlagen.«
»Heilige Scheiße«, sagte Alfred rauh. »Ich hole mal Ludwig raus, er muß mir sagen, was das für Kerle waren. Was für Vögel sind denn hinter dir her?«
»Das weiß ich nicht so genau«, sagte ich.
»Erstatten Sie Anzeige?« fragte Schneider.
Ich schüttelte den Kopf. »Es war einfach. Sie konnten von hinten in die Garage. Durch die alte Stalltür.«
»Was sind das denn für Leute?« fragte er unruhig.
»Ich weiß es nicht«, log ich. »Vielen Dank noch einmal.«
Er fuhr vom Hof, und Sekunden später fuhr auch Alfred. Ich ging hinein und fand es elend leer und still. Ich hörte eine Weile Manhattan Transfer, aber das konnte mich auch nicht trösten. Ich war gerade am Eindösen, als Alfred die Tür aufstieß.
»Ludwig sagt, es war Viertel nach vier. Er ist rüber zur Molkerei, um mit dem Tankwagen loszufahren. Das heißt, er wollte rüberfahren. Dann hatte er keine Zigaretten mehr und wollte sich welche in Mechthilds Automat ziehen. Er sagt, es waren vier. Sie waren so um die zwanzig Jahre alt. Weiße kurze Hemden, Stoppelfrisur und diese Kampfstiefel. Er sagt, sie fuhren von Mechthild aus weiter ins Dorf. Sagt dir das was?«
»O ja«, sagte ich.
»Wo ist denn diese … diese schmale Dunkelhaarige? Ist sie weg?«
»Ja. Sie ist weg.«
»Meinst du, diese Kerle sind noch in der Gegend?«
»Was sagt Ludwig, was fuhren sie für einen Wagen?«
»Einen alten Granada 2,8i. Dunkelgrün, sagt Ludwig. Ach ja, Kieler Nummer. Warst du in Kiel?«
»Ich war in Kiel.«
»Also alte Bekannte?«
»Kann man sagen. Die Katze war nur eine Warnung. Ich denke, sie sind noch hier.«
»Na gut, aber wo?« Er ging an den Eisschrank, holte sich eine Flasche Sprudel und öffnete den Kronkorken mit seinem Feuerzeug. »Wenn sie noch hier sind, dann oben am Sportplatz. Von dort aus können sie das Haus sehen.«
»Dann fährst du jetzt weg. Ich gehe langsam bis zum Steinbruch. Und sag Markus Bescheid. Wenn ihr sie mit euren Traktoren in die Zange nehmt, können wir sie uns packen. Ich gebe dir zehn Minuten Vorsprung. In Ordnung?«
Er nickte und ging hinaus, und ich hörte, wie er wegfuhr. Ich wartete zehn Minuten. Dann löschte ich die Lichter mit Ausnahme der Leuchte neben der Haustür. Sie sollten mich gut erkennen.
Ich ging die Weinbergstraße hoch, an den Häusern meiner Nachbarn vorbei. Es war sehr still, einmal glaubte ich einen Motor zu hören, aber das konnte eine Täuschung sein. Linker Hand war der Bolzplatz für die Kleinen mit dem schönsten englischen Rasen, den ich kenne. Dann kam die Gruppe jahrhundertealter Eichen, dann die Schneise, in der die drei Waldwege beginnen. Ich nahm den linken. Über den Wiesen und den Feldern mit Braugerste kam mattgrau der Tag gekrochen. Ich ging langsam und rauchte eine Jubiläum von Stanwell.
Die Szenerie kam mir lächerlich vor. Da waren irgendwelche verführte Jugendliche, die die Welt retten wollten, und ich ließ mich darauf ein, mit ihnen Räuber und Gendarm zu spielen. In diesem Fall allerdings war es wichtig, sehr schnell und sehr plötzlich mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Es war die einzige Möglichkeit, ihnen zu zeigen, daß ich auf der Hut war.
Ich bückte mich und pflückte ein paar Walderdbeeren, die grellrot im Gras standen. Dabei sah ich sie. Sie ließen ihr Auto parallel zu mir über einen Feldweg rollen. Es war gespenstisch, da ich sie nicht hörte. Sie waren dreihundert Meter jenseits der Wiesen und glitten wie ein Schatten durch die Landschaft.
Sie waren so dumm.
Die Schmetterlinge wurden wach. Auf einer violetten Distel hockten ein Tagpfauenauge und ein Ochsenauge und breiteten zittrig die Flügel aus, um den Tag zu prüfen. Ich wünschte ihnen guten Flug.
Der alte Steinbruch, der nur noch gelegentlich von Leuten benutzt wird, die sich hier Steine für ihre Gärten holen, hatte zwei Eingänge, die beide gerade mal so breit wie ein Auto waren. Ich ging durch den rechten Eingang über die glattgefahrene Fläche vor der Steilwand. Ich hockte mich auf einen Steinbrocken und entdeckte zwischen meinen Füßen zwei stahlblaue Mistkäfer, die über Grashalme torkelten.
Die Frage war, ob sie den Fehler machen würden, den sie auf keinen Fall machen durften. Sie machten ihn.
Sie kamen sehr schnell den Wiesenweg herunter und bretterten, wohl um Eindruck zu schinden, direkt durch den Eingang, den auch ich genommen hatte.
Sie stiegen nicht sofort aus, sie sahen sich um. Zwanzig Meter weiter warf Alfred den Motor des CASE an und kam mit Vollgas rückwärts in den Eingang gefahren. Er hatte einen großen Heuwender angespannt, einen Wald langer Stahlspitzen. Er ließ den Wender hochkommen, und die Teller begannen sich zu drehen.
Sie stiegen immer noch nicht aus, aber sie hatten ihre Lage begriffen. Zwischen ihnen und dem rettenden zweiten Ausgang lag ein fast drei Meter tiefer Graben mit steilen Wänden, den der Sprengmeister hatte sprengen lassen. Sie saßen fest.
Sie stiegen aus und blieben neben ihrem Auto stehen. Sie machten einen verdutzten Eindruck, sahen aber immer noch gefährlich aus. Sie trugen Sonnenbrillen. Dann heulte ein zweiter Trecker auf, und Markus auf einem John Deere schob sich in den zweiten Eingang. Auch er setzte rückwärts in die Lücke, auch er hatte einen wellengetriebenen Heuwender eingespannt.
»Jetzt kommt ihr nicht einmal mehr zu Fuß raus«, sagte ich laut. Ich winkte Alfred zu, und er ließ den Wender schnell laufen. Das rechte Horrorszenario für verwirrte Jugendliche: Fleischwölfe für Menschen. Dann stellten beide die Motoren ab.
»Wir sind vier«, sagte Karl-Heinz.
»Ja, ja«, sagte ich. »Komm bitte her.«
»Wieso das?«
»Weil ich mit dir reden will und weil ich nicht brüllen möchte. Nein, nein, nicht alle vier, nur der Karl-Heinz.«
Sie wisperten miteinander, dann kam Karl-Heinz zu mir her.
»Ich wollte mich nur mit dir unterhalten«, sagte er.
»Das wolltest du nicht«, erwiderte ich. »Du hast die Katze aufgehängt. Du hast sie umgebracht.«
»Ja und? Ich hab das nur gemacht, damit du gewarnt bist. Du sollst aufhören, dich mit Watermann zu beschäftigen.«
»Was du tust, ist Nötigung, Erpressung und Tierschinderei, und was weiß der Teufel noch alles. Hat Opa dir das befohlen?«
»Opa? Ach so, der. Nein, Opa redet nicht mit uns. Das machen andere. Sie sagen uns immer, auf wen wir ein Auge haben sollen. Aber wir sind privat hier.«
»Privat? Was willst du?«
»Nichts. Ich will nur, daß du aufhörst, nachzuforschen. Wir haben schon Schwierigkeiten genug in diesem Staat.«
»Du bist ein Arsch, mein Freund, du läßt dich einspannen, du hast dir das Denken abgewöhnt.«
»Red nicht so was. Wir kommen hier raus, wir kommen hier spielend raus. Jederzeit.«
»Versuch es.«
Er drehte sich herum. Seine drei Kumpel standen wie angewachsen zusammen.
»Versuch es«, wiederholte ich. »Versuch es ruhig. Ich will dir nur zeigen, daß du bei mir keine linke Tour drehen kannst. Sag mir schon, wer dich bezahlt.«
»Mich bezahlt keiner«, sagte er schnell.
»Wer bezahlt dich?«
»Keiner, ich mache es ehrenamtlich.«
»Hör zu, ich verstehe was davon. Du kannst vom Lohn bei der Müllabfuhr nicht mal den Sprit bezahlen. Wie läuft das, wer bezahlt dich?«
Unschlüssig schabte er mit der Spitze seines rechten Stiefels über einen roten Basaltbrocken.
Ich verstärkte den Druck. »Hör zu, als ich die Katze gefunden habe, wußte ich sofort, daß du es warst. Ich habe meinen Freunden Bescheid gegeben. Sie stehen vor dir. Wenn die Heuwender laufen, habt ihr keine Chance. Und im Dorf unten warten die Bullen …«
»Wir haben Waffen«, sagte er.
»Waffen? Bist du verrückt?«
»Wieso?« Jetzt war er erstaunt.
»Du landest im Knast.«
»Wir haben alle vier Waffen.«
»Du meinst, du kannst uns wie Karnickel abschießen und abhauen? Bist du so naiv, oder tust du nur so? Du hast niemals eine Waffe, du gibst nur an.«
Er griff nach hinten in den Hosenbund und hatte die Waffe in der Hand. Sie sah echt aus, wenngleich ich von Waffen nichts verstehe.
»Wer bezahlt dich?«
»Ich bin privat.«
»Zum letztenmal, wie finanzierst du das?«
»Na ja, wir machen eine Ferientour. Sie geben uns eine kleine Beihilfe. Hundert Mark pro Mann und die Verpflegung und den Sprit. Wir kämpfen für eine gute Sache.«
»Was ist an der Sache gut, Karl-Heinz? Katzen aufhängen, Leute bedrohen und verprügeln?«
»Es ist ja nur für die Sache«, sagte er mutlos.
»Du machst dich kaputt damit«, sagte ich und wandte mich leicht von ihm ab. »Sie nutzen dich aus, sonst nichts. Wenn du in Schwierigkeiten kommst, dann behaupten sie, dich niemals gesehen zu haben, dich nicht zu kennen. Für sie bist du ein Arsch.«
Dann trat ich zu. Ich traf ihn voll zwischen die Beine, und er ließ die Waffe fallen und schrie grell. Ich nahm die Waffe hoch, und er bückte sich tief nach vorn und schnappte wie verrückt nach Luft.
Der Lauf der Waffe war zugegossen.
Alfred und Markus warfen die Trecker an, legten den Rückwärtsgang ein, ließen die Wellen der Heuwender anlaufen und fuhren langsam an.
»Hört auf!« schrie ich.
Sie stoppten sofort.
Karl-Heinz lag flach auf dem Bauch und versuchte mit den Schmerzen fertig zu werden. Sein Gesicht war schneeweiß. »Ich lasse dich laufen«, sagte ich. »Ich will dich schonen. Wenn ich dir noch einmal begegne, lasse ich dich verhaften.« Dann ging ich an seinen drei Kumpanen vorbei und stach mit meinem Schweizer Messer ihren rechten Hinterreifen an. Sie bewegten sich nicht, sie sagten kein Wort. Ich stellte mich hinten auf den Querträger von Alfreds Trecker, und er rumpelte los. Ich hatte das ekelhafte Gefühl, zu den Leuten zu gehören, die Leuten wie Karl-Heinz keine Chance geben.
»Das war knapp, wie?« sagte Alfred.
»Es sind Kinder«, sagte ich. »Maßlos gefährliche Kinder. Die Treibhausluft bei uns tut ihnen gut.«
Zu Hause legte ich mich nackt auf mein Bett, es war sehr warm im Zimmer. Nach einer Weile kam Krümel maunzend ins Haus, die Treppe hoch und legte sich quer über meine Beine. Irgendwann schellte das Telefon, und die ungläubige Stimme des Tierarztes Schneider sagte: »Ich habe obduziert. Der Kater hat sich bei seinen Freiheitsbemühungen selbst das Genick gebrochen.«
»Wie schön. Ich komme gelegentlich vorbei.«
»Das habe ich umsonst gemacht«, sagte er.
»Danke«, sagte ich und schlief gleich darauf wieder ein. Als ich wach wurde, brannte die Sonne, es war drei Uhr nachmittags, und ich ging daran, einen Haufen altes Geschirr zu spülen. Ich hatte es noch zusammen mit Theresa benutzt, und einmal muß man anfangen aufzuräumen.
Dann hockte ich mich in den Garten unter die zwei kleinen Birkenbüsche und dachte darüber nach, ob es sich lohnen könne, dem merkwürdigen Tod des Watermann ein paar Tage zu opfern. Das Wetter war schön genug, langsam nach Genf zu gondeln, sich ein wenig umzuhören und umzusehen. Die Frage war, ob die bloße Ahnung, daß der Mörder sein Opfer höchstpersönlich nach Genf lockte, ausreichte. Vor allem, wenn man die Auswahl zwischen mindestens acht Gruppen und also sehr vielen Menschen hatte.
Ich entschloß mich für Genf, denn alles war jetzt besser, als in der Eifel zu bleiben und zu erleben, daß die Menschen in Urlaub fuhren oder braungebrannt und gutgelaunt zurückkehrten. Dann fiel mir ein, daß spätestens in achtundvierzig Stunden Minna Tenhövel auf den Hof rollen würde, und ich schalt mich einen Narren. Das war keine gute Entscheidung gewesen.
Ich rief die Kripo in Kiel an. Ich ließ mich mit dem Diensthabenden verbinden und erklärte: »Mein Name ist Siggi Baumeister, ich bin ein Journalist. Ich war gerade in Kiel, um mich ein wenig um den Fall des toten Ministerpräsidenten Watermann zu kümmern. Bei der Gelegenheit lernte ich in einem abhörsicheren Haus des Verfassungsschutzes einen älteren Mann kennen. Man nennt ihn Opa. Er hat, direkt oder indirekt, eine Gruppe jugendlicher Rechtsradikaler auf mich gehetzt. Sagen Sie ihm bitte, er soll das lassen, sonst bekommt er Schwierigkeiten, und zwar gewaltige, denn ich …«
»Moment, Moment, Sie sind hier falsch. Hier ist die Kriminalpolizei, hier ist …«
»Sagen Sie Opa, daß die Jugendlichen zugegeben haben, auch noch dafür bezahlt zu werden. Ich danke Ihnen.«
Dann legte ich auf, wohlwissend, daß sie sich nicht mochten, die Männer von der Kripo und die vom Verfassungsschutz. Sie würden sich einen Spaß daraus machen, Opa ein Feuer unter den Hintern zu setzen. Wenn man ein Ei legen will, sollte man das gründlich tun.
Dann fuhr ich in die »Tasse« und aß ein großes Joghurteis mit Früchten. Als ich zurückkam, stand da ein Golf vor der Tür, und auf den Stufen hockte Minna und sagte: »Ich habe mir gedacht, daß ich sofort hierherfahre. Du hast es aber hübsch hier.«
»Ab in den Garten. Da liegt ein Schlauch. Mach die Beete gründlich naß. Anschließend gibt es eine Forelle in Niederehe. Trag dein Gepäck rauf in das erste Zimmer. Wir fahren morgen früh um vier.«
»Wieso hast du nach Karl-Heinz gefragt?«
»Er war vor ein paar Stunden noch hier. Ich erzähle es dir. Aber erst den Garten sprengen.«
Ich berichtete ihr alles bei der Forelle, und sie war tief betroffen und wollte nicht aufhören, darüber zu sprechen.
Sie fragte: »Wie kann denn irgendein Geheimdienst so dumm sein, sich mit der Mitarbeit von solchen Kindern zu belasten?«
»Das ist überhaupt nicht dumm und zuweilen die einzige Möglichkeit, herauszufinden, welche Stimmung unter den Extremen herrscht.«
»Aber dann noch mitarbeiten lassen …« Sie verstand das nicht.
»Diese Mitarbeit läßt sich in der Regel nicht beweisen. Um die Mitarbeit zu beweisen, müßte ein Richter die wahrheitsgemäße Zeugenaussage von Beamten verlangen können. Kann er aber nicht, denn diese Beamten erhalten von ihrer vorgesetzten Behörde in der Regel keine Aussagegenehmigung. Das bedeutet in unserem Fall: Ich kann so oft behaupten, wie ich will, daß die Kids auf mich angesetzt und bezahlt wurden. Beweisen kann ich das nie und nimmer.«
»Das ist Machtmißbrauch.«
»Stimmt.«
Wir schliefen ein paar Stunden, luden das Gepäck ein und verließen die Eifel morgens gegen halb fünf. Bis Koblenz ging es glatt, aber dann gerieten wir bald in die ersten Staus. Dummerweise hatte ich übersehen, daß in Nordrhein-Westfalen an diesem Tag die Ferien begannen. Es war hoffnungslos, und so fuhren wir kurz vor dem Autobahnkreuz Weinsberg ab, um uns über deutsche Landstraßen nach Süden zu quälen. Grob gesprochen hangelten wir uns über den Schwarzwald nach Süden, übernachteten in Basel und fuhren dann über Montreux weiter nach Genf.
Immer wieder begannen wir unsere Überlegungen mit dem Satz: »Er gibt also der Nation sein Ehrenwort, ich wiederhole Ehrenwort, und entschwindet in den Urlaub …« Einmal fragte sie: »Nehmen wir einmal an, das Apartment ist der Tatort. Es war von einer Flasche Rotwein die Rede. Da sollen auch zwei Gläser gestanden haben. Dann ist nicht mehr von Rotwein und Gläsern die Rede, sondern von einer Flasche Whisky. Ist das Apartment nicht genau durchsucht worden?«
Ich dozierte also: »Dieser Tatort, das Apartment, ist das dubioseste, was ich je erlebt habe. Du erinnerst dich, daß dieser Etagenkellner Vergori dem Watermann am Samstagabend gegen halb sieben eine Flasche Rotwein mit zwei Gläsern brachte? Gut. Es war eine Hausmarke namens: ›Gestiefelter Kater‹ von 1985. Watermann sagte Vergori, er solle nichts eingießen, das mache er selber. Als Watermanns Leiche gefunden wird, ist diese Flasche Rotwein verschwunden, buchstäblich verschwunden, denn Vergori hat nach eigenen Angaben die leere Flasche und die Gläser nicht wieder aus dem Apartment herausgeholt, er hat es nicht mehr betreten. Die beiden Gläser gab es noch. Eines lag zerdeppert, aber nachweislich ausgespült und ohne Fingerabdrücke, im Papierkorb, das andere stand unbenutzt auf einem Tischchen. Die Rotweinflasche war verschwunden, dafür lag in einem Papierkorb eine kleine Flasche Whisky der Marke ›Jack Daniels‹ aus der Mini-Bar. Sie war ausgetrunken und ebenfalls ausgespült und ohne Fingerabdrücke …«
»Und trotzdem haben die schlauen Leute sich für Selbstmord entschieden?«
»Sie wollten auf keinen Fall die Wahrheit wissen.«
»Also hat Watermann zusätzlich zu den acht Medikamenten auch noch Alkohol getrunken?«
»Eben nicht. Die Obduktion hat keine Spur von Alkohol ergeben. Das heißt, sowohl den Rotwein wie den Whisky hat jemand anderer getrunken. Oder, um verwirrende falsche Fährten zu legen, den Rotwein ausgegossen oder verschwinden lassen, und den Whisky ausgegossen.«
»Die Staatsanwaltschaft in Kiel hat das Ermittlungsverfahren abgeschlossen, obwohl sie das alles wußte?«
»Obwohl sie das alles wußte.«
»Stimmt es eigentlich, daß dieser Gerber im benachbarten Hotel einquartiert war? Und wer genau ist Gerber?«
»Manfred Gerber, Alter heute zweiundfünfzig, gibt als Beruf Privatermittler an, wurde jahrelang vom Bundeskriminalamt als privater Agent eingesetzt und gefördert. Machte sich einen Namen durch einige merkwürdige Dinge. Zum Beispiel sprengte er ein Loch in die Gefängnismauer in Celle, um dadurch in den inneren Kern der Rote-Armee-Fraktion zu gelangen. Arbeitete später für deutsche Industrieunternehmen in Südamerika. Ein sehr mysteriöser Mann. Er war nachweislich in Genf, als Watermann starb. Wohnte nur ein paar Meter weiter. Das sagt alles, aber gleichzeitig sagt es nichts, denn Genf ist die internationale Hochburg der Geschäftsleute, die mit Waffen reich werden. Gerber hat eine enge Anbindung an diese Leute, tummelt sich dauernd für Versicherungen im Untergrund. Insofern ist es auch logisch, daß Watermann ausgerechnet nach Genf gelockt wurde, denn Watermann wiederum wußte eine Unmenge über illegale Waffendeals. Er wußte genau Bescheid über den U-Boot-Deal mit Südafrika, er wußte über eine Unmenge von illegalen Waffengeschäften deutscher Unternehmen in kriegführende Drittländer Bescheid. Viele dieser Waffen sind zunächst in die DDR geschafft worden, um von dort verschifft zu werden. Der Knabe, der das arrangierte, heißt bekanntermaßen Schalck-Golodkowski und war nicht nur Geheimdienstoffizier, sondern der absolute Managerkönig der Ex-DDR.«
»Also kann irgendein Waffenhändler Watermann ermordet haben …«
»Kann, bestenfalls kann. Für Waffenhändler von internationalem Ruf war dieser Watermann nicht mehr als ein quersitzender Furz, ein unbedeutender Mensch.«
Sie starrte mich von der Seite an und begann zu kichern.
»Ihr seid doch bescheuert, ihr Männer. Glaubst du denn im Ernst, irgendein Großmächtiger aus der Politik ruft einen Killer an und sagt: Tu mir mal eben den Gefallen und lege Watermann um! Glaubst du so einen Schmarren?«
»Hältst du politische Morde für möglich?«
»Natürlich.«
»Hast du eine Vorstellung, wie sie ablaufen?«
»Nein, habe ich nicht. Ich stelle mir ein Gremium vor, das entscheidet, dieser oder jener muß weggeschafft werden, und dann …«
»So läuft es eben nicht ab. Nehmen wir unseren Fall, nehmen wir Watermann. Watermann fliegt mit Ehefrau in den Urlaub. Dann schmeißen ihn die eigenen Parteigenossen aus dem Landtag. Das war eine Panne, ich gehe jede Wette ein, daß dies die Superpanne im ganzen Durcheinander war. Watermann liest von seinem Rausschmiß in der Zeitung und dreht durch. Er hat sein ganzes Leben für die Partei geschuftet, er hat für sie gelebt. Sie hat ihn großgemacht, aber er hat sie auch gestärkt. Jetzt schmeißen ihn dieselben Leute, die ihm vorher in den Arsch gekrochen sind, aus dem Verein heraus. In diesem Augenblick ist Watermann vogelfrei. Die großen Politiker kriegen plötzlich die Panik.
Sie konnten den Fehler, den die Landesgruppe der Christlichen in Schleswig-Holstein gemacht hatte, nicht wieder ausbügeln. Sie wußten: Watermann rast vor Wut über seinen Rausschmiß. In diesem Moment wußten alle Betroffenen, daß Watermann nicht den Mund halten würde. Sie mußten etwas unternehmen, sie mußten die Notbremse ziehen, sie mußten …«
»Und dann hat der Kanzler beim Frühstück gesagt: Nietet ihn um!« Sie schlug sich vor Begeisterung auf die Schenkel.
»Das ist natürlich Unsinn. Unser Bundeskanzler ist ein höchst ehrenwerter Mann, ebenso ehrenwert wie alle seine Minister. Niemals würde einer dieser Männer sagen: Bringt den oder jenen um die Ecke. So funktioniert das nicht. Sie müssen gar nichts sagen, verstehst du?«
»Das verstehe ich nicht.«
»Es ist ganz einfach. An diesem Punkt war ziemlich leicht auszurechnen, was Watermann tun wird: Er wird über kurz oder lang reden, ein Buch schreiben, seine Version der Wahrheit sagen. Alle wissen ganz genau, daß Watermann von rund zehn bis zwanzig Skandalen erzählen kann. Mit Sicherheit so detailliert, daß Minister darüber fallen, Staatssekretäre stolpern, hohe Beamte entlassen werden müssen, Parteivorsitzende angeschlagen sind, Geheimdienste ins Zwielicht geraten. Also muß der Bundeskanzler gar nichts sagen. Er kann sich darauf verlassen, daß genügend hohe Beamte auf Landes- und Bundesebene begreifen: Wenn Watermann redet, sind wir alle dran! Wenn das Boot leck ist, sinken wir alle. Jetzt kommt das Verrückte: Auch diese hohen Beamte werden nie und nimmer sagen: Bringt Watermann um! Sie werden etwas anderes sagen. Ahnst du, was sie sagen?«
»Nein«, sagte sie verkrampft.
»Ganz einfach: Sie behaupten, daß Watermann in diesem Zustand die Sicherheit des Staates in einer nicht mehr zu kontrollierenden Weise gefährdet. Dann folgt die zweite Phase: Irgendeiner dieser außerordentlich mächtigen Beamten ist auf der Sicherheitsseite tätig, egal ob auf der Landesebene oder auf Bundesebene. Der Mann hat also direkte Weisungsbefugnis. Er kann entscheiden: Watermann ist jetzt in überragender Weise gefährdet und somit gefährlich. Es steht zu befürchten, daß Watermann getötet wird. Also muß ich ihn schützen, also locke ich ihn zu seinem Schutz nach Genf …«
»Moment mal, du stellst doch die Welt auf den Kopf!« sagte sie hastig.
»Nicht die Spur«, sagte ich. »Ich kann als haushoher Bundesbeamter, zuständig für Sicherheitsfragen, nach dem Tod Watermanns behaupten: Ich habe ihm empfohlen, direkt nach Genf zu kommen, weil wir ihn dort schützen konnten. Das gelang nicht.«
»Mit anderen Worten: Niemand braucht zu sagen: Bringt ihn um! Und niemand muß fürchten, sich schuldig zu bekennen.«
»So ist es.«
»Was suchen wir dann in Genf?«
»Wir suchen den einen Fehler, den sie gemacht haben.«
»Willst du wieder Finanzamt schreien?«
»Ja«, sagte ich. »Ich weiß nur noch nicht, in welche Richtung ich schreien soll.«
»Du willst natürlich im Apartment von Herrn Watermann schlafen und in seiner Badewanne baden?«
»Nein, absolut nicht. Ich bin ein empfindlicher Mensch.«
Sie wurde ungeduldig. »Wo wollen wir denn anfangen?«
Mir wurde immer klarer, daß sie keine pflegeleichte Reisegefährtin sein würde. Ich brummelte: »Willst du meine Volontärin werden, mein Lehrling?«
»Na ja, warum nicht? Also, erkläre mir dein Vorgehen, bitte.«
»Stell dir vor, du bekommst in der Schule die Aufgabe, einen Aufsatz zu schreiben. Über ein Thema, das du sehr gut beherrschst. Was machst du? Du sammelst Stoff. Genau dasselbe tun wir jetzt auch. Wir sammeln alles an Fakten und Vermutungen, was wir kriegen können. Das ergibt ein Muster. An der Stelle, an der eine Vermutung eine Tatsache ersetzt, müssen wir versuchen, an Beweise zu kommen oder aber an Aussagen, die Beweiskraft haben. Nimm einen einzigen Punkt: Watermann taucht in diesem Hotel auf, hat aber nachweislich nicht selbst das Zimmer gebucht. Niemand weiß, wer es für ihn gebucht hat. Die Frau war es nicht, sein Bruder war es nicht, aber jemand hat für den Herrn Dr. Dr. Watermann gebucht. Das führt zu einem nächsten, nie erledigten Problem: Wir wissen, daß dieser Gerber im Nachbarhotel ›Le Richemond‹ wohnte. Aber wer im Hotel ›Beau Rivage‹ des Watermann logierte, wissen wir nicht. Die Gästeliste wird aus Gründen der Diskretion in der Schweiz wie ein Geheimdossier behandelt. Also brauchen wir diese Liste, um festzustellen: Wer waren denn Watermanns Zimmernachbarn? Vielleicht ist diese Liste aufschlußreich, vielleicht ist sie so langweilig wie ein Telefonbuch. Wir werden sehen.«
»Baumeister, das kriegen wir nie raus«, murmelte sie nach einer Weile.
»Da bin ich mir nicht so sicher, wir müssen nur laut genug Finanzamt schreien.«
»Du bist wirklich ein merkwürdiger Mensch. Lebst unter Bauern und Handwerkern mitten im Wald und braust hierher, um den ganz Großen ans Bein zu pinkeln.«
»Das hast du aber fein formuliert.«