SECHSTES KAPITEL
Ich war der erste, der das Stillhalteabkommen brach. Nachdem wir einen Tag und Nacht geschlafen, herumgetrödelt, gelegentlich die Fernsehnachrichten gesehen, seltener einen Kaffee getrunken, kaum miteinander gesprochen hatten und uns auf eine drastische Weise auf den Geist gegangen waren, brach ich am nächsten Tag frühmorgens auf. Dinah und Rodenstock diskutierten währenddessen noch lauthals mit dem Versicherungsmann, der selbstverständlich der Meinung war, daß sein Unternehmen für derartig abartige Zerstörungen nicht zuständig sei. Er wiederholte dabei ständig einen Satz, den ich seither hassen gelernt habe: »Mein Unternehmen ist nun weiß Gott sehr kulant ...«
»Ich bin mal kurz weg«, sagte ich in die erregte Diskussion hinein.
Selbstverständlich war Melanie eine Nachteule und lag noch in tiefem Schlaf. Ich mußte oft klingeln, bis sie mit schlaftrunkener Stimme maulte: »Ist da einer pervers?«
»Ich bin es, Baumeister. Ich habe noch ein paar wichtige Fragen.«
Sie öffnete. Glücklicherweise war sie kein Morgenmuffel. »Das kostet dich eine Pulle Schampus«, grinste sie. Sie trug einen weit klaffenden Morgenmantel über einem durchsichtigen Nachthemdchen und sah ohne alle Kriegsbemalung wie ein kleines verletzliches Mädchen aus.
»Ich muß einen Schluck trinken. Ich habe heute nacht zuviel erwischt, ich habe Kopfschmerzen.« Sie stand vor dem neogotischen Schrank und öffnete eine Doppeltür. Dahinter war, indirekt beleuchtet, eine Galerie von Flaschen zu sehen. Sie goß sich einen Kognak ein und trank einen kleinen Schluck. Dann hockte sie sich mit untergezogenen Beinen auf einen Sessel.
»Du hast gesagt, Ole und Betty hätten dir gefallen. Hast du etwas davon gemerkt, daß die Qualm in der Küche hatten?«
»Nein«, antwortete sie. »Im Gegenteil. Sie waren für Eifler Verhältnisse erstaunlich liebevoll zueinander, und sie waren endlich mal ein Pärchen, das keinen Beziehungsknatsch zu haben schien. Das freut einen doch, oder?«
»Eigentlich bin ich hier, um dich zu bitten, mir die ganze Geschichte von Kremers zu erzählen. Ich habe dich nämlich in Verdacht, sehr vieles verschwiegen zu haben. Er hat doch Jonny Straffreiheit zugesichert, wenn Jonny ihm die Dealer liefert. Richtig so?«
»Richtig so«, nickte sie. Sie war jetzt aufgeregt, eine Spur blasser. »Warum sollte ich dich bescheißen, Baumeister? Es gibt doch keinen Grund.«
»Vielleicht doch«, meinte ich. »Und ich könnte dich auch verstehen, wenn es so wäre.«
Sie kicherte etwas gequält. »Das mußt du mir erklären.«
»Erzähl mir ein bißchen von dir, dann erkläre ich dir, was ich meine. Du bist aus Köln, das weiß ich.«
»Ja. Altstadt, rechts vom Dom.« Sie zündete sich eine Zigarette an und starrte dann aus dem Fenster. »Angefangen habe ich als richtige Bordsteinschwalbe. Das weißt du wahrscheinlich auch, das weiß hier jeder. Wir waren vier Kinder, ich war die Älteste ...«
»Wie alt bist du eigentlich?«
»Vierundzwanzig. Ich habe noch eine Bitte, Baumeister. Wenn du drüber schreibst, schreibst du dann die Wahrheit und nicht irgendeinen Scheiß?«
»Wie wäre es, wenn ich dir den Text vorher zur Kontrolle gebe?«
»Das wäre gut«, sagte sie erleichtert. »Meine Mutter, die ich heute noch unterstütze, weil sie es verdient hat, war eigentlich von Anfang an alleinerziehende Mutter. Wir vier Kinder stammen von drei Männern, und keiner hat meine Mutter geheiratet, und jeder hat sich um die Zahlungen gedrückt. Ich hatte immer nur einen Stiefvater, meinen richtigen habe ich nie kennengelernt.« Melanie kicherte, und es war nicht klar, ob nicht ein Weinen darunter lag. »Klingt ganz schrecklich, ich weiß. Ist immer so, als hätte das Leben mich benachteiligt. Hat es aber nicht, ich kann ja was tun. Meine Mama hat als Bediene und als Putzfrau gearbeitet. Meistens hatte sie drei, vier Jobs gleichzeitig, und ich war für meine Geschwister da. Ich war fünfzehn, als ich eine Lehrstelle suchte und keine fand. Wahrscheinlich habe ich keine gefunden, weil ich keine finden wollte. Glaube ich heute. Ich war in einer Jungen- und Mädchenclique, und wir waren alle frühreif und haben alle schon mit zwölf Jahren angefangen, miteinander zu schlafen. Das war normal. Die anderen hatten dann Freunde und Freundinnen, nur ich machte das etwas anders. Ich habe das Leben schon immer etwas anders erledigt.« Sie lächelte leicht. »Wir waren dauernd auf der Domplatte bei den Touristen und hauten die um ein paar Mark an, wir waren richtige Gossenkinder. Und ich merkte, daß besonders die japanischen Macker auf mich standen. Also habe ich mich drauf eingestellt. Zur Clique gehörte auch Herbert, den wir Herbie nannten. Der war so ähnlich wie ich. Ich fragte ihn, ob er mein Zuhälter sein wollte. Er wollte. Wir zockten Japaner ab. Das lief wie irre. Na gut, nur im Winter war es nicht so doll. Wir hatten im Keller einen Raum hergerichtet. Da schleppte ich die Japaner rein. Ich kassierte verdammt gut. Herbie sorgte dafür, daß ich richtig steile Klamotten hatte und so. Natürlich haben wir gekifft und ab und zu E geschmissen.
Herbie fing dann an, Koks zu besorgen. Das bringt einen echt gut drauf, Mann, und es besteht keine Gefahr von Schmerzen oder sowas bei körperlichem Entzug. Du kannst jederzeit ohne Schwierigkeiten aufhören. Dann begann Herbie zu dealen. Wir verkauften den Japanern also erst mal Sex und dann auch Koks. Die Koksdealerei nahm immer größere Dimensionen an, und wir hatten ein Auto, ein Funbike und sparten auf eine Eigentumswohnung. Herbie war ständig gut drauf und zog jeden Tag mindestens drei, vier Lines Koks. Schließlich holte er sich das Zeug selber in Frankfurt. Dabei lernte er die big shots des Gewerbes kennen. Und die ziehen jeden Tag bis zu zehn Gramm Koks! Herbie fand das alles ganz irre, er kokste immer mehr. Na klar, wir haben nicht daran gedacht, daß man auch seelisch von dem Zeug abhängig werden kann. Daran starb Herbie dann.« Melanie blinzelte und drückte den Zigarettenrest im Aschenbecher aus.
»Was ist mit ihm passiert?«
»Er war zum Schluß nervlich vollkommen auf dem Hund. Eines Abends flippte er aus und behauptete, unten auf der Straße würden Hunderte von Bullen auf ihn warten. Auf der Straße war gar nichts. Er schnitt Löcher in die Fenstervorhänge, um das besser beobachten zu können. Dann fiel er um und hatte eine Atemlähmung. Das kommt bei Kokain eben vor, man nennt das ZNS-Lähmung. Ich habe zugehört, wie er krepierte. Oh, mein Gott, ich kann immer noch nicht drüber reden.«
Sie weinte still, und ich ließ sie in Ruhe.
»Na ja, wir haben Herbie beerdigt, und das Leben mußte weitergehen. Ich habe dann abends als Bediene in einer Altstadtkneipe gearbeitet und anschließend als Bardame im Eve. Das war ganz schön heavy, aber ich kam über die Runden – bis ich Jonny aus Gerolstein kennenlernte.« Sie kicherte wieder. »Er war richtig süß. Er hatte null Erfahrung, tat aber immer so, als wäre er der Kaiser von China. Und Bares hatte er. Ich habe ihn mir als Stammkunden an Land gezogen. Manchmal hat er mich für eine Nacht ausgelöst, und ich war nur für ihn da. Eines Tages fragte er: Wie wäre es, wenn du nach Gerolstein kommst? Erst wollte ich nicht, aber jetzt ... na ja, ich bin hier. Jetzt weißt du aber so ziemlich alles. Und warum soll ich dich übers Ohr hauen?«
»Moment«, wandte ich ein, »ich mache dir nicht zum Vorwurf, daß du uns beschissen hast. Du machst so etwas ja, um zu überleben. Dann ist es eine echte Leistung. Auch ohne Herbie ist dein Leben ziemlich rund gelaufen, oder? Dann ist Jonny gekommen, der Bubi aus Gerolstein. Du hast die Chance gesehen und sie an dich gerissen, wahrscheinlich warst du sogar verliebt, oder?«
»Und wie! Bin ich manchmal immer noch. Er ist ein richtig süßer Schnuddelfuzz.«
»Ach, du lieber Gott. Du wußtest aber von Anfang an, daß Jonny nicht der Typ harter Mann ist und daß er auf verschiedenen Stoffen steht. Du bist ja nicht blöde. Trotzdem bist du hierher gekommen. Der Grund ist wahrscheinlich die Abmachung mit Jonny, daß du eine kostenlose Wohnung bekommst und eine Abfindung pro Monat, sozusagen Taschengeld. Zusätzlich hast du dich arbeitslos gemeldet. Alles in allem verdienst du gutes Geld, nicht wahr? Wieviel ist es rund im Monat?«
»Also ohne das Auto ungefähr fünf.«
»Und wieviel davon kannst du sparen?«
»Gut und gerne drei, meistens dreieinhalb. Aber was hat das alles damit zu tun, daß ...«
»Augenblick Geduld«, sagte ich. »Jetzt kommt dieser Jonny plötzlich auf die Idee, clean zu werden. Er hat die Schnauze voll von den Drogen. Du weißt genau, daß es beim ersten Versuch nicht klappen wird, aber du weißt auch, daß Jonny das schaffen kann, wenn er es wirklich will. Und eigentlich möchtest du ja auch, daß er es schafft. Aber du bist dir auch darüber bewußt, wenn er es schafft, kannst du aus Gerolstein verschwinden. Er tritt dann nämlich das Erbe an, übernimmt die Firma und wird heiraten. Er wird niemals dich heiraten, das Kaliber hat er nicht. Mit anderen Worten: du hast verstanden, daß du bald überflüssig sein wirst. Das tut weh, ich weiß, aber ich muß es so ausdrücken. Da fragt sich der Baumeister, was du anstellen wirst, um dich abzusichern. Deswegen, glaube ich, hast du uns nicht einmal die Hälfte erzählt. Also, was ist wirklich passiert?«
Sie hatte eine heisere Stimme. »Was ist, wenn ich dir nichts weiter sage?«
»Ich werde es wahrscheinlich über kurz oder lang sowieso herausfinden«, meinte ich, und ich hoffte, daß es annähernd überzeugend klang.
»Aber versprochen, ich darf vorher lesen?«
»Du darfst vorher lesen.«
»Na gut. Stimmt genau, was du sagst. Meine Zeit hier läuft ab. Selbst wenn Jonny Rückfälle hat, er wird eines Tages vernünftig werden, heiraten und Kinder machen und ein angesehener Bürger sein und so weiter. Als er nach Gerolstein ins Krankenhaus ging, um sich körperlich zu entgiften, kam schon am ersten Abend Dieter Kremers hierher. Er sagte, er würde Jonny nur wirklich helfen können, wenn ich mitziehe und den Kremers dabei unterstützte.«
»Wie sollte diese Hilfe aussehen?«
»Ich sollte auf Jonny einwirken, daß er wirklich den Kronzeugen macht und so. Dann sollte ich alles aufschreiben, was ich über Drogen hier im Landkreis jemals erfahren habe und weiß. Jonny war ja dauernd mit Leuten zusammen, die auch auf Drogen sind. Da gibt es eine Menge aufzuschreiben. Welche Stoffe, woher sie kommen, Namen der Leute mit Adressen, das Datum der Treffs und so weiter. Ich schrieb und schrieb. Und Dieter Kremers kam jeden Abend.« Sie lächelte mir etwas hilflos zu.
»Was hat er denn dafür versprochen?«
»Er hat versprochen, daß er mir einen guten Abflug verschafft, egal, wohin ich will. Natürlich sollte ich zuerst den Zeugen machen, den Kronzeugen. Dann wollte er für mich sorgen. Er sagte, er könne vielleicht eine Kneipe zu günstigen Konditionen pachten oder kaufen. Ehrlich, das wäre mein Traum.«
»Er kam also jeden Abend?«
Sie nickte.
»Und wann hast du das erste Mal mit ihm geschlafen?«
»Am dritten Abend.«
»Hat er dich dafür bezahlt?«
»Nein. Er lachte und sagte, er hätte kein Geld übrig, um dafür zu bumsen.«
»Wie oft seitdem?«
»Fast jede Nacht. Oh, Baumeister, was ist? Ist er ein Arsch?«
»Ich weiß es nicht genau. Sag mal, wenn er hier war, hat er dann hier geschlafen? Ist morgens hier aufgestanden, hat sich rasiert und ist dann zur Arbeit nach Daun?«
»Korrekt.«
»Wo ist dein Badezimmer?«
»Da hinten die zweite Tür rechts.«
»Moment bitte.« Ich ging in das Bad. Es war groß und geräumig, ganz in Weiß gefliest, hatte eine Toilette, ein Bidet, eine Dusche, eine Wanne, ein Handwaschbecken und ein hübsches schneeweißes Regal mit all dem Schnickschnack, den eine gepflegte junge Frau braucht. Ein Korb für gebrauchte Wäsche enthielt nichts anderes als gebrauchte Wäsche. Da gab es ein kleines Regal mit Handtüchern. Zwischen den Handtüchern war nichts. Der Wasserkasten der Toilette ließ sich sehr leicht öffnen. Nichts. Mein Blick fiel auf die Fliesen, die die Badewanne verkleideten. Dort war ein Viereck eingelassen, damit man an die Zuleitungen kommen konnte. Ich nahm das Schweizer Messer und drehte die Schraube ab.
»Was machst du da drin?« rief Melanie.
»Ich hocke auf dem Pott«, schrie ich zurück.
»Ach so«, sagte sie erleichtert.
Kremers hatte die vier Beutel mit breiten Streifen Tesafilm an die Außenwand der Badewanne geheftet. Absolut sicher und gleichzeitig absolut dumm. Die Dummheit zählte in diesem Fall allerdings nicht, denn es würde lediglich darauf ankommen, zu beweisen, daß Melanie im Besitz von sehr viel Kokain war. Ich schätzte, daß jeder Beutel rund ein Viertelpfund enthielt. Nach Adam Riese hatte der Stoff im Straßenverkehr einen Wert von runden 75.000 Mark, wenn man einkalkulierte, daß er allererste Sahne war. Ich nahm die Beutel, kehrte zu Melanie ins Wohnzimmer zurück und legte die Tüten auf den Tisch.
»Was ist das?« fragte sie verunsichert.
»Kokain«, erklärte ich. »Es klebte an deiner Badewanne.«
»Noch von Jonny?« fragte sie voller Angst. »Unmöglich. Das ist ganz unmöglich, das hätte er mir gesagt.«
»Nicht doch Jonny«, sagte ich. »Warte mal.« Ich riß einen der Beutel auf, nahm ein wenig von dem Zeug an den angefeuchteten kleinen Finger und rieb mir den Stoff auf das Zahnfleisch. Es reagierte sofort, wurde kühl, fühlte sich eisig an und gefühllos. »Das Zeug ist phantastisch gut«, teilte ich Melanie mit.
»Darf ich mal?« fragte sie.
»Aber ja.«
Sie machte ebenfalls die Probe und murmelte dann fachmännisch: »Wenn du dieses Zeugs dreimal streckst, hast du immer noch besseren Stoff als den, der sonst auf dem Markt ist. Ehrlich, kann Jonny so blöde gewesen sein?«
»Kommst du nicht drauf? Es war dein Kremers, und du bist nicht die einzige, die er aufs Kreuz legen wollte. Bei Ole hatte er denselben Trick drauf. Er hätte im entscheidenden Moment seine Kollegen zu einer Razzia geschickt. Sie hätten das Zeug gefunden, und du wärst drangewesen, Mädchen. Niemand hätte dir geglaubt, wirklich niemand. Kremers wäre dich billig los gewesen. Du wärst in den Knast gewandert, verstehst du? Hast du ein Döschen oder sowas? Ich nehme eine Probe mit, dann hängen wir die Beutel wieder auf, und du weißt von nichts.«
»Wie soll ich mich denn verhalten? Oh, verfluchte Kacke, das darf nicht wahr sein!« Sie begann zu weinen, hörte überhaupt nicht auf damit, und dauernd fluchte sie rüde. Einmal brüllte sie: »Ihr Scheißmänner!«, ein anderes Mal: »Ich schneide ihm die Eier ab, ich mache ihn zum Eunuchen.«
»Glaubst du denn, daß du ein bißchen Schauspielkunst aufbringen und so tun kannst, als sei nichts?« fragte ich.
»Ich bin so wütend, ich könnte eine Folge von Derrick allein spielen.«
Ich gab ihr alle unsere Telefonnummern für den Fall, daß sie eine Frage hatte und für den Fall, daß sie Gefahr für sich sah. Dann nahm ich sie in die Arme und ging schließlich.
Rodenstock hatte von einem durchziehenden Bäckerwagen einen halben Bienenstich gekauft, Kaffee gekocht und brüllte herum: »Zur Fütterung der Raubtiere antreten.«
»Ich schlage ihn tot«, murmelte Dinah.
Wir waren nicht mehr fähig, über diesen Fall zu sprechen, wir hatten zu viele Fakten, die wir nicht richtig einordnen konnten. Wir strichen umeinander herum, redeten über Belangloses, und einer fiel dem anderen auf die Nerven. Ich zog mich in das Schlafzimmer zurück und las Josef Haslingers Opernball, die maßlos eindringliche Geschichte eines möglichen Massenmordes in Wien. Ich blieb ungestört, bis Rodenstock in der Tür stand und beinahe angriffslustig verkündete: »Dinah und ich haben beschlossen, nach Adenau in die Periferia zu fahren und zu essen.«
»Und morgen nach Holland?
»Und morgen nach Holland«, nickte er.
Bald darauf fegten wir über Kerpen, Niederehe, Heyroth und Brück Richtung Kelberg und wendeten uns dann nach links auf die Schnellstraße nach Adenau. Wir waren nicht länger als vierzig Minuten unterwegs und fielen in die wunderbare Kneipe ein, als hätten wir eine Wüstendurchquerung hinter uns.
Dinah und Rodenstock einigten sich auf einen trockenen Riesling, ich bekam einen Kaffee, und wir konnten Beate Leisten dafür gewinnen, uns Schweinemedaillions in einem Gemüsebett zu bereiten. Derweil kredenzte uns ihr Gefährte Michael Piater die letzten Neuigkeiten vom Nürburgring, jene Neuigkeiten, die in keiner Zeitung stehen. Wir aßen genüßlich, bestellten ein ausführliches Dessert, und Rodenstock beschloß, daß er uns eingeladen habe. »Meine Rente muß zu irgendwas nutze sein«, murmelte er.
Schließlich lieh ich mir Michaels Handy und rief in Holland Jörn van Straaten an, um mich für den kommenden Morgen anzukündigen.
»Herzlich willkommen«, sagte er freundlich. »Hat man die Täter gefaßt?«
»Noch nicht«, gab ich Auskunft.
Wir langten gegen neun Uhr wieder zu Hause an, und Rodenstock zog sich sofort in sein Zimmer zurück, nachdem er sich lauthals beschwert hatte, daß dieser Fall aus seinem Gehirn einen ungeordneten Steinbruch gemacht habe.
Um sechs Uhr am nächsten Morgen fuhren wir los und kamen uns heldenhaft vor. Es war nicht nur noch stockdunkel und kalt, sondern auch nebelig. Die Sicht reichte nicht weiter als 50 Meter. Hillesheim, Jünkerath, Kronenburg brachten wir schnell hinter uns, weil ich die Strecke genau kannte. Dann aber, als wir jenseits des wuchtigen Kirchturms von Hallschlag durch die Suppe schwammen, mußte ich langsamer werden, um nicht Gefahr zu laufen, einen Unfall zu verursachen. Wir stotterten die B 265 entlang, passierten den kleinen belgischen Supermarkt zur Linken, hinter dem gleich die Krippenausstellung Krippana liegt, rutschten nach Losheim hinein und kletterten vorsichtig hoch zum Weißen Stein, den endlose Wälder überziehen. In Hellenthal machte das große Freigehege Werbung mit dem Verleih von Motorschlitten, und Rodenstock sagte verächtlich: »Damit kriegen die den Restwald auch noch kaputt.«
Kurz vor Höfen erreichten wir die B 258; die Sicht wurde etwas besser, und im Tal der Rur war dann endgültig freie Fahrt angesagt. Hinter Aachen ging es über die A 4 nach Maastricht – Autobahn direkt bis s'Hertogenbosch.
Das flache Land mit den schönen Kiefernwäldern machte uns ruhig.
»Auf dem Drogensektor sind die Holländer Zauberer«, bemerkte ich und war stolz darauf, das zu wissen. »Sie haben durch eine liberale Drogenpolitik in den Jahren von 1982 bis 1991 die Zahl der Drogentoten um fast die Hälfte reduziert. Der Rest Europas ist neidisch und schimpft auf sie. Es ist wie in jeder Familie.«
»Gehen wir mit zu diesem van Straaten?« fragte Dinah.
»Das wäre nicht diplomatisch«, meinte Rodenstock. »Baumeister sollte jetzt erstmal allein gehen.«
»Rechnest du damit, daß wir nochmal zu ihm müssen?« fragte sie.
Er nickte. »Und wahrscheinlich sogar ein drittes und viertes Mal. Während Baumeister bei ihm ist, recherchieren wir in der Stadt den Jörn van Straaten. Vielleicht kommt dabei was raus.«
Wir fielen am Marktplatz in das Hotel Central ein, und ich machte mich unverzüglich auf den Weg in die Verwerstraat Nr. 78. Es war ein schmales, sehr altes schönes Bürgerhaus. Im Erdgeschoß war ein Geschäft untergebracht. Van Straaten – Antiek hieß es, und als Zusatz gab es die Information preis, daß sich van Straaten auf Fernost spezialisiert hatte. Meine kulturgeschichtlichen Bildungslücken haben erhebliche Ausmaße. Ich war aber durchaus in der Lage einzuschätzen, daß van Straaten sich ziemlich teuer verkaufte: An keinem Stück war ein Preisschild, es war nicht die Spur von Staub zu entdecken, das Schaufenster wirkte unaufdringlich elegant und hatte keine Ähnlichkeit mit der Nippeskommode meiner alten, längst verblichenen Tante Maria, die allen Kitsch der Welt gesammelt und ihn jedem Besucher als ihre antike Sammlung erlesener Stücke angedient hatte.
Ein Glockenspiel ertönte sanft, als ich die Tür zum Geschäft aufzog. Es roch sofort eindringlich nach einer Brasilzigarre von Davidoff in der Preislage um die 100 Mark das Stück, und ich fragte mich, was eine Frau wie Betty wohl gedacht haben mochte, als sie zum erstenmal in diese Versammlung kapitalistischer Sammelsurien tauchte.
Besonders eindrucksvoll war die Verteilung der Lichter. Der Raum war etwa sechs Meter breit, hatte aber sicherlich eine Tiefe von nahezu zwanzig Metern. Während im Normalfall in einem solchen Geschäft unendlich viele Stücke den Besucher verwirren, hatte van Straaten sich auf wenige, ganz bestimmte Exponate konzentriert. Und jedes Stück, jeder Buddha, jeder Haustempel, jede Kali wurde von einer Niederfrequenzlampe angestrahlt, alles wirkte sehr gediegen. Natürlich verkaufte er auch Möbel. Es waren offensichtlich englische Möbel aus Rosenholz.
Van Straaten trat aus dem Hintergrund und zelebrierte seinen Auftritt. Die Davidoff-Zigarre in seiner linken Hand wirkte etwa so wie das Stöckchen des Charly Chaplin – untrennbar Teil der ganzen Figur. Er war ein eindrucksvoller, weißhaariger Mann, schlank, drahtig, braungebrannt, vielleicht fünfzig Jahre alt. Er trug einen maßgeschneiderten grauen Anzug mit Weste, und seine Uhr war eine Rolex mit Brillanten. Er sagte: »Willkommen, herzlich willkommen!« und lächelte das Lächeln einer Zahnpastareklame. Seine dunkelbraunen Schuhe waren bestimmt aus Italien und von der Sorte, die sich gewisse Leute persönlich anfertigen lassen, um nichts mit dem niedrigen Volk gemein zu haben. Van Straaten bot insgesamt einen erschreckend perfekten Anblick, und wäre seine Stimme eine vollautomatische Elektronikstimme gewesen, so hätte mich das auch nicht verwundert.
»Ich bin der Baumeister«, sagte ich. »Ich hoffe nicht, daß ich Sie allzu sehr störe.«
»Keine Spur«, entgegnete er sachlich. »Nur der Anlaß ist ekelhaft. Hatten Sie eine gute Fahrt? Kommen Sie, wir gehen in mein Büro, da ist es gemütlicher.« Er drehte sich und ging vor mir her. »Wann werden denn Betty und Ole beerdigt?«
»Das weiß man noch nicht. Nach dem Wirbel zu urteilen, die diese Vorkommnisse machen, werden die Gerichtsmediziner keine Untersuchung auslassen. Ich vermute, es wird mindestens noch eine Woche dauern. Wann hatten Sie den letzten Kontakt zu den beiden?«
»Das war kurz vor Weihnachten«, erinnerte er sich. »Wir hatten eigentlich vor, Sylvester zusammen zu verbringen.«
Ich fragte nicht weiter, ich überlegte etwas verwirrt: Wieso Sylvester? Sylvester wären sie doch längst in Kanada gewesen, wenn alles wie geplant abgelaufen wäre. Sollte van Straaten nicht wissen, daß sie verschwinden wollten?
»Wir sind am Ziel«, sagte er und machte eine Tür auf. Das Büro war ausschließlich mit englischen Möbeln bestückt und wirkte sehr anheimelnd. Es gab kein Licht außer einer in dezentem Blau gehaltenen Jugendstillampe auf einem Schreibtisch, und zweifelsfrei war sie echt. Das Erstaunliche an dem Raum war, daß er kein Fenster hatte.
Wir setzten uns an ein kleines, ovales, rundherum mit Schubladen bestücktes Tischchen.
»Wie kommen Sie zu diesen Möbeln?« fragte ich. Kaufleuten, dachte ich wütend, muß man Zucker in den Arsch blasen.
»Es ist englisch, Rosenholz, ich importiere das seit etwa zwanzig Jahren und bin Exklusivaufkäufer einer kleinen, aber hochfeinen Fabrik an der schottischen Grenze. Mein Geschäft hat zwei Füße: Asiatica, das Erbe aus kolonialen Zeiten, und die Möbel aus England.«
»Was kostet so ein Stückchen?«
»Ich würde Ihnen entgegenkommen«, lächelte er. «Vierzigtausend, und ich fahre Ihnen den Tisch nach Hause. Wie sind denn Sie an die Bekanntschaft mit Betty und Ole gekommen?«
»Überhaupt nicht«, erklärte ich. »Ich habe sie nicht gekannt. Ich war nur bei der brennenden Scheune, ich bin Journalist, also versuche ich, den Fall etwas aufzuhellen. Und Sie?«
Er saß vollkommen locker in seinem Sessel, hatte nicht einmal die Beine übereinandergeschlagen, starrte in eine imaginäre Ferne, und man konnte den Eindruck gewinnen, als sei ich gar nicht vorhanden. »Das ist jetzt zwei, nein, drei Jahre her. Wir lernten uns im Eifel-Haus im Burgbering von Kronenburg kennen. Dort ißt man gut. Der Laden war voll, die beiden wurden an meinen Tisch gesetzt. Ich hatte von jeher ein massives Interesse an Jugendlichen. Das mag daran liegen, daß ich nie eine Familie hatte. Eines ergab das andere. Die beiden waren irgendwie erfreuliche Erscheinungen. Also fingen wir an, uns gegenseitig zu besuchen. Natürlich habe ich dann ab und zu Haschisch mitgebracht, und wir hockten auf dem Bauernhof in der Eifel und kifften.« Weil das offenbar eine erheiternde Erinnerung war, lachte er unterdrückt.
»Wie war das jetzt, als Sie die beiden das letzte Mal sprachen?«
»Das war ein paar Tage vor Weihnachten«, berichtete er bereitwillig. »Ich telefonierte mit Betty. Ich habe seitdem überlegt, ob ich etwas überhört habe, ob sie vielleicht Kummer oder Angst hatte, ob ihre Stimme so etwas verriet.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich versichere Ihnen, da war gar nichts.«
»Das glaube ich Ihnen«, nickte ich. »Nach allem, was wir wissen, waren sie noch ein paar Stunden vor ihrem Tod völlig ahnungslos. Worüber haben Sie denn mit Betty gesprochen?«
Er preßte einen Moment lang die Lippen fest aufeinander. »Banalitäten. Wie geht es dir? Mir geht es gut. Was gibt es am Heiligen Abend zu essen? Wie ist das Wetter bei euch? Wie geht es Ole? Wie läuft das Geschäft? Ach ja, und wir haben uns für Sylvester verabredet. Wir wollten hier in eine Altstadtkneipe gehen, in der Jazzmusiker spielten. Ole mochte das sehr.«
»Sie waren also fest verabredet?«
»Ja. Es war ausgemacht, daß sie am Sylvestertag mittags hier eintreffen wollten. Ich hatte beim Chinesen um die Ecke sogar eine Ente mit Orangensoße bestellt. Ich sehe, das verwirrt Sie etwas, oder?«
»Nein, nicht im geringsten«, log ich.
»Wie würden Sie denn Ihre Bedeutung für die beiden einschätzen?« fragte ich weiter.
»Das ist schwer zu beantworten«, murmelte er. »Ich würde sagen, ich war ein reicher Onkel.«
Immerhin ein Onkel, mit dem Betty bumste, dachte ich. »Haben Sie erlebt, daß die beiden sich stritten?«
Er schüttelte energisch den Kopf. »Nie. Das machte sie ja gerade so sympathisch, sie gingen sehr liebevoll miteinander um. Streit? Nein, nicht erlebt.«
»Aber Sie müssen doch gewußt haben, daß die beiden Drogen verhökerten«, sagte ich vorwurfsvoll.
Er nickte lächelnd. »Sicher wußte ich das. Ole war hemmungslos naiv, wissen Sie. Er erzählte mir das mit den Drogen, und ich sagte immer wieder: Junge, bei deinem Talent hast du es doch nicht nötig, Drogen zu verkaufen. Aber, wissen Sie, das war ihre Sache, nicht meine. Und ich wollte mich nicht aufdrängen. Lieber Herr Baumeister, das Drogengeschäft vom Ole war ein Pipifax, eine Kleinigkeit. Es war eher ein Abenteuer als eine wirkliche Einnahmequelle.«
Zehntausend Mark Gewinn pro Monat sind kein Pipifax, dachte ich matt. »Sagen Sie, haben Sie je einen Mann namens Dieter Kremers kennengelernt?«
»Nein. Wer ist das?«
»Ein Kriminalist, ein Bulle. Er war mit Sicherheit hinter Ole und Betty her. Haben sie nicht von ihm erzählt?«
»Nein, wirklich nicht.«
»Bitte schildern Sie doch mal, wie so ein Wochenende in Junkerath ablief? Wie muß ich mir das vorstellen?«
»Einfach und bäuerlich.« Van Straaten lächelte. »Für mich war das immer mit Geschäften verbunden. Ich habe in Westdeutschland Kunden, sehr betuchte Kunden. Die pflege ich. Wenn ich bei Ole und Betty einfiel, dann besuchte ich immer gleichzeitig einige Kunden. Wie lief das ab? Wir bauten uns einen Joint und ließen den rundgehen. Wir sprachen über Gott und die Welt. Wir tranken ein bißchen Alkohol, aber wirklich wenig. Irgendwann morgens gingen wir ins Bett. Ich schlief immer auf dem Sofa im Wohnzimmer. Wir schliefen stets bis mittags, das war für mich das große Vergnügen.«
»Wen mochten Sie lieber. Betty? Ole?«
»Das kann ich nicht sagen. Ich mochte beide.«
»Haben Sie Ole und Betty oft getrennt erlebt? Also Ole allein oder Betty allein?«
»Kaum«, antwortete er, und ich wußte, daß das gelogen war.
»Wenn ich zusammenfassen darf, so haben Sie keinerlei Anzeichen irgendeiner Bedrohung für die beiden bemerkt. Ist das richtig?«
»Korrekt«, nickte van Straaten. »Werden Sie darüber schreiben?«
»Wahrscheinlich nicht«, entgegnete ich. »Darf ich mich bei eventuellen weiteren Fragen noch einmal an Sie wenden?«
»Jederzeit. Ich bin ein dauernd vorhandener Junggeselle.«
»Ist das hier Ihr einziges Geschäft?«
»Ja«, lächelte er. »Und es reicht mir. Es war schön, Sie kennenzulernen, Herr Baumeister. Eine gute Rückreise.« Natürlich brachte er mich formvollendet durch den Laden auf die Straße und winkte mir zum Abschied freundschaftlich zu. Ich trabte über das uralte Pflaster der alten Herzogstadt in das Hotel Central zurück. Rodenstock und Dinah waren nirgends zu sehen.
Eine Bedienung näherte sich und sagte freundlich: »Ich soll Sie von dem Herrn und der Dame, mit denen Sie zusammen waren, grüßen. Sie werden bald zurückkommen.«
»Danke. Ich hätte gern eine Kanne Kaffee und ein Stück Fleisch mit grünem Pfeffer, ein Steak. Und durch, bitte.«
»Ja, Mijnheer.«
Es dauerte immerhin noch mehr als eine Stunde, bis Dinah mit Rodenstock im Schlepptau in das Restaurant einfiel.
»Hallo«, rief sie etwas atemlos und eindeutig aufgeregt. »Wie ist es dir ergangen?«
»Eigentlich recht gut«, gab ich zur Antwort. »Er hat ein paarmal gelogen, aber er braucht ja schließlich nicht die Wahrheit zu sagen, wenn es um sein Privatleben geht, oder?« Ich berichtete so umfassend wie möglich und wartete dann auf Rodenstocks Reaktion. Aber der sah nur meine Dinah augenzwinkernd an, und sie zwinkerte zurück.
»Was soll diese Geheimnistuerei?« nörgelte ich.
»Hat er wirklich gesagt, er habe nie eine Familie gehabt?« fragte Rodenstock.
»Wirklich«, bestätigte ich. »Er nannte sich einen Junggesellen.«
»Dann hat er in dem Punkt auch gelogen«, murmelte Rodenstock. »Er war verheiratet und hat vier Kinder. Die Frau und die Kinder leben in Amsterdam. Hat er wirklich gesagt, er habe nur dieses eine Geschäft?«
»Ja, mein Gott. Er hat gesagt, das eine Geschäft reicht ihm.«
»Man erzählt, daß er mindestens fünf dieser Läden hat. Hier, in Amsterdam, in Haarlem, auf Texel, in Utrecht.«
»Was heißt ,man' sagt? Wer ist ,man'?«
»Die Bullen«, strahlte Dinah. »Die Bullen, Baumeister.«
»Muß ich euch jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen?«
»Ist das van Straaten?« Rodenstock warf ein Schwarzweißfoto auf den Tisch.
»Sicher ist er das«, sagte ich. »Wird er etwa gesucht?«
»Nicht die Spur«, sagte Rodenstock. »Jeder weiß, wo Jörn van Straaten zu finden ist. Ich erzähle dir jetzt die Geschichte, damit du nicht mehr im dunkeln tappst. Du solltest dich auf einige Überraschungen gefaßt machen. Van Straaten ist ein leuchtendes Beispiel für eine kapitalistische Gesellschaftsstruktur.« Er grinste. »Wie habe ich das gesagt?«
»Du kriegst drei Tage Sonderurlaub«, lobte Dinah. »Los jetzt!«
Rodenstock spielte mit einem Paket Bierfilzen von Heineken. »Immer, wenn ich in eine fremde Stadt einfalle, benutze ich einen speziellen Kalender.« Er zog ein kleines schwarzes Büchlein aus der Innentasche seines Jacketts. »Es ist mein IPA-Kalender. Da drin sind die Namen aller Frauen und Männer notiert, die in der International Police Association eine Rolle spielen. Ich habe nachgesehen, ob hier in s'Hertogenbosch jemand sitzt, den ich kenne. Siehe da, hier sitzt Emma. Sie ist eine bemerkenswerte Frau ...«
»Und bildschön«, fügte Dinah ein.
Rodenstock sah sie etwas irritiert an. »Richtig. Ganz nebenbei ist sie schön. Emma ist hoher Polizeioffizier und stellvertretender Polizeipräsident am Ort. Also sind wir zum Präsidium, und ich habe mich zu ihrem Schreibtisch durchgeschlagen. Emma und ich haben uns in Rom und Stockholm bei Tagungen getroffen, wir haben ein paarmal miteinander gegessen. Entscheidend ist, daß wir in ein paar kritischen Polizeifragen absolut nach wie vor einer Meinung sind. Es gab nicht den geringsten Grund, ihr irgend etwas zu verheimlichen. Wir haben ihr von Öles und Bettys Fall erzählt. Natürlich hatte sie davon gelesen, und sie hat sogar eine Akte, in der die beiden vorkommen. Glaubt man dieser Akte, dann ist dein Jörn van Straaten ein erstklassiges menschliches Schwein.«
Rodenstock machte eine Pause, winkte der Bedienung und bestellte Kaffee und Gebäck. »Er war mit der Frau in Amsterdam rund zwanzig Jahre verheiratet. Sie ließen sich vor etwa zweieinhalb Jahren scheiden, und die holländischen Fahnder sind überzeugt, daß die Scheidung eine getürkte Veranstaltung war, eine von beiden Partnern zielsicher vorangetriebene Entwicklung. Erstens kann das Ehepaar auf diese Weise die Kinder vollkommen heraushalten, zweitens kann van Straatens Frau im dunkeln bleiben, so daß sie in der Lage ist, bei Pech und Pannen nahtlos seine Rolle zu übernehmen. Der eigentlich große Vorteil aber besteht darin, daß van Straaten seine Frau mit allen möglichen Dingen beauftragen kann, die sie erledigt und für die er ein wasserdichtes Alibi braucht. Sie kann für ihn reisen, sie kann für ihn Geld waschen, sie kann Transporte zusammenstellen, sie kann neue Geschäftsverbindungen aufbauen. Ich sage das nur, um deiner ekelhaften Frage zuvorzukommen, was denn eine Ehescheidung mit Drogenhandel zu tun haben könnte. Jedenfalls steht van Straaten seit Jahren in dem Verdacht, einer der größten Dealer zu sein, den die Niederländer haben. Er soll wahnsinnige Mengen aller möglichen Rauschgifte nach Deutschland exportieren. Das heißt, er finanziert diese Exporte und steuert indirekt die Dealernetze. Beweise fehlen bisher.« Er wirkte erheitert. »Meine Freundin Emma glaubt nun, daß Rodenstock ein Zauberer ist und der einzige, der van Straaten erledigen kann. Und das inklusive des Mordes an Ole und Betty. Jedenfalls haben wir Akteneinsicht.«
»Ist das nicht phantastisch?« fragte Dinah.
»Das finde ich nicht«, murmelte ich. »Wenn van Straaten wirklich so ein Großer der Branche ist, dann kann er uns alle Killer der Welt auf den Hals hetzen, oder? Und dann wird er das auch tun, darauf könnt ihr euch verlassen. Dann werden nicht mehr nur kleine Jungen aus Köln vorbeikommen, um meine Wohnungseinrichtung zu zertrümmern, dann wird es ernst.«
»Das könnte geschehen«, nickte Rodenstock.
»Seit wann beobachtet ihn die Polizei denn?«
»Seit vier Jahren«, antwortete Dinah. »Ich wette, Emma ist in Rodenstock verliebt.«
Rodenstock wurde verlegen. »Laß das doch«, sagte er.
»Mal abgesehen von deinen Qualitäten als Herzensbrecher«, bemerkte ich, »hat deine Polizeipräsidentin etwas von van Straatens Sexualleben berichtet?«
»Oh ja«, nickte er. »Das ist seine schwache Stelle. Er soll einen enormen Verbrauch an jungen Frauen haben. Er sucht besonders nach Frauen mit reichhaltigen Erfahrungen.«
»Und Betty war ja ein Profi«, flüsterte Dinah.
»Hat man nie einen Lockvogel an ihn herangespielt?« fragte ich.
»Doch«, berichtete er weiter. »Der erste Versuch ist zwei Jahre alt. Es handelte sich um einen jungen Mann, ein Experte für asiatische Kunst. Der Mann sollte van Straaten vertreten. Hier im Laden, wenn der Chef auf Reisen war. Man weiß bei der Polizei nicht, was passiert ist. Der junge Mann war etwa sechs Wochen in Amt und Würden, als er hier am Rande von s' Hertogenbosch erschossen aufgefunden wurde. Seine Legende muß also geplatzt sein. Van Straaten hatte ein wasserdichtes Alibi, und er besaß auch noch die Frechheit, die Beerdigung des V-Mannes zu bezahlen. Sie versuchten es dann mit einer jungen Frau. Sie spielten sie in Antwerpen an ihn heran, als er mal wieder geil zu sein schien. Anfangs hatten meine holländischen Kollegen den Eindruck, daß es funktionieren würde. Aber dann lag die Gute eines Morgens ebenfalls tot in ihrem Bettchen. Van Straatens Alibi war wiederum astrein, allerdings hat er diese Beerdigung nicht bezahlt.«
»Wieso glaubt die Polizei, daß die Scheidung von der Frau ein Scheingefecht war?« fragte ich.
»Ganz einfach. Das Ehepaar besitzt zusammen fünf Läden. Offiziell gehört van Straaten nur noch dieser eine hier. Aber er rechnet Schecks und Bares immer noch über gemeinsame Konten ab. Die Konten liegen in den Niederländischen Antillen. Von dort laufen die meisten Gelder an Banken auf den Bahamas. Dann trennen sie sich erneut und landen entweder in Liechtenstein, der Schweiz oder in Luxemburg. Das alles riecht nach Beschiß, aber diesen Beschiß konnte ihnen bisher niemand beweisen.«
»Und was ist mit den Drogengeldern? Wo werden die gebunkert?«
»Zum durchaus größten Teil in Deutschland. Er ordert sehr viele deutsche Aktien und öffentliche Anleihen. Aber es ist nicht beweisbar, daß er der Besitzer ist, weil dazwischen mindestens zwei Anwaltskanzleien geschaltet sind. Die geben keine Auskunft, die brauchen auch keine Auskunft zu geben.«
»Welche Größenordnung, meint die Polizei, hat sein Drogengeschäft? «
»Riesig«, sagte Dinah. »Sie gehen aus von bis zu achthundert Millionen Dollar pro Jahr.«
»Außerdem besteht der Verdacht, daß van Straaten Politiker besticht«, murmelte Rodenstock.
»An der Stelle hat Emma gezögert«, warf Dinah ein. »Ich habe nachgefragt, und sie gab zu, daß sie vermutet, daß auch mindestens zwei hohe Polizeioffiziere regelmäßig geschmiert werden. Ist natürlich nicht beweisbar.«
»Wo sitzen diese Offiziere?« fragte ich.
»In Amsterdam«, sagte Rodenstock.
»Sieht van Straaten seine Kinder häufig?«
»Ja«, nickte Dinah. »Aber niemals hier in s'Hertogenbosch, immer nur in Amsterdam oder in einer Raststätte an der Autobahn dorthin. Mindestens einmal im Monat.«
»Und seine Frau?«
»Offiziell treffen sich die beiden nie. Aber heimlich: in Paris, in Madrid, in London. Das ist allerdings kein Grund, ihn festzunehmen, das ist seine Privatsache.« Rodenstock schnaufte. »Der Mann ist wirklich eine schwer zu knackende Nuß.«
»Verfügt er über so etwas wie Bodyguards oder Ähnliches?«
Rodenstock schüttelte den Kopf. »Das ist ein entscheidender Punkt. Viele Fehler großer Dealer und Drogenfinanziers hat van Straaten erst gar nicht wiederholt. Er hatte nie einen festen Stamm von Leuten um sich herum, nie Bodyguards, er ist nie im Rotlichtbezirk aufgetaucht, hat sich nie in Nachtbars herumgetrieben, hat auch nie im Milieu eine müde Mark investiert. Er ist nichts anderes als der Boß eines grundsoliden Familienunternehmens.«
»Aber er muß doch Verbindungen zu anderen Gangs haben oder zu anderen Profis aus dem Gewerbe?«
»Hat er, hat er sicher. Aber diese Verbindungen sind nicht aufzuspüren, weil van Straaten vollkommen unberechenbar ist. Man hat ihm Schatten mit auf den Weg gegeben, sie haben ihn Tag und Nacht nicht aus den Augen gelassen. Dann ließ er sich ohne ein einziges Gepäckstück zum Düsseldorfer Flughafen chauffieren, bestieg eine Direktmaschine nach Rio und war schlicht verschwunden. Nach Tagen tauchte er dann in Acapulco auf. Das Ticket erster Klasse hatte er per Telefon gebucht. Und zwar aus einer Telefonzelle. So Dinger zieht er dauernd ab, er entzieht sich jeder Kontrolle. Er hat es in Neapel fertiggebracht, ein Wasserflugzeug zu besteigen und sich direkt nach Gibraltar fliegen zu lassen. Die Beschatter haben nicht herausfinden können, wie er an diese Chartermaschine gekommen ist.«
»Hat er denn keine Feinde?« fragte ich.
»Doch, hat er«, bestätigte Dinah. »Hat er. Aber das sind gute Bürger, niemand aus dem Milieu. Zum Beispiel gibt es eine Arztfamilie aus Amsterdam, deren achtzehnjährige Tochter er verführte und auf den Strich trieb. Zumindest behauptet das die Familie.«
»Ich habe die Adresse«, ergänzte Rodenstock. »Und wenn du mich fragst, sollten wir sofort dort anrufen, hier bezahlen und uns auf den Weg machen. Amsterdam ist eine schöne Stadt, eine der schönsten in Europa.«
»Und es gibt dort jede Menge Sünde!« murmelte Dinah.