SIEBTES KAPITEL

Es wurde schon wieder dunkel, als wir am Flughafen Schiphol vorbeizogen und auf dem Zubringer aus Den Haag in die Stadt fuhren. Wir querten die Singelgracht, rollten an der Leidsegracht entlang ins Zentrum. Die Arztfamilie wohnte hochfeudal an der Kalverstraat, der großen Fußgängerzone im Zentrum, einen Steinwurf nur vom königlichen Palast entfernt.

»Ich möchte aber vorher schlafen«, sagte Rodenstock.

»Kein Problem«, sicherte ich ihm zu.

Das Hotel hieß The Tulip; es war untergebracht in einem alten Kontorhaus. Wir bekamen anstandslos Zimmer, und während Dinah unter der Dusche stand und laut singend ihre Ankunft in Amsterdam zelebrierte, rief ich den Arzt an, sagte, wir seien vorhanden und ob die Möglichkeit bestehe, ihn am nächsten Morgen um neun Uhr zu treffen.

»Kommen Sie, ich freue mich«, meinte er nur.

»Gehen wir denn heute abend ins Rotlichtviertel?« fragte Dinah unternehmungslustig.

»Wir könnten das in Erwägung ziehen, falls du damit einverstanden bist, wenigstens ein Kleidungsstück an deinem Körper unterzubringen.«

»Das schaffe ich schon irgendwie«, grinste sie.

Der Abend wurde ein etwas langgezogener Reinfall, weil Amsterdam zwar durchaus auf der Höhe modernster Laster ist, in der sehr intimen, dichtbesetzten Schwulenbar, die uns der Hotelportier dringend empfohlen hatte, Rodenstock jedoch das große Gähnen überkam. Zehn Minuten später gähnte ich zum ersten Mal, weitere vier Minuten später Dinah. Wir kamen überein, daß die Sünden Amsterdams auch nicht das Gelbe vom Ei seien, und ließen uns von einem Taxi ins Hotel verfrachten.

Mit den Worten »es waren wirklich ganz reizende Tunten« rannte Rodenstock an dem Portier vorbei und verschwand.

»Wir sind ja hoffnungslos spießig«, knurrte Dinah und gähnte wieder.

Wenn ich mich recht erinnere, schlief ich zehn Minuten später schon. Ich wurde nur einmal in der Nacht vom Rauschen des Fernsehers wach. Dinah hatte sich auf das Sofa gelegt und dort ihrem Gähnen nachgegeben.

Nach dem Frühstück gingen wir dann in die Fußgängerzone. Der Weg führte uns durch eine kleine exklusive Ladenpassage in einen Innenhof, dann ging es mit einem Lift in das vierte Geschoß.

Ein kleiner, sehr kugeliger Mann öffnete uns und sagte erfreut: »Aha, die Delegation aus Deutschland. Mein Name ist Kerk.«

Komisch, dachte ich, es gibt Zehntausende von Niederländern, die ein passables Deutsch reden, aber ich kenne kaum Deutsche, die das Niederländische beherrschen. Wir stellten uns vor, und der Arzt bat uns in einen großen Wohnraum, in dem eine silberhaarige, füllige Frau vor einem Kaminfeuer hockte und uns entgegenlächelte. »Meine Frau«, sagte er überflüssigerweise.

Dann gab es einige Verlegenheitsmomente, weil wir nicht recht wußten, wie wir das heikle Thema angehen sollten. Schließlich begann ich: »Wir sind wegen Jörn van Straaten hier. Wir können es nicht beweisen, aber er scheint bei einem Doppelmord im Drogenmilieu in der Eifel eine Rolle zu spielen. Man hat uns von Seiten der Polizei in s'Hertogenbosch geraten, uns an Sie zu wenden. Man sagte, Sie haben trübe Erfahrungen mit van Straaten gemacht.«

»Das ist richtig«, murmelte die Frau. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Vielleicht etwas zu essen? Es ist gut, bei diesem schrecklichen Thema etwas im Magen zu haben.« Und ohne eine Antwort abzuwarten, griff sie zu einem Telefon und bestellte etwas.

»Herr Doktor Kerk, ist Ihre Tochter, der die Geschichte passierte, im Haus?« fragte ich.

»Nein«, sagte er. »Sie macht eine Therapie in Alkmaar. Das ist etwa 35 Kilometer entfernt. Wir haben uns dafür entschieden, weil sie nahe an einer Psychose gelebt hat und weil es im späteren Leben sehr schwierig ist, derartige Erfahrungen zu verarbeiten.«

»Wann hat diese Geschichte begonnen?«

»Das war vor etwa zwei Jahren«, berichtete die Frau und rieb ihre Hände, als sei ihr kalt. »Tina, so heißt unsere Tochter, war zu Besuch bei einer Klassenkameradin hier in Amsterdam. Auf diesem Fest war auch Jörn van Straaten. Er ist zweifelsfrei ein sehr eindrucksvoller Mann. Natürlich könnte er ihr Vater sein, aber das hält ihn keinesfalls davon ab, mit den Mädchen ins Bett zu gehen. Ich will es kurz machen. Er mietete meiner Tochter Tina ein Apartment. Übrigens ganz hier in der Nähe. Sie zog aus, wir ahnten nichts von dem Mann. Klar, wir haben uns gefragt, wie das Kind denn die Miete aufbringt. Aber wir haben nicht gefragt, wir wollten nicht indiskret sein, und wir wußten genau, daß sie eine harte Arbeiterin ist, wenn sie etwas haben will. Wir dachten, sie wird irgendwo einen Job als Bedienung haben. Sie trafen sich ungefähr zwei Monate lang. Er reiste, wie wir später erfuhren, jedesmal aus s'Hertogenbosch an. Nach diesen zwei Monaten kündigte er das Apartment, sagte unserer Tochter aber nichts. Er kam einfach nicht mehr. Sie ... sie flippte aus, sie wurde schier verrückt, denn sie liebte den Mann tatsächlich.«

Dinah räusperte sich. »Ich vermute, Ihre Tochter kam dann zu Ihnen und erzählte diese traurige Geschichte?«

»Ja«, nickte der Arzt. »Natürlich wurde sie nicht zum Abitur zugelassen, natürlich verlor sie mehr als ein Jahr. Sie verlor aber auch alle Selbstachtung. Ich bin kein Psychologe, aber ich denke, sie wollte sich bestrafen. Sie versuchte, das Apartment zu halten und durch Prostitution zu bezahlen. Es war ein langer demütigender Prozeß – für alle. Ich bin dann nach s'Hertogenbosch gefahren, um mit van Straaten zu sprechen. Wir dachten, daß es für unsere Tochter einfacher sein würde, wenn sie die Chance bekäme, ihm ein paar Fragen zu stellen. Van Straaten war ganz cool, wie die Jugendlichen heutzutage sagen.

Er sagte, ja, er habe meiner Tochter ein Apartment gemietet. Ja, er habe mit ihr geschlafen. Er meinte auch, unsere Tochter sei großjährig und könne tun und lassen, was sie will. Dann sagte er, ich solle ihm nicht seine Zeit stehlen und seinen Laden verlassen. Das habe ich getan.«

»Also eiskalt?« fragte Dinah.

»Warten Sie ab«, fuhr Frau Kerk fort. »Es ging weiter.«

»Rechtlich konnten wir wenig tun«, begann ihr Mann erneut. »Das war uns von Beginn an klar. Als ich seinen Laden verließ, war es schon Abend, ich übernachtete also in s'Hertogenbosch. Am nächsten Morgen war mein Auto ein Wrack. Es war nichts mehr heil an dem Ding. Ich kann nichts beweisen, aber ich denke, er wollte mich warnen, daß ich ihn nie mehr belästige. Meine Tochter hat auf diese Weise mindestens zwei Jahre ihres Lebens verloren.«

»Hat er Ihrer Tochter Drogen angeboten?« erkundigte ich mich.

»Niemals«, sagte die Mutter. »Wir waren bei der Polizei und erfuhren, daß van Straaten angeblich etwas mit Drogen zu tun hat. Aber Tina konnte das nicht bestätigen. Sie sagte, er hätte hin und wieder gekifft, aber was besagt das schon. Tina jedenfalls hat keine Drogen genommen, und er hat ihr auch keine angeboten.«

Kerk lächelte ein wenig bitter. »Wir wissen, daß wir keine gute Quelle sind. Aber wir haben noch etwas für Sie.« Er spitzte den Mund und atmete stoßweise aus, er war sehr erregt. »Ich habe den Mann zeitweise gehaßt, es hat keinen Sinn, das abzustreiten. Ich bin Neurochirurg mit eigener Klinik, ich brauche Gelassenheit und Ruhe. Aber diese Sache hat mich fast Kopf und Kragen gekostet. Ich ging also zu einem Detektiv und bezahlte sehr viel Geld, um etwas über van Straaten zu erfahren. Der Detektiv leistete gute Arbeit, aber er konnte uns nicht helfen. Vielleicht kann er Ihnen helfen?«

»Wo ist er?« fragte Rodenstock schnell.

»Er kommt gleich«, sagte Tinas Mutter. »Wir haben ihm Nachricht gegeben, daß Sie hier sind.«

»Das ist irre«, sagte Dinah.

Eine junge Frau in einem blauen Kittel mit weißem Häubchen erschien, die einen Servierwagen vor sich herschob. Es gab einen typischen holländischen Imbiß, der vom Umfang her eine Kompanie Bundeswehr satt über den Winter gebracht hätte.

»Das wäre doch nun wirklich nicht nötig gewesen«, seufzte Dinah und schlug zu, als sei ihr Konfirmationsessen das letzte gewesen.

»Kriegst du etwa ein Kind?« flüsterte ich.

»Traurige Geschichten machen mich immer hungrig«, murmelte sie. »Sei ruhig und iß!«

Der Detektiv erwies sich als ein junger Mann namens Paul. Er mochte etwa 25 Jahre alt sein und schien ein Nervenbündel zu sein. Um seinen Mund zuckte es dauernd, er konnte seine Hände nicht ruhig halten, sein rechtes Bein zitterte unentwegt. Hinzu kam, daß er langes, schwarzes Haar trug, Sorte nie gekämmt. Sie glänzten, als habe er sie mit Schuhwichse gepflegt. Ungeheuer lässig sagte er: »Also, ich weiß nicht, ob ich Ihnen helfen kann, aber falls ich das kann, sollten Sie in Erwägung ziehen, mich zu bezahlen.« Dabei zuckte sein Mund, und der Rhythmus seines zittrigen Beines veränderte sich leicht.

»Wir bezahlen«, nickte Rodenstock. »Heißt das, Sie sind auf Nachrichten aus Drogenland gestoßen?«

»Das heißt es«, grinste er.

»Dann legen Sie mal los«, forderte Dinah.

»Hm«, begann er. »Das Ehepaar Kerk hat Ihnen erzählt, daß ich in der Sache mit ihrer Tochter wenig tun konnte. Tatsächlich habe ich diesbezüglich gar nichts erreicht. Aber ich wurde dauernd darauf aufmerksam gemacht, daß van Straaten angeblich etwas mit Drogen zu tun hatte. Und dann wurde es interessant. Ein Informant der Polizei steckte mir, daß es ein Sonderkommando gebe, das fast ausschließlich auf van Straaten angesetzt sei. Es war mir klar, daß die Beamten mir keine Auskunft geben würden. Auf der anderen Seite ärgerte mich dieser van Straaten.« Paul wurde zum erstenmal unsicher, um seinen Mund zuckte es nicht mehr, und sein rechtes Bein hörte auf zu zittern. »Ich bin nach s'Hertogenbosch gefahren. Ich wollte seinen Antik-Laden sehen, ich wollte wissen, wie er lebt, was er tagsüber tut und so weiter. Schräg gegenüber in der Verwersstraat ist ein Kiosk, Zeitungen, Zeitschriften, Süßigkeiten. Der Besitzer erlaubte mir, eine Kamera von einem Zimmer im ersten Stock auf den Laden einzustellen. Ich blieb dort fünf Tage und fotografierte von morgens um neun Uhr, wenn van Straaten den Laden öffnete, bis gegen 18 Uhr, wenn er ihn schloß. Ich fotografierte jeden Menschen, der zu ihm ging.«

»Sind es viele Fotos geworden?« fragte Rodenstock.

»Ja«, nickte er. »Insgesamt einhundertundzwölf.«

»Kann man die sehen?« bat Dinah.

Der Detektiv lächelte plötzlich siegesgewiß. »Können wir vereinbaren, daß Sie mir fünfhundert holländische Gulden für alle diese Fotos bezahlen? Sie sollen sie allerdings nur bezahlen, wenn Sie bekannte Gesichter entdecken. Einverstanden?«

Er griff nach einer Ledermappe neben seinem Sessel, nahm eine Klarsichthülle heraus, die mit Schwarzweißfotos gefüllt war, und sagte: »Bitte sehr!«

Die meisten der Besucher des Jörn van Straaten sahen wir natürlich zum erstenmal, und zudem waren die meisten wohl durchaus normale Kunden. Aber drei von ihnen kannten wir bestens. Der eine war Ole, die andere Betty und der dritte der Kriminalbeamte aus Daun, Dieter Kremers.

»Ich möchte bezahlen«, sagte ich.

»Das ist sehr gut«, freute sich Paul. »Mir reicht ein Scheck. Auf der Rückseite der Fotos steht jeweils das Datum und die Uhrzeit. Ich hoffe, Sie sind zufrieden mit mir.«

Wir versicherten ihm, ihn für alle Zeit unseres Lebens von Herzen zu lieben, und verabschiedeten uns postwendend.

»Ich fahre uns nach Hause«, sagte ich draußen.

»Ich wollte doch endlich mal in einen Puff«, klagte Dinah.

»Bleib ein anständiges Kind«, mahnte Rodenstock. »Du lieber Himmel, der Kremers war bei van Straaten. Das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen. Halt an der nächsten Telefonzelle, Baumeister. Ich muß Emma anrufen, sie muß uns noch einmal helfen. Und fahr nicht in die Eifel, sondern so schnell wie möglich zurück nach s'Hertogenbosch.«

»Sieh an, sieh an, die Liebe ruft«, schnurrte Dinah.

»Du bist ekelhaft!« schnaubte er.

Wir hatten die Autobahn gerade erreicht, als Dinah zu schnarchen begann und Rodenstock auf dem Rücksitz nicht mehr zu sehen war, weil er sich hingelegt hatte. Mir war es recht. Ich schob ein Band mit Nina Simone ein und ließ sie den wunderbaren Titel Don't smoke in bed singen, es folgte unplugged der phantastische Mister Ackerbilk und als Sahnehäubchen auf das ganze Rod Stewart mit Dancing Mathilda. Derweil rollte ich mit 160 Stundenkilometern Richtung Nord-Brabant, bis ich mich daran erinnerte, daß man in Holland nicht schneller als 120 fahren darf. Ich einigte mich mit mir selbst auf einhundertdreißig, man muß mit Kompromissen leben können. Zwischendurch kehrte ich kurz in einer Raststätte ein und trank zwei schnelle Tassen Kaffee, um Schlafanfällen vorzubeugen, tankte noch einmal und stob dann weiter durch dieses erstaunlich platte, schöne Land. Als ich die Autobahn verließ und die Innenstadt von s'Hertogenbosch erreichte, weckte ich Rodenstock und fragte, wohin ich denn steuern sollte.

Er gähnte. »Warte mal, Emma hat mir gesagt, wo sie wohnt. Ach ja, irgendwas mit Anger oder so. In der Nähe einer Kirche. Alles in Holland ist in der Nähe einer Kirche. Moment, die Kirche heißt Westkerk.«

»Sehr präzise«, murmelte ich. Ich fand es trotzdem, und Rodenstock entdeckte ihren Namen auf einem Klingelschild, nachdem er ungefähr zwanzig Häuser abgeklappert hatte. »Ich wußte doch, daß ich es finden würde«, triumphierte er.

»Verliebte Männer sind grauenhaft«, nölte meine Dinah.

Es stimmte, Emma war eine sehr schöne Frau, rothaarig mit beinahe durchsichtigem Teint, schlank und groß. Sie konnte 45 sein, sie konnte 60 sein, sie war beeindruckend. Sie trug etwas lang an ihr Herunterfließendes, man nennt so etwas, glaube ich, einen Sari.

»Habt ihr Erfolg gehabt?« fragte sie.

»Na ja«, murmelte Rodenstock. »Wie man es nimmt. Der deutsche Kriminalbeamte, der unserer Meinung nach nicht sauber ist, war hier bei van Straaten zu Gast.«

»Schau einer an«, rief sie gutgelaunt. »Ich habe euch etwas zu essen gemacht. Dabei läßt es sich auch besser sprechen. Das ist also Baumeister. Na fein, Leute, kommt rein und gebt euch privat.«

Es war die spärlich, aber teuer möblierte Wohnung einer sehr selbständigen Frau, es wirkte unaufgeräumt, so, als lebe sie wirklich gern hier. Auf einem Eßtisch brannte ein siebenarmiger Kerzenleuchter.

»Du bist eine Jüdin?« fragte Rodenstock erstaunt.

»Aber ja«, antwortete Emma.

»Ich mag Jüdinnen«, meinte er sanft. »Bist du gläubig?«

»Na ja«, gab sie vorsichtig zurück. »Je älter ich werde, desto nachdenklicher macht mich dieses Leben. Nun langt zu«, sagte sie aufgekratzt. »Getränke stehen da drüben auf der Truhe. Kaffee gibt es in der Thermoskanne. Die Akte van Straaten steht da in der Ecke auf meinem Sekretär.« Sechs Aktenordner reihten sich dort aneinander, gut gefüllt, ich schätzte die Ausbeute auf etwa zweieinhalbtausend Seiten.

»Sind die Deutschen in dieser Sache niemals an euch herangetreten?« wollte ich wissen.

»In Sachen van Straaten noch nie. Und da er dauernd in Deutschland ist, hat uns das sehr gewundert. Aber wenn ich jetzt erfahre, daß deutsche Polizisten ihn heimlich besuchen, wundert mich das nicht. Was wird da gelaufen sein?«

»Wir werden es hoffentlich herausfinden«, meinte Rodenstock.

»Ich habe noch einmal in den Akten geblättert«, berichtete Emma. »Ich habe mich gefragt, ob es wirklich keinen Weg gibt, ihn vor den Kadi zu bringen.« Sie sah uns der Reihe nach freundlich an. »Man müßte ihm eine Falle stellen.«

»Wie soll die aussehen?« fragte Dinah.

»Das weiß ich noch nicht«, gab sie zu. »Aber ich denke darüber nach. Erzählt mir ein wenig mehr von diesem deutschen Kriminalbeamten, der euch so auf den Seelen liegt.«

Rodenstock erzählte sehr gemütlich, was wir um und mit Dieter Kremers erlebt hatten, und sofort kam die Frage: »Habt ihr die Bankkonten dieses Herrn?«

»Wie denn?« fragte Rodenstock. »Die gibt uns keiner.«

»Und wie hat er dieses besonders billige Baugrundstück bezahlt?«

»Das wissen wir noch nicht. Wir haben noch nicht einmal die Bestätigung, daß es besonders billig war.«

»Vielleicht sollte man versuchen, den Verkäufer ein bißchen zu erpressen, nicht wahr.« Emma starrte in unsere betroffenen Mienen und lachte schallend wie ein Mann. »Mein Gott, ihr seht nach guter deutscher Sitte richtig moralinsauer aus. Locker, Leute, locker!«

»Wir haben dich erneut überfallen«, begann Rodenstock, »weil ich diesen van Straaten noch genauer kennenlernen möchte. Woher kommt er, was ist das für ein Typ?«

»Das meiste steht in den Akten, und das Beste ist natürlich das, was nicht in den Akten verzeichnet wurde. Du kennst ja meine Vorliebe für psychologische Motivierungen, Rodenstock. Also, ich persönlich glaube nicht, daß er außerordentlich geldgeil ist. Wenn Geld anfällt, gut, wenn keines zu verdienen ist, auch gut. Sein Motiv ist ein anderes. Er findet das Leben in dieser Gesellschaft hier stinklangweilig. Er ist ein stinkreicher Mann, der sich zu Tode langweilte, bis er auf die Sache mit den Drogen stieß. Und deshalb ist seine Abschirmung auch so perfekt. Er hat unendlich viel Zeit, jeden Coup zu planen. Das Spiel macht ihm Spaß, es ist das Spiel eines Solisten gegen die ganze Gesellschaft. Er ist zweifellos ein Schweinehund, aber einer von der hochintelligenten Sorte. Ich würde jedem Menschen raten, mit diesem Mann vorsichtig umzugehen.«

»Glaubst du, er würde im Notfall töten?« fragte Rodenstock.

»Er selbst natürlich nicht. Er ist der Typ, der bei diesem Gedanken igittigitt sagt. Aber er ist jemand, der einen anderen mit den Worten losschicken kann: Töte ihn schnell! Und dann bezahlt er. Wahrscheinlich, weil er die Erfahrung gemacht hat, daß man alles kaufen kann.«

»Hat er seine Frau auch gekauft?«

Emma lächelte Dinah an. »Gute Frage, meine Liebe. Auf eine gewisse Weise hat er sie gekauft. Gleichzeitig ist er von ihr gekauft worden. Er war in seiner Jugend einer der begehrtesten Junggesellen Amsterdams, stammte aus einer stinkreichen Sippe äußerst habgieriger Kaufleute und hätte es eigentlich nicht nötig gehabt, einer geregelten Tätigkeit nachzugehen. Er studierte in Eton, es folgten Georgetown in Washington und die Sorbonne in Paris. Er machte so eine Art privates Studium Generale – von jedem ein bißchen, und von jedem nur das Interessanteste. Zum Beispiel ist er Experte für expressionistische europäische Malerei, außerdem Fachmann auf dem Gebiet alter Münzen aus dem Fernen Osten. Das sind so Kenntnisse, mit denen er unheimlich gekonnt angibt. Er wurde sogar schon zu Gerichtsverhandlungen als Sachverständiger gebeten.« Emma nagte mit makellosen Zähnen an der Unterlippe. » In Deutschland gibt es doch das Sprichwort, daß der Teufel immer auf den größten Haufen scheißt. Bei van Straaten ist das der Fall. Er war immer reich, er wurde immer reicher und ein Ende ist nicht abzusehen. Auf eine gewisse Weise macht ihn das immun, zum Beispiel hatten wir erhebliche Schwierigkeiten, in sein Leben hineinzuleuchten, weil zunächst keine dunkle Ecke sichtbar war. Sein Leben schien vollkommen gläsern verlaufen zu sein: Verwöhnter kleiner Bubi macht die Erde zu seinem Spielplatz und gelegentliche Arbeit zum Hobby. Es war frustrierend, wie ihr euch denken könnt. Was nahm der nun von zu Hause mit? Die Sippe war knietief im Im- und Exportgeschäft beschäftigt, von Malaiischen Bambus bis hin zu Krokodilhäuten, sie machten alles zu Geld. Er hatte einen Bruder, den sechs Jahre jüngeren Marcus, der den gesamten Laden einmal erben sollte. Jörn wurde ausbezahlt, als er 22 Jahre alt war.«

»Wie hoch lag die Summe?« fragte Rodenstock knapp.

»Bankerkreise in Amsterdam schätzen, daß das ungefähr bei 70 bis 90 Millionen Gulden gelegen haben muß. Und es war nur ein Drittel dessen, was ihm eigentlich zustand. Die beiden Brüder hatten sich geeinigt, nicht mehr aus dem Geschäft herauszunehmen. Die lieben sich übrigens heiß und innig, und nichts an dieser Liebe ist gespielt. Van Straaten machte alles mögliche, kümmerte sich vor allem um seinen Spaß im Leben. Und davon hatte er eine Menge. Wo immer sich die reichen Kinder trafen, war er dabei. Nizza, Cannes, St. Moritz, Paris, London, New York, Los Angeles, Moskau – ohne Jörn lief gar nichts. Wir konnten recherchieren, daß er mit 26 Jahren sieben jungen Frauen von beachtlicher Schönheit jeweils ein Apartment gemietet hatte. Er fand das phantastisch. Als er 27 war, heiratete er plötzlich von heute auf morgen, und die Welt der Schönen und Reichen stand Kopf, weil niemand vorher davon gewußt hatte. Er heiratete beileibe keine Schönheit, eher eine biedere niederländische Hausfrau mit zuviel Fettringen um den Bauch, ein gänzlich unauffälliges Wesen von geradezu bestechender Naivität und dummdreister Neugier. Niemand verstand das, jedermann fragte sich sofort, ob Jörn in eine Krise gerutscht sei. Am Tag der außerordentlich prunkvollen Hochzeit gestand die Braut, sie sei im fünften Monat schwanger. Das war sozusagen der gesellschaftliche Hammer.« Emma trank einen Schluck Wein, sie zündete sich eine Zigarette an, sie streifte die Pumps von den Füßen und zog die Beine hoch.

»Mir fehlen einfach negative Aspekte«, meinte ich.

»Die kommen!« versicherte sie lächelnd. »Die kommen noch. Es stimmt, der Kerl wirkt geradezu unheimlich perfekt. Also, er heiratete diese merkwürdige Frau, und es stellte sich heraus, daß Geld Geld geheiratet hatte. Sie brachte insgesamt sieben Fachgeschäfte für Antiquitäten mit in die Ehe. Das war was für Jörn, das machte ihm Spaß. Er konnte reisen, soviel er wollte, und er konnte jeden müden Kilometer absetzen. Was er natürlich auch tat. Neben seiner Frau hatte er überall auf der Welt Freundinnen, wobei wir nicht wissen, ob diese Ehefrau das von Anfang an wußte oder nicht. Ganz Amsterdam war am Tag der Hochzeit einhellig der Meinung, daß die Ehe bestenfalls ein oder zwei Jahre dauern würde, die Stadt hatte sich gründlich geirrt. Van Straaten konzentrierte sich aus reiner Liebhaberei auf Antiquitäten und war als Solist sehr schnell erfolgreicher als die gesamte Sippe seiner Frau. Das muß man Jörn van Straaten nämlich zugestehen: Er hat genügend Talente, um in jedem Beruf weitaus besser als der Durchschnitt zu sein. Sein Intelligenzquotient liegt nach Meinung meiner Polizeipsychologen bei etwa 134, ist also beachtlich.«

Ihr Vortrag über den trefflichen Charakterkopf des Jörn van Straaten schien Emma Spaß zu bereiten und sie zu beflügeln. Sie ging zu einem Sekretär, holte aus einer Schublade eine Schachtel mit Zigarillos und zündete sich einen an. »Das, was an van Straaten negativ auffällt, ist seine ausgesprochen rücksichtslose Art, Menschen zu benutzen und nach Gebrauch wegzuwerfen. Anfangs bemerkt das keiner, weil van Straaten ein höflicher, netter, zurückhaltender und scheinbar bescheidener Mensch ist. Nach dem Motto: Er ist ja ein Multimillionär, aber trotzdem ein Mensch!« Sie grinste leicht entschuldigend. »Der Mann ist für mich der absolut perfekte Blender. Ich habe zwei Fahnder fast in den Wahnsinn getrieben, weil ich sie gezwungen habe, sich mit Einzelheiten aus van Straatens Leben zu beschäftigen, die normalerweise die Polizei gar nicht interessieren würden. Ich bin aber froh, darauf bestanden zu haben, denn im Zuge dieser Ermittlungen wurden die ersten dunklen Ecken sichtbar. Zunächst: Daß er diese schreckliche Hausfrau geheiratet hat, wird darauf beruhen, daß seine Frau in gewisser Weise ebenso Menschen ausnutzt wie er. Wir wissen sicher: Als sie erfuhr, daß sein, na ja, sein Frauenverbrauch geradezu ungeheuer war, schaffte sie sich drei Liebhaber an, junge Kerle, die ihr Bestes gaben. Seine Frau konnte van Straaten nicht manipulieren. Doch sie verfuhr genauso diskret wie er: Nach außen störte nichts die Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung.«

»Ich muß dich rasch unterbrechen«, schaltete sich Rodenstock ein. »Ich schlafe trotz dieses spannenden Menschen bald ein. Wo liegt der Punkt, wann seid ihr auf ihn in Zusammenhang mit Drogen aufmerksam geworden?«

»Das ist jetzt mehr als zwei Jahre her. Damals verfolgten wir zusammen mit dem Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz eine holländisch-deutsch gemischte Gruppe, die ziemlich viel Haschisch und Ecstasy von hier aus über die Grenze brachte. Anfangs dachten wir, es sei eine eigenständige Gruppe, so etwas wie ein Joint venture, weil im Gegenzug ziemlich viel Heroin aus Südrußland zurück in die Niederlande floß. Wir wollten sie haben, alle zwölf. Und wir hatten auf deutscher Seite Erfolg mit einem V-Mann, der in die Gruppe lanciert werden konnte. Der Mann war drei Monate lang direkt im Herzen der Unternehmung. Diese Aktion hat sehr viele Kräfte gebunden, war ungeheuer kompliziert zu steuern, sehr zeitaufwendig, sehr teuer. Wir wunderten uns, als wir feststellten, daß die Märkte in Trier, Wittlich, Koblenz, Bonn und Köln von dem Schlag überhaupt nicht beeindruckt waren. Stoff aus Holland schien in unbegrenzten Mengen vorhanden. Frage also: Wer steckt dahinter? Da mußte jemand genau unterrichtet gewesen sein, was wir taten, denn da hatte jemand während unserer Aktionen ein paralleles Netz aufgebaut. Das war sehr riskant, und es zeugte von eiskaltem Mut, vor der die Polizei überall auf der Welt eine geradezu panische Angst hat. Und siehe da, eigentlich konnte es nur van Straaten sein.«

»Wieso sind Sie so sicher?« fragte Dinah.

Emma lächelte in der Erinnerung. »Niemand war wirklich sicher, meine Liebe. Es gab hier im Präsidium sehr viel Krach deswegen. Die Kollegen meinten, ich spinne. Bis wir auf Vermeer stießen. Vermeer war einer der Leute, die Haschisch in großen doppelwandigen Containern aus Marokko kommen ließen. Vermeer war bereit, aus lauter Sauerkeit gegen van Straaten auszusagen. Aber die Beweise, die er brachte, waren mehr als dünn. Trotzdem reichte es, um die wichtigsten meiner Kolleginnen und Kollegen zu überzeugen: Van Straaten mußte eine Hauptrolle im Drogenmilieu spielen. Der Grund für Vermeers Zorn war übrigens, daß ihm van Straaten eine gefälschte indische Götterstatue verkauft hatte. Van Straaten behauptete später, er habe die Fälschung nicht bemerkt, aber da hatte Vermeer ihm bereits einen Schlägertrupp geschickt. Sie schlugen das Geschäft in der Verwerstraat kurz und klein. Und was machte van Straaten? Er kassierte ungeheuerliche Summen von der Versicherung und nahm Vermeer den Markt ab. Der Krieg war eröffnet.

Doch wir haben immer noch keine griffigen Beweise für van Straatens kriminelle Laufbahn, weil er die wirklich wichtigen Deals vollkommen allein ausmacht, niemals mit einer Gruppe auftaucht, keine Patenallüren entwickelt. Und finanziell läßt sich nichts belegen, da wir erst am Anfang stehen und die banktechnischen Verzweigungen nur ahnen können.«

»Also kassiert er niemals selbst«, sagte ich. »Und läßt sich einfach nicht mit Rauschgift in der Tasche erwischen?«

»Richtig«, sagte sie. »Und noch etwas: Er hat zwei Kuriere ausschließlich als Blindkuriere über sechs Monate kreuz und quer durch Europa geschickt. Die Männer transportierten Luft, nichts sonst. Wir haben sie beide mehr als achtmal kontrolliert. Das ist der Vorteil eines reichen Mannes: Er kann unbegrenzt Kapital einsetzen, um die Polizei zu verwirren.«

»Wie groß ist der Markt, den er beherrscht? Wie groß ist das finanzielle Volumen?«

»Etwa zwei Millionen holländische Gulden pro Woche«, antwortete sie, ohne zu überlegen. »Zwei Millionen Gewinn, nicht Umsatz. Die Märkte bestehen aus allen Städtchen und Dörfern in der Eifel, an der Mosel bis Koblenz, im Hunsrück und weit bis in den Westerwald hinein. Zwei Morde gab es bisher in diesem Bereich, die nach unserer Ansicht auf van Straatens Konto gehen. Ein Dealer im Bereich des Nürburgringes, genauer Adenau, ein weiterer in der Pellenz, also Maria Laach, Mendig, Mayen. Beide wurden erstochen aufgefunden, und beide wurden von einer Gruppe Italiener aus Köln beliefert. Und zwar mit allen Drogen.«

»Und wer betreut diese Märkte heute?«

»Das ist so merkwürdig. Der Markt am Nürburgring wird vermutlich von einer jugoslawischen Gruppe bedient. Wir konnten keine Berührungen mit van Straaten feststellen. Der Markt Maria-Laach/Mayen, Mendig wurde bis jetzt wechselweise von dieser Jugo-Gruppe und von zwei Leutchen bedient, die ihr gut kennt: Ole und Betty.« Sie lächelte und sagte in unsere betroffenen Gesichter: »Ihr seht also: das ist ein echter internationaler Fall und nicht nur ein Skandälchen in eurer sehr schönen Vulkaneifel.«

Rodenstock erhob sich und trat ans Fenster. »Wenn ich dich richtig verstehe, dann glaubst du, daß van Straaten so gefährlich ist, weil er das Ganze wie ein intelligentes Schachspiel managt?«

»Genau das«, nickte Emma. »In der Regel sind Verbrecher geldgeil. Dieser Mann ist weitaus mehr. Und eigentlich ist er unkontrollierbar, weil er sozusagen meisterhaft allein arbeitet.«

»Aber er braucht Leute, die das Zeug transportieren, die abkassieren, die Bestellungen aufgeben.«

»Ja, ja«, sagte sie nachdenklich und zündete sich einen weiteren Zigarillo an, »genau das ist das Problem. Wir glauben, daß Jörn van Straaten die Coups ausheckt, die Bedingungen festlegt, Aufträge erteilt. Und die Frau, von der er nun geschieden wurde, von der er getrennt lebt, besorgt die gesamte Logistik. Das würde passen, denn die beiden sind ein Herz und eine Seele, wenn es darum geht, die gesamte Menschheit als dämlich zu verkaufen. Wir vermuten sogar, daß ihr ältester Sohn, mittlerweile neunzehn Jahre alt, längst eingestiegen ist und nach ganz bestimmten Kriterien die Kuriere auswählt.«

»Wieso war Dieter Kremers bei ihm?« fragte ich. »Gehört Kremers zu den Leuten, die im Auftrage der Polizei zuweilen verdeckt arbeiten? Arbeitet er irgendwie mit Ihren Beamten zusammen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist zumindest offiziell auszuschließen. Nein, der Mann arbeitet nicht mit uns, und wir nicht mit ihm.«

»Wir kommen nicht weiter«, murmelte Rodenstock resigniert. »Laßt uns unsere Betten besuchen. Ich bin ein alter Mann, ich brauche Ruhe.« Er sah seine Kollegin an. »Wenn du Lust hast, mich zu besuchen, dann ...«

»Ich habe Lust«, sagte Emma gelassen. »Ich rufe dich an.«

Wir verabschiedeten uns und gingen hinaus, um nach Hause zu fahren. Ich brauchte mehr als vier Stunden, weil der Nebel wieder sehr dicht war.

In der Höhe von Aachen begann es erneut zu schneien, ich mußte noch langsamer werden, als ich ohnehin war. Später klemmte ich mich sicherheitshalber hinter einen Vierzigtonner, der schnaufend in die Berge der Eifel zog.

Paul und Momo benahmen sich wie immer – als seien wir wochenlang fort gewesen. Sie hatten die Inneneinrichtung im wesentlichen unangetastet gelassen, nur auf der Spüle war ein wenig Unordnung. Paul hatte vermutlich drei kleine Teller untersuchen wollen, die daraufhin die Reise auf die Küchenfliesen angetreten hatten.

»Wir sollten spätestens jetzt eine Flasche Sekt aufmachen«, meinte Dinah ganz nebenbei. »Falls es euch entgangen ist: Wir haben Sylvester, und in einer Stunde beginnt ein neues Jahr.«

Wir sagten nichts, wir starrten uns an, und nach einigen Sekunden räusperte sich Rodenstock und erklärte: »Ich halte das für einen bedenklichen Zustand, wir sind irgendwie meschugge.«

»Kein Widerspruch«, sagte Dinah. »Was ist mit dem Sekt?«

»Ich habe keinen«, murmelte ich. »Wirklich Sylvester?«

»Wirklich Sylvester«, nickte Rodenstock. »Es kann vielleicht auch ein aufgesetzter Schlehenschnaps sein, oder? Ich meine ... ach du herrje! Was soll Emma jetzt denken? Ich habe ihr nicht mal ein frohes neues Jahr gewünscht, ich hab das total vergessen. Und, verdammt noch mal, sie hätte doch mitkommen wollen, äh, können, oder? Ich rufe sie an. Vielleicht hockt sie ja allein herum und so.« Er war seelisch zerknittert und verschwand, um zu telefonieren.

»Ich trinke einen Schlehenschnaps«, beschloß Dinah.

Draußen krachte der erste, wahrscheinlich von ungeduldigen Kindern gezündete Kracher, ein paar Hunde begannen zu bellen.

»Prost«, sagte Dinah und trank von dem Aufgesetzten. »Wir sind wirklich bescheuert, uns so in diesem Fall ertränken zu lassen. Willst du einen Kaffee, damit du mit uns anstoßen kannst?«

»Ich mache das mit Wasser. Ich habe das Gefühl, sämtlichen Kaffee zwischen hier und Amsterdam im Bauch zu haben.«

»Ob wir Glück haben werden miteinander?«

»Das haben wir, das können wir beweisen.«

Rodenstock kam zurück, hockte sich auf einen Stuhl und ließ die Finger der rechten Hand nervös auf dem Küchentisch tanzen. »Ich soll euch grüßen und euch ein frohes neues Jahr wünschen und Erfolg bei diesem Fall und einen Haufen Kinder und was weiß ich noch alles. Natürlich ist sie sauer.« Er schwieg, und wir schauten ihn an. Zwei Minuten später setzte er hinzu: »Natürlich hätten wir ihr anbieten sollen mitzukommen. Wir hätten das tun müssen – sagt sie. Normalerweise seien wir doch höflich. Sie hockt jetzt mit zwei Erbtanten in ihrer Wohnung.« Er grinste matt. »Komisch, selbst ältere Juden haben immer Erbtanten.« Dann wurde er unsicher.

»Sie haben eben einen besseren familiären Zusammenhalt«, murmelte Dinah hilfreich.

»Das haben sie wohl«, nickte Rodenstock dankbar. »Kann ich auch so einen Aufgesetzten haben? Ich bin einfach hundemüde und möchte jetzt schon frohes neues Jahr sagen und verschwinden.

Er baute sich mit seinem Glas förmlich vor uns auf: »Ich wünsche euch von Herzen alles Gute im neuen Jahr und so.«

Wir standen ein bißchen verlegen in der Küche herum und setzten uns schließlich, bis etwa um zehn Minuten vor Mitternacht mein Dorf zu explodieren anfing und die Katzen zu Tode erschrocken unter den Herd sausten und nicht einmal mehr eine Schwanzspitze zu sehen war. So wurden wir ins nächste Jahr geschubst, und eigentlich war es uns von Herzen egal. Die Glocken begannen zu läuten, und wie immer spielten ein Trompeter, ein Saxophonist und ein Tubabläser auf der Straße getragene Weisen; der Musikverein sorgte für die Seinen.

Rodenstock nuschelte: »So ein Scheiß!«, und verschwand.

»Weißt du«, sagte Dinah in die Dunkelheit unseres Schlafzimmers. »Ich glaube, daß Betty eigentlich nur mit anderen Männern schlief, weil sie ihre Liebe zu Ole retten wollte.«

»Ein hoffnungslos weibliches Argument«, brummelte ich. »Sei ein Schwein, rette unsere Liebe!«

»Das verstehst du eben nicht, mein Lieber«, meinte sie selbstbewußt. Irgendwann, nach einer scheinbaren Ewigkeit, war sie eingeschlafen und rutschte im Schlaf so dicht an mich heran, daß ich ihren Atem wie eine warme Brise auf meinem Gesicht spürte.

Ich konnte nicht schlafen, ich wälzte mich vorsichtig zur Seite, stand auf, raffte meine Sachen zusammen und verschwand im Bad, um mich anzuziehen. Als ich auf den Flur zurücktrat, stand dort Rodenstock und plärrte schlechtgelaunt, ob ich ihm etwas in den Kaffee getan hätte, er könne nicht schlafen.

»Das ist vermutlich Emma«, sagte ich unfair, und er starrte mich an und grinste dann etwas verlegen.

Wir hockten uns in die Küche, Momo hüpfte auf seinen Schoß, Paul auf meinen.

»Im Ernst«, murmelte ich, »Emma ist eine wunderbare Frau, oder?«

Rodenstock guckte mich leicht verwundert an. »Ja, und?« fragte er aufmüpfig.

»Du lieber Gott«, regte ich mich auf. »Du solltest dir auch einmal etwas gönnen.«

»Ich bin zu alt, nicht mehr gesund«, bellte er.

»Ja, ich weiß, du hast einen stehenden Krebs«, hielt ich dagegen. »Eigentlich bist du schon lange tot, hast es nur noch nicht gemerkt. Rodenstock, du Gauner, gönn dir doch Emma.«

»Ich weiß nicht«, sagte er zögernd. »Sieh mal, ich bin wirklich alt und ...«

»Sie ist auch nicht mehr ganz jung. Und du wirst doch nicht behaupten wollen, daß du jenseits von Gut und Böse bist, oder?«

»Nein, nein.«

»Na also. Dann nimm sie und macht einen drauf.«

»Das sagst du so«, seufzte er. »Ich bin außer Übung.«

»Dann wird es Zeit, daß du trainierst.«

»Und wenn sie es gar nicht will?«

»Oh Gott. Beschütze mich vor Lustgreisen, die so tun, als hätten sie nie gelebt.«

»Du bist ekelhaft.«

»Das macht mich so sympathisch. Willst du vielleicht andeuten, daß dein Ding da ... dein Ding da nicht mehr funktioniert?«

»Das nicht gerade«, grinste er. »Aber nach herrschender Gesellschaftslehre habe ich keine Rechte mehr in dieser Richtung.«

»Ich habe neulich gelesen, daß Impotenz unter jungen Männern sehr häufig vorkommt«, sagte ich. »Ältere Männer dagegen sind gut in Schuß. Und außerdem soll der Samen jüngerer Männer nichts mehr taugen. Blaue Luft aus schlappen Schwänzen.«

»Du bist ordinär, Baumeister«, rügte Rodenstock sanft und freute sich offensichtlich an meinen Worten. »Vielleicht rufe ich sie an.« Dann räusperte er sich. »Wie wollen wir weiterkommen?«

»Weiß ich nicht«, beschied ich ihn. »Was schlägst du vor?«

»Lose Enden herausfischen und einordnen«, entgegnete er. Er drehte sich um und starrte in die gute Stube hinüber. »Da ist eine Wand. Ich brauche Packpapier oder sowas.«

Ich besorgte ihm das Papier, dazu einige Filzstifte, rot, schwarz und grün, und Reißzwecken. Rodenstock belegte eine ganze Wand mit dem Papier und machte dabei einen höchst konzentrierten Eindruck.

»Fangen wir an, schreiben wir auf, wer bisher alles mitspielte.«

Ich hatte schon immer den Verdacht gehabt, daß sein Gehirn wesentlich logischer und umfassender funktionierte als das meine. Das demonstrierte Rodenstock jetzt auf eine sehr brutale Weise.

Er murmelte: »Also, wir hätten da ...«, und schrieb dann mit außerordentlicher Geschwindigkeit und ohne auch nur ein einziges Mal zu zögern, die Namen aller Menschen auf, die uns in diesem Fall bisher begegnet waren. Ole, Betty, Schniefke, Mario, Marios Vater, Bauer Mehren, der Arzt Grundmann, der Kriminalist Kremers, Melanie, Gerlinde Prümmer, Jonny, der Staatsanwalt Volkmann und so weiter. Vollkommen mühelos erinnerte er sich auch an die Namen derer, von denen wir nur andeutungsweise gehört hatten, wie zum Beipiel Jimmy, diesen Kumpel von Mario, der seinen BMW mit Drogenverkauf finanzierte.

»Und Emma«, ergänzte ich nur noch sanft.

»Und Emma«, nickte er und setzte ihren Namen unter die anderen. »Und jetzt notiere ich mit rot die losen Fäden, okay?« Dann zauberte er wieder, sammelte alles aus seinen grauen Zellen, und nach meiner Überzeugung übersah er nichts: die 50 Portionen LSD, bei denen die Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellte, den billigen Bauplatz des Kriminalisten Dieter Kremers, die Kosten für den Neubau. Das Kokain, das wir bei Mehren gefunden hatten, das Kokain bei Melanie, den Leutnant namens Westmann, der Mario und seinen Kumpels für eine Autoreparatur rund dreißig Gramm Haschisch geschenkt hatte, den verschwundenen Pajero von Ole. Wieso hatte Betty gesagt, Ole wolle so eine Art Selbstmord hinlegen? Was hatte Ole gemeint, als er dem Pfarrer Buch sagte, nur ein Mensch müsse sterben, dann sei alle Not vorbei? Den Mercedes C 230, der am Heiligen Abend vor der Scheune gestanden hatte. Wieso war es Betty, die mit dem Drogenverkauf angefangen hatte? Wo hatten Ole und Betty den Flug nach Kanada gebucht, und was kostete der? Rodenstock schrieb sehr flüssig und groß und stockte nicht eine Sekunde lang.

»Du bist echt klasse«, sagte ich bewundernd.

»Danke«, murmelte er. »Manchmal tut es gut, das zu hören.«

»Sag das Emma«, schlug ich vor. »Was machen wir jetzt?«

»Die losen Fäden bearbeiten. Wir müssen etwas tun. Also tun wir das Nächstliegende. Du wirst den Bauer Mehren besuchen. Und ich versuche, den Staatsanwalt Volkmann zu erreichen, um zu fragen, was der Dieter Kremers für ein Sauhund ist.« Er hatte leicht entzündete Augen ohne Glanz und wirkte erschöpft.

»Ich protestiere«, widersprach ich. »Wir müssen diesen Tag blau machen, wir müssen das einfach. Wir können nicht dauernd Vollgas geben.«

»Sieh mal an ...«, entgegnete Rodenstock vielsagend.

»Du kannst meinetwegen weitermachen«, fuhr ich fort, »ich merke, daß ich langsam müde werde. Das muß ich ausnutzen. Ich gehe wieder schlafen.«

»Eine gute Idee«, gähnte er.

Wir trotteten also die Treppe hinauf, nickten einander zu, und ich legte mich so geräuschlos wie möglich neben Dinah, die selig wie ein Kleinkind vor sich hinschmatzte. Vielleicht aß sie im Traum ein Erdbeereis oder sowas.

Irgendwann am Nachmittag wurde ich wach, Dinah schlief noch immer, und zum erstenmal seit vielen Tagen räkelte ich mich genüßlich und fand, daß ich noch ein, zwei, drei Stunden Schlaf verdient hätte. Daraus wurde aber nichts, denn Dinah wachte auf und erinnerte mich träge und zärtlich an gewisse Pflichten, denen ich dankbar nachkam, weil so etwas das Leben beflügelt. Bevor wir später wieder einschliefen, hörte ich kurz und eindringlich Rodenstock laut schnarchen. Zweifellos waren wir in diesen Augenblicken eine sehr bemerkenswerte private Mordermittlungsgruppe.

Es war noch fast Nacht, als ich vom Hof rollte, unrasiert und gut gelaunt. In Hillesheim hielt ich an der Telefonzelle am Busbahnhof an. Ich warf zwei Fünfmarkstücke ein und rief Emma an. Ich sagte etwas verlegen: »Es geht mich nichts an, aber haben Sie nicht Lust, mich zu besuchen?«

»Sind Sie ein Kuppler?«

»In diesem Fall ja, in diesem Fall macht es sogar Spaß. Rodenstock ist mein Freund.«

»Ich weiß«, erwiderte sie. »Und wenn er nicht will?«

»Das habe ich heute morgen von ihm auch gehört«, sagte ich und mußte lachen. »Ihr seid wie die Kinder. Er würde Sie jetzt brauchen ...«

»Ich bin für dich einfach Emma«, unterbrach sie.

»Na gut, Emma. Also schwing dich auf die Hufe und besuch den Nachbarn in Deutschland. Ich habe eben erlebt, wie gut dein Freund Rodenstock ist. Du solltest dir das angucken. Also, wenn dein Job es zuläßt ...«

»Ich habe noch vierzehn Tage Vakantjies«, überlegte sie.

»Mir ist egal, wie du das ausdrückst«, meinte ich. »Komm her und bring Vanillefla mit und etwas von dem holländischen Bumsbrot. Und vielleicht einen alten Gene ver.«

»Ach, du Gauner«, seufzte sie und hängte ein.

Ich war so guter Dinge, daß ich auf dem Busbahnhof einmal Vollgas gab und dann voll auf die Bremse trat. Bei der anschließenden Schlidderei hätte ich beinahe das Holzhaus umgelegt, in dem man schöne, fettige Bratwürste, halbe Hähnchen, Schaschlik und andere Genüsse kaufen konnte.

Im Stall von Mehren brannte Licht. Dort fand ich den Bauern, allein mit einer hochträchtigen Kuh. Als er mich sah, wunderte er sich nicht im geringsten, sondern erklärte: »Ich muß das Kalb wenden, sonst gehen mir beide ein.« Er zog den Pullover aus, bückte sich und nahm eine Riesentube mit Melkfett. Er schmierte sich den rechten Arm bis zur Schulter dick ein und bat dann: »Halt sie mal fest, das wird ein bißchen wehtun.«

Ich ging also zwischen die Tiere und faßte die Kette der Kuh. Sie hatte riesengroße, geduldige Augen, schnaufte heftig und stellte die Hinterläufe breit auseinander, als wolle sie Mehren entgegenkommen.

»Paß auf jetzt«, mahnte er.

Die Kuh wehrte sich jedoch kaum, sie wußte wohl, daß es um ihr Kälbchen ging.

»Mir ist immer noch schleierhaft, daß Ole Betty verraten wollte«, sagte ich, während Mehren im Innern der Kuh arbeitete und dabei heftig und angestrengt atmete.

»War aber so«, keuchte er. »War wirklich so. Er wollte Betty an den Kremers ausliefern.« Er stützte sich mit der Linken scharf auf die Hinterhand der Kuh und schnaufte laut. »Komm Mädchen, da mußt du durch. Du kriegst ein verdammt großes Kalb, ein Stierkalb, eh? Steh ruhig, Mädchen, ich hab die Hinterklauen jetzt und drehe. Alles klar, Mädchen? Glaubst du denn, du findest den, der es getan hat?«

»Ja, das glaube ich.« Vorsicht Baumeister, ganz vorsichtig. »Ole hat zu Pfarrer Buch gesagt, eigentlich müsse nur ein Mensch sterben, dann hätte er seine Ruh.«

»Na sicher«, ächzte der Bauer. »Die Betty, dieses Luder, diese Hure, die mußte sterben. Dann hätte er seine Ruhe gehabt.«

»Wie heißt du eigentlich?«

»Alwin.«

»Also gut, Alwin. Du redest Scheiße. Ole hat Betty geliebt, er wollte vielleicht töten, aber niemals die Betty Wer kommt sonst in Frage?«

»Weiß ich doch nicht«, entgegnete er sehr schnell. »Das Luder hätte es verdient.«

»Kannst du nicht endlich begreifen, daß die sich wirklich liebten?«

»Will ich nicht!« schrie er und machte eine letzte große Anstrengung, die sein Gesicht rot anlaufen ließ. Dann zog er den Arm aus der Kuh, drehte sich um und nahm eine große Spritze von einem hochgelegenen Fensterbrett. »Ich muß sehen, daß sie wieder Wehen kriegt«, kommentierte er sein Tun. Er spritzte zügig und sicher. Die Kuh durchlief ein Zittern, und sie versuchte, sich hinzulegen.

»Nicht hinlegen lassen!« befahl der Bauer aufgeregt. »Jetzt kommt es.« Er fuhr wieder mit dem Arm in die Kuh und beruhigte das Tier durch einen zärtlichen Singsang. Nach fünf Minuten kam ihr Baby, und es lag frisch, glänzend, blutig und eingewickelt in eine Haut im Stroh. »Jetzt kannst du dich hinlegen«, meinte Mehren befriedigt zu der Kuh. »Ich sagte doch, ein Stierkalb.«

»Warum erzählst du nicht endlich alles, was du weißt?« fragte ich.

Die Kuh legte sich nicht, wendete sich statt dessen dem Baby zu und leckte es.

»Ich warte auf die Nachgeburt«, erklärte er. »Ich warte immer. Was soll ich denn nicht erzählt haben?«

»Das weiß ich nicht, Alwin«, sagte ich. »Es ist ein Gefühl.«

»Gefühle! Blödsinn!«

Eine graue Katze kam heran und strich um seine Beine. Mehren bückte sich, nahm sie hoch und streichelte sie.

»Was glaubst du, wen wollte dein Sohn töten? Er wollte doch töten, oder?«

Öles Vater nickte unendlich langsam, als mache es ihm körperliche Schwierigkeiten. »Wollte er. Aber ich weiß nicht, wen. Ich weiß es wirklich nicht.«

»Wie wollte er denn töten?«

Er streichelte die Katze, sah mich dann an und hatte ganz schmale Augen. »Mit meinem Jagdgewehr. Er hat es mir geklaut. Es ist weg, es ist einfach weg.«

»Was ist das für eine Waffe?«

»Schrot. Doppellauf.«

»Seit wann hatte er es?«

»Seit, warte mal. Vierzehn Tage vor Weihnachten. Ich habe sofort gemerkt, daß er es genommen hat. Ich habe nicht gefragt, ich habe nur gedacht, hoffentlich erschießt er damit die Hure!« Er ließ die Katze einfach fallen, ging zwei, drei Schritte zurück, glitt dann an der Wand herunter und setzte sich schwer in einen Strohhaufen. Der Bauer weinte. Sein Gesicht hatte sich in Sekunden verändert, es war grau und teigig geworden, und er griff sich in einem schnellen Reflex an die linke Brustseite. »Ich kann nicht mehr«, schluchzte er. »Verdammt noch mal, ich kann nicht mehr. Sie hat ihn bedrängt, daß er den Hof nicht bewirtschaftet.«

»Das hat sie nicht«, widersprach ich. »Das hatte er schon entschieden, als Betty noch gar nicht in seinem Leben war. Als er noch ins Gymnasium ging, hat er schon gesagt, er wolle niemals Bauer sein.«

»Aber warum denn? Er mochte doch Tiere und die Arbeit hier.« Mehren wischte sich mit dem Unterarm über die Nase.

»Man kann doch Tiere und Bauernhöfe mögen und trotzdem nicht Bauer sein wollen«, sagte ich. »Das ist doch normal. Wahrscheinlich wird doch Schappi jetzt den Hof machen, oder?«

»Aber zwischendurch, so vor drei Jahren hat er gesagt, er würde den Hof doch machen wollen. Da muß diese Hure ihn von abgebracht haben.«

»Hör auf, dich zu quälen«, sagte ich. »Sie war keine Hure, und eigentlich weißt du das auch genau.«

»Aber sie hat ...» begann er zu schreien.

»Ja, sie hat«, unterbrach ich ihn scharf, »kein Zweifel. Aber sie hatte Gründe.«

»Aha! Und welche?« fragte er höhnisch.

»Das wissen wir noch nicht«, gab ich zu. Wie hatte Dinah es ausgedrückt: Betty betrog Ole, weil sie ihre Liebe zu ihm retten wollte. Plötzlich begriff ich, was sie gemeint haben könnte. »Gut, er hat dir also das Gewehr geklaut, weil er jemanden töten wollte. Hatte er Munition?«

»Satt«, stöhnte Mehren. »Ich habe ... ich habe nach dem Brand in der Scheune gesucht. Aber nichts gefunden. Und die Kripo kann auch nichts gefunden haben, weil sie sonst nachgefragt hätte. Das Ding ist einfach weg.« Er wurde zunehmend blasser, während er da hockte und auf die Nachgeburt wartete.

»Ich gehe mal pinkeln«, verkündete ich.

»Warum gehst du dazu aus dem Stall raus?« fragte er.

»Weil ich allein pinkeln will«, sagte ich.

Ich lief über den Hof in das Wohnhaus und gleich in das Wohnzimmer. Dort nahm ich das Telefon, rief den Arzt Peuster an und bat ihn, sofort zu kommen. Dann ging ich zurück. Mehren saß unverändert in dem Strohhaufen. Sein Gesicht hatte jede Farbe verloren, die Ringe unter seinen Augen waren fast schwarz und wirkten bedrohlich.

»Gab es denn einen Zeitplan? Wann sollte Ole Betty liefern?«

»Das war noch nicht festgemacht. Kremers sagte, er wolle sich nach den Umständen richten.«

»Und du hast nicht gewußt, daß Ole nach Kanada wollte?«

Der Bauer schüttelte betrübt den Kopf. »Ich habe das erst in der Brandnacht erfahren.«

»Wo hatte er wohl gebucht?«

»Ich nehme mal an, in Daun. Aber das ist doch auch egal.«

Ein Auto fuhr draußen vor, und nach wenigen Sekunden kam Peuster mit seiner Bereitschaftstasche herein. »Morgen«, sagte er munter. Er stellte die Tasche neben Mehren, kramte darin.

»Mal den Pullover ausziehen«, befahl er und schwenkte die Manschette des Blutdruckmeßgeräts.

Mehren wehrte sich nicht. »Was soll das?« fragte er erleichtert, wartete aber nicht, daß jemand antwortete. »Mir tut es da links weh. In den Arm rein. Und in der Brust.«

»Das haben wir gleich«, murmelte Peuster.

»Ich muß heim«, sagte ich und ging.