DRITTES KAPITEL
»Würde denn jemand wie Ole, oder anders gefragt, würden Ole und Betty in jedem Fall versuchen, einen Ersatzmann für das Geschäft zu finden?« fragte ich Rodenstock.
»In jedem Fall«, antwortete er. »Meiner Ansicht nach sind sie todsicher keine Bürokraten und wahrscheinlich alles andere als pingelig oder ordnungsliebend. Aber eines werden sie sich überlegt haben: es war durchaus nicht sicher, daß sie in Kanada bleiben konnten. Sie haben bestimmt damit gerechnet, daß etwas schiefgehen könnte. Beispielsweise bestand die Gefahr, daß sie keine Arbeitserlaubnis bekommen würden. Für diesen Fall mußten sie die Möglichkeit haben zurückzukehren, wenigstens für einen bestimmten Zeitraum. Sie mußten also einen Ersatzmann finden, um das Geschäft nach ihrer eventuellen Rückkehr sofort wieder übernehmen zu können. Ist doch logisch?«
»Das ist sehr logisch«, sagte ich. »Aber selbst Mario scheint nicht zu wissen, wer der neue Dealer sein könnte.«
»Das glaube ich nicht«, bemerkte Rodenstock kühl. »Das glaube ich absolut nicht. Zumindest hat er einen Verdacht.«
»Nun gut, wir werden ihn sozusagen schluckweise weiter befragen.«
Rodenstock säbelte sich eine Scheibe von dem hartgeräucherten Schinken ab. »Hast du dir überlegt, daß Mario vielleicht in Gefahr schweben könnte? Wenn das Motiv in Drogen zu suchen ist, dann ...«
»Wir können doch nicht alle Jugendlichen, die Ahnung von der Szene haben, in Schutzhaft nehmen. Dann haben wir hier zwanzig Leute zu verpflegen und ersticken im Haschqualm.«
»Wir müßten wissen, was meine Kollegen von der Kommission tun«, sinnierte er. »Wir haben enorm viele lose Enden. Wir haben den kleinen Jungen, den Schappi, wir haben die Jugendfreundin Prümmer, wir haben Mario, wir haben die Mordkommission, wir haben diesen Arzt, wir haben diesen Holländer.«
Ich griff nach dem Handy und wählte noch einmal Marios Nummer. Seine Mutter war schlechtgelaunt. »Stundenlang kocht man das Essen, dann hauen sie es sich in zwanzig Minuten rein, und du stehst da im Chaos der Küche. Warten Sie, ich hole ihn – falls er noch da ist.«
Er war noch da. »Mann eh, Baumeister, ich wollte gerade los. Mit dem Moped bei dieser Saukälte.«
»Wo willst du denn hin?«
»Ich habe eine Idee.«
»Wo du Stoff kriegen kannst?«
»Roger.«
»Machst du eine Andeutung?«
»Na ja, es läuft so in die Richtung, was ich dir mal im Sommer erzählt habe, als wir uns am Gemündener Maar getroffen haben. Erinnerst du dich?«
»Ist das dein Ernst?«
»Warum denn nicht? Die Welt ist doch sowieso komisch. Dann ist mir noch was eingefallen, was ich fragen wollte. Haben die an der Brandstelle Geld gefunden?«
»Das wissen wir nicht, wir kennen die Untersuchungsergebnisse nicht. Aber wenn Geld da war, wird es logischerweise verbrannt sein.«
»Vermutlich nicht«, sagte er mit leiser Heiterkeit in der Stimme. »Ole hatte da einen Trick. Er wußte ja, daß Bullen bei Hausdurchsuchungen immer erst nach Bargeld suchen. Eigentlich ist Bargeld ja sowas wie ein ... Wahrzeichen? Na ja, jedenfalls läuft nix ohne Bargeld. Und Ole hatte eine Kassette, so eine aus Stahl, wie man sie in Warenhäusern kaufen kann. Aus Stahl und abschließbar. Die hatte er aber nie in der Wohnung, die war immer irgendwo dicht am Haus. Ich denke mal, daß die Bullen die bis jetzt nicht gefunden haben, oder?«
»Und du hast keine Ahnung, wo er die versteckt hat?«
»Keine. Ging mich ja auch nichts an. Wenn er Bares brauchte oder Bares wegschaffen wollte, ging er raus.«
»Kannst du dich daran erinnern, wie lange so etwas dauerte?«
»Drei, vier Minuten mindestens. Er hatte die Kassette nicht in der Scheune. Man hörte nämlich immer die Scheunentür klappern.«
»Du bist richtig gut«, lobte ich. »Kannst du mir sicherheitshalber sagen, wohin du jetzt fahren willst?«
»Warum denn, hast du etwa Angst?«
»Angst? Weiß ich nicht. Aber vielleicht mischen Leute mit, die sehr schnell bereit sind, Gewalt auszuüben. Deshalb.«
»Der doch nicht. Denk an die Geschichte vom Sommer. Mach's gut, Alter.«
»Die Geschichte vom Sommer, Mario erinnerte mich an den Sommer. Er scheint jetzt jemanden zu treffen, von dem er erfahren will, ob er das Dealen übernommen hat beziehungsweise wer den Job jetzt macht«, berichtete ich Rodenstock.
»Und was war im Sommer?«
»Eine komische Sache. Du kennst Mario ja jetzt. Klein, schmächtig, liebenswert, in beiden Ohren zwei Sicherheitsnadeln, Klamotten, die mindestens vier Jahre die Waschmaschine nicht gesehen haben, alte Springerstiefel, die so aussehen, als seien sie für den Krieg 70/71 gebaut worden. Dieser Mario wird von beinahe allen Leuten automatisch mit Haschisch und weiß der Teufel was in Verbindung gebracht. Und gleiches gilt für die drei oder vier Kumpels, die er hat. Im Sommer haben sie sich mal mit zwei Mopeds auf die Socken nach Wittlich gemacht. Das ist so ähnlich, als würdest du versuchen, mit deiner Badewanne den Nordpol zu suchen. Sie waren ziemlich lange unterwegs, gingen ins Kino und machten dann die Tour zurück. Unterwegs trafen sie einen jungen Mann in einem Golf, dem das Auto verreckt war und der keine Ahnung von Technik hatte. Das haben wir gleich, sagten sie. Sie reparierten die Karre. Der junge Mann fragte dann, wie er sich denn erkenntlich zeigen könnte. Och, antworteten sie, vielleicht mit einem Kasten Bier? Macht einen Zehner. Aber er gab ihnen keinen Zehner. Er sagte strahlend: Ich glaube, ich habe was Besseres für euch. Dann machte er das Handschuhfach auf, holte etwas heraus, das in Packpapier eingewickelt war. Es war ein brauner etwas schmieriger Brocken. Sah aus wie Wochen altes Bratfett. Er rupfte ungefähr zwanzig, dreißig Gramm davon ab und gab es ihnen. Es war Hasch. Mario hat sich noch beschwert und gesagt, Bier wäre ihnen wirklich lieber. Aber der junge Mann sagte nur im Ton eines Grundschullehrers: Ach geht mir weg, ich kenne doch Typen wie euch. Dann setzte er sich in seinen Golf und rauschte ab. Soweit so gut. Wenige Tage später holte sich Mario mitten in Daun beim EDEKA eine Dose Cola. Als er bezahlte, stand dieser junge Mann hinter ihm. Diesmal in Uniform. Er war bei der Bundeswehr, er war Leutnant. Wenn er jetzt sagt, ich soll mich an die Geschichte erinnern, dann muß er eine Spur in Richtung Bundeswehr gemeint haben, oder?«
Rodenstock nickte und zückte sein eigenes Telefon. »Hoffentlich geht das nicht in die Hose, hoffentlich ist diese Geschichte für den Mario nicht zehn Nummern zu groß. Gib mir mal die Nummer von diesem Arzt!«
Ich diktierte sie ihm. »Er heißt Peuster.«
»Herr Peuster? Rodenstock hier, Sie erinnern sich. Können Sie mir sagen, wie die beiden getötet worden sind?«
Er hörte eine Weile zu, sagte dann artig »Danke und auf Wiederhören« und unterbrach die Verbindung. »Es sieht so aus, als hätte man ihnen schlicht und einfach das Genick gebrochen. Es gibt Leute, die das draufhaben. Sie fassen den Kopf, winkeln ihn leicht an und drehen dann mit einem gewaltigen Ruck. Wenn das stimmt, haben wir es mit Profis zu tun, zumindest mit Leuten, die äußerst brutal vorgehen.«
»Was bedeutet das für uns?«
»Daß irgend etwas im Hintergrund eine Rolle spielt, von dem wir noch keine Ahnung haben«, sagte er düster. »Ich sollte mit der RG 25 im Bundeskriminalamt sprechen. Aber ich weiß nicht, wer die Abteilung leitet.«
»Kannst du das für den zweiten Bildungsweg übersetzen?«
»RG bedeutet Rauschgift. Die Nummer 25 meint die sogenannte Rauschgiftlage. Das kann nur Deutschland betreffen oder aber Europa oder andere Teile der Welt. Die Jungs sind gut, sie wissen ziemlich genau, welche Stoffe an welchen Punkten konzentriert oder gar nicht auftreten, sie kennen die Situation an den Grenzen, sie können ziemlich genau sagen, was in der Eifel, im Hunsrück, im Westerwald gebacken wird. Das ist praktisch Geheimdienstarbeit. Ich möchte mich an die heranrobben.« Er nahm das Handy, das auf dem Brettchen mit dem Schinken lag, und lächelte schmal: »Ich versuche das jetzt mal.«
Dann ging er hinaus. Immer, wenn etwas bei Telefonaten unsicher schien, wollte er allein sein. Ich hörte, wie er im Flur zu Paul sagte: »Nun bete mal zu deinem Katzengott, daß ich Erfolg habe.«
Ich dachte darüber nach, was Mario über eine mögliche Geldkassette gesagt hatte, und ganz automatisch fiel mir Thomas Schwarz ein. Er war ein langer Lulatsch, ein dürrer großer Mann, vielleicht 30 Jahre alt. Er sagte von sich selbst, er sei ein Schrottmann. Schon während seiner Jugend war er mit seiner Mutter vom heimischen Mehlem aus in die Eifel gefahren. Er war zum Sammler geworden. Erst sammelte er Steine, dann zu Steinen gewordene Fossilien, später alte Flaschen. Schließlich hatte er bei der Sprengmittelräumung zu arbeiten begonnen, hatte im Bereich des eiflerischen Hallschlag geholfen, die Uraltmunition einer Fabrik zu orten, und gehörte zu jenen, die wütend sagten: »Da liegt noch alles voll, da liegt noch Giftgasmunition.« Da aber die Gesetzeshüter sich entschlossen hatten, alte Munition nur auf dem Fabrikgelände zu vermuten und nicht auf den Ackern nebenan, fühlte sich Schwarz zuweilen wie ein Rufer in der Wüste, der unnütz heiser wird. Es gab auch Leute, die Thomas Schwarz den »Immergrün-Mann« nannten, weil er zusammen mit den Archäologen herausgefunden hatte, daß auf altem und uraltem menschlichen Siedlungsgelände in der Eifel vor allem Immergrün wächst. Ehemalige Weiler und Dörfer, die während des Dreißigjährigen Krieges brandverheert für immer verschwunden waren, oder Dörfer, deren Einwohner wegen bitterer Armut im 18. und 19. Jahrhundert ausgewandert waren und deren Häuser andere Dörfler abgerissen hatten, um eigene zu bauen, konnte Thomas Schwarz orten: Es gab dort massenhaft Immergrün. Er war ein Sachensucher, und seit er bei einem Unternehmen für Sicherheit angeheuert hatte, suchte er seine Sachen zumeist mit einem Metalldetektor.
Ich rief ihn an und erwischte ihn sofort, mußte allerdings warten, bis er zu Ende gehustet hatte.
»Entschuldigung«, keuchte er, »ich habe eine Bronchitis, und Uli hat eine Grippe. Eigentlich müßten wir Antibiotika schlucken, aber die Apotheken in Bonn sind leer gekauft. Was kann ich für dich tun?«
»Könntest du mit einem Detektor eine Metallkassette finden? So etwa in der Größe eines Schuhkartons?«
»Kein Problem. Bei dir in der Gegend gab es zwei Tote bei einem Brand, nicht wahr? RTL hat eben in den Nachrichten gesagt, es war wohl Doppelmord.«
»Es geht um diesen Fall«, bestätigte ich. »Und ich werde nicht warten können, bis ihr beide wieder gesund seid.«
»Das mußt du doch auch nicht«, sagte Thomas. »Ich vermute sowieso, daß die Krankheit ziemlich psychosomatisch ist. Ich fahre in einer halben Stunde los, okay?«
»Das ist wunderbar«, verkündete ich.
Ich brüllte Rodenstock zu: »Ein Kumpel mit einem Metalldetektor kommt, wir können die Ole-Kassette suchen gehen.« Gleichzeitig versuchte er mir zu verklickern: »Die RG 25 ist nicht im geringsten erstaunt, daß es in Sachen Drogen einen Doppelmord gegeben hat.« Ich wurde schriller und setzte hinzu: »Einer muß den Thomas Schwarz begleiten«, und Rodenstock nickte, als habe er mir ernsthaft zugehört, und murmelte: »Das ist doch verrückt: Die behaupten, hier in der Eifel herrscht ein Drogenkrieg.«
Eines der Telefone gab Laut, und zufällig war ich gemeint. Ein Mann namens Meier oder Mayer oder Mayr, jedenfalls jemand, der sich Staatsanwalt nannte, fragte aggressiv: »Man hat Sie an der verbrannten Scheune gesehen. Sie recherchieren also. Haben Sie etwas am Brandherd gefunden und mit sich weggetragen?«
»Mit sich was?« fragte ich.
»Haben Sie etwas entwendet?« wiederholte er.
»Nicht die Spur«, brüllte ich zurück. »Warum sollte ich so etwas tun?«
»Das weiß ich auch nicht«, erwiderte er. »Halten Sie sich bitte raus.« Dann hängte er unvermittelt ein, als habe er die Lust verloren, mit mir zu sprechen, und ich sagte zu Rodenstock: »Der Staatsanwaltschaft geht der Arsch mit Grundeis.«
Der murmelte: »Das mußt du dir einmal vorstellen! Das Bundeskriminalamt hat diese Brutalitäten erwartet.«
Ich dachte in diesem Augenblick intensiv an Schappi und fragte: »Ob dieses Kind jemanden hat, der ihm wirklich zuhört und es ernst nimmt?«
Wir benahmen uns wie Erstkläßler, und Rodenstock hauchte plötzlich mit großen Augen: »Was hast du da eben gesagt?«, während ich erklärte: »Ich weiß von nix, ich habe dir nicht zugehört.«
»Ich dir auch nicht«, gab er zu. »Vielleicht sollten wir einen Kaffee machen und uns selbst nicht so wichtig nehmen?«
»Das wäre eine Möglichkeit«, nickte ich. »Glaubst du wirklich, daß Mario gefährdet ist?«
»Ja«, sagte er einfach.
»Dann bin ich dafür, daß wir zum Markus Schröder nach Niederehe fahren, eine Forelle essen und warten, bis der Anfall vorbeigeht.«
»Das ist eine blendende Idee. Sag den Forellen, wir kommen.«
Wir schrieben auf einen Zettel für Dinah: Sind bei Markus!! und machten uns auf den Weg.
Einige höchst ehrbare Mitglieder des Golfclubs saßen samt Familien im Schankraum und warteten auf die Fütterung. Eine Kollegin vom .RTL-Fernsehen hatte offensichtlich die Mutter eingeladen, die in einer unglaublichen Explosion von rosafarbenen Stoffen prangte und alles mit einem violetten Hut gekrönt hatte. Sie lehnte steif wie ein Plättbrett vor der dunklen Täfelung und sah sich unentwegt um: Seht her, ich bin die schier unglaubliche Mutter diese ungeheuer toughen, der Nation so teuren jungen Dame.
Wir bekamen den Vierertisch vor dem Zigarettenautomaten und orderten zwei Forellen in Mandeln samt Zubehör. Rodenstock bestellte sich die beste Zigarre des Hauses, schnitt mit seinem Taschenmesser die Spitze ab, führte das Rauchopfer zum rechten Ohr und drehte es, um zu prüfen, ob der Tabak die richtige Feuchte hatte.
»Wir müssen uns vielleicht austauschen«, schlug er vor.
»Ich habe nichts Besonderes erfahren. Etwa in einer Stunde kommt ein Freund namens Thomas Schwarz. Er besitzt einen Metalldetektor. Wir können nach der Kassette von Ole suchen. Und du?«
»Das Bundeskriminalamt war sehr entgegenkommend. Hier in der Eifel herrscht ein im Verborgenen geführter Drogenkrieg, weil einige Strukturen durch den Ausfall von Leuten und durch Verhaftungen zerbrochen sind. Leute aus Köln wollen die Eifel, aber auch Leute aus der Eifel selbst. Der Mann war nicht einmal erstaunt, als ich von einem Doppelmord sprach, er sagte nur lapidar, die Szene werde immer brutaler, die Polizei hier sei entschieden unterbesetzt und sie hätten keine Hoffnung, daß der Markt zerschlagen werden könne. Haschisch kommt im wesentlichen aus Holland und Belgien, Ecstasy aus Holland, Polen und den baltischen Staaten, die mittlerweile auch alle Tricks draufhaben. Die wirklich scharfen Sachen wie Kokain, Heroin und bestimmte Metamphetamine kommen in der Regel entweder aus Koblenz die Mosel hoch oder aus Köln oder aus Holland. Es läuft hier keine Bauerndisko mehr ohne Ecstasy. Ich habe natürlich gefragt, was für Gruppierungen diesen Krieg führen. Er sagte, das sei nicht klar, vor allem nicht klar beweisbar.«
»Das ist ein Scheißfall«, meinte ich. »Wir schwimmen, wir können nicht einmal beweisen, daß Ole und Betty aus Drogengründen umgebracht wurden. Ich möchte Mäuschen spielen können und hören, was dieser seltsame Vater sagt.«
»Und wenn wir ihn fragen?«
»Das müssen wir sowieso. Aber vielleicht schlägt er uns tot.«
»Wir müssen auch nach s'Hertogenbosch wegen dieses Jörn van Straaten.« Rodenstock grinste. »Ich war so lange nicht mehr in Holland.«
»Da ist noch etwas«, erzählte ich. »Ein Staatsanwalt rief an und forderte, wir sollten uns da raushalten. Es war merkwürdig, der Mann wirkte fahrig, hängte dann auch einfach ein, nachdem er uns zunächst verdächtigt hatte, etwas an der Brandstelle geklaut zu haben.«
»Die werden rotieren«, sagte er nachdenklich. »Staatsanwälte sind erstaunlicherweise auch nur Menschen, obwohl sie ständig den Eindruck zu machen versuchen, als seien sie eine sehr besondere Unterart des homo sapiens. Jetzt laß uns den Fall eine Forelle lang vergessen.«
Ungefragt bekamen wir einen Teller mit köstlicher Kartoffelsuppe, so ist der Markus nun einmal. Als wir die Löffel beiseite legten, war Dinah hinter mir und verdeckte mit ihren Händen meine Augen. »Von drauß vom Walde komm ich her«, sagte sie und umarmte dann Rodenstock. Sie wollte keine Forelle, sie wollte einen staubtrockenen Riesling und ein Stück Fleisch. Markus nickte väterlich und ging in die Küche an seine Werkbank.
Rodenstock berichtete Dinah, was passiert war, und er machte es sehr konzentriert und kurz. »Du siehst also, es gibt einen erstklassigen Doppelmord. Und es hat zwei Leutchen erwischt, die normalerweise einen solchen Aufwand gar nicht wert sind. Aber aus irgendeinem Grund mußten sie aus dem Weg geräumt werden. Ich persönlich vermute, sie wurden getötet, weil sie etwas wußten, was sie nicht wissen durften. Baumeisters momentane Einschätzung kenne ich allerdings nicht.«
»Ich glaube alle fünf Minuten etwas anderes«, murmelte ich. »Es kann genauso gut möglich sein, daß diese schrecklichen Tode mit Drogen überhaupt nichts zu tun haben. Für mich scheint nur klar, daß beide Elternpaare versagt haben, Öles Eltern und Bettys Eltern. Die Tragik liegt darin, daß die beiden ausgerechnet heute nach Kanada fliegen wollten, um endlich aus der Eifel herauszukommen und etwas Neues zu versuchen.«
»Ich hasse Drogen«, meinte Dinah. »Ich habe mal ein Stück Pflaumenkuchen gegessen, auf das Haschisch gestreut war. Es war furchtbar, ich kam stundenlang nicht mehr richtig zurecht und habe nur noch blöde in die Gegend gegrinst. Was kann ich jetzt machen?«
»Wir müssen uns sowieso teilen«, sagte ich. »Vielleicht solltest du versuchen, mit Öles Eltern zu sprechen und dabei gleichzeitig eine Brücke zum kleinen Schappi zu schlagen.«
»Das ist sehr gut«, nickte Rodenstock. »Baumeister kann sich auf Mario konzentrieren, und ich stoße bösartig auf meine Kollegen nieder und versuche herauszufinden, was sie herausgefunden haben.«
»Tragen deine Eltern meine Existenz mit Fassung?« erkundigte ich mich.
»Na ja.« Dinah grinste leicht. »Es wurde Zeit, daß ich verschwinde. Gestern abend streikte der Fernseher, und Mutter machte Vater persönlich dafür verantwortlich. Er behauptete, genügend Ahnung von Technik zu haben, um die Kiste zu reparieren. Das dauerte erst einmal drei Stunden, und morgens gegen zwei gab es einen zischenden Laut, und das Ding sprühte Funken. Die Hauptsicherung flog raus, und mein Vater erklärte, die deutsche Industrie sei auch nicht mehr das, was sie mal war. Jedenfalls war der Fernseher total hinüber, und wenn es nach meiner Mutter gegangen wäre, hätte Vater nachts noch einen neuen kaufen müssen. Sie haben heute morgen beim Frühstück nicht mehr miteinander geredet. Ich habe ihnen ein Foto von dir gezeigt, Baumeister. Und mein Vater knurrte sichtlich befriedigt: Der sieht aber alt aus!«
»Ich fühle mich auch so«, sagte ich.
Wir hockten noch eine Weile gemütlich beisammen und erzählten Schwanke aus unserem Leben, bis Rodenstock mahnte, wir müßten gelegentlich an die Arbeit denken. Wir fuhren heim und kamen gerade rechtzeitig, um zu erleben, wie Thomas Schwarz in einem uralten Mitsubishi Colt auf den Hof rumpelte und dann entsetzlich quietschend anhielt.
Wenn Thomas Schwarz aus einem Auto steigt, hat man immer den Eindruck, er müsse Qualen ausstehen, bis er sich entfaltet hat. Er wird in Sekunden jeweils um etwa dreißig Zentimeter größer und endet schließlich irgendwo bei zwei Meter. Ihm zur Seite stand seine Uli, eine junge Frau mit rabenschwarzen kurzen Haaren, von denen sie eine Art Fuchsschwanz hatte stehenlassen, was äußerst dekorativ wirkte.
»Kann man jetzt im Dunkeln etwas machen?« fragte ich.
»Ja«, nickte er, »schließlich habe ich eine Taschenlampe.«
»Ich will die abgebrannte Scheune sehen«, forderte Dinah.
»Ich werde telefonieren und meinen Charme spielen lassen«, verabschiedete sich Rodenstock.
Wir fuhren mit zwei Wagen, weil es unzweckmäßig war, die ganze Technik von einem Auto in das andere zu verladen. Es wurde eine schnelle Reise, die Straßen waren sauber und trocken, und erst als wir in Jünkerath waren, begann es erneut, leicht zu schneien. Da wir dem Auto des Schwarz nicht trauten, lud er nun doch ein paar geheimnisvolle Teile um, und wir begannen den Abstieg.
»Es ist so«, erklärte ich. »Der Mann hat nach einer Zeugenaussage niemals Bargeld im Haus gehabt. Aber Drogen bedeuten Bargeld. Er ging stets hinaus, um welches zu holen oder zu verstecken. Da er ein Bauernsohn ist und also mit der Natur gelebt hat, vermute ich, daß er in unmittelbarer Nähe der Scheune ein Versteck hatte. Der Hang ist steinig, es ist eine Tufformation, also vulkanisch. Das Versteck mußte lediglich wassersicher sein.«
»Wenn das so ist, finde ich es«, sagte Thomas lapidar. »Was ist, wenn dort noch andere Leute sind?«
»Dann drehen wir um und hauen wieder ab«, bestimmte ich.
Es war niemand da.
Der Detektor war eine besenstiellange Einrichtung, die in eine Metallplatte mündete. Daran waren mehrere Skalen befestigt, die sofort heftig zu zittern begannen, als Thomas einen Hebel umlegte. Er nahm eine kleine Taschenlampe und steckte sie sich der Einfachheit halber in den Mund.
Dann ging er los.
Das Licht der Taschenlampe tanzte zwischen den Bäumen am Fuß des Hangs. Es waren Krüppeleichen und einzeln stehende junge Birken, ungefähr acht Jahre alt. Der Detektor summte kaum hörbar.
»Hier ist was«, meldete Thomas ruhig. »Komm mal mit dem Spaten her.«
Ich ging zu ihm. »Wieso funktioniert das so schnell?«
Er grinste. »Das ist ganz einfach. Ich gehe davon aus, daß er die Kassette nicht vergraben hat. Das wäre dumm, weil dann immer wieder neue Spuren entstünden. Er hat die Kassette unter einen Tuffvorsprung gesteckt und dann einfach faulendes Laubwerk und kleine Äste davor gehäuft. Einfach und wirksam. Sieh genau hin und faß dann mit dem Blatt des Spatens flach am Boden der Höhlung nach.«
Ich bekam mit der ersten Bewegung die Kassette auf den Spaten. Sie war nicht sonderlich schwer, eine Standardausführung, wie sie für einen halben Hunderter in jedem Kaufhaus zu haben ist. Die Farbe war Eierschale.
»Wir hauen ab«, sagte ich. »Der Schlüssel wird sowieso durch das Feuer geschmolzen sein.«
»Diese Schlüssel schmelzen nicht bei einem normalen Feuer«, erklärte Thomas. »Aber das Ding ist leichter zu öffnen als eine Heringsdose.«
Wir waren vierzig Minuten später an meinem Haus, und Thomas nahm die Kassette, ging hinüber in die Küche und machte sich etwa zwanzig Minuten dran zu schaffen. Dann rief er: »Das ist ein schönes Weihnachtsgeschenk!«
Die Kassette enthielt 18.000 kanadische Dollar, 12.800 holländische Gulden, 7.800 DM und einen Verrechnungsscheck über 46,80 DM, ausgestellt von der Allianzversicherung.
»Das sind unter anderem die Ersparnisse für Kanada«, sagte ich. »Das fotografieren wir, die Kassette muß dann sowieso zur Staatsanwaltschaft.«
»Die werden dich verfluchen«, sagte Dinah.
»Das werden sie nicht«, widersprach ich. »Wenn sie selbst nicht auf die Idee gekommen sind, werden sie insgeheim dankbar sein für dieses Geschenk.«
Während ich fotografierte, fragte Thomas: »Wie sind sie denn wirklich getötet worden? Im Fernsehen heißt es, daß man es noch nicht weiß.«
»Doch, doch«, antwortete Rodenstock. »Ihnen ist das Genick gebrochen worden.«
»Iihh«, Uli schüttelte sich.
»Ein Schnaps steht im Eisschrank«, sagte ich. Ich stürzte mich auf eine Handvoll weicher Aachener Printen.
Da klingelte das Telefon, und eine Frauenstimme fragte: »Baumeister?«
»Ich bin dran«, meldete ich mich. »Wer da, bitte?«
»Ich bin die Prümmer, Sie wissen schon, die Freundin von Betty. Also, ich weiß nicht, ob es stimmt, aber ...« Sie begann laut zu schluchzen.
»Seien Sie ganz ruhig«, murmelte ich.
»Scheiße, das ist nicht so einfach«, schniefte sie. »Ich bin in einer Telefonzelle am Bahnhof, ich habe gesagt, ich muß mal an die frische Luft. Also, ich habe hintenrum gehört, daß Betty schwanger gewesen ist. Angeblich im dritten oder vierten Monat. Ist das nicht furchtbar?«
»Das ist furchtbar. Können Sie mir sagen, wie ich an Sie herankomme?«
Sie wurde ein wenig klarer. »Ich habe darüber nachgedacht. Mein Mann ist so irre eifersüchtig. Wenn vielleicht eine Frau ... haben Sie eine Frau?«
»Habe ich.«
»Dann sollte die mich zu Hause anrufen und ganz einfach fragen, ob ich bereit bin, mich mit Ihnen über Ole und Betty zu unterhalten. Dann würde mein Mann sicher nicht so ...«
»Schon kapiert«, sagte ich. »Wir rufen Sie dann an. Noch eine Frage: Von wem haben Sie das mit der Schwangerschaft gehört?«
»Von einer Frau, die hier immer nur die Ratsche genannt wird. Sie weiß alles und sie trägt alles weiter, aber meistens stimmt, was sie behauptet.«
»Bis später dann«, verabschiedete ich mich. Ich rief Tilmann Peuster an. »Ich habe noch eine Frage. Ist es richtig, daß die Betty schwanger war?«
»Stimmt«, bestätigte er. »Ich weiß das erst seit gestern abend. Woher haben Sie das?«
»Ein Gerücht, gestreut von einer Frau in Jünkerath. Ich kenne sie nicht. Ist der Türke, der unter Verdacht stand, wieder frei?«
»Selbstverständlich«, sagte Peuster. »Wir müssen jetzt nur dafür sorgen, daß alle erfahren, daß der Mann als Täter niemals in Frage kam. Das Furchtbare ist, daß sich Jünkerath auf ihn als Täter schon richtig eingeschossen hatte.«
»Ich werde es jedem erzählen«, versicherte ich und bedankte mich bei ihm.
Als Thomas Schwarz und seine Uli gefahren waren, meinte Rodenstock: »Wir sollten wegen der Kassette sofort die Staatsanwaltschaft in Trier anrufen. Die mögen es nicht, wenn man etwas zu lange für sich behält.«
»Dann tu das«, sagte ich.
Er ging telefonieren, kam sofort wieder in die Küche und seufzte: »Das war nicht so gut. Ich soll das Ding sofort nach Wittlich bringen. Ich mußte zusagen.«
»Ich fahre dich«, bot sich Dinah sofort und ungefragt an. Sie sah mich an und murmelte sehr offen: »Du solltest dich vielleicht ausruhen, bis wir zurück sind.«
»Zielst du auf unsittliche Handlungen ab?«
»Selbstverständlich«, nickte sie. »Abschalten kannst du woanders.«
»Gute Aussichten«, befand ich.
Rodenstock pumpte sich einen Rollkragenpullover von mir, und sie machten sich auf den Weg. Ehrlich gestanden, war ich dankbar, eine Weile allein zu sein. Dieses Weihnachten war an mir vorbeigerauscht, ohne auch nur im geringsten weihnachtlich zu sein. Weil ich aber ein hoffnungsloser Romantiker bin, legte ich Queen ein und hörte andächtig zu, wie Freddy Mercury jubelte It must be heaven ... Anschließend gab es von Oscar Peterson Swingin Piano. Ganz langsam hielt Ruhe Einzug in meine strapazierte Seele, bis Dr. Ralf Siepmann von der Deutschen Welle anrief und fröhlich sagte: »Einen schönen Weihnachtsbaum denn auch. Ich habe hier einen unserer Redakteure für Sie. Kann der Informationen haben über diese grausliche Doppelmord-Geschichte? Wird bezahlt.«
»Gegen Geld kann er fast alles haben«, antwortete ich. »Her damit.«
»Mein Intendant läßt Sie schön grüßen.«
»Grüßen Sie zurück.«
Der Redakteur war ein junger Mann, der knappe und präzise Fragen stellte und mich nicht länger als zwanzig Minuten aufhielt. Von unseren privaten Fährten und Ermittlungen erzählte ich ihm nichts. Dann kochte ich mir einen Tee und kramte in meiner Erinnerung nach dem schönsten Weihnachtsfest, das ich erlebt hatte. Beruhigt stellte ich fest, daß es eine ganze Reihe davon gegeben hatte, als meine Eltern noch lebten und meine Großeltern ihren weihnachtlichen Besuch bei uns abstatteten. Meine Großmutter, die Klara, hatte jedesmal darauf bestanden, mit uns Skat zu spielen, und jedesmal hatte sie heftig gemogelt. Sie hatte mir gestanden, Skat ohne Mogeln sei eine höchst langweilige Sache. Mein Großvater hatte sich auch nach fünfzig Jahren Ehe nicht an die Schummeleien seiner Frau gewöhnen können und hielt ihr jedesmal einen furchtbaren Vortrag über die Notwendigkeit der Deutschen, endlich zu begreifen, daß es ohne Fairplay nun einmal nicht gehe.
Meine Großmutter Klara pflegte dann hoheitsvoll zu antworten: »Ich bin keine Deutsche, ich bin aus Essen-Kupferdreh!«, worauf mein Großvater hohnlachend mindestens dreimal »Hah!« sagte und dann schmollte. Ich dachte, daß es gut war, solche Großeltern gehabt zu haben, ich dachte, daß ich allen Grund hätte, zufrieden zu sein. Aber dann schob sich Schappis Gesicht vor alle diese Bilder meiner Vergangenheit, und ich glaubte zu hören, wie er schluchzte und nach Ole und Betty seufzte.
Ich rief die Auslandsauskunft an und fragte nach Mijnheer Jörn van Straaten in s'Hertogenbosch. Sie gab mir die Nummer, und ich wählte sie sofort.
Er hatte eine volltönende, sehr energische Stimme.
»Meine Bitte ist ungewöhnlich«, begann ich. »Sie hatten hier Freunde in Jünkerath. Ich recherchiere den Fall Ole und Betty als Journalist und möchte Sie fragen, ob ich Sie besuchen darf?«
»Aber selbstverständlich«, sagte er in einwandfreiem Deutsch. »Tja, das wühlt in meiner Seele.«
»In meiner auch. Wäre Ihnen einer der nächsten Tage recht?«
»Natürlich. Rufen Sie mich vorher an. Kommen Sie in die Verweerstraat 78. Das ist im Zentrum. Trinken Sie Kaffee oder Tee?«
»Tee«, sagte ich.
»Ich freue mich«, behauptete er. »Ich denke nur, ich werde wenig hilfreich sein.«
»Das sehen wir dann«, tröstete ich ihn.
Ich hockte mich auf das Sofa, und sofort war Momo links und Paul rechts. Sie waren eifersüchtig aufeinander und knurrten sich über meinen Bauch hinweg an. Es ist ein gutes Gefühl, mit einer so intakten Familie zu leben.
Als das Telefon erneut schellte, war es zwanzig Minuten nach zehn, die Nacht war rabenschwarz, es schneite sehr heftig, der Wind kam aus Nordost, die Temperatur lag bei minus zehn Grad. Ich dachte, es sei Dinah oder Rodenstock mit der Mitteilung, sie kämen jetzt heim, aber es war eine männliche Stimme, gänzlich atemlos.
»Mein Mario stirbt, oh Gott, mein Mario stirbt.« Es war Marios Vater.
»Was ist passiert?«
»Das wissen wir nicht.« Er weinte jetzt. »Intensivstation im Maria-Hilf in Daun. Sie wissen nicht, ob sie ihn durchkriegen, und ich drehe hier langsam durch ...«
»Warum sind Sie nicht im Krankenhaus?«
»Die ... die ... sie haben mich gefeuert, weil ich ... weil ich ausgeflippt bin ...«
»Und Ihre Frau?«
»Sie ist hier bei mir, die haben mir eine Spritze gesetzt, ich denke, ich drehe ...«
»Ich fahre hin«, sagte ich hastig. »Sagen Sie denen im Krankenhaus, ich komme jetzt.«
Dicke, große Flocken fielen vom Himmel, und es war sehr kalt. Als ich die schmale Straße durch die Felder nach Walsdorf hinüberfuhr, rauschte ich kurz vor der alten, kleinen Brücke auf das Bankett, durchbrach einen Zaun und landete auf einer Wiese. Ich war so kopflos, daß ich einfach einen Bogen fuhr und erneut durch den Zaun brach, um wieder auf die Straße zu kommen. Aus irgendeinem Grund, wahrscheinlich weil ich auch wütend war, gelang das sogar. Wo die schmale Fahrbahn um einen weit vorspringenden Buchenwald kurvt, kam ich erneut ab, blieb diesmal gleich auf der Wiese und gab einfach Gas. Ich wurde erst wieder vernünftig, als ich die Schnellstraße von Kerpen nach Walsdorf erreichte, erst dann begann ich wieder normal zu atmen und nahm wahr, daß ich mit dem Auto unterwegs war.
Ich glaube, ich redete ganz laut mit mir selbst, ich glaube, ich sagte: »Kann sein, daß wir das verbockt haben. Kann sein, daß wir den Mario nicht hätten einspannen dürfen.« Aber dann wußte ich, daß Mario in jedem Fall selbst recherchiert hätte, ganz einfach, weil er Betty und Ole geliebt hatte, weil er selbst hatte wissen wollen, was da geschehen war.
»Lieber Gott, mach keinen Scheiß«, betete ich. »Das kannst du nicht machen.« Ich bin nicht sicher, daß der alte Mann mir zuhörte.
Der Nachtpförtner zeigte mir den Weg zur Intensivstation, und ich mußte eine Weile warten, ehe sich eine Krankenschwester um mich kümmerte.
»Ich komme wegen Mario«, erklärte ich zitternd. »Der Vater hat mich angerufen. Was ist mit dem Jungen?«
Eine furchtbare Sekunde lang dachte ich, sie würde sagen: »Er ist nicht mehr«, oder irgend etwas in dieser Richtung. Statt dessen antwortete sie: »Na ja, so doll ist der nicht dran.«
»Was haben Sie denn festgestellt?«
»Es ist noch ein bißchen früh«, entgegnete sie energisch. »Aber Sie können ihn sehen. Er ist bei Bewußtsein, aber er steht unter starken Medikamenten.« Sie ging vor mir her in einen hohen Raum, in dem nur ein Bett stand. »Aber nicht so lange«, mahnte sie.
Er lag auf dem Rücken und stierte an die Decke. Er war mit zahllosen Drähten an irgendwelche Maschinen angeschlossen, und rechts und links waren ihm Infusionen gelegt worden. Aber er hatte immerhin keinen Nasenschlauch.
»Heh«, grüßte ich.
Er bewegte nicht einmal die Augen.
»Du machst vielleicht Sachen«, sagte ich hilflos.
Er bewegte noch immer nicht die Augen, sagte aber mit sehr leiser und spröder Stimme: »Ich konnte gar nichts machen, das ging alles viel zu schnell. Jedenfalls war er nicht da.«
»Wer war nicht da? Der, mit dem du dich treffen wolltest?«
»Ja, der.«
»Du mußt mir sagen, wer das war«, meinte ich. »Du mußt das jetzt, denn du wirst eine Weile hierbleiben müssen. Was hast du eigentlich abgekriegt?«
»Weiß ich nicht. Ich habe nicht mal Schmerzen. Ich nehme an, sie haben mich mit Valium oder sowas vollgestopft.«
»Das haben sie sicher. Also, wen wolltest du treffen?«
»Diesen Leutnant, der uns damals das Hasch geschenkt hat.«
»Und der war nicht da?«
»Nein.«
»Wo sollte das Treffen sein?«
»Wenn du von Daun aus Richtung Rengen und Kelberg fährst, geht es links ab nach Kradenbach. Kein Baum, kein Strauch. Zweihundert Meter hinter der Abbiegung wollte er stehen. Da stand auch ein PKW, aber es war nicht seiner. Ohne Licht. Plötzlich schoß er los. Ich hab noch versucht, von der Straße wegzukommen. Ab ins Feld. Aber es langte nicht mehr. Er erwischte mich voll.«
»Es war also Absicht?«
»Das war astrein Absicht, aber das wird mir kein Mensch glauben.«
»Woher war das Auto? Hast du die Nummer gesehen?«
»Kölner Kennzeichnen.« Seine Sprache wurde undeutlicher, er nuschelte und verschluckte ganze Silben und sein Gesicht war jetzt schneeweiß.
»Schon gut, schon gut«, sagte ich hastig. »Ich brauche den Namen von dem Leutnant.«
»Westmann«, murmelte Mario.
»Und dein Moped ist Schrott?«
»Ja.« Er grinste. »Aber versichert.«
»Ich fahre so bald wie möglich zu diesem Holländer. Ist dir zu dem noch etwas eingefallen?«
Er nickte und schloß die Augen, er war sehr erschöpft. »Mir ist aufgefallen, daß Betty und Ole eigentlich nicht wollten, daß man den kennenlernte. Es war so, als wollten sie sagen: Der gehört allein uns! Kann sein, daß das Schwachsinn ist, aber so sehe ich das. Hast du von Heinrich Mann Der Untertan?«
»Ja klar.«
»Kannst du mir das pumpen, ich habe ja jetzt Zeit. Und das wollte ich schon immer mal lesen. Die Angela Schüll vom Buchlädchen in Daun hat gesagt, ich müßte außerdem unbedingt Schiffsmeldungen lesen, von einer Kanadierin.«
»Das stimmt, ein wirkliches Klassebuch. Ich besorge dir das. Vielleicht solltest du jetzt schlafen?«
»Das kann ich noch genug«, lallte er. Doch er schlief schnell ein, und es wirkte seltsam beruhigend, daß er übergangslos leise zu schnarchen begann.
Ich schrieb auf einen Zettel: Halt die Ohren steif, wir brauchen dich noch! und ging hinaus. Draußen stand, auf den Zehen wippend, ein Weißkittel, vielleicht vierzig Jahre alt. Er lächelte freundlich. »Mein Name ist Grundmann, ich bin der Arzt von dem Mario. Er hat was Komisches gesagt. Die Leute reden manchmal Unsinn, wenn sie zu uns eingeliefert werden.
Der Unsinn vom Mario ist so sehr Unsinn, daß ich mich frage, ob da etwas dran sein kann.«
»Was ist es denn?«
»Während wir ihn untersuchten, sagte er plötzlich, ohne daß wir gefragt hätten, er wäre absichtlich von einem PKW mit Kölner Kennzeichen umgefahren worden. Ist das möglich?«
»In diesem Fall war das mit ziemlicher Sicherheit so. Ich wollte Sie ohnehin bitten, den Mario so schnell wie möglich in ein Zimmer zu legen, das nicht jedermann erreichen kann.«
Der Arzt war betroffen, er druckste herum. »Darf ich erfahren, was dahintersteckt?«
»Natürlich. Das hängt mit dem Brand und dem Doppelmord in Jünkerath zusammen. Vermutlich eine Drogengeschichte. Sie sollten auch die Staatsanwaltschaft in Trier anrufen.«
»Das müssen wir bei diesen unklaren Unfällen sowieso«, nickte er. »Normalerweise wäre dieser Junge sicherlich tot. Daß er noch lebt, verdankt er der Tatsache, daß er sich wegen der Eiseskälte so dick angezogen hat. Der PKW hat ihn stumpf an der rechten Flanke getroffen. Mit ungeheurer Wucht. Er hat ein Schädel-Hirn-Trauma. Das ist in solchen Fällen normal. Aber ich fürchte, wir können seinen rechten Fuß nicht retten.«
Ich konnte nichts sagen.
»Wissen Sie, ob er ein ... nun sagen wir gefestigter Charakter ist?«
»Ich weiß, daß er zwar höchst sensibel, aber seelisch wohl sehr stark ist. Doch wer ist schon stark, wenn er einen Fuß verliert? Er ist sehr jung.«
»Sagen Sie dem Vater bitte nichts«, bat er. »Das möchte ich selbst tun.«
»Klar«, versprach ich. Ich bedankte mich und machte mich auf den Heimweg. Ich fuhr ganz trödelig und überlegte, wie Mario damit fertig werden würde, daß er nur noch einen Fuß hatte.
Dinah und Rodenstock waren inzwischen wieder zu Hause. Ich berichtete ihnen, woher ich kam, und Rodenstock fluchte wild, als mache er sich Vorwürfe.
»Das ist ja schrecklich«, hauchte Dinah tonlos. »Und er weiß nichts davon?«
»Nichts. Was sagt die Staatsanwaltschaft zu der Kassette?«
»Sie waren einfach sauer, daß wir auf die Idee gekommen sind und sie nicht«, lächelte Dinah. »Aber sie konnten sich schlecht beschweren. Irgendwie habe ich den Eindruck, daß sie der Mordkommission nicht allzuviel zutrauen.«
Ich legte mir Moon over Bourbonstreet auf, Rodenstock war schon im Bett verschwunden, Dinah hockte mir gegenüber in einem Sessel. Da gab das Faxgerät ein Klingelzeichen, und ich beobachtete, wie sich die Nachricht aus Hamburg malte: Wir möchten die Story exklusiv für die übernächste Ausgabe. Geht das? Und haben Sie Fotos?
Alles klar! faxte ich zurück.
»Du bist ganz schön fertig, nicht wahr?« fragte Dinah.
»Ja« gab ich zu. »Die Geschichte schmeißt mich. Hinterher wird sich herausstellen, daß diese Tode schrecklich nutzlos waren – wie immer.«
»Gehst du mit mir ins Bett?«
»Ja. Aber ich werde nicht ...«
»Ich auch nicht«, sagte sie schnell.
Im Bett fragte sie plötzlich: »Hättest du eigentlich was dagegen, ein Kind zu kriegen?«
»Ich kriege so selten eines«, entgegnete ich. »Nein, ich hätte nichts dagegen.«
»Du brauchst mich auch nicht zu heiraten, Baumeister.«
»Das weiß ich«, sagte ich. »Aber ich bin in dieser Beziehung schrecklich konservativ. Wenn du einen dicken Bauch bekommst, heirate ich dich.«
»Wenn es ein Mädchen wird, soll es Sophie heißen«, sie hatte eine sehr träumerische Stimme, lag auf dem Rücken und bewegte sich nicht.
»Und ein Junge?«
»Da habe ich noch keinen Namen. Vielleicht Siggi II?«
»Um Gottes willen, nicht sowas. Der Junge wird sein Leben lang leiden.«
Nach einer Weile murmelte sie zufrieden: »Wir können ja noch darüber nachdenken. Schlaf gut, und ich liebe dich.«
»Schöne Träume«, wünschte ich ihr. Dann starrte ich gegen die Decke und dachte darüber nach, wo der oder die Mörder Ole und Betty den Hals gebrochen haben könnte. Wahrscheinlich in der Scheunenwohnung. Wenn es wirklich Profis gewesen waren, dann hatten sie es bestimmt vermieden, mit zwei Leichen im Kofferraum durch die Hügel zu kurven. So dämlich würde kein Profisein.
Das Telefonklingeln unterbrach meine Gedanken. Ich fluchte unterdrückt und beeilte mich. Die Kinderstimme, die ich mein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen werde, sagte: »Hier ist Schappi, und ich wollte mal fragen, was du so herausgefunden hast.«
»Nicht viel«, sagte ich. »Es ist mitten in der Nacht, kannst du nicht schlafen?«
»Kann ich nicht, ich muß immer denken.«
»Das wird sich bessern. Paß mal auf, eigentlich ist es gut, daß du anrufst. Ich brauche deine Hilfe. Kannst du mir sagen, wann Ole und Betty am Heiligen Abend in der Scheune angekommen sind? Du hast mir erzählt, Betty hätte gesagt, du darfst am Heiligen Abend bei ihnen sein. Wann hat sie dir das gesagt?«
»Ja, also, als sie wiederkamen. Ich weiß nicht, wann das war.«
»Sie kamen von Daun, oder?«
»Weiß ich nicht. Ich habe gesehen, wie sie kamen. Dann bin ich zu denen hin, und Betty sagte, sie fände es schön, wenn ich abends komme. Aber ich durfte ja nicht.«
»Was hast du denn alles gemacht am Heiligen Abend? Ich meine, vor der Bescherung zu Hause. Hast du Geschenke für deine Mama und deinen Papa eingepackt?«
»Ja, das habe ich auch gemacht. Das war, als ich bei Ole und Betty gewesen bin. Ich mußte dann ja in die Kirche, ich mußte in die 18-Uhr-Messe, ich bin Meßdiener.« Er klang stolz.
»Gut, du bist also in die Kirche gegangen.«
»Nein, mein Papa hat mich hingefahren. Das macht er immer.«
»Das ist aber nett. Hast du bei Ole und Betty ein fremdes Auto stehen sehen?«
»Nee, das fremde Auto war erst da, als wir zurückgekommen sind.«
»Da hast du das gesehen?«
»Ja, genau.«
»Was für ein Kennzeichen hatte das denn, und was war das für ein Auto?«
»Es war ein C 230 von Mercedes, das weiß ich, weil ich die Bilder sammele. Und er war aus Köln. Aber ich bin nicht hingegangen, weil Ole gesagt hat, ich soll niemals kommen, wenn er Besuch hat.«
»Wann hat er das gesagt?«
»Das hat er oft gesagt, das hat er immer gesagt.«
»Weißt du, warum er das gesagt hat?«
»Nein, weiß ich nicht.«
Er wollte dich schützen, dachte ich fiebrig. Er wollte dich vor bestimmten Menschen bewahren. »Bist du auch niemals dabei gewesen, wenn dieser Holländer zu Besuch war? Dieser Jörn van Straaten?«
»Doch, einmal war ich dabei. Aber da war Ole nicht da, und ich kam rein, und Betty und der Holländer waren am Ficken.«
»Wie bitte?« fragte ich schrill.
Mit der Unschuld eines Kindes, das feststellt, daß alle Erwachsenen dämlich sind, sagte er: »Na also, die haben gefickt. Wieso?«
Mir fiel nichts anderes ein, als: »Och, nur so.« Dann sprach ich rasch weiter: »Wann war denn das?«
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Kannst du dich erinnern, ob das abends oder tagsüber war? Und was für ein Hemd hast du getragen?«
Er überlegte eine Weile. »Sommer«, entschied er dann. »Weil, ich war mittags mit Betty mit nackten Beinen unten in der Kyll.«
Jetzt kommt es, Baumeister, sei vorsichtig, behandle ihn wie ein rohes Ei. »Sag mal, wollte dein Bruder die Betty eigentlich heiraten?«
»Weiß ich nicht. Sie haben gemeint, man müsse nicht heiraten. Betty hat ja erzählt, sie kriegt jetzt endlich ein Kind. Da habe ich gesagt, daß die meisten heiraten, wenn sie ein Kind kriegen. Ole hat nur gelacht.«
»Hat er sich auf das Kind gefreut?«
»Ja klar. Er hat ... also, ich war dabei, als Betty beim Frauenarzt war. Ich mußte im Wagen warten. Dann sind wir nach Hause gefahren, und Ole hat gerade den Pajero gewaschen. Betty hat gerufen: Du wirst Vater! Da hat er gebrüllt, und ich dachte erst, er schimpft oder so. Aber er hat sich gefreut und gesagt, wenn es ein Junge wird, soll er so heißen wie ich.«
»Wie heißt du denn? Du heißt doch nicht Schappi.«
»Mein Name ist Michael«, erklärte er. »Ich heiße Schappi, weil das das erste Wort war, das ich gekonnt habe, als ich noch ganz klein war. Ole hat auch zu mir gesagt, wenn das Kind kommt, bist du der jüngste Onkel in Jünkerath.«
»Deine Eltern schlafen jetzt wahrscheinlich, oder?«
»Ja, die schlafen. Die haben beide ziemlich viel getrunken. Sie weinen auch viel.«
»Das kann ich gut verstehen. Sag mal, weißt du eigentlich, was Ole und Betty so vorhatten in nächster Zeit?«
»Na, sie wollten doch nach Kanada. Und dann sollte ich nachkommen und bei ihnen leben. Sie haben gesagt, da wäre auch der Niagara-Wasserfall. Stimmt das?«
»Das stimmt. Hast du deinen Eltern von Kanada was erzählt? Und hast du ihnen auch erzählt, daß Betty und der Holländer gefickt haben?«
»Ich habe meinen Eltern nie was von Ole und Betty verraten. Ich habe doch Ole und Betty mein Ehrenwort gegeben. Und ich habe Betty nichts von Ole gesagt und Ole nichts von Betty. Ich bin ja jetzt schon größer, und Ole meinte, ich soll mich nie einmischen und ich soll auch niemals tratschen.«
»Sind Ole und Betty eigentlich oft nach Holland gefahren zu dem Holländer?«
»Ja, ich glaube schon, aber genau weiß ich das nicht. Ich war ja nie mit. Einmal ist Betty allein hingefahren, da war Ole sauer, und er hat sie fast geschlagen. Aber Ole ist auch allein zu dem Holländer gefahren, das weiß ich genau. Und dann war da ja auch noch der Kremers, das ist ein Zivilbulle. Der kam auch manchmal. Ole hat mir gesagt, daß Betty davon nichts wissen sollte. Aber sie hat es trotzdem irgendwie mitgekriegt, und dann hatten sie Qualm in der Küche. Betty hat gesagt, der Kremer ist ein mieser Bulle, und jedes zweite Wort ist gelogen.«
»Moment mal, du meinst den Kriminalpolizisten aus Daun?«
»Klar, das ist der aus Daun. Den hat Ole getroffen. Und einmal war ich dabei, aber sie haben mir gesagt, ich müßte im Wagen bleiben. Das war Ende der Sommerferien, das war im belgischen Supermarkt, wenn man nach Kronenburg fährt und dann etwas weiter.«
»Der belgische Supermarkt in Losheim, gleich nach der Kreuzung?«
»Ja, der. Die haben immer so gute Schokolade, und Ole hat da immer Zigaretten gekauft und so Sachen. Kaffee auch.«
»Wirst du eigentlich nicht müde?« fragte ich, um ihn ein wenig abzulenken.
»Ich kann sowieso nicht schlafen, weil ich immer an das Feuer denken muß. Kannst du mal vorbeikommen. Ich meine, einfach so?«
»Das tue ich«, versprach ich. »Das tue ich ganz sicher.«
»Kann ich dich denn auch mal besuchen? Ich habe auf der Karte nachgeguckt, wo du wohnst. Ist ja nicht weit.«
»Es ist nicht weit«, bestätigte ich. »Aber jetzt mußt du schlafen gehen. Tust du das?«
»Ja, das tue ich. Darf ich noch mal anrufen?«
»Jederzeit. Gute Nacht, Schappi.«
Als ich in das Schlafzimmer zurückkam, begann Dinah sich zu räkeln und fragte träge: »Was ist denn los?«
»Schappi hat angerufen«, berichtete ich. »Er hat massive Schlafprobleme. Ein Bulle mischt in der Geschichte auch mit.«
»Schöne Aussichten«, murmelte sie und schlief wieder ein.