FÜNFTES KAPITEL
Wir waren zu überdreht, um sofort ins Bett zu gehen. Wir machten uns Brote zurecht, türmten sie auf ein Holzbrett, stellten sie auf den Couchtisch, setzten uns, aßen und starrten in den Fernseher. Irgendwann rief Rodenstock an und sagte seltsam belegt: »Ich bleibe noch eine Weile. Kann durchaus sein, daß ich die Nacht bei Mario verbringe.«
»Wie geht es ihm?«
»Gesundheitlich gut«, antwortete er hölzern. »Keinerlei Probleme in Sicht. Der Vater war hier und ist schier ausgeflippt. Mario mußte ihn trösten.«
»Ich lege dir den Hausschlüssel unter die Fußmatte«, versprach ich.
»Seid ihr weitergekommen?«
»Ich denke schon, aber ein Durchbruch ist es nicht. Ich erzähle dir alles in Ruhe, wenn du hier bist. Und sei vernünftig und komm heim, wenn du müde wirst.«
»Das ist kein Problem«, sagte er. » Grundmann hat mir eine Art Couch hier reinstellen lassen.«
»Das ist gut. Grüß Mario herzlich und richte ihm aus, ich komme vorbei, sobald ich kann.«
»Er ist wirklich sehr tapfer«, murmelte Rodenstock und beendete das Gespräch.
Dinah starrte in den Fernseher, schien aber gar nicht wahrzunehmen, was dort lief.
»Ich habe eine Frage an dich als Frau«, riß ich sie aus ihren Gedanken.
»Nur zu, soweit ich weiß, bin ich eine.«
»Das Bild, das wir von Betty bis jetzt haben, ist irgendwie zerrissen. Auf der einen Seite erlebt sie über Jahre mit Ole die große Liebe. Auf der anderen Seite erteilt sie Mario Unterricht und schläft mit diesem Holländer. Mario kann ich mir noch erklären, weil liebevolle Freundschaft so etwas bewirken kann. Aber der Holländer? Was soll das? Ist eine Frau fähig, mit jemandem zu schlafen, nur um Gewalt abzuwenden oder eine Gefahr zu bannen?«
»Ja«, antwortete Dinah. »Nur Männer machen daraus das miese Problem der Moral. Frauen sind sehr praktisch, was diese Dinge angeht. Um die zu schützen, die sie lieben, gehen sie auch ins Bett beziehungsweise stellen ihren Körper zur Verfügung – wie ein Instrument gewissermaßen. Die Schilderungen von Frauen in Kriegen und Notzeiten laufen doch darauf hinaus.«
»Du würdest das auch tun? Also, wenn ich in Gefahr schweben würde, und du könntest mich retten. Aber nur, wenn du dich ... na ja, jemandem hingibst. Würdest du so das tun?«
»Aber ja«, bestätigte sie. »Etwas anderes zu behaupten wäre bigott.«
Gegen elf Uhr schalteten wir den Fernseher aus, um ins Bett zu gehen. Draußen waren vierzehn Grad minus, und ich wickelte vier Briketts in eine dicke Lage Zeitungspapier ein, damit der Ofen bis zum nächsten Morgen durchbrannte. Ich hörte, wie Dinah unter der Dusche trällerte, irgendwo weit entfernt schlug ein Hund an, ein Auto zog die Beulerstraße hoch, und seine Räder drehten auf dem Schnee durch. Ich öffnete die Haustür und blickte eine Weile hinaus. Die Luft war glasklar und sehr kalt. Die Flocken tanzten in gleichförmigen Rhythmen durch den gelben Schein der Hoflampe. Paul und Momo kamen und rieben sich an meinen Beinen. Sie starrten genauso hinaus wie ich, und offensichtlich gefiel ihnen diese Kumpanei, sie schnurrten sehr intensiv und miauten hin und wieder in langgezogenen Tönen. Es klang wie eine freundliche Unterhaltung über unwichtige Dinge-Plötzlich tauchte links am Rand der Scheune eine kleine Figur auf, und ich mußte nicht einmal die Augen zusammenkneifen, um sofort zu begreifen, wer es war. Er ging wie jemand, der sich durch nichts beirren läßt. Seine schmale Figur war leicht nach vorn geneigt, und er wirkte sehr locker.
»Ich werde noch mal verrückt«, rief ich laut.
Er drehte den Kopf, sah mich und betrat den Hof. Er trug wieder diese Pantoffeln, wieder diesen Parka, aber glücklicherweise statt eines Schlafanzuges normale Jeans und einen dicken Pullover. Nicht im geringsten verlegen sagte er: »Ich dachte, ich komme mal vorbei.«
»Was ist denn da los?« fragte Dinah hinter mir im Flur. »Warum kommst du nicht ins Bett?«
»Das wird nicht gehen«, erklärte ich. »Wir haben Besuch.«.
Sie schaute über meine Schulter auf Schappi, der da mit geradezu unheimlicher Gelassenheit im Schnee stand. »Um Gottes willen, was ist denn passiert?«
»Ich dachte, ich komme mal vorbei«, wiederholte er.
»Ich grüße dich. Das ist aber nett. Komm rein!« Und weil ich stark verunsichert war, stellte ich eine ausgesprochen idiotische Frage: »Seit wann bist du denn unterwegs?«
Er blickte auf seine Uhr und erklärte sachlich: »Ich habe ein paar Abkürzungen genommen, aber eine Abkürzung war ziemlich blöde ... sie war länger als die Bundesstraße. Jetzt ist es halb zwölf ...«
»Mein Gott«, Dinahs Stimme verriet den Schock. »Wieviel Kilometer sind denn das?«
»Zwölf, schätze ich.« Er bewegte sich, er wollte ins Haus, aber wir standen ihm im Weg.
»Entschuldige«, sagte ich hastig und machte ihm Platz.
Er marschierte an uns vorbei und fragte: »Wohin?«
»Wie?« fragte Dinah schrill. »Ach so, wohin. Na ja, erste Tür links.«
»Betty hatte so einen ähnlichen Bademantel«, stellte er freundlich fest.
»Na, sowas!« murmelte Dinah.
»Was ist?« fragte ich. »Heiße Milch?«
»Hast du auch einen Schluck Cola?«
»Habe ich auch«, nickte ich. »Wann bist du los?«
»So gegen acht Uhr. Papa hat gerade Tagesschau geguckt. Aber die eine Abkürzung war nichts, da habe ich mich verlaufen.«
»Dein Papa weiß nicht, daß du hier bist, oder?«
Schappi schüttelte den Kopf und sah sich aufmerksam um. »Nein. Wenn ich gesagt hätte, ich will dich besuchen, dann hätte er gesagt, ich soll zu Hause bleiben und dir nicht auf den Wecker fallen. Das sagt er immer.«
»Frierst du nicht? Willst du eine Decke?« Dinah war ganz fahrig.
»Nein, ich friere nicht. Ich bin stramm gegangen, da friere ich nicht. Ihr habt es aber gemütlich.«
Ich ging in die Küche, um ihm die Cola zu holen, und hörte, wie Dinah sagte: »Zieh dir den Parka aus, sonst erkältest du dich.«
Ich stellte die Cola vor ihn hin, nahm mein Handy und verschwand nach oben ins Badezimmer. Ich rief bei Mehrens an und erwischte seine Mutter.
»Baumeister hier. Kein Grund zur Aufregung. Schappi ist hier. Er ist gerade angekommen.«
Sie war erleichtert, aber sie war auch empört. »Ja, das geht doch nicht. Das hat der Junge doch noch nie gemacht. Ja sowas! Mein Mann kommt und holt ihn.«
»Das wäre gar nicht gut«, widersprach ich. »Der Junge trauert um seinen Bruder. Wenn er müde ist, kann er hier ein paar Stunden schlafen. Ich bringe ihn morgen heim.«
Sie druckste herum, es war ihr nicht recht, ich war so etwas wie ein Feind. »Ich weiß nicht. Der Junge erzählt immer so viel Blödsinn.«
»Das weiß ich doch«, beruhigte ich sie. »Ich höre nicht hin.«
»Ja, wenn Sie meinen«, sagte sie kläglich.
»Das meine ich. Tschüs, bis morgen.« Ich unterbrach die Verbindung und ging wieder hinunter.
Schappi erzählte gerade: »Ein Autofahrer hat gehalten und geschrien: Heh, Zwerg, wohin willst du denn? Aber ich bin einfach weitergegangen.«
Mir fiel etwas ein, ich rannte hinauf ins Schlafzimmer und holte das Foto des Kriminalbeamten Dieter Kremers. Ich warf es wie nebenbei auf den Couchtisch und gab keinen Kommentar dazu.
Schappi trank von der Cola. »Also, ich glaube, ich muß mal zu Hause anrufen, sonst ...«
»Mußt du nicht mehr«, unterbrach ich. »Ich habe gerade mit deiner Mutter gesprochen. Ich habe gesagt, du bleibst heute nacht hier, und ich fahre dich morgen nach Hause.«
Schappi schaute mich an und begann auf eine erschreckend lautlose Weise zu weinen. Er hockte da und zuckte fortwährend. Dinah setzte sich neben ihn und nahm ihn in die Arme. Ich legte Holzscheite auf die eingepackten Briketts und stellte den Zug des Ofens auf. Die Flammen schlugen augenblicklich hoch.
Es dauerte eine Unendlichkeit, bis er ruhiger zu atmen begann und sich die Tränen aus dem Gesicht wischte. Er war so klug wie alle Kinder, er ging darüber hinweg. Mit einem Blick auf das Foto Dieter Kremers meinte er: »Ich habe dir doch gesagt, daß Ole den da getroffen hat. Das war am belgischen Kaufhaus in Losheim. Das war der.«
»Wie oft haben die sich denn getroffen?« fragte Dinah.
»Das weiß ich nicht. Ich glaube oft. Ich war zweimal dabei.« Er setzte erneut ein »Glaube ich« hinzu.
»Wie gefiel der dir denn?« erkundigte ich mich.
»Nicht besonders«, antwortete er. »Ole hat gesagt, der wäre eigentlich ein Arsch, aber vielleicht ... ich weiß nicht mehr, was er dann gesagt hat.«
Dinah lächelte. »Ole hat bestimmt gesagt, dieser Bulle wäre nützlich, oder?«
»Genau!« bestätigte er hell. »Genau.«
»Herzlichen Glückwunsch«, murmelte ich, und erfreulicherweise wurde Dinah ein wenig rot.
Paul und Momo demonstrierten das Elefantenspiel und donnerten die einhundertfünfzig Jahre alte Eichentreppe hinauf und hinunter, die wegen völlig fehlender Isolation wie ein dumpfsonores Baßinstrument dröhnte. Besonders Paul liebte diesen Baß.
»Die sind aber gutgelaunt«, sagte Schappi leise.
»Sind die fast immer«, sagte ich. »Wenn ich mal mies drauf bin, schleichen sie an den Wänden entlang und sind nervös. Wenn die Welt in Ordnung ist, spielen sie das Elefantenspiel auf der Treppe.«
»Elefantenspiel«, lachte er. »Kälbchen rennen manchmal auch so rum, wenn sie gut drauf sind.«
»Jetzt muß ich aber ins Bett«, meinte ich. »Ich bin hundemüde.«
»Wir gehen auch ins Bett, nicht Schappi?« sagte Dinah.
»Ja klar«, nickte er. »Wo schlafe ich denn?«
»Du kannst im Bett von meinem Freund schlafen und ein eigenes Zimmer haben«, schlug ich vor. »Du kannst aber auch bei uns schlafen. Bei uns liegt eine Riesenmatratze einfach auf dem Fußboden. Da ist Platz genug. Du kannst dir das in Ruhe angucken und dann entscheiden.«
»Ich habe bei Mama geschlafen«, sagte er und war ganz weit weg. »Bis Papa gekommen ist. Dann mußte ich in mein Zimmer.«
Wir marschierten also die Treppe hinauf, und Schappi begutachtete Rodenstocks Zimmer, dann unsere nächtliche Bleibe. Und er war ein bißchen verlegen.
»Kein Problem«, murmelte Dinah. »Du kannst in der Mitte schlafen, wenn es dir nichts ausmacht.«
»Nee, also das macht mir nix aus.«
Wir waren es gewohnt, nackt zu schlafen, weil jemand mir in meiner Jugend geflüstert hat, das sei besonders heilsam und dem Körper bekömmlich. Da wir Schappi nicht in Verlegenheit bringen wollten, zogen wir T-Shirts und Shorts an, und ich pumpte Schappi ein paar kurze Hosen, in denen er vollkommen versank. Er gluckste vor Lachen, als er an sich heruntersah, ließ sich auf den Rücken fallen und strampelte mit den Beinen. »Oh, Mann«, keuchte er, »ich seh wirklich aus wie ein Clown.« Dann lag er zwischen uns, sehr verkrampft, und bemühte sich, Arme und Beine bei sich zu behalten. Er starrte an die Decke, schloß die Augen, als habe ihm das jemand befohlen, blinzelte, sah, ohne den Kopf zu bewegen, zu Dinah hinüber, dann zu mir.
»Du kannst ganz locker sein«, grinste ich. »Wir beißen heute nacht nicht.«
Er prustete wieder vor Lachen, die Beklemmung wich ein wenig. Er drehte sich zu Dinah.
»Du hast in letzter Zeit nicht viel geschlafen, nicht wahr?« fragte sie.
»Nee«, gab er zurück. »Gestern morgen habe ich den Kälbchen die Milch gegeben, die kriegen immer Kraftfutter. Und dann habe ich mich auf einen Haufen Silage gesetzt und bin eingeschlafen. Weil die Kälbchen machen mich immer ruhig.«
»Das wird besser werden«, murmelte Dinah. »Es ist sicher sehr schwer, Ole und Betty zu verlieren.«
»Ja«, sagte er.
Ich überlegte, ob ich die schlimme Geschichte noch einmal ansprechen sollte und dachte dann, daß es wahrscheinlich heilsamer sein würde, darüber zu reden, als nur darüber zu grübeln. »Da ist eine Sache, die ich nicht verstehe«, murmelte ich in das Halbdunkel des Zimmers. »Dein Vater hat mir erzählt, daß dieser Kremers, dieser Kripomann, bei euch zu Hause war.«
»Ja, ja, das stimmt.«
»War der nur einmal bei deinem Vater oder öfter?«
»Öfter«, sagte er, und Zweifel gab es nicht.
»Weißt du, wie oft?«
»Weiß ich nicht, weil ich ja zur Schule muß. Aber Mama sagte, wenn das so weitergeht, koche ich jeden Morgen nur noch Kaffee für die Polizei.«
»Oh Gott«, hauchte Dinah.
»War das jetzt im Sommer oder im Herbst?«
»Das war nach den Sommerferien.«
»Hat jemand gesagt, du darfst das Ole und Betty nicht erzählen?« fragte ich.
»Na, klar, die durften das nicht wissen. Und die Männer kamen ja auch nur, wenn Ole und Betty nicht da waren.«
»Wieso die Männer?« hakte Dinah nach. »Waren außer Kremers noch andere dabei?«
»Ja, ein anderer, ein Jüngerer.«
»War der von hier?«
»Nicht von hier«, antwortete Schappi in die Stille. »Den hab ich noch nie in Jünkerath gesehen.«
»Hatte der ein Auto?« fragte Dinah beharrlich weiter.
»Ja klar. Einen Dreier-BMW. Mit Münchner Kennzeichen.«
»Auch das noch«, sagte ich.
»Wieso?« fragte Dinah.
»Leute aus München in der Eifel bedeuten immer Verdruß«, murmelte ich.
»Was sollten die in dieser Provinz suchen?« meinte sie spöttisch.
Mich ärgerte das: »Die Eifel ist immerhin gut genug für ein paar Riesenschweinereien.«
»Entschuldige«, sagte sie nach einer Weile. »Schlaft gut.« Sie drehte sich von uns ab.
Ich starrte auf das mattblaue Viereck des Fensters und spürte, wie Schappi sich zu mir wandte, langsam und leise. Er hielt die Augen sehr weit offen, als habe er Furcht davor einzuschlafen. Ich dachte an Rodenstock, der jetzt wahrscheinlich auf seiner Liege neben Mario lag und sich fragte, wie dieser Junge es schaffen würde, mit einem Fuß zu leben.
Ich wurde schläfrig.
Als es unten wie ein dröhnender Hammerschlag explosionsähnlich krachte, spürte ich als erstes, wie der Junge blitzschnell hochfuhr und wahnsinnig hastig zu atmen begann. Dann fragte Dinah mit verschwommener Stimme: »Was?«
Ich starrte auf das Leuchtzifferblatt des Weckers. Es war drei Uhr. Ich hörte, wie Dinah nach irgend etwas tastete.
»Kein Licht!« befahl ich scharf.
Schappi saß neben mir, starr vor Schreck.
»Seid leise!« flüsterte ich. Momo und Paul knurrten vor der Türe zum Schlafzimmer.
Ich stand vorsichtig auf und tastete mich zur Tür. Das Haus war totenstill, und ich riskierte es, die Türklinke vorsichtig herunterzudrücken. Die Katzen wischten in den Raum und stellten sich eng an Dinah und Schappi, die auf der Matratze standen.
Ich griff nach Dinahs Hand, nahm Schappi am Arm und zog sie mit mir auf den Flur. Ich deutete auf die Tür zum Dachboden, zog den Schlüssel ab und drückte ihn Dinah in die Hand.
»Ich will aber mit«, hauchte sie wütend.
Ich schüttelte den Kopf und deutete auf Schappi. Dann öffnete ich die Tür zum Dachboden. Eiskalte Luft strömte mir entgegen. Ich winkte die beiden energisch hinein. Sie strichen an mir vorbei, und ich schloß die Tür hinter ihnen.
Von unten war jetzt das Geräusch von Glassplittern zu hören, die herunterfielen. Aber ich konnte nicht ausmachen, ob es aus der Küche kam oder aus dem Arbeitszimmer.
Ich ging ganz normal die Treppe hinunter, weil ich wußte, daß es keinerlei Sinn machte zu versuchen, diese Treppe leise hinabzusteigen. Uraltes Eichenholz knarrt immer, und wenn die Katzen das Elefantenspiel machen konnten, wirkte das Gewicht eines Menschen erst recht wie das Trampeln einer ganzen Herde Dickhäuter. Mein Vorteil, so überlegte ich eine Sekunde lang, ist die Dunkelheit und meine genaue Kenntnis dieses alten Gemäuers. Ich spürte keine Furcht, eher so etwas wie eine konzentrierte Neugier, und lächerlicherweise dachte ich auch: Wer soll uns schon etwas wollen?
Da verlor ich den Vorteil der Dunkelheit. Die Küchentüre ging auf, und das Licht fiel auf mich.
Es waren drei Männer, und sie wirkten trotz meiner leicht erhöhten Position sehr groß. Sie trugen dunkle Pullover, die am Hals nahtlos in eine Kopfhaube übergingen und die hierzulande nur von den Sondereinsatzkommandos der Bundeswehr, des Grenzschutzes oder der Polizei getragen werden. Die Hauben hatten im Gesicht nur einen schmalen Sehschlitz.
»Sieh einer an, der Baumeister«, sagte der erste knödelig und machte einen Schritt nach vorn.
»Guten Morgen«, entgegnete ich lahm, weil mir nichts Besseres einfiel. »Kann ich etwas für Sie tun?« Erst jetzt bemerkte ich, daß jeder einen Baseballschläger in der Hand hatte.
»Wir wollen mal nach dem Rechten sehen«, fuhr der erste fort. »Wir haben gedacht, wir machen mal eine Tour in den Eifelschnee.«
»Das ist schön«, sagte ich. »Wir lieben Touristen. Besonders, wenn sie durchs Fenster kommen.«
»Der hat Nerven«, staunte ein zweiter, wobei ich nicht ausmachen konnte, wer es sagte.
»Bauernland ist immer gut für die Nerven.« Ich wußte genau, daß sie nicht gekommen waren, um zu plaudern. Dieser friedliche Zustand würde in den nächsten Sekunden enden. Also griff ich an. »Was soll der Scheiß?« fragte ich.
Sie ließen sich nicht auf einen verbalen Streit ein, der erste hob den Baseballschläger und zischte: »Wir bringen dir schöne Grüße, du Schwein.« Dann schlug er wischend zu, verfehlte mich aber, weil ich ganz automatisch eine Treppenstufe nach oben ausgewichen war.
»Ach du lieber Gott«, stöhnte ich. »Mamis Lieblinge wollen sich prügeln. Pumpt ihr mir einen von euren Schlägern?«
Er schlug wieder zu, ich stand jetzt vier Stufen über ihm, und sein Schlag glitt an einem Pfosten der Treppe ab.
»Du sollst dich raushalten, Opa«, knurrte er. Dann drehte er leicht den Kopf und setzte hinzu: »Ihr könnt ja schon mal die Möbel zurechtrücken.«
Einige Sekunden lang herrschte Stille, dann sagte einer der beiden anderen: »Na gut.« Er ging in die Küche. Ein wahnwitziger Krach setzte ein, als er mit dem Schläger die Glasscheiben im Küchenschrank einschlug und anschließend das uralte Bauernregal mit dem Tongeschirr von der Wand fegte. Der Dritte war wohl gleich in die große Stube gegangen. Das erste, was ich wahrnahm, war der Knall, mit dem er das Kristallglas von der alten Standuhr zerschmetterte. Das Läutwerk der Uhr schwang mit und erzeugte einen seltsam schmerzlichen Laut.
»Schweine«, schrie ich, während ich den nächsten Schlag kommen sah und eine weitere Stufe ausweichen mußte.
»Ich vermute da oben die Hure, mit der du immer bumst«, sagte der Schläger. Er war sehr siegessicher. »Wir sind extra gekommen, um sie zu besuchen.«
»Das versuch mal«, entgegnete ich. »Aus welcher Sache soll ich mich übrigens raushalten?«
»Du weißt schon, aus welcher«, sagte er.
Ich wußte, daß er auf gleicher Ebene ungleich stärker sein würde mit dem Prügel in der Hand. Ich durfte einfach nicht zulassen, daß er mich die Treppe bis ans Ende hinauftrieb.
»Hast du Ole das Genick gebrochen?« fragte ich leise.
Er antwortete nicht, schlug nicht mehr, er versuchte mit dem Baseballschläger eine stechende Bewegung. Er erwischte mich am linken Oberschenkel, weil es zu plötzlich kam und ich nicht damit gerechnet hatte. Ich befand mich noch drei Stufen über ihm.
»Hast du Betty auch das Genick gebrochen? Als sie sich nicht wehren konnte? Du wirkst wie ein Feigling, du könntest es gewesen sein. Außerdem hast du kein Hirn, das sieht man trotz dieser dämlichen Maske. Bist du Analphabet oder sowas?« Ich drehte mich leicht von ihm weg. »Ich habe keine Angst, Kleiner, ich habe nicht die geringste ...« Ich duckte mich und sprang rückwärts auf ihn hinunter. Er bekam den Baseballschläger nicht mehr hoch, und ich traf ihn mit meinem ganzen Gewicht. Erschreckt atmete er ein. Dann stürzte er nach hinten weg, und ich schien auf die weiße Wand zuzufliegen. Ich landete auf seinem Brustkorb und hatte einen Moment lang diese Maske vor meinem Gesicht, ehe ich zuschlug und der Typ mit einem merkwürdig erstickten Laut reagierte. Er lag nun mit den Beinen himmelwärts auf der Treppe und hatte den Baseballschläger verloren. Der schwebte eine Stufe über uns. Ich nahm ihn, und für eine bedrängende Sekunde wollte ich dem Wehrlosen damit auf den Kopf schlagen.
Aus der Küche kam einer der beiden anderen, sah uns und ging sofort auf mich los, wobei er den Fehler machte, seinen Kumpan nicht zu warnen. Ich wich seinem Schlag aus, trat dem ersten auf die Schulter und schlug jetzt mit dem Schläger zu. Ich hatte wahrscheinlich den Vorteil der größeren Wut und war nicht sehr vorsichtig. Ich traf ihn in die Hüfte, und der Schlag preßte ihm die Luft aus den Lungen. Er knickte nach vorn und ließ seinen Prügel fallen, der über die Fliesen schepperte.
»Hallo, Schweinchen«, sagte ich.
Er kniete da, schüttelte den Kopf und versuchte, klar zu werden. Dann sah ich seine linke Hand flach auf den Fliesen. Sie wirkte wie ein sehr weißer, häßlicher Fleck. Ehe ich einen Gedanken fassen konnte, ehe etwas mich zu bremsen vermochte, schlug ich mit dem Holz auf diesen weißen Fleck. Der Mann schrie hoch und gellend und wollte überhaupt nicht damit aufhören. Schließlich schwieg er unvermittelt und fiel zur Seite.
Der Dritte tauchte nun auch wieder auf und überblickte sofort die Lage. Er sah seine beiden Kumpel am Fuß der Treppe liegen, drehte sich um und verschwand aus meinem Blickfeld. Ich hörte, wie er in die Scherben des Fensters trat. Ich sprang hinterher und erwischte den Mann auf der Fensterbank. Mit aller Kraft schlug ich zu. Er stürzte mit einem Schreckenslaut in den Garten. Erst dann erschrak ich.
»Baumeister!« schrie Dinah. Es klang beängstigend nah.
Ich drehte mich vom Fenster ab, und als ich die Tür erreichte, erblickte ich den ersten Schläger wieder. Er hielt Dinah vor sich und sagte kein Wort.
»Okay, okay«, keuchte ich. »Laß sie los, und zieht ab.«
Er schüttelte den Kopf. Er hatte ein Messer an ihren Hals gesetzt, und sein Atem ging widerlich laut.
»Haut ab«, murmelte ich. »Du bringst mir keine Angst bei, Kleiner. Du bist einfach ein Pinscher, sonst gar nichts.«
Dinahs Gesicht war schneeweiß.
Der zweite zu meinen Füßen begann sich zu bewegen und wollte aufstehen. Ich stellte meinen Fuß auf seinen Rücken. »Bleib da liegen«, befahl ich scharf. Er lag still.
»Baumeister«, stammelte Dinah zittrig.
»Schon gut«, sagte ich. »Er ist im Vorteil.« Ich ließ den Baseballschläger fallen. Der klackerte hölzern über die Küchenfliesen. Dann war es still.
Der Mann zu meinen Füßen regte sich wieder, aber diesmal trat ich einen Schritt zurück.
»Baumeister«, stotterte Dinah erneut.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich bin nicht so gut in diesen Dingen.
»Wo ist Smiley?« fragte jetzt der erste.
»Aha«, murmelte ich, »Besuch aus Köln vom schönen Eigelstein.« Es gibt Bemerkungen, die einfach dämlich sind. Dies war so eine. »Ich habe ihn in den Garten geschmissen«, setzte ich hinzu. »Das Gelände fällt stark ab, die Höhe liegt bei zweieinhalb Metern. Vielleicht ist er tot, vielleicht hat er sich was gebrochen. Wollen wir nicht ein Bier zusammen trinken?« plapperte ich. »Oder eine rauchen? Wir können doch ganz friedlich sein, oder?«
Der Mann zu meinen Füßen rappelte sich jetzt langsam hoch.
»Guck mal nach Smiley«, forderte der erste scharf. »Und du hältst endlich mal die Schnauze, Baumeister.«
Der zweite glitt an mir vorbei, und wir hörten, wie er durch die Scherben am Fenster stapfte. Endlich rief er dumpf: »Smiley liegt da unten und rührt sich nicht.«
»Krankenwagen«, schlug ich vor. »Notarzt«.
»Halt die Schnauze!« schrie der erste.
»Ich meine es aber wirklich so«, schrie ich zurück. »Du Affe! Der Spaß ist zu Ende, der Ernst fängt an. Da drin ist ein Telefon.«
»Geh raus und guck nach Smiley«, sagte der erste.
Der zweite ging dicht an mir vorbei den Flur entlang zur Haustür. Er drehte den Schlüssel und verschwand. Er ließ die Tür offen, und es wehte eiskalt herein.
»Baumeister«, Dinah hauchte nur noch.
»Tu ihr nichts«, meinte ich. »Laß sie los.«
»Arschloch«, sagte der erste verächtlich.
»Wenn du ihr etwas tust, töte ich dich.«
Viele Tage später haben Dinah und ich überlegt, wie lange diese vollkommen unsinnige und dumme Prügelei denn wohl gedauert hatte. Ich war der Meinung, mindestens zwanzig Minuten. Als wir dann die Situation nachstellten, mußte ich zugeben, daß die mir wie ein Ewigkeit erscheinende Zeit bestenfalls 90 bis 120 Sekunden angehalten hatte. Leute, die boxen, haben mir versichert, daß eine Dreiminuten-Runde unendlich lang sein kann. Jetzt kann ich das verstehen.
Offensichtlich hatte der erste Schläger keinen Plan, er hatte nicht einkalkuliert, daß einer seiner Kumpane ausfallen könnte und ein zweiter sich um den Ausgefallenen kümmern mußte. Er hatte wohl auch nicht damit gerechnet, daß ich mich zur Wehr setzen würde.
Dinah war gefährdet, sobald ich mich bewegte. Also begann ich erneut zu reden. »Hast du gewußt, daß Betty schwanger war? Sie war im dritten oder vierten Monat. Hast du das gewußt? Wann hast du zum letzten Mal mit Kremers gesprochen? Hat er dir etwas versprochen? Na ja, du magst nicht antworten, nicht wahr? Das macht nichts, ich weiß sowieso schon das meiste, denn ...«
»Du weißt gar nichts«, höhnte er. »Du scheißt dir vor Angst um die Frau in die Hose.«
»Laß meine Frau los«, forderte ich »Die fährt mit uns«, sagte er. »Dann kannst du uns keine Bullen auf den Hals hetzen.«
Dinah begann laut zu jammern. »Ich kann nicht mehr stehen«, weinte sie.
Er riß sie hoch und nahm sie fester.
In diesem Augenblick tauchte Nummer zwei wieder in der Haustür auf. »Der ist weggetreten«, berichtete er. »Der reagiert nicht mehr.« Er war aufgeregt und konnte nicht vermeiden, daß es zu hören war.
»Schlepp ihn ins Auto«, sagte die Nummer eins. »Wenn du damit fertig bist, kommst du wieder her. Dann kannst du noch ein paar Möbel bearbeiten.«
»Der braucht einen Arzt, keine Autotour«, wiederholte ich.
»Halt die Schnauze«, schrie Nummer eins.
Dann war es ein paar Sekunden vollkommen still. In diese Stille fielen wie Tropfen leise schniefende Laute. Der Kopf des ersten schnellte herum, und er blickte die Treppe hoch. Oben stand Schappi und weinte leise.
»Wer ist das?« fragte Nummer eins.
»Der Bruder von Ole«, erklärte ich. »Ihn kannst du besiegen, er ist zehn. Bleib oben, Schappi, bleib einfach dort oben.« Ich konnte Schappis Auftauchen als Unglück bezeichnen, aber es konnte auch Glück sein, denn der Typ war verwirrt, hatte von Schappi nichts gewußt und mußte jetzt mit den Augen immer hin- und hermarschieren. Das war sehr schwierig.
»Der ist verdammt schwer«, rief Nummer zwei von draußen.
»Mach schon!« schrie Nummer eins wütend.
In diesem Augenblick tönte das tuckernde Geräusch eines schweren Diesel durch die Nacht, und Schappi flüsterte tonlos und erleichtert: »Das ist Papa!«
»Scheiße!« sagte Nummer eins heftig.
»Da kommt wer«, meldete der zweite aufgeregt in der Haustür. »Smiley ist im Auto, wir können.«
Das waren die Sekunden der Wahrheit, es kam darauf an, was Nummer eins jetzt entschied. Er ließ Dinah los, und sie sackte mit einem lauten Aufatmen an ihm hinunter. »Gut, Baumeister, halt dich raus, sonst komme ich wieder. Halt dich raus, Mann, sonst bist du tot.«
Ich antwortete nicht, ich riskierte nichts mehr.
Plötzlich stand Bauer Mehren in der Tür und hatte die Szene im Blick. Offensichtlich brauchte er keine Erklärung. Er baute sich breit auf, als die Nummer eins frech wie Oskar guten Morgen wünschte und an ihm vorbei wollte.
»Halt mal«, sagte Mehren. Mit der linken Hand stoppte er den ersten und hob ihn leicht hoch, so daß er keinen Widerstand leisten konnte. »Baumeister, was ist? Brauchen wir den?«
»Ja, das wäre sehr gut«, murmelte ich. »Er ist ein Arsch, aber wir können ihn brauchen.«
Die Nummer eins begann etwas unorganisiert auf Mehren einzuschlagen, aber der war nicht zu erschüttern und offensichtlich auch nicht willens, sich lange mit dem Mann zu beschäftigen. Er schlug ihm mit der Faust seitlich gegen den Kopf und ließ ihn einfach fallen. Dann sah er mich an und fragte höflich: »Die beiden anderen draußen auch?«
»Könnte nicht schaden«, nickte ich.
Er kehrte zurück auf den Hof. Man hörte zwei- oder dreimal, wie eine Autotür klappte, dann schepperte etwas sehr scharf, und Mehren sagte laut und befriedigt: »So!«
»Dinah, Mädchen«, sagte ich. »Komm, es ist alles vorbei.«
»Es war so schrecklich«, stöhnte sie. Plötzlich rappelte sie sich blitzschnell hoch und rannte wie besessen die Treppe hinauf. Ich hörte, wie sie sich übergab.
»Kann mir jetzt mal einer diesen Haushalt hier erklären?« fragte Mehren.
»Ich bin hier, Papa«, meldete sich Schappi. »Hier war vielleicht was los.«
»Da ist was dran«, sagte ich.
Über die nächste Stunde kann ich nur äußerst gebrochen berichten. Ich wollte alles gleichzeitig tun: die Polizei benachrichtigen, Dinah in den Arm nehmen und trösten, das gleiche mit Schappi tun, den Bauern fragen, was zum Teufel ihn denn veranlaßt habe, plötzlich als tatkräftiger, äußerst anständiger Mensch aufzutreten, und gleichzeitig unsere drei Gefangenen ein bißchen befragen. Ach ja, und ich wollte selbstverständlich Rodenstock aus dem Krankenhaus heimrufen. Ich weiß, daß ich von allem ein bißchen tat, aber nichts gründlich. Das Durcheinander hatte mit meiner Verdauung zu tun. Auf Momente höchster Erregung und Angst pflegt mein Körper mit einem Zustand zu reagieren, den die Kölner so liebevoll ,de flökke Pitter' nennen und der gemeinhin im Volke, Dünnschiß' heißt.
Bauer Mehren hatte die Abordnung junger Männer aus Kölns sündiger Meile der Einfachheit halber erst einmal in der Garage verstaut, was ihnen bei minus acht Grad einen leichten Dämpfer versetzte. Dann hatte er sich mit einer Flasche meines aufgesetzten Schlehenschnapses an meinen Schreibtisch gesetzt, um ein wenig fassungslos das Chaos zu betrachten und sich gleichzeitig vorsichtshalber vollaufen zu lassen.
Rodenstock hatte es fertiggebracht, trotz dieser Unzeit einen Taxifahrer aufzutreiben und zu uns zurückzukehren. Er zog sich einen Stuhl so nahe wie möglich an Mehren heran, nickte ihm zu und hielt ihm ein leeres Wasserglas hin, um bei der Vernichtung des Aufgesetzten mannhaft mitzuwirken. Etwa alle zehn Minuten wiederholte er: »Baumeister, du solltest mir gelegentlich mitteilen, was in diesem kleinen Haushalt während meiner Abwesenheit vor sich gegangen ist.«
Dinah ging es nach einer Stunde alles in allem besser. Der Anfall von Migräne war verschwunden, der Magen hatte sich beruhigt, sie konnte drangehen, die Welt neu zu entdecken. Sie hockte in einem Sessel. Schappi pendelte zwischen Dinah und seinem Vater, den er einigermaßen fassungslos betrachtete.
Nur ich spielte zunächst in dem Ensemble kaum eine Rolle, da ich fortwährend mit der Entleerung meines Darmes beschäftigt war.
Schließlich tauchte ein Streifenwagen auf, dessen Besatzung die Abordnung aus Köln liebevoll auf den Rücksitz packte und mit ihnen verschwand. Dann fuhr ein schwarzer Ford Scorpio vor und spuckte einen langen Mann aus, der sich mit: »Gestatten, Volkmann, Staatsanwaltschaft!« vorstellte und dann fragte: »Was war denn eigentlich hier los?«
Als ich freundlich antwortete, ich könne ihm weiterhelfen, schlug er vor, in die große Stube hinüberzuwechseln. Rodenstock gab sich als ehemaliges Mitglied der Mordkommission zu erkennen und bekam die Erlaubnis, sich zu uns zu gesellen.
Volkmann kramte einen Schreibblock aus seiner Aktentasche, dazu ein kleines Diktiergerät. Er schaltete es ein und sagte auffordernd: »Herr Baumeister, was ist passiert?«
Ich berichtete so konzentriert wie möglich und hängte dann die Frage an: »Sind Sie auch an dem Ermittlungen über den Doppelmord in Junkerath beteiligt?«
Er nickte. »Deshalb bin ich hier. Wir dachten gleich, daß die Ereignisse zusammenhängen. Ich finde es erstaunlich, daß man der Staatsanwaltschaft so wenig Hirn zutraut.«
»Sie sollten mehr Werbung machen«, murmelte Rodenstock. »Wir sind auf eine Sache gestoßen, die mir sehr delikat erscheint. Mein Freund Baumeister ist Journalist, wir recherchieren den Fall, da er damit seine Brötchen verdient. Uns ist dieser Kriminalbeamte namens Kremers aufgefallen, der es offiziell ablehnt, etwas mit der Drogenszene zu tun zu haben. Er leugnet auch, jemals mit Ole oder Betty zusammengetroffen zu sein, obwohl wir das Gegenteil wissen. Drüben im anderen Raum sitzt der Vater von Ole Mehren. Bei dem war Kremers auch. Kremers hat sehr viele direkt und indirekt Beteiligte an dem Fall manipuliert. Das ist beweisbar. Wer, Herr Staatsanwalt, ist dieser Dieter Kremers?«
Volkmann seufzte und grinste leicht. »Das war eine lange Rede. Tja, wer ist Kremers? Er ist ein sehr guter Kriminalbeamter, er hat in einigen Fällen hervorragende Arbeit geleistet. Wenn er behauptet, mit diesem Drogenfall nichts zu tun zu haben, dann kann es gleichzeitig trotzdem sein, daß er von den Drogenspezialisten aus Wittlich den Auftrag bekommen hat, Antworten auf kleine Nebenfragen zu finden. Wie Sie wissen, haben wir zu wenig Personal, und da kommt es immer wieder vor, daß irgend jemand, der gerade an Ort und Stelle ist, gebeten wird ...«
»Moment, Moment«, ging ich dazwischen. »Ihre Beredsamkeit in Ehren, aber uns geht es um einen sehr merkwürdigen Aspekt: dieser Kremers hat in ganz entscheidenden Punkten des Falles eingegriffen.«
»Aber das kann doch sein, meine Herren«, strahlte Volkmann. »Welche Aufgaben die Staatsanwaltschaft wem zuteilt, das müssen Sie schon der Staatsanwaltschaft überlassen. Herr Kremers darf darüber keine Auskunft geben. Sie sind doch gewissermaßen Eingeweihte, Sie müßten doch wissen, wie das funktioniert.«
»Moment«, sagte Rodenstock scharf. »Es geht um den Kriminalbeamten Dieter Kremers, der erstaunlicherweise von einem indirekt Beteiligten einen Bauplatz zu einem Schnäppchenpreis bekam. Es geht um Kremers, der es fingerte, daß Ole Mehren wegen Besitzes von sage und schreibe 50 Portionen LSD nicht einmal angeklagt wurde, obwohl das jeder Spielregel widerspricht. Und noch etwas, Herr Volkmann, dieser Kremers manipuliert nicht nur, er lügt auch. Glauben Sie mir, wenn wir sagen, was wir wissen, gefriert der Staatsanwaltschaft das Wasser im Arsch.«
Volkmann blickte betreten auf sein Diktiergerät und murmelte, um Zeit zu gewinnen: »Das Ding ist die ganze Zeit mitgelaufen.«
»Das macht nichts«, sagte Rodenstock. »Ich will wissen, was da gelaufen ist.«
Die Lippen des Staatsanwalts wurden schmal. »Ich kann dazu nichts.«
»Sie sollten aber«, meinte ich. »Sonst lesen Sie beim Frühstück Unerfreuliches.«
»Was ist, wenn wir eine Nachrichtensperre verhängen?« gab er zurück.
»Das kann sich nur auf aktuelle Nachrichten beziehen«, sagte ich schnell. »Mittlerweile ist sehr viel Material bekannt geworden, was nicht mehr zu verbieten ist. Lassen Sie das mit der Nachrichtensperre.«
Er sah mich sehr aufmerksam an und kniff die Augen leicht zusammen. »Können wir ein Friedensabkommen schließen?«
»Feuerpause, mehr nicht«, entschied Rodenstock. »Ich bin ein sehr alter Hase, ich weiß, wovon ich spreche. Wenn ich sage, Kremers ist unsauber, dann meine ich das auch so. Und in diesem Zusammenhang eine letzte Frage, Herr Volkmann: Waren Sie persönlich damit befaßt, Ole Mehren aus der Strafverfolgung herauszunehmen, obwohl er im Besitz von sehr viel LSD war?«
»Das kann ich nicht so einfach beantworten.«
»Ich nehme an, Sie brauchen die Erlaubnis Ihres Vorgesetzten?« fragte ich.
»Ja«, antwortete Volkmann knapp.
»Dann wollen wir Sie nicht weiter quälen«, lenkte Rodenstock ein. »Wir vergessen das aber nicht und kommen darauf zurück.«
»Einverstanden«, sagte der Staatsanwalt freundlich. Dann räumte er seine Sachen in die Tasche. Scheinbar ganz nebenbei bemerkte er: »Ich würde Ihnen aber raten, Kremers nicht darauf aufmerksam zu machen, daß Sie seinen Spuren folgen.«
»Wir sind keine Anfänger«, beruhigte ihn Rodenstock und begleitete ihn hinaus zu seinem Wagen.
In meinem Arbeitszimmer verkündete Mehren gerade: »Ich muß heim in den Stall. Die Kühe warten.«
»Sind Sie eigentlich gekommen, um Schappi zu holen?« fragte ich.
»Sicher«, nickte er. »Ich hatte nicht so richtig verstanden, daß ihr hier Öles Tod aufklären wollt. Irgendwie war ich durcheinander und ...«
»Schon gut«, sagte ich. »Ole tut weh, nicht wahr?«
»Ole tut weh«, nickte er »Betty tut aber auch weh«, wandte Dinah dumpf ein.
»Sie hat Ole beschissen, da gibt es kein Vertun«, sagte Mehren ganz ruhig.
Dinah stand auf und ging ganz dicht an ihn heran. »Das stimmt, Herr Mehren, aber dann darf ich mal fragen, warum sie das getan hat? Denn sie hat Ihren Sohn geliebt.«
Er war einige Sekunden still. »Warum hat sie es denn getan?« fragte er dann.
»Weil irgend etwas sie dazu gezwungen hat«, entgegnete Dinah. »Und wir wissen nicht, was.«
»Herr Mehren«, sagte ich, »wie oft war dieser Kremers bei Ihnen?«
»Ein paarmal.«
»Und warum ist Ihr Sohn wegen des LSD nicht angeklagt worden?«
»Weil er versprochen hat, Betty an die Staatsanwaltschaft auszuliefern und den Kronzeugen zu machen.«
»Betty?« fragte Dinah ungläubig.
»Ja«, nickte der Bauer. »Kremers hat gesagt, mein Junge wäre durch die verführt worden. Und also müßte mein Junge ihm helfen, Beweise gegen sie zu sammeln.«
»Und darauf hat sich Ole eingelassen?« erkundigte ich mich.
»Aber sicher«, sagte er. »Ich war dabei. Kein Zweifel.«
»Das ist unfaßbar«, hauchte Dinah »Aber es war wirklich so«, beharrte Mehren.
»Wann war denn das?« fragte ich.
»Im Frühsommer«, antwortete er. »Kremers wäre ja niemals an Betty rangekommen. Das konnte nur Ole.«
»Ole hat Betty aufrichtig geliebt«, meinte ich. »Da stimmt doch etwas grundsätzlich nicht. Was hat Ole gesagt, Herr Mehren: Wenn er Betty an die Staatsanwaltschaft ausliefern will, wie wollte er das deichseln, ohne sich selbst zu belasten?«
»Ole sollte den Kronzeugen machen. Außerdem sagte Kremers zu mir, könne man ja ein bißchen tricksen, ein bißchen nachhelfen.«
»Das ist alles nicht wahr«, stöhnte Dinah rauh. »Und wie sollte der Trick aussehen?«
»Deswegen ist Kremers ja im Sommer so oft gekommen. Die Idee war von ihm. Die Polizei sollte bei einer Razzia Drogen finden. Das sollten Drogen sein, mit denen Ole nichts zu tun hat. Mit denen nur Betty in Verbindung gebracht werden könnte. Ich verstehe ja von dem ganzen Scheiß nicht so viel, aber ich wollte Ole von dieser Frau wegkriegen, egal mit welchen Mitteln. Also habe ich gesagt: Dann tricksen Sie mal, Herr Kremers.« Mehren beugte sich über die Schreibtischunterlage, als wollte er im Boden versinken.
»Was passierte dann?« fragte Dinah.
»Einmal kam Kremers mit einem ganzen Karton mit kleinen Glasbehältern. Die waren voll mit Valium, das kennt man ja als Beruhigungsmittel. 40.000 Stück. Ein anderes Mal brachte er einen Beutel mit, so einen Plastikbeutel. Da war weißes Pulver drin, Kokain. Kremers sagte, es sei sehr hochwertig und würde mindestens zehn Jahre Knast bedeuten. Es war ein volles Kilo.«
»Und bei allem hat Ole mitgespielt?« Dinahs Stimme war schrill.
Mehren schüttelte den Kopf. »Er war einverstanden, daß er gegen Strafverfolgungsaussetzung Betty liefert. Aber von Kremers Tricks wußte er nichts. Kremers meinte, es wäre ganz wichtig, daß Ole das nicht weiß, damit er echt überrascht wirkt, wenn die Bullen das Zeugs finden.« Er trommelte mit den Fingern der rechten Hand auf die Schreibtischplatte.
»Sie haben Ihren Sohn verkauft«, flüsterte Dinah. »Richtig verkauft.«
Der Bauer nickte betulich, als sei das eine Selbstverständlichkeit. »Ich war außer mir, ich sah meinen Jungen für Jahrzehnte im Knast verschwinden oder aber verheiratet mit dieser Betty, die ihn doch dauernd beschiß.«
»Und was, verdammt noch mal, hat Ihre Meinung verändert?« fragte ich bitter.
»Kremers hat angerufen. Gestern. Er hat gesagt, ich soll das Zeug im Werkzeugkasten bei den Landmaschinen nicht vergessen. Er sagte, sie sind tot, und wir brauchen es dort nicht mehr ...«
»Hör auf zu labern«, Dinahs Stimme war etwas schrill. »Wir wollen wissen, warum Sie Ihre Meinung geändert haben?! Wieso helfen Sie uns jetzt, wieso?«
Er starrte auf seine Hände. »Wieso? Ich meine, was ...« Er guckte uns an und sah uns doch nicht. »Sie. Ich war im Sommer betrunken, ziemlich betrunken. Und da war diese Betty, und ich hatte die Wahnsinnsidee: ich nehme sie in die Mangel, ich nehme sie richtig her. Ich weiß nicht ... jedenfalls ist das so gelaufen.« Mehren beugte seinen Kopf weit über die Tischplatte. »Sie schrie dann, genauso hätte ihr Vater sie auch schon behandelt.« Er schwieg.
»Wann will Kremers kommen, um das Zeug abzuholen?« fragte ich.
»Heute abend«, antwortete er todmüde.
»Dinah, fahr mit Mehren«, bat ich. »Fotografier den Schuppen mit den Landmaschinen, den Werkzeugkasten und die Drogen da drin. Laß sie da, nicht mitnehmen, nur Proben ziehen. Okay?«
»Okay«, sagte sie.
Gleich darauf fuhr sie mit Mehren und Schappi vom Hof.
»Wie geht es eigentlich Mario?« erkundigte ich mich bei Rodenstock.
»Erstaunlich gut«, sagte er. »Aber ich denke, die Geschichte ist noch lange nicht ausgestanden. Ich brauche dringend ein Frühstück, auf nüchternen Magen ist das alles so schwer zu ertragen.«
»Wie kann Ole Betty ausliefern wollen?« fragte ich ratlos.
»Vielleicht war alles anders? Vielleicht wissen wir etwas ganz Entscheidendes gar nicht. Wir müssen auf jeden Fall nach Holland.«
»Ich möchte erst zu diesem Pfarrer, Heinrich Buch. Kann ja sein, daß er was weiß.«
»Bei einem Katholiken kann ich dir nur raten, alle Hoffnung fahren zu lassen. Nimmst du mich mit?«
Pfarrer Heinrich Buch, das teilte er uns als erstes mit, war pensioniert und hatte akut mit dem Wort des Herrn nichts mehr zu tun. Er war ein echter Häuptling Silberhaar, sah außerordentlich eindrucksvoll aus, zählte wohl mehr als siebzig Jahre und antwortete auf meine Frage, ob er denn Ole Mehren gut gekannt habe, erstaunlicherweise mit: »Ja, ich hatte die Ehre.«
»Wieso Ehre?« fragte Rodenstock irritiert.
»Ich habe Ole immer für etwas Besonderes gehalten«, antwortete Buch. Dann lächelte er. »Es gibt Leute, denen macht der liebe Gott die Erde schwer. Und Ole war so einer. Da habe ich Hochachtung.«
»Wir können Sie natürlich nicht fragen, was er beichtete«, sagte ich. »Aber würden Sie uns helfen, Öles Leben zu rekonstruieren?«
»Da helfe ich gern«, nickte er. »Zu den offiziellen Beichten kam er nie. Er kam immer, um mit mir zu schwätzen. Ich denke, ich war nicht der Pfarrer für ihn, ich war ein Freund. Ich kann auch nicht begründen, warum es so war.«
»Es geht um die Drogen«, sagte Rodenstock. »Ole hat sie verteilt.«
»Er hat sie verkauft«, stellte Buch richtig. »Das war einfach so. Ich habe ihm gesagt, ich halte das für eine Schweinerei.«
»Hat er je über einen Holländer namens Jörn van Straaten gesprochen?« fragte Rodenstock.
»Das hat er. Der Mann gab ihm Rätsel auf. Aber ehrlich gestanden, weiß ich nicht, wie diese Rätsel aussahen, wir haben nur einmal ganz kurz über diesen Mann geredet.«
»Wie stand er zu Betty?« wollte ich wissen.
»Er hat sie geliebt, eindeutig. Sie wissen ja, wie wortkarg diese Jungmannen in der Eifel sind. Kommt ein junger Ehemann nach der Arbeit nach Hause. Quengelt seine Frau: Nie sagst du mir, daß du mich liebst! Tut er empört: Ich sage dir das jeden Tag! Oder gieß ich dir etwa morgens keinen Kaffee ein?« Er grinste. »Ole hat Betty geliebt. Und wie! Es war schön zuzusehen. Sie haben versprochen, hierher zu kommen und sich von mir trauen zu lassen.«
»Aus Kanada?«
»Aus Kanada«, nickte er. »Ole hat es immer schwer gehabt. Meistens hatte er den Vater gegen sich. Und der Vater war auch gegen Betty.«
»Das wissen wir«, murmelte Rodenstock. »Aber es verwirrt uns, daß Ole angeblich seine Betty an die Staatsanwaltschaft verraten haben soll.«
»Wie bitte?« fragte der Pfarrer verblüfft.
Ich berichtete, was Mehren erzählt hatte.
Er hörte aufmerksam zu, schüttelte ein paarmal den Kopf, nickte, schüttelte wieder den Kopf.
»Bei uns ging es zu wie unter Männern«, erklärte er. »Er erzählte, er hätte ein paar Probleme mit Betty. Und sie war ja wirklich ein lockerer Vogel! Ole sagte aber auch, er müsse nur ein paar Tricks anwenden, um sie wieder zur Vernunft zu bringen. Mach das, habe ich gesagt, im Krieg und in der Liebe ist schließlich fast alles erlaubt.«
»Tricks?« hakte ich nach. »Hat er gesagt, welche?«
»Hat er nicht. Aber er schien sich seiner Sache ganz sicher zu sein. Es ist ja auch komisch, daß die ganze Eifel anzunehmen scheint, daß Ole damit angefangen hat, Drogen zu verscherbeln. Er war es gar nicht, es war Betty.«
Rodenstock schaute zu mir herüber. »Wieso war es Betty?«
»Na ja, er hat es so erzählt, und ich hatte nie Zweifel daran, daß es sich tatsächlich so verhielt. Sie hat die Brücke zu den Dealern geschlagen.«
»Zu Leuten in Köln?« fragte ich.
»Das weiß ich nicht. Ich habe sicherheitshalber nie nach diesen Leuten gefragt. Es ist nicht gut, wenn ein Pfarrer zuviel weiß«, lächelte Buch.
»Also, Sie glauben nicht, daß Ole Betty verraten wollte?« vergewisserte sich Rodenstock.
»Richtig, das glaube ich nicht. Er hat niemals davon gesprochen, daß diese Sache mit Betty in Gefahr geraten sei. Wenn er sie verraten hätte, wäre die Geschichte doch zu Ende gewesen, oder? Aber die Geschichte war nicht zu Ende, eigentlich fing sie erst an. Sie bekam doch ein Kind von ihm, und einmal saß er da, wo Sie jetzt sitzen, und heulte vor Freude über das Kind, das Betty erwartete.«
»Das ist alles sehr verwirrend«, murmelte Rodenstock.
»Hat Ole jemals erwähnt, daß er Angst hatte?« fragte ich.
»Nein.« Buch war sich ganz sicher. »Er war kein ängstlicher Mensch. Weiß man denn jetzt, wer für ihren Tod verantwortlich ist?« • Rodenstock schüttelte den Kopf.
»Ole hat sich so auf Kanada gefreut. Er sagte, in Kanada wäre so manches nicht mehr nötig, was hier zum Überleben notwendig sei. Ich nehme mal an, er meinte die scheußlichen Drogen. Er hat gesagt, eigentlich brauchte nur ein bestimmter Mensch zu sterben, dann seien seine Probleme vorbei. Ich habe natürlich an seinen Vater gedacht und ihm Vorhaltungen gemacht, er dürfe so etwas nicht einmal denken.«
Rodenstock starrte aus dem Fenster. »Kann es nicht sein, daß er einen ganz anderen Menschen meinte?«
»Möglich«, nickte Buch. »Aber das ist jetzt schrecklich egal, nicht wahr?«
»Das sehe ich nicht so«, widersprach Rodenstock.
»Wen meinst du?« fragte ich.
»Na, Kremers«, entgegnete er. »Wen sonst?«
»Ich dachte eher an van Straaten«, erwiderte ich. »Wegen Betty.«
»Können Sie mich aufklären?« fragte Buch ganz sanft.
Wir entschuldigten uns, und Rodenstock erzählte ihm, was wir wußten. »Sie sehen, er kann möglicherweise seinen Vater gar nicht gemeint haben.«
»Das scheint mir jetzt auch so«, sagte der Pfarrer betroffen. »Aber ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen noch weiterhelfen kann.«
»Aber daß Betty diejenige war, die mit dem Dealen begonnen hat, steht für Sie außer Zweifel?«
»Ja«, nickte er. »Er hat es so nebenbei fallenlassen, so wie man über eine ... na ja, eine Selbstverständlichkeit berichtet, verstehen Sie? Und noch etwas, meine Herren: Ole hat mich nie belogen. Ich bin richtig stolz darauf.«
»Wie hast du noch mal gesagt?« fragte Rodenstock nachdenklich, als wir heimwärts zogen. »Die Eifler kriegen das ,Ich liebe dich' nicht über die Lippen. Ole scheint das ,Ich hasse dich' auch nicht über die Lippen bekommen zu haben.«
»Ich traue diesem Braten nicht. Paß auf, ich bremse mal.« Ich benutzte den uralten Trick, beim Bremsen auf der eisharten Schneedecke Fuß- und Handbremse gleichzeitig zu benutzen. Der Wagen sprach gut an, rutschte ein paar Meter kontrolliert, stand dann. »Wir haben sehr unterschiedliche Aussagen. Auf der einen Seite war es die große Liebe, auf der anderen Seite hat Ole Betty verraten, an die Staatsanwaltschaft ausliefern wollen. Für die große Liebe sprechen mehr Gründe und vor allem die für mich wichtigeren Zeugen: Schappi, Mario und Gerlinde Prümmer. Wenn da Haß gewesen wäre, dann hätte zumindest Schappi das gemerkt. Er war ganz offensichtlich dauernd mit den beiden zusammen.«
»Aber kann es nicht Haß und gleichzeitig Liebe gewesen sein?« fragte Rodenstock. »Menschen sind doch nicht nur weiß oder nur schwarz – sie sind alles gleichzeitig.«
»Der Denker schlägt zu. Wahrscheinlich stimmt, was du sagst. Ich würde so gern noch einmal zur Melanie.«
»Jetzt? Oh Gott, ich bin müde, ich habe so gut wie gar nicht geschlafen.«
»Dann fahre ich dich heim und alleine weiter zu Melanie.«
Eine Weile lang sagte er gar nichts, ehe er dann einen Knurrlaut von sich gab und fragte: »Hast du eigentlich vor, irgendwann einmal erwachsen zu werden?«
»Ich bin zu aufgedreht, ich kann sowieso nicht schlafen.«
Der nächste Satz kam etwas sarkastisch: »Der Mörder wird es dir danken.«
»Wieso denn das?« fragte ich wütend.
»Weil seine Chancen, heil aus der Sache herauszufinden, mit der abnehmenden geistigen und körperlichen Verfassung seiner Jäger steigen. Ich meine, je überdrehter und aufgeregter du bist, umso schneller wirst du logische Fehler machen, falsche Rückschlüsse ziehen.«
Zuweilen ist es lästig, einen klugen Freund mit Lebenserfahrung zu haben. Vor allem, wenn er recht hat. »Und was schlägst du statt dessen vor?«
»Ausruhen, gammeln, in den Schnee gucken, schlafen. Wir beide haben ein Schlafdefizit von etwa zwanzig Stunden, wir gehen beschissen mit uns selbst um. Ich würde vorschlagen, wir machen einen Tag Pause, dann können wir morgen erneut starten.«
Keine Frage, er hatte recht. Ich versuchte es trotzdem. »Wir müssen so schnell wie möglich zu dem Holländer, zu Melanie, an den Kripobeamten Kremers heran, an den Vater von Jonny in Gerolstein ...«
»Vergiß es erst einmal«, unterbrach mich Rodenstock. »Vergiß vor allen Dingen die Diskussion mit mir. Es ist heller Morgen, ich gehe schlafen.«
»Also gut«, sagte ich sehr von oben herab.
Die Katzen tollten im Schnee, sie balgten sich. Dinah war noch nicht vom Hof der Mehrens zurück, wir gingen in das Haus, und Rodenstock meinte leicht amüsiert: »Ich hoffe, daß du gut versichert bist.« Er stand mitten im Durchgang zwischen der Küche und dem, was vor Jahrhunderten die Erbauer dieses kleinen Hauses die gute Stube genannt hatten.
»Ich habe das dumpfe Gefühl, daß jede Versicherung sagen wird, daß sie die Spuren von Vandalismus nicht ersetzt.«
»Moment, das war kein Vandalismus. Das war bewiesene Zerstörungswut im Rahmen der Recherchen zu einem Doppelmord. Das war körperliche Bedrohung, das war Erpressung, das war alles mögliche.«
Der Küchenschrank, Gelsenkirchener Barock mit Linoleumeinlage, war vollkommen zertrümmert, die Standuhr zerschlagen, eine Stange des uralten Küchenherdes abgebrochen, zwei Buchregale umgekippt und zertreten, beide Deckenlampen zerschmettert, ein Wandregal mit altem Eifler Porzellan von der Wand gerissen und zu Trümmern verarbeitet.
»Hast du eine Ahnung, was das alles wert war?« fragte Rodenstock.
»Nicht die Spur«, entgegnete ich. »Ich werde das alles fotografieren und erst dann aufräumen. Morgen vielleicht.«
»So gefällst du mir schon besser«, murmelte er und verschwand nach oben in sein Zimmer. »Es gibt nur einen Grund, mich zu wecken«, rief er drohend herunter.
»Und wann ist der Zeitpunkt gekommen?« fragte ich.
»Wenn dieses Haus brennt.«
Ich ließ es langsam angehen, holte vom Dachboden eine dicke Folie und zog die über das zerschlagene Fenster zum Garten hin, damit wir die Küche wenigstens zum Kaffeekochen benutzen konnten. Dann hockte ich mich im Kaminzimmer auf einen Sessel und hörte eine CD von Keith Jarrett, und ich spürte, wie Müdigkeit in mir hochkroch und mich in wohlige Trägheit hüllte.
Plötzlich war Dinah da und sagte, sie habe eine Probe des Kokains von Mehren mitgebracht und Rodenstock solle probieren, um herauszufinden, wie gut es sei.
»Nicht jetzt. Laß ihn schlafen. Wir haben beschlossen, bis morgen früh eine Pause einzulegen.«
»Ihr zeigt ja Reste von Vernunft«, spottete sie. »Mehren ist in saumäßiger Verfassung, er will dich sprechen. Ich vermute mal, ein Gespräch unter Männern. Der Mann ist echt infarktgefährdet, denke ich. Er kapiert langsam, was mit seinem Sohn wirklich geschehen ist. Zuletzt sah ich ihn im alten Schweinestall stehen und hemmungslos weinen. Der braucht Hilfe.« Dann setzte sie in einem Anfall von Arbeitswut hinzu: »Ich räume jetzt das Chaos da drüben auf.«
»Kommt nicht in Frage«, sagte ich. »Es wird besser sein, wir bestellen den Versicherungsfritzen hierher. Laß uns ins Bett gehen.«
»Du Lüstling«, entgegnete sie. »Aber das hört sich gut an.«