ZWEITES KAPITEL
Wie ich sehr viel später erfuhr, hatte aus einem nicht nachvollziehbaren Grund die Deutsche Presse Agentur ungewöhnlich spät reagiert und war erst gegen Abend des ersten Feiertages groß eingestiegen. Das hatte zur Folge, daß Briebisch von der Hamburger Redaktion mich gegen sechs Uhr morgens aus dem Bett holte und mir lautstark erklärte, wieso er mich um sechs anrufe. Ob ich etwas von diesem mysteriösen Brand gehört habe und ob ich eventuell bereit sei, ein kurzes Memo für die Redaktion zu schreiben, aus dem hervorgehe, daß das alles nicht wichtig genug sei, jemanden zu schicken oder sonstwie größer einzusteigen.
»Es ist Weihnachten«, flehte er, »machen Sie mein spießbürgerliches Leben nicht kaputt!«
»Aber es ist ein Fall«, sagte ich rachsüchtig. »Es handelt sich um einen Doppelmord.«
»Ein einfacher Doppelmord ist aber nix für uns«, erklärte er erhaben.
»Aber es ist insofern eine interessante Geschichte, als daß die beiden eigentlich dreimal umgebracht wurden: Erst getötet, dann kriegten sie Heroin, dann wurden sie verbrannt.«
»Das ist doch unlogisch«, sagte er.
»Das ist deutsch«, erwiderte ich. Ich starrte in den Garten. Weiße Flocken ließen sich dort nieder.
»Haben Sie Fotos von dem Feuer?«
»Habe ich. Ich mache das Memo und verlange, daß ihr in 24 Stunden entscheidet. Wenn ihr nein sagt, kann ich das Material anderen verkaufen. Ist das okay?«
»Das ist sehr okay«, antwortete Briebisch erleichtert.
Rodenstock hatte einen leichten Schlaf und stand plötzlich in der Tür. »Hat sich der Mörder tränenblind gemeldet und will mit dir sprechen?«
»Nein. Es war eine Redaktion. Jetzt werden sie das Material sichten und anrufen, jetzt kann ich vorübergehend das Gefühl haben, wichtig zu sein. Kaffee?«
»Ja«, sagte er. »Ungefähr zwei Liter. Und dann hätte ich gern Ottens Leberwurst und zwei Scheiben von diesem Eifel-Vollkornbrot, das ich an der Mosel nicht kaufen kann.«
»Ich habe gesalzene Butter aus Mean-Havelange«, lockte ich.
»Ist das ein Luxusschuppen hier«, sagte er verächtlich. Dann grinste er unvermittelt und forderte: »Her mit dem Zeug.«
Wir hockten uns in die Küche und frühstückten eine geschlagene Stunde lang, wie es sein sollte, wenn man sich wohl fühlen will. Danach machten wir uns landfein, weil Rodenstock unbedingt die Brandstelle besichtigen wollte. Als es gegen acht Uhr zögerlich dämmerte und der Schnee nur noch sehr fein und dünn rieselte, verließen wir das Haus.
»Ich habe den Eindruck, als würdest du diesen Fall nicht mögen.«
»Das ist richtig«, sagte ich. »Einen Drogenfall zu recherchieren, ist sehr schwer. In diesem wertekonservativen Landstrich laufen Drogen erheblich verdeckter als in den Ballungsräumen, und du wirst stets und ständig belogen. Es gibt unglaublich viele Eltern, die bei Drogen die Augen ganz fest zukneifen und einfach nicht sehen wollen, was Realität ist. Das gleiche gilt für die Ortsbürgermeister. Beispiel: Da laufen in einem Dorf zwei Sozialhilfeempfänger zwei Kilometer weit bis zur nächsten Tankstelle, um die auszurauben. Sie wollen beide Geld für Heroin und werden erwischt. Der Ortsbürgermeister ist beim Verhör dabei, die Täter gestehen sofort. Zwei Stunden später behauptet der Bürgermeister in einem Gespräch mit mir, seine Gemeinde sei vollkommen clean. Und ich hatte die Wahnsinnsidee, daß er selbst an seine Worte glaubte. Du hast recht, ich würde mich drücken, wenn ich könnte.«
»Gibt es viele Drogen hier?«
»Jede Menge. Unglaubliche Mengen von Haschisch und Ecstasy. Auch Kokain, aber meistens schlechtes Zeug. Gott sei Dank wenig Heroin, aber es gibt verdammt viele Jugendliche, die irgendwelche Medikamente schmeißen, weil sie so leicht drankommen.«
»Und die Obrigkeit leugnet?«
»Nicht nur die Obrigkeit, vor allem die Eltern. Hier gab es einen leibhaftigen Kriminalbeamten, der behauptete, man wisse nicht, wie Ecstasy wirkt. Zum gleichen Zeitpunkt lagen auf der Intensivstation des Krankenhauses zwei Jungen, beide 18, deren Kreislauf kollabiert war. Sie hatten durchgehend von Freitagabend bis Sonntagabend Pillen eingeschmissen, und sie behaupteten steif und fest, man hätte ihnen gesagt, Ecstasy sei ausgesprochen harmlos. Das Einfachste ist immer noch, man streitet schlicht ab zu wissen, was Drogen sind, was sie bewirken. Jede betroffene Familie empfindet das als Schande und fragt sich vollkommen fassungslos, wieso das Kindchen denn das Zeug frißt. Auf die Idee, das Kindchen könne eventuell massive seelische Probleme haben, kommt kein Mensch. Das hat etwas damit zu tun, daß die Eifel immer schon ein verspottetes Gebiet war. Da will man sich nicht nachsagen lassen, daß es jetzt auch Drogen gibt.«
»Du bist ja richtig wütend«, stellte Rodenstock fest.
»Bin ich auch. Denn diese Kinder können selbstverständlich nur in den seltensten Fällen zu ihren Eltern gehen und um Hilfe bitten. Dazu kommt eine geradezu groteske Polizeiorganisation. Wenn ich ein Dealer wäre, würde ich vorwiegend in der Eifel arbeiten, denn hier kannst du das Zeug unverpackt in einer Schubkarre transportieren – du gerätst niemals in die Gefahr, einem Bullen zu begegnen. Hier ist bullenfreie Zone, hier ist die absolute Freiheit angesagt, hier ist der Himmel für Kiffer.«
»Du übertreibst.«
»Ich übertreibe nicht. Zwischen Wittlich und Koblenz sind zwei Kriminalbeamte für Drogen zuständig. Sie beackern ein Gebiet, das halb so groß ist wie das ganze Saarland. Das erste, was die Jugendlichen hier auswendig lernen sind, die Autonummern der Rauschgiftfahnder. Neulich hat sich ein Fahnder einen Wagen von einem Bekannten gepumpt. Als er von Wittlich die Mosel hinunterfuhr und dann in die Eifel abbog, wußten die Kids in Daun schon Bescheid und haben ihm freundlich zugewinkt. Der Mann soll knapp einem Nervenzusammenbruch entkommen sein. Ich weiß, was ich sage, ich habe Drogen recherchiert.«
»Bist du dafür, Haschisch zu legalisieren?«
»Ja. Und sofort bitte. Die Erwachsenen machen sich doch lächerlich. Handel verboten, Konsum erlaubt. Hast du dreißig Gramm bei dir, bist du nur kriminell, wenn der Stoff über 7, b Gramm THC enthält. Und das entschied das oberste der in dieser Sache zuständigen Bundesgerichte. Haben die bei der Urteilsfindung gekifft? Wenn du Zeug von saumäßiger Qualität bei dir hast, darfst du wahrscheinlich einen halben Zentner im Handschuhfach transportieren und bleibst ein anständiges Mitglied der Gesellschaft. Mich ärgert, daß Erwachsene die Jugend so wenig ernstnehmen, mich ärgert, daß diese Erwachsenen so dämlich sind, sich ständig zu blamieren, und im gleichen Atemzug für sich in Anspruch nehmen wollen, respektiert zu werden.«
»Ich wußte gar nicht, daß du zum Prediger taugst.« Er grinste.
»Ach, Scheiße!« sagte ich.
Wir rollten mittlerweile zwischen Wiesbaum und Birgel die schmale Straße entlang, und das Land lag in schweigsamer Pracht unter der weißen Decke. Ich ärgerte mich über meine Redseligkeit mit Zeigefinger, ich war nicht einverstanden mit Leuten, die so tun, als könnten sie der Nation etwas beibringen, als wüßten sie alles besser.
»Entschuldige«, murmelte ich.
»Schon gut«, erwiderte Rodenstock. »Du hast ja recht. Glaubst du, wir bekommen heraus, was Ole und Betty Heilig Abend gemacht haben?«
»Schwierig wird's auf jeden Fall. Vor allem deshalb, weil diese jungen Leute ständig mit dem Auto unterwegs sind. Und sie sind verdammt schnell unterwegs, zudem ist die Reihenfolge der Punkte, die sie anfahren, niemals logisch. Wir müssen so schnell wie möglich an Freunde von ihnen heran.«
»Kennst du welche?«
»Nein.« Ich erreichte die Kreuzung an der B 421 und mußte eine Weile warten, weil zwei Fahrer funkelnagelneuer PKW ausprobiert hatten, welches Fahrzeug die härtere Schnauze besaß. Sie standen da im Nieselschnee und schrien sich an. Der eine von ihnen trug Pantoffeln und etwas, das ich eindeutig eine lange Unterhose nennen würde. So ist die Eifel, so ist das Leben hier.
Als wir dicht an ihnen vorbeirollten, schrie die Unterhose gerade mit vor Zorn hochrotem Gesicht: »Du bissene Lappes, bis du!«
»Hatte dieser Ole einen Beruf? Und Betty?«
»Ich weiß es nicht, Rodenstock. Ich weiß eigentlich noch gar nichts.«
Als wir im Eingangsbereich von Jünkerath waren, hielt ich an und zeigte auf die verbrannte Scheune jenseits des Kylltals. »Links davon ist der Hof der Eltern, also Schappis Zuhause.«
»Wenn jemand zu Ole und Betty in die Scheune wollte, mußte er also über den Hof des Vaters?«
»Nicht unbedingt. Ich habe es noch nicht nachgeprüft, aber der Kleine hat gesagt, daß Ole und sein Vater nicht gerade in biblischer Friedfertigkeit miteinander lebten. Die Jungs, die ihren Vater nicht mögen, haben immer einen zweiten Weg. Wahrscheinlich kommt ein Waldweg von hinten an die Scheune heran, oder es gibt einen Wiesenweg von der anderen Seite durch das Tal. Wir werden sehen.«
Die Brandstelle qualmte noch, der rieselnde Schnee hatte das Feuer nicht ganz löschen können.
»Hast du ein Fernglas?«
»Na, sicher«, sagte ich und kramte das Glas aus dem Handschuhfach.
Rodenstock nahm es und richtete es auf die verbrannte Scheune ein. »Da sind zwei Männer«, murmelte er dann. »Sie nehmen Proben. Vielleicht ist es besser, wir lassen uns jetzt nicht sehen. Sie müssen ja nicht wissen, daß wir mitspielen wollen.«
»Dann laß uns die Schleichwege des Ole suchen.«
Ich quälte mich also durch die Längsachse Jünkeraths, die seit Jahren in einem gleichmäßig saumäßigen Zustand glänzt. Wir bogen nach Esch ab, querten die Eisenbahnlinie auf der Überführung und hielten uns rechts. Ich machte den Fremdenführer: »Dort ist das Gelände der Eisenbahnfreunde Jünkerath, dann folgt Mannesmann. Übrigens ist dies eine Gegend Deutschlands, in der seit mehr als zweitausend Jahren Eisen verhüttet wird. Es gibt hier ein Museum, in dem uralte Takenplatten gezeigt werden und äußerst kunstvolle Gußöfen, die du heute nicht mehr bezahlen könntest.«
Offensichtlich hatte Rodenstock kein Wort verstehen wollen, denn er fragte versunken: »Glaubst du, daß die beiden eine Bedrohung wahrgenommen haben?«
»Das ist unwahrscheinlich. Nichts wäre einfacher gewesen, als schlicht ein paar Tage zu verschwinden. Hier geht die Straße nach Feusdorf hoch, hier ist der Punkt, wo der Weg zum Birkenhof abzweigt. Ich fahre also den Berg hoch, und du bist so gut und achtest auf einen möglichen Waldweg.«
Zweihundert Meter weiter mündete einer. Ich hielt kurz und schaltete den Allradantrieb ein. Es ging in einem weit geschwungenen Bogen durch dichtes Tannengehölz, dann kam in einer engen Kehre der Übergang zu Birken- und Erlenbestand. Die Biegungen waren scharf, die Räder zogen eine schmierige, tiefe Spur durch den Matsch. Ganz unvermittelt tauchte links von uns die Brandstelle auf.
»Das wäre Nummer eins«, sagte ich. »Hierfür braucht man aber einen Jeep. Es muß also noch eine Nummer zwei geben.« Ich drehte und lenkte den Wagen bergauf. Sehr versteckt war dort eine weitere Abbiegung. Dieser Weg war wesentlich besser ausgebaut und härter aufgefüllt, und es machte nicht die geringsten Schwierigkeiten, in weniger als drei Minuten unten im Tal anzukommen. Die Reste der Scheune lagen jetzt rechts von uns in etwa einhundert Metern Entfernung.
»Das hätte mich auch gewundert«, meinte ich. »Also konnte niemand im Haupthaus kontrollieren, wann Ole und Betty in ihrer Scheune waren und wann nicht.«
»Wie muß ich mir das eigentlich vorstellen?« fragte Rodenstock pingelig. »Sie können doch nicht so einfach in einer Scheune gehaust haben, zwischen Bretterwänden, durch die der Wind pfiff.«
»Ich weiß nicht, wie sie das technisch gelöst haben.«
»Laß uns hier verschwinden«, sagte er. »Vielleicht können wir irgendwo einen Kaffee kaufen.«
»Kaffee um diese Zeit am zweiten Weihnachtstag gibt es nicht«, beschied ich ihn. Ich drehte, und wir verschwanden wieder im Schutz des Waldes. »Ich zeige dir jetzt was typisch Eiflerisches.«
Ich fuhr nicht nach Jünkerath zurück, sondern nach Feusdorf die Steigung hoch. Hier lag der Schnee doppelt so hoch wie unten im Kylltal. Oben bog ich links nach Esch ein, dann ging's wieder scharf nach rechts, wo wir die schmale Straße zurück nach Jünkerath erreichten. Es war ein Traum weg. Links und rechts Hochwald, links und rechts von schwerem Schnee behängte Weißtannen, eine Traumlandschaft. Ich fuhr in die Mündung eines Waldweges, hielt an und stopfte mir die Silke Brun von Stanwell, die Dinah mir geschenkt hatte und auf die ich so stolz war.
»Das ist etwas für das romantische deutsche Herz«, sagte ich.
Rodenstock sagte nichts, nickte nur und sah starr geradeaus.
Ich merkte erst nach einer Weile, daß ich einen Fehler gemacht haben mußte, denn er schneuzte sich plötzlich geräuschvoll und wischte sich über die Augen. »Weihnachten ist eben große Scheiße«, sagte er.
Wir standen eine halbe Stunde dort, und niemand kam vorbei.
»Laß uns fahren«, meinte er endlich mit belegter Stimme. »Wir werden auch das kaputtkriegen, wir Menschen kriegen alles kaputt.«
Wir fuhren hinunter nach Jünkerath und ließen uns beim Türken ein Gläschen Tee geben. Sonderlich überraschend war das nicht, daß der Laden auf hatte. Er war so etwas wie der Marktplatz der Türken, lebensnotwendiger Treffpunkt, Mittelpunkt einer kleinen, höchst lebendigen Gemeinschaft. Überdies, so versicherten sämtliche Hausfrauen, bot das Geschäft das beste Gemüse an.
Der Tee war rabenschwarz und gut.
Wenig später versuchten wir es erneut über den Wiesenweg. Die Brandexperten waren verschwunden. Wir ließen den Wagen im Wald stehen und gingen die wenigen Meter zu Fuß.
Rodenstock blieb vor dem Chaos der Zerstörung stehen und rührte sich nicht. Ich wußte, daß er allen Tatorten in seinem Leben so begegnet war: stumm und mit höchster Konzentration. Wahrscheinlich sah er auf diese Weise mehr als alle anderen, die neugierig und hektisch den Ort des Geschehens zehnmal umrundeten. Jemand hatte mal von Rodenstock gesagt: »Er war der stillste Leiter einer Mordkommission, den man sich vorstellen konnte. Aber deswegen war er auch der beste.«
»Was siehst du?« fragte ich nach einer Weile.
»Technisch geschickt gemacht«, murmelte er. »Sie haben sich in der Scheune eine fast perfekte Zwei-Zimmer-Wohnung mit Bad und Küche gebaut. Hatte Ole Ahnung vom Bauen?«
»Wahrscheinlich. Alle Bauern haben Ahnung, und alle Bauern bauen alles selbst. Und sie können auch alles. Ole hatte wahrscheinlich Kumpel genug, die ihm geholfen haben.«
»Die Unterkunft hatte nur einen Nachteil«, sagte er und bewegte sich immer noch nicht. »Sie hatten keine Fenster. Aber sie wollten wahrscheinlich keine Fenster, sie wollten ihre kleine Welt mit niemandem teilen, und sie wollten die Welt auch nicht sehen. Sieh mal, die Öfen da. Holz hatten sie genug, sie hatten es immer warm. Hast du eigentlich diesen Arzt, diesen Peuster gefragt, ob Betty schwanger war?«
»Nein. Wie kommst du darauf?«
»Ich denke mir, daß diese etwas ungewöhnliche Behausung so etwas wie eine wunderbare Höhle war, in der sie sich verbargen und sich liebten. Aber wahrscheinlich denke ich zu romantisch, oder?«
»Kann sein. Wir werden es aber erfahren, denke ich. Deine Höhlentheorie klingt gut.«
Wir standen am Rand des tiefschwarzen riesigen Flecks, der einmal die Wohnung von Ole und Betty gewesen war.
»Wer, um Gottes willen«, fragte Rodenstock leise, »gibt sich die Mühe, solch junge harmlose Leute auf diese Weise zu töten?«
»Ein Irrer vielleicht«, versuchte ich zaghaft.
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Viel zu aufwendig für einen Irren. Erst töten, dann Heroin spritzen, dann verbrennen. Jeder, wirklich jeder, der ein wenig Ahnung hat, wird wissen, daß Heroin nachweisbar ist und der Eintritt des Todes vor dem Brand auch. Nein, nein. Trotzdem muß die sehr komplexe Tat eine Bedeutung haben. Vielleicht sollte jemand gewarnt werden, vielleicht will der Täter ein Zeichen geben.«
»Vielleicht, vielleicht, vielleicht ...«
Hinter uns fragte plötzlich eine helle Stimme: »Entschuldigung, sind Sie von der Polizei?«
Wie aus einem Mund antworteten wir beide: »Nein«, und drehten uns um.
Es war eine junge Frau, vielleicht 25 Jahre alt. Sie trug einen Rollkragenpullover und darüber eine dicke weiße Wolljacke. Dazu Jeans und Snowboots. Auf dem Kopf hatte sie eine feuerrote Nikolausmütze, wie sie in diesem Jahr plötzlich Mode geworden war. Sie fror trotzdem, sie hatte eine rote Nase und ihre Stimme kam zittrig. Sie stand da und wußte nicht weiter, wahrscheinlich hatte sie fest damit gerechnet, daß wir Polizeibeamte waren.
»Ich war nachts an der Brandstelle«, sagte ich behutsam. »Ich war hier, als das passierte. Es hat mich sehr mitgenommen. Deshalb sind wir hier. Kannten Sie Ole und Betty?«
Sie nickte.
»Sind Sie mit ihr zur Schule gegangen?« fragte Rodenstock unschuldig.
»Ja, klar. Erst sind wir zusammen zur Grundschule, dann später zum Gymnasium, noch später zur Berufsschule, als wir Lehrlinge waren. Wir haben im gleichen Betrieb gelernt.
»Ich wußte gar nicht, daß Betty einen Beruf gelernt hatte«, meinte Rodenstock.
»Oh doch«, sagte sie. »Wir haben beide Friseuse gelernt. Aber sie hat die Lehre geschmissen, sie wollte nicht mehr. Und Ole wollte auch nicht, daß sie arbeitet. Er sagte immer, Arbeit wäre die blödeste Tätigkeit, die man sich aussuchen könnte.« Sie kicherte einen Hauch lang. »Er war schon ein Verrückter.«
»Was hatten die beiden denn vor?« fragte Rodenstock.
»Deswegen bin ich eigentlich hier.« Sie suchte umständlich in ihren Hosentaschen, kramte dann zerknüllte Papiertaschentücher heraus und schneuzte sich lautstark die Nase. »Ich mußte einfach hierherkommen, ich kann immer noch nicht glauben, daß sie verbrannt sind. Na ja, jetzt ist sowieso alles zu spät ...«
»Sie müßten sich an die Polizei wenden, wenn Sie etwas wissen«, riet Rodenstock beinahe gemütlich.
»Oh, das tue ich nicht«, entgegnete sie lebhaft. »Bestimmt nicht. Hinterher steht mein Name in der Zeitung, und ich kriege nichts als Schwierigkeiten. Nein, auf keinen Fall, das tue ich nicht. Außerdem ist das alles vielleicht doch nicht so wichtig, und die Polizei wird es sowieso erfahren.«
»Gab es Probleme bei den beiden?« fragte Rodenstock gefährlich freundlich.
»Nein, das denn nicht«, sagte sie versonnen. »Es geht ja niemanden was an, aber eigentlich sollten sie heute von Frankfurt aus nach Kanada fliegen. Sie wollten erst mal mit einem Drei-Monats-Visum zu alten Freunden aus der Eifel, die irgendwo bei Montreal leben. Dann wollten sie sich umsehen und sich Arbeit besorgen. Die waren schon seit Wochen selig, sie waren gar nicht mehr von dieser Welt, sie wollten es in Kanada packen.«
»Ach, du lieber Gott«, meinte Rodenstock betroffen, »das ist ja richtig tragisch. Wußten denn Öles Eltern davon?«
»Die hatten keine Ahnung«, erwiderte sie ohne sonderliches Interesse. »Ich glaube, bis auf ein paar Bekannte wußte niemand, daß sie abhauen wollten. Sagen Sie mal, sind Sie nicht der Journalist, der für solche Magazine schreibt?«
»Der bin ich«, nickte ich. »Wie heißen Sie denn?«
»Prümmer, Gerlinde Prümmer«, sagte sie. »Wollen Sie darüber berichten?«
»Das weiß ich nicht, das wird sich herausstellen.«
»Ich heiße Rodenstock«, stellte sich Rodenstock vor.
Eine Weile schwiegen wir.
»Waren Sie mal in dieser Wohnung?« fragte Rodenstock dann.
»Na sicher. Ich kam hier immer her, wenn Betty die Haare geschnitten haben wollte. Ich war ihre Friseuse, und sie erzählte mir, was alles so los war.«
»Besteht die Möglichkeit, daß die beiden jemals Heroin gedrückt haben?« fragte ich.
Gerlinde Prümmer bekam große Augen. »Heroin? Niemals. Betty hat gesagt, wenn sie Heroin spritzt, kann sie ein Baby vergessen. Und sie wollte immer ein Baby mit Ole haben. Sie hat gesagt: In Kanada wird das was!«
»Ich habe eine etwas verrückte Frage«, sagte ich. »Ich weiß auch gar nicht, ob die Frage Sinn macht. In der Nacht, als es brannte, hat der kleine Schappi mich angerufen. Ich bin sofort hierher gefahren. Natürlich habe ich kurz mit Schappi geredet, aber der war so ... so voller Trauer, daß es unmöglich war ...«
Sie unterbrach mich. »Schappi war Bettys Liebling. Und Betty und Ole waren Schappis Lieblinge. Ich denke die ganze Zeit, seit ich es gehört habe, darüber nach, was das Kind jetzt tut. Der muß verrückt werden. Er hat von morgens bis abends nur von Ole und Betty geredet.«
»Es ist sicher keine faire Frage«, begann ich vorsichtig, »aber Schappi hat gesagt, sein Vater will jemanden totschlagen. Ist so etwas wörtlich zu nehmen?«
Sie überlegte. »Hm, der Vater, also Herr Mehren, ist schon ... also ziemlich brutal. Ole ist oft geschlagen worden. Das hörte erst auf, nachdem er einmal seinen Vater verprügelt hat. Das muß so vor zwei, drei Jahren passiert sein. Aber nicht, daß Sie darüber schreiben und sagen, sie hätten das von mir.«
»Keinesfalls«, beruhigte ich. »Hat Herr Mehren auch Schappi geschlagen?«
Sie nickte. »Jedenfalls solange, bis Ole gedroht hat, wenn er das nochmal tut, geht er nicht nur zum Jugendamt, sondern auch zum Staatsanwalt.« Gerlinde Prümmer starrte auf ihre Stiefel im Schnee.
»Wo wohnen Sie denn?« fragte ich. »Haben Sie Telefon? Sind Sie damit einverstanden, daß ich Sie eventuell anrufe und Ihnen weitere Fragen stelle? Ich meine, es könnten noch welche auftauchen. Und ich garantiere Ihnen, daß niemand wissen wird, daß ich Sie überhaupt kenne.«
Es war zu sehen, daß sie jetzt in Verlegenheit war. Sie druckste herum. »Meinem ..., also meinem Mann wäre das gar nicht recht. Wenn er das weiß, dann verbietet er mir, aus dem Haus zu gehen. Kann ich Sie nicht anrufen?«
»Natürlich.« Ich fummelte eine Visitenkarte aus der Lederweste und gab sie ihr. »Ich werde Sie nicht anrufen«, versprach ich. »Aber können Sie sich in den nächsten Tagen bei mir melden?«
»Ich muß übermorgen zu meinen Eltern«, nickte sie. »Das ginge.«
»Dann bleibt nur eine Frage noch«, Rodenstock nuschelte ein wenig. »Mein Freund Baumeister hat mit Schappi gesprochen, und der erwähnte etwas von einem Holländer. Kennen Sie einen Holländer?«
»Ja, sicher. Damit meint er bestimmt den Jörn van Straaten. Das ist ein Bekannter von Betty und Ole. Schon seit Jahren kennen die sich. Er ist schon etwas älter, so fünfzig würde ich mal schätzen. Der war manchmal hier bei denen. Und sie hatten immer viel Spaß. Betty hat mir gesagt, der Mann wäre ohne Familie und sehr einsam. Komisch, jetzt fällt mir auf, daß sie niemals erwähnte, wo sie den kennenlernt hat. Aber vielleicht war er ja auch ein Bekannter von Ole.«
»Und Öles Vater hat den Holländer nicht gemocht?«
»Das weiß ich nicht«, sagte sie nach kurzem Nachdenken. »Aber Öles Vater mochte sowieso niemanden, der hier zu Ole und Betty in die Scheune kam.«
»Wieso?«
»Weil Schappi meinte, sein Vater würde wahrscheinlich auch den Holländer totschlagen«, erklärte ich.
»Wenn er betrunken ist, will er die ganze Welt totschlagen«, sagte sie. »Egal, ob Kirmes ist oder Feuerwehrfest oder Disko, wenn er getrunken hatte, will er die ganze Welt totschlagen. Also, wenn Sie mich fragen, ist er ein ... ja, ein widerlicher Kerl.«
»Noch etwas«, bat Rodenstock. »Alle Welt hält es für normal und selbstverständlich, daß Ole und Betty kifften und das Haschisch auch verkauften. War Ole in Sachen Drogen dann schon vorbestraft?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß, daß im letzten Sommer was lief, Betty hatte furchtbare Angst. Sie sagte: Wenn du in den Knast mußt, kann ich aus der Scheune ausziehen, weil dein Vater mich mit der Pferdepeitsche vom Hof prügelt. Das klingt ziemlich furchtbar, aber ich glaube, sie hatte recht. Das traue ich dem Mehren zu. Jedenfalls passierte dann gar nichts. Seine, also ich meine, Öles Verhandlung war angesetzt. In Wittlich. Aber dann kam zwei Tage vorher ein Schreiben vom Gericht, daß sie die Anklage fallenlassen. Weshalb sie das taten, stand nicht drin. Betty sagte immer wieder: Es ist ein Wunder geschehen, es ist ein Wunder geschehen.«
»Weshalb sollte er denn vor Gericht?« fragte Rodenstock.
»Wegen LSD hat Betty gesagt. Wegen fünfzig Portionen LSD.«
»Fünfzig Portionen?« Meine Stimme klang sehr schrill.
»Wir danken Ihnen sehr«, sagte Rodenstock schnell und reichte ihr die Hand.
»Aber bitte nichts sagen«, bat sie.
»Kein Wort«, versprach ich erneut.
Gerlinde Prümmer stapfte davon, sie nahm den Waldweg, auf dem wir gekommen waren.
»Ich sehe, wie deine Maschine da oben drin rattert«, sagte Rodenstock leise. »Denkst du an die fünfzig Portionen LSD?«
Ich nickte. »LSD ist ziemlich gefährlich, kann sofort zur Psychose führen, ist das letzte Scheißzeug und völlig unberechenbar. Wenn er mit 50 Portionen erwischt worden ist, bedeutete das todsicher Knast. Es bedeutete langen Knast. Und plötzlich wird das Verfahren eingestellt. Was soll das?«
»Ole hat zu Schniefke gesagt, die Bullen hätten andere Probleme, als ihm Angst zu machen. Was kann das bedeuten? Kanada paßt irgendwie. Die beiden sahen hier keine Chance. – Ich habe Kontakt zur kanadischen Botschaft«, knurrte Rodenstock. »Laß uns fahren, wir müssen telefonieren.«
»Mir fällt gerade ein, daß wir nicht einmal den Familiennamen von Betty kennen«, stellte ich verblüfft fest.
Wir fuhren heim und kamen gerade rechtzeitig, um zu verhindern, daß Paul den Eisschrank ausräumte. Entweder hatten wir vergessen, das Möbel zu schließen, oder er hatte es selbst geöffnet. Jedenfalls stand es sperrangelweit auf, und man sah Paul an, wie er intensiv überlegte, was er als erstes genußvoll zwischen die Zähne nehmen sollte.
Während Rodenstock telefonierte, schleppte ich Kohlen und Holz für den Kaminofen und heizte kräftig ein. Mittlerweile lag der Schnee gute dreißig Zentimeter hoch, und der Wetterbericht meldete, daß die Kälte in den nächsten Tagen halten würde. Das ist das Phantastische an der Eifel: es gibt noch richtige Jahreszeiten.
Rodenstock gab Auskunft: »Es ist richtig. Sie hatten sich Visa besorgt. Ein Visum für den Besuch bei alten Freunden. Betty heißt übrigens Sandner.«
»Fällt das nicht unter Datenschutz?«
»Du lieber Himmel«, seufzte er. »Wenn ich den Datenschutz ernst nehme, fange ich niemals einen Mörder. Ich habe einen Bekannten bei den Kanadiern, der Zugang zu den Computern hat. Er war so freundlich nachzusehen. Und ich wäre so freundlich, für ihn nachzusehen, wenn ich Herr des Computers wäre. Datenschutz ist ein phantastischer Bluff für Otto Normalverbraucher. Ich kenne kaum einen Kriminalbeamten, der nicht zwei- bis zwanzigmal im Monat gegen den Datenschutz verstoßen muß, weil sonst jeder Erfolg doppelt und dreifach so lange auf sich warten lassen würde. Ich dachte, du wüßtest das.«
»Ich weiß es ja auch. Aber manchmal hoffe ich eben, daß es nicht so ist«, erwiderte ich.
»Du bist ein Träumer«, seufzte er.
»Zu Befehl«, grinste ich.
»Nach Schniefkes Schilderung«, überlegte Rodenstock, »waren Ole und Betty am Mittag des Heiligen Abend sehr gut drauf. Sie haben offenbar von der Gefahr nichts geahnt. Nach Schniefkes Schilderung waren sie sogar übermütig. Wahrscheinlich wegen des bevorstehenden Fluges nach Kanada. Wie können wir erfahren, wohin sie gefahren sind, nachdem sie die halben Hähnchen verlassen haben? Wer könnte das wissen?«
Ich gab keine Antwort, weil ich keine hatte.
»Wir müssen schnellstens herausfinden, wer außer dieser kleinen Friseuse noch weitere Kenntnisse über unser Pärchen hat. Eigentlich hätten wir die Friseuse danach fragen müssen, war aber nicht möglich, weil wir sie sonst konfus geredet hätten. Merke dir: Geh vorsichtig mit wichtigen Zeugen um. Sie sind eine Kerze, die an beiden Enden brennt.«
»Noch so ein Spruch, und du hast eine Woche frei«, unterbrach ich.
»Ruf dein Mädchen an«, befahl er. »Ihr Herz wird warten.«
»Für den Spruch zahlst du einen Hunderter Bußgeld«, lachte ich. Aber ich konnte Dinah nicht anrufen, weil das Telefon vorher klingelte.
Es war der Arzt Tilman Peuster. »Tach auch.«
»Guten Tag. Was gibt es? Hat man den beiden zur Sicherheit vielleicht noch Strychnin eingeflößt?«
»Das ist es nicht«, murmelte er. »Man, also ich meine, die Polizei hat einen Mörder.«
»Das gibt es nicht«, rief ich. Etwas nahm mir die Luft.
»Doch, doch«, sagte er. »Es ist, vorsichtig ausgedrückt, ein ausländischer Mitbürger. Aber ich will Sie nicht unnötig raten lassen. Die Fahnder der Polizei sind auf einen Türken gestoßen, der mit Ole einen Heidenkrach gehabt hat. Der Türke soll behauptet haben, Ole hätte seinem Sohn Haschisch verkauft. Privat sage ich Ihnen, das kann durchaus sein. Aber jetzt kommt's: Vor dem Haus, in dem der Türke wohnt, ist es vor vier Tagen zu einem wüsten, lauten Streit gekommen. Dabei muß der Türke geschrien haben: Du Schwein müßtest für diese Sache mit meinem Sohn brennen, jawohl brennen! Jetzt haben sie den Mann zum Verhör nach Wittlich geschafft und verbreiten stolz die Meldung, sie hätten den Täter wahrscheinlich ...«
»Und Sie glauben natürlich kein Wort davon«, stellte ich fest. »Noch etwas: Wußten Sie, daß die beiden nach Kanada fliegen wollten?«
»Ja«, antwortete er einfach. »Ich wußte das. Und an den türkischen Vater als Doppelmörder glaube ich nicht. Zu dem Zeitpunkt, als die beiden umgebracht worden sind, also am Nachmittag des Heiligen Abend, war der Mann bei mir, und ich habe seinen Hintern mit einem Messer attackiert. Er hatte ein Furunkel und konnte nicht mehr sitzen. Anschließend konnte er erst recht nicht mehr sitzen. Er lag in meiner Praxis auf dem Bauch auf einer Liege und hatte sich eine türkische Tageszeitung mitgebracht. Und weil ich Dienst hatte, Junggeselle bin, nichts von Weihnachten halte und überhaupt, habe ich mit ihm geschwätzt. Mindestens bis neun Uhr abends. Außerdem ist der Mann zwar sehr temperamentvoll und aufbrausend, aber viel zu klug, um Ole und Betty etwas anzutun.«
»Was wollen Sie jetzt tun?«
»Ich rufe jetzt die Polizei an«, sagte er ruhig. »Ich dachte, Sie sollten das wissen. Die Festnahme zeigt diese Mordkommission nicht gerade im strahlenden Glanz.«
»Die Information ist Gold wert«, gab ich zu. »Danke.«
Ich erzählte Rodenstock, was Peuster berichtet hatte, und wiederum war es so, als höre er mir nicht zu, weil etwas anderes ihn fesselte. Er drehte sich zu mir und sagte langsam. »Wenn Ole und Betty die Gegend hier mit Stoffen versorgt haben, dann müssen sie doch aus so etwas wie Nachfolger haben. Also Leute, die für sie einspringen, wenn sie selbst aus irgendeinem Grund ausfallen. Wir müssen also herausfinden, bei wem sich Drogenkonsumenten melden, wenn sie etwas haben wollen – heute! Dealer achten immer scharf darauf, daß das Geschäft problemlos läuft. Die beiden wollten auswandern. Frage: Wem haben sie ihr Geschäft vererbt?«
»Man könnte glatt zu der Meinung kommen, du würdest als Kriminalist was taugen«, sagte ich. »Wir sollten versuchen, an Mario heranzukommen. Mario ist klug, Mario weiß alles, und Mario hat alles an Drogen probiert, was es hierzulande gibt.«
»Wie alt ist denn dieser Wunderknabe?«
»Sechzehn, glaube ich. Er hat es mal fertiggebracht, einen Doppelschluck LSD einzuschmeißen. Und das mitten in Daun vor der Post. Er behauptet seitdem, einen unfehlbaren Einblick in die Psyche der Ureinwohner zu haben. Die Telefonnummer, habe ich die Telefonnummer? Ich habe sie.«
»Wenn er sechzehn ist, taugt er möglicherweise nur bedingt als Zeuge«, murmelte Rodenstock skeptisch.
»Heh«, widersprach ich, »du bist pensioniert, du bist jetzt Amateur.«
Er lächelte flüchtig: »As time goes by.«
Mario wohnte in einem Flecken namens Niederstadtfeld, wo immer das war. Sein Vater meldete sich mit einem gestreßten bulligen: »Ja, bitte?«
»Baumeister hier. Kann ich Mario sprechen?«
»Ich habe keine Ahnung, wo der sich jetzt rumtreibt«, muffelte er.
»Ist er denn zu Hause?«
»Müßte eigentlich. Aber ich weiß sowieso nie, was hier läuft. Ich schreie mal, Moment.«
Ich hörte ihn laut und deutlich rufen. Dann war er wieder am Hörer: »Der Flappmann kommt gleich.«
»Wieso Flappmann?«
»Weil er dauernd Ameisen im Hirn hat«, stöhnte der gequälte Erzeuger. »Jetzt will er ein Apartment in Gerolstein. Und raten Sie mal, wer ihm das finanzieren soll?«
Dann war Mario am Telefon: »Eh, hallo, Baumeister, gut. Was willste denn?«
»Ich muß mit dir sprechen, wenn es geht.«
»Na sicher. Wann und wo?«
»Wie wäre es, wenn ich jetzt vorbeikomme und dich aufsammle.«
»Ja, eh, ist gut, Mann. Komm vorbei. Bis gleich.«
»Er redet immer wie im Kino«, teilte ich Rodenstock mit. »Aber er ist ein Seelchen, ein richtig netter Kerl.«
»Und was schluckt er zur Zeit?«
»Das weiß ich nicht. Aber wenn er versöhnlich gestimmt ist, wird er uns das sagen.«
»Was macht der Vater?«
»Der hat einen leitenden Posten beim Finanzamt.«
Ich fuhr über Walsdorf bis Dreis und rollte dann gemächlich durch die schöne verschneite Waldstrecke nach Rengen. Der Himmel war an manchen Stellen blau, es war minus fünf Grad, und überall standen holländische, belgische und deutsche PKW in den Mündungen der Waldwege. Ihre Besitzer waren auf und davon in die winterliche Pracht.
»Hey«, sagte Mario erfreut, als er in den Wagen stieg. »Das ist ja richtig super, dann brauche ich keinen Truthahn zu essen.« Dann sah er Rodenstock und zögerte.
»Das ist mein Freund«, erklärte ich. »Ein Ex-Bulle, damit gleich klar ist, um was es geht. Du hast doch nichts dagegen?«
»Warum soll ich was dagegen haben?« fragte er. »ExBulle ist doch gut. Die ohne Ex machen einem Streß, das sind die doofen.«
»Wie nett«, seufzte Rodenstock und schaute in den Autohimmel.
Ich gab Gas. »Es ist so, daß wir uns in aller Ruhe mit dir über Drogen unterhalten wollen, nachdem das mit Ole und Betty passiert ist.«
Mario hockte hinter uns, hatte sich genau in die Mitte gesetzt, so daß ich sein Kindgesicht im Spiegel hatte. »Weißt du schon, daß die schon tot waren, als das Feuer ausbrach? Und daß die angeblich Heroin drinhatten?«
»Sicher wissen wir das. Woher hast du es?«
»Das geht so mm.«
Ich wußte genau, daß es bei dieser Antwort keinen Sinn machte, weiter zu fragen. Er würde nicht mehr erzählen, und er würde niemals jemanden preisgeben.
»Baumeister ist der Meinung, daß wir dir vertrauen können«, setzte Rodenstock an. »Zuerst wurden die beiden umgebracht, dann spritzte jemand Heroin in sie hinein, und zum Schluß zündete jemand die Bude an.«
»In dieser Reihenfolge?« fragte er mit ganz schmalen Augen.
»In dieser Reihenfolge«, bestätigte Rodenstock.
»Und das ist kein Gequatsche, Mann?«
»Kein Gequatsche«, sagte Rodenstock. »Wir haben erfahren, daß die beiden mittags in Daun an der Hähnchenstation den Schniefke getroffen haben. Wir wissen aber nicht, wo sie getötet wurden und wann. Wir müssen also den Heiligen Abend rekonstruieren.«
»Das sehe ich ein«, nickte er ernsthaft. »Öles Vater muß ein Schwein sein.«
»Das hörten wir auch«, erwiderte ich. »Aber hier in der Eifel laufen verdammt viel Gerüchte, und für viele Gerüchte gibt es keine Beweise. Sag mal, Ole und Betty haben doch gedealt, das können wir als gegeben voraussetzen. Hast du eine ungefähre Ahnung, wieviel sie im Monat umgesetzt haben?«
»Im Monat? Wozu braucht ihr das?«
Vorsichtig, Baumeister, heißes Pflaster. »Wir brauchen es, weil wir die Szene verstehen wollen, weil wir uns einen Überblick verschaffen müssen. Es kann sein, daß sie aus Drogengründen getötet wurden. Es kann aber auch sein, daß das Motiv ganz woanders liegt. Also, wie hoch schätzt du ihren Umsatz?«
»Ich habe mit Ole geredet. Auch über Umsätze. Er setzte pro Woche zuletzt an die zehntausend um. Eh, Mann, ich weiß, das glaubst du nicht, aber es war so, es war wirklich so.«
Eine Weile herrschte Schweigen, und ich bog von Oberstadtfeld auf Neroth zu, um am Scharteberg vorbei auf Kirchweiler zuzufahren.
»Was blieb denn dabei für ihn übrig?«
»Ungefähr ein Viertel, also im Monat um die Zehntausend, sagte er.«
Ich hatte plötzlich eine Idee. »Sag mal, als du erfahren hast, daß die beiden ermordet worden sind, was war dein erster Gedanke?«
»Sowas wie: das darf doch gar nicht wahr sein. Sie wollten ja heute eigentlich nach Kanada. Sie wollten Freunde besuchen, die da drüben leben und die vorher in Stadtkyll gelebt haben. Ole hat gesagt, wenn alles glatt läuft, bleiben sie in Kanada. Ich weiß nicht, ob ...«
»Wir wissen das selbstverständlich«, nickte Rodenstock. »Wenn ich dich also richtig verstehe, dann hat Ole dir angeboten, das Geschäft zu übernehmen. Stimmt's?«
Es war still. Der Sendeturm auf der rechten Seite ragte majestätisch in ein blaues Himmelsloch. Jemand hatte eine Kurve zu eng genommen und war im Straßengraben gelandet. Er hatte das Auto einfach stehengelassen. Links brach ein Eichelhäher aus einer Krüppeleiche, und ein Fischreiher querte mit mächtigen Schwingen die Straße.
»Es ist so, Mario«, sagte ich und sah ihn im Spiegel an. »Wir werden alles herausfinden, was wir herausfinden müssen, um diese Schweine zu erwischen. Du kannst uns die Sache vereinfachen, du kannst einfach beschließen, uns zu helfen.«
»Bringt das was?«
»Selbstverständlich. An was hast du gedacht?«
»Ich hab ja Ferien, Mann. Können wir einen Tagessatz ausmachen? Ich will nämlich auch wissen, welches Schwein das war. Mensch, eh, das mußt du dir mal vorstellen: Da haben die endlich einen Weg nach Kanada, da haben die ein Visum, da haben die eisern Geld gespart und die Tickets gekauft, da freuen die sich ein Bein ab. Und dann das.«
Da hockte er und konnte das Leben in all seiner Ungerechtigkeit nicht begreifen. In jedem Ohr eine silberne Sicherheitsnadel von gewaltigen Ausmaßen, in jedem Nasenflügel einen beachtlichen Brillanten, an den Zeigefingern der linken und rechten Hand je einen silbernen Totenkopfring mit kleinen grünen Steinen als Augen. Er trug einen geradezu sagenhaft dreckigen Pullover und eine tarnfarbene Hose aus Bundeswehrbeständen. Er war ein einziger, schmaler, energischer Protest gegen diese Erwachsenenwelt, und sein blaugefärbter Hahnenkamm wirkte wie eine Flamme der Verachtung.
»Du schuldest mir eine Antwort«, mahnte ich.
Ich kam auf der kleinen Kreuzung an und bog nach links ab auf Gerolstein zu. Er hockte zwischen uns, und seine Augen waren ganz weit weg. »Ich habe es nicht glauben wollen«, sagte er.
Also eine andere Fährte, dachte ich. »Kennst du diesen Holländer, diesen Jörn van Straaten?«
»Klar, jedenfalls dem Namen nach. Persönlich nicht. Muß aber eine tolle Type sein, hat Betty immer gesagt. Sind die vollständig verbrannt?«
»Na ja, nicht ganz«, gab ich Auskunft. »Der Rest reichte für die Gerichtsmedizin. Woher kommt denn dieser Holländer? Amsterdam, Utrecht, Eindhoven oder woher?«
»Aus s'Hertogenbosch«, teilte Mario mit. »Ole und Betty waren ein paar Mal da. Sie hatten immer viel Spaß.«
»Ist dieser van Straaten ein älterer Mann, der sich langweilt?« fragte Rodenstock sanft.
»Wenn ich das richtig verstanden habe, ja. Aber, wie gesagt, ich kenne den Mann nicht.«
»Wer hat Ole und Betty beliefert?« fragte ich.
»Verschiedene Leute. Für Haschisch gibt es eben andere als für Ecstasy und so. Wer das war, weiß ich nicht, kann ich mir auch nicht vorstellen. Ich deale nicht. Woran sind sie denn nun wirklich gestorben?«
»Das wissen wir nicht«, sagte Rodenstock. »Es gibt noch einen anderen fragwürdigen Punkt. Die Kripo hat in diesem Jahr, wohl im Sommer, Ole mit fünfzig Portionen LSD erwischt. Ein Gerichtstermin in Wittlich war schon angesetzt, und er hätte todsicher in den Knast gemußt. Dann wurde das Verfahren eingestellt. Bei fünfzig Portionen LSD wird das Verfahren nie eingestellt. Was ist da passiert?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Mario viel zu schnell.
»Das glaube ich dir nicht«, erwiderte ich ruhig. »Jeder hier wußte von der Geschichte. Es wurde darüber geredet. Was hast du also gehört?«
»Darüber spreche ich nicht so gern. Das mußt du verstehen, Mann.«
»Das ist akzeptiert«, nickte ich. »Keine Frage mehr in diese Richtung. Hast du eine Freundin?«
»Na sicher. Sie geht in die Parallelklasse, sie ist aus Hillesheim und heißt Vera. Sie ist nicht auf Stoff, falls ihr das fragen wollt. Sie raucht nicht mal und ißt nur vegetarisch. Heh, Leute, habt ihr was dagegen, wenn ich mir einen Joint baue?«
Ich schaute Rodenstock von der Seite an. Er nickte sanft, und ich hörte, wie er murmelte: »Mach nur, mein Junge, wenn es dir schmeckt.«
»Wie ist die Situation mit den Bullen hier?« fragte ich.
»Bullen finden überhaupt nicht statt, Mann«, antwortete Mario. »Seitdem sie Kripo anders organisiert haben, siehst du Uniformierte, aber du siehst ganz selten nur Kripoleute. Die kommen ja kaum noch, wenn irgendwo eingebrochen wurde. Die haben keine Zeit und keine Leute. Ich habe neulich den Kremers getroffen, der hier in Daun für Eigentumsdelikte und so tätig ist. Was meinst du, Mann, was der sich geleistet hat. Eh, das ist nicht zu fassen, ist das. Also, wir treffen uns vor der Rosenapotheke, und er fragt mich, ob ich Lust habe, mit ihm im Lo Stivale 'ne Pizza zu essen. Sicher, sage ich. Also marschieren wir ins FORUM und hocken uns in eine Ecke. Da sagt er plötzlich, ich könne hin und wieder was verdienen, wenn ich ihm Bescheid stoße, wann Stoff nach Daun gebracht wird, wer den Stoff bringt und was für Stoff. Ich frage ihn, Mann, eh, du machst doch gar nicht Drogen, und er sagt, das spielt keine Rolle, er müsse alles machen, was anfällt, weil sie nicht genügend Leute haben und weil das Verhältnis zu den uniformierten Bullen scheiße wäre. Er sagt: Ein Anruf kostet dich aus einer Zelle dreißig Pfennig, und ich gebe dir jedesmal für deine dreißig Pfennig einen Blauen.«
»Du bist nicht darauf eingegangen«, stellte Rodenstock fest.
»Ich? Mann eh, bin ich wahnsinnig? Der Arsch kann mich mal. Du wirst nicht erleben, daß ich wen hinhänge. Dieser Kremers ist doch ein Arschficker, ist das. Der ist so doof, daß ihn die Schweine beißen. Irgendwie ist er auch schmierig, weil er sein Grinsen nicht mehr abstellen kann. Nein, Herr Kremers, habe ich gesagt. Und dann wollte er meine Pizza nicht bezahlen.«
Ich fuhr die 410 ein Stück nach rechts, dann durch Pelm hindurch die Nebenstraße zum Adler- und Wolfspark hoch. Mario öffnete ein kleines Stück zusammengefaltetes Seidenpapier und schüttete etwas von den braungrünen Krümeln, die darin lagen, auf den Tabak, mit dem er das Zigarettenblättchen gefüllt hatte. Er drehte ganz locker und selbstsicher, steckte sich die Tüte zwischen die Lippen, nachdem er sie der Länge nach mit der Zunge naß gemacht hatte. »Es ist grüner Afghan«, erklärte er. »Das ist ein gutes Zeug, das du normalerweise hier nicht kriegst.«
»Und woher hast du das?« fragte Rodenstock.
»Extra für Weihnachten und Sylvester«, sagte er befriedigt. »Kostet das Doppelte, ist aus Holland, aber lohnt sich auch. Jimmy hat das mitgebracht.«
»Wer ist Jimmy?« fragte ich. Sein Joint roch stark nach Vanille.
»Kennst du sowieso nicht«, wehrte Mario ab. »Jimmy ist ein Kumpel. Er hat sich einen Dreier-BMW mit dem Zwei-Liter-Motor gekauft. Damit die Finanzierung glattgeht, saust er einmal im Monat rüber nach Amsterdam und kauft gut ein. Jimmy ist fast immer gut drauf, obwohl er sein eigenes Zeug nicht raucht, und noch nie E geschmissen hat.« Er grinste. »Jimmy ist eben ein guter Handelsmann.«
»Gibt es viele solcher Typen?« fragte Rodenstock.
»Ich denke doch. Ich kenne einen, der ist nicht von hier, der verdoppelt jeden Monat sein Taschengeld durch E und zwei, drei Kilo Hasch. Was habt ihr über Betty rausgefunden?«
»Nicht viel«, sagte ich. »Eigentlich nur etwas vom Lebenslauf und so. Wie war die Story zwischen Ole und Betty? Weißt du da was drüber?«
»Ja, aber nicht viel. Anfangs war es ja so, daß sie sich gehaßt haben. Betty machte mit allen möglichen Mackern rum, und sie war auf jeder Scheißdisko, egal ob in Trier oder Koblenz oder irgendwo auf dem Dorf. Das muß so vier, fünf Jahre her sein. Damals wurde geredet, daß sie ... daß sie es eben für Geld macht. Ole wollte nichts mit ihr zu tun haben, aber sie war scharf auf Ole. Damals passierte auch die Geschichte mit ihrem Vater ...«
»Moment, was war das für eine Geschichte?« unterbrach Rodenstock.
»Der kam vor den Kadi«, sagte Mario trocken. »Sie hat ihn angezeigt, sie hat ihren eigenen Vater angezeigt, sie hat behauptet, er hat sich besoffen und sie dann geschlagen und, na ja, eben hergenommen.«
»Selbstverständlich Freispruch«, vermutete ich.
»Scheiße, Mann«, sagte er mit einem kleinen Triumph, »der Alte mußte in den Knast.«
»Wenn ich dich richtig verstehe, hat die Betty mit vielen Männern geschlafen. Und das, nachdem ihr Vater verurteilt worden ist, wegen ...«
»Moment, nicht ganz so«, sagte er sachlich. »Sie hat einwandfrei als Nutte gearbeitet. Sie hat die Macker bezahlen lassen. Sie hat mir mal gesagt, das wäre die einzige Möglichkeit gewesen, ein paar Groschen für sich selbst zu haben. Sie war zwanzig, da kriegte sie sonntags fünf Mark Taschengeld. Sie wollte immer von zu Hause weg, und wenn damals der Blödeste ihr gesagt hätte, er würde sie heiraten – sie hätte ihn geheiratet, bloß um wegzukommen. Tja, und dann kam eben Ole. Er hat ihr gesagt, daß sie es nicht nötig hätte. Er würde für sie sorgen, und da brauchte sie es nicht mehr zu tun.«
»Und«, fragte Rodenstock sehr scharf, »hat sie es nicht mehr getan?«
Ich sah Marios Gesicht im Spiegel, ich beobachtete, wie er plötzlich rot wurde, wie sein Blick abirrte, wie er verzweifelt nach einer Antwort suchte, wie er sagte: »Das weiß ich nicht. Woher soll ich denn sowas wissen, Mann?«
»Du mochtest sie sehr gern, nicht wahr?« fragte ich nach.
Jetzt antwortete er nicht, er hatte sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen und war nicht mehr bereit, etwas zu sagen, er mochte uns plötzlich nicht mehr. Er rutschte auf dem Sitz zurück, er rutschte in die Ecke und starrte hinaus.
»Du hast mit Betty geschlafen«, bemerkte Rodenstock beinahe gemütlich. »Das heißt, sie hat mit dir geschlafen. Wahrscheinlich war sie die Frau, die dir zeigte, wie das ist – mit einer Frau zu schlafen.« Er schien nicht unsicher, er hatte keinen fragenden Unterton in der Stimme, er stellte nur etwas fest, und ich gestehe, daß ich ihn wegen seiner gottverdammten Arroganz in diesem Augenblick maßlos bewunderte.
Er wandte sich mir gelassen zu. »Ich bin ein alter Mann mit vielen Erfahrungen. Es geht hier um Mord, und das ist kein Wettbewerb im geschickten Lügen. Könntest du mich zu Hause absetzen?«
»Selbstverständlich«, nickte ich und hatte ein wenig Mitleid mit Mario, der sich jetzt sicher gelinkt vorkam. Ich gab also Gas, um den Druck auf Mario nicht allzu intensiv werden zu lassen. Ich fuhr über Hillesheim nach Hause, setzte Rodenstock vor der Tür ab. Knapp verabschiedete er sich von Mario: »Mach es gut, junger Mann.«
Dann fuhr ich weiter.
»Was will der eigentlich?« fragte Mario aufgebracht. »Mann, eh, ich würde wirklich gern wissen, was der Arsch sich einbildet. Das geht ihn doch gar nichts an, was zwischen Betty und mir war, oder? Mann, eh, das ist ein Arsch, dieser Opa.«
»Quatsch«, widersprach ich fröhlich. »Der Mann war sein halbes Leben lang Leiter einer Mordkommission. Und er ist einer der besten, das kannst du glauben. Er hat dir auf die Zahn gefühlt. Und weil er recht hatte, warst du so verdattert, daß es dir die Sprache verschlagen hat. Was ist denn dabei zuzugeben, daß eine gute Type dir das Bumsen beibrachte. Das ist ihm genauso ergangen und mir auch. Also, was soll's?«
»Na ja, ich kann diese alten Knacker nicht leiden, die immer ganz genau wissen, wie das Leben so spielt. Die sind ja wie mein Vater. Der behauptet auch immer, nichts wäre ihm fremd, alles weiß er, alles kann er steuern. Aber daß meine Mutter mit dem Verkäufer von der Tiefkühlkost rummacht und sich auf der Tischtennisplatte ... na ja, davon hat er wirklich keine Ahnung.«
»Mein Freund Rodenstock ist einfach sauer«, sagte ich behutsam. »Er ist ein Typ, der immer auf der Seite von Leuten wie Ole und Betty war. Und er kann es nicht vertragen, wenn jemand hingeht und diese Leute einfach umnietet. Er haßt Gewalt.«
»Wieso behauptet er dann einfach, daß Betty mit mir geschlafen hat, obwohl er keine Ahnung hat und nicht dabei war?«
»Er spürt dein Gefühl für Betty«, erklärte ich.
»Aber wenn es nicht so war?« Er schrie fast.
»Sieh mal, Mario«, murmelte ich. »Es war aber so. Und es war ja auch richtig so. Hat Ole davon erfahren?«
Er schwieg unendlich lange. »Er wußte es nicht«, gab er schließlich heiser zu. »Und sie hat ja auch nie mehr Geld genommen. Ach, Scheiße ist das alles. Ich habe Betty gewarnt, daß das mit dem Dealen schiefgehen kann. Aber sie wollte nicht hören, sie wollte nur mit Ole nach Kanada. Sie sagte immer: Ich liebe Ole, und wenn es das Letzte ist, was ich tue: Ich liebe ihn in jeder Sekunde.«
»Und was hat Ole über Betty gesagt?«
»Du hast ja Ole nicht gekannt«, er hatte plötzlich ein leichtes Stottern in der Stimme. »Ich habe mal erlebt, wie Ole total besoffen war und die Nerven verlor und sie anschrie: Mach meine Liebe nicht kaputt. Das ist das Einzige, was ich besitze. Immer wieder schrie er, daß das das Einzige sei und heulte dabei. Stell dir das vor, Mann, eh, er heulte wirklich Rotz und Wasser. Und ein anderes Mal hat sie gesagt, er würde seinen verdammten Manta mehr lieben als sie. Da bremste er die Karre, fuhr rechts ran und legte sich unter die Karre. Er ließ das Öl ab. Das Ganze, ohne zu reden, verstehst du? Und dann startete er und fuhr ein paar Kilometer. Da waren fünfzigtausend Mäuse im Arsch. Ich sage dir, der war ein Wahnsinniger.«
»Mario, ganz ernsthaft: Hast du eine Idee, wer für diese Sauerei verantwortlich sein könnte?«
Er starrte an mir vorbei durch die Windschutzscheibe, und Tränen liefen aus seinen Augen. »Ich weiß es nicht, Mann, ich habe keine Ahnung. Ich kann an gar nichts anderes mehr denken. Ich habe gedacht, vielleicht war es jemand, der diese Szene hier übernehmen will. Aber da sehe ich keinen. Ich habe auch gedacht, daß es vielleicht sein Vater gewesen ist. Der hat immer gewollt, daß Ole den Hof übernimmt. Das ist ja ein Riesenhof. Aber Ole ist abgesprungen und hat gesagt, er wäre keiner, der auf einer Zugmaschine sitzt, pflügt und den Mähdrescher fährt und solche Sachen. Ich habe alles mögliche gedacht, Mann, eh, wirklich alles mögliche. Ich komm nicht weiter.«
»Dauerte deine Geschichte mit Betty lange?«
Wieder Ruhe, wieder Spannung, wieder Druck.
»Es war doch keine Geschichte«, murmelte er. »Ich hatte damals noch nie ... na ja, ich hatte noch nie mit einer Frau geschlafen. Und da ergab es sich so, daß Ole in Belgien oder in Holland war. Und ich war bei ihnen ...«
»Moment mal, in der Scheune?«
»In der Scheune«, bestätigte er. »Wir haben was getrunken, Betty und ich. Und ich habe ihr gesagt, daß ich ..., also, daß ich keine Erfahrung habe und so. Da sagte sie: Moment mal, das haben wir gleich, und ...«
»War es schön?« fragte ich.
Er nickte, dann schwieg er, bis wir vor seinem Elternhaus standen. »Jetzt muß ich doch diesen Scheiß-Truthahn essen.« Mario sah mich an. »Du hattest recht. Ole wollte, daß ich sein Geschäft übernehme. Ich will das aber nicht.« Er starrte in die Luft. »Ich bin zu jung, und ich kann das meinem Vater nicht antun. Und Vera sagt, wenn ich was mit Stoff habe, kann ich sie gleich abschreiben. Sie schläft nicht mit einem, der dealt. Mach's gut, Baumeister.«
»Mach es gut, Mario.« Ich wollte ihm einen Vorsprung geben, einen Vorsprung von drei oder vier Sekunden. Peter Falks Colombo hat eines blendend umgesetzt: die wirklich wichtigen Fragen kommen spät, fast zu spät. Mario hatte die kleine Treppe vor der Haustür schon hinter sich und fummelte die Schlüssel aus der Jeans. »Sekunde«, rief ich laut. »Da hätte ich fast etwas vergessen.«
Er drehte sich und kam zurück an den Wagen. »Ja klar, Mann, wir haben vergessen, zu welchem Tagessatz ich mitmachen kann.«
»Richtig. An was hast du gedacht?«
»Können wir einen halben Blauen pro Tag machen?«
»Wieviel Tage?«
»Na ja, solange ihr mich braucht.«
»Einverstanden. Aber noch was: Wieso kam Ole überhaupt auf die Idee, dir das Geschäft anzubieten?«
»Na ja, er kennt mich lange, zwei, drei Jahre. Er weiß, daß ich den Mund halte und daß ich keinen bescheiße. Er weiß auch, daß ich niemals zuviel kiffe und daß ich kaum E schmeiße oder andere Pillen. Wir haben ja auch oft geredet. Jedenfalls hat er das gesagt.«
»Er hat dich am Heiligen Abend gefragt, nicht wahr? Er ist von der Hähnchenstation in Daun zu dir gekommen? Komm schon, Mario, hilf mir.«
»Er ist nicht zu mir gekommen, wir haben uns getroffen. Auf Platz drei.«
»Was ist Platz drei?«
»Die BP-Tankstelle in Daun. Da ist immer viel Betrieb. Wir tankten und sahen Öl nach und Frostschutzmittel und so.«
»Wieviel Uhr war es, Mario?«
»Es war Punkt ein Uhr mittags. Ich weiß das deshalb so genau, weil meine Eltern sauer waren, daß ich nicht pünktlich zum Essen kam. Wir haben das ein bißchen gezogen, das Treffen meine ich. Irgendwie war das bescheuert, weil ich sie ja nie wiedersehen würde. Sie hatten die Tickets nach Kanada, sie wollten heute fliegen. Und Ole war komisch drauf. Er sagte: Mensch, Kleiner, du wirst uns fehlen. Du mußt uns unbedingt besuchen, Kleiner. Er sagte immer Kleiner zu mir. Er war die ganze Zeit kurz davor zu heulen. Dann stieg Betty aus und machte was Komisches. Du kannst an der Tankstelle auch Blumen kaufen. Die kriegen die jeden Tag aus Holland. Betty kaufte einen Strauß Tulpen. Sie gab sie mir, und sie weinte. Scheiße war das.«
»Noch etwas zum Schluß: An wen wenden sich die Kids denn jetzt, wenn sie Stoff wollen? Wer macht Öles Geschäft?«
»Das weiß ich nicht, Mann. Ich weiß es wirklich nicht.«
»Dann solltest du heute noch versuchen, Stoff zu kaufen«, schlug ich vor.
Mario grinste. »Das ist Anstiftung, Mann. Aber ich hätte das sowieso getan.« Er nickte mir freundlich zu, wie lebenserfahrene Opas das so tun.
»Hat Ole an der Tankstelle denn nicht gesagt, wohin sie anschließend fahren wollten?«
»Daran mache ich doch schon rum, Mann. Ole mit Sicherheit nicht. Betty hat was gesagt. Sie müßten noch was aufnehmen.«
»Was heißt das deiner Meinung nach?«
»Sie haben irgendwo wen getroffen, um Stoff zu übernehmen. Und darin waren sie Klasse. Sie trafen sich niemals richtig, sie machten Stipvisitendeals. Sie fuhren ihre Karren auf einem Wirtschaftsweg oder einer Nebenstraße aneinander vorbei, machten die Fenster auf und kriegten das Zeug in den Wagen geschmissen.«
»Und das Geld.«
»Das Geld läuft immer getrennt. Das kriegt man dann, wenn man sich zum nächsten Mal trifft. Und man kriegt es auf die gleiche Tour. So kannst du niemals was nachweisen, die Bullen könnten hundert Meter entfernt stehen, sie hätten keinen Beweis.«
»Und du hast auch keine Ahnung, wer ihnen Stoff brachte, was das war und woher es kam?«
»Nichts«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Man sieht sich, Mann«, meinte er dann und sprang die Treppe hinauf.
Ich fuhr heim. Rodenstock war dabei, Holz aus der Garage zu schleppen. »Es zieht an«, erklärte er, »es wird wirklich kalt. Wir haben minus acht. Wie war es?«
»Viel Gefühl«, sagte ich. »Ole, Betty und Mario waren eine Familie, und sie meinten es verdammt ernst.«
Rodenstock ging vor mir her durch den Flur und legte den Arm voll Holz auf den Korb neben dem Ofen.
»Etwas macht mir Kummer, Baumeister«, murmelte er. »Du hast den Humor verloren. Ständig sieht man deinen Zeigefinger. Du dozierst über Drogen wie ein Oberlehrer. Du bist wie ein beschissener Pädagoge, der die Nation belehren will.«
»Ist das wirklich so schlimm?«
»Noch viel schlimmer«, muffelte er.
»Ich bin Alkoholiker, Rodenstock, ein blütenreiner Suffkopp. Ich habe ein Jahrzehnt meines Lebens versoffen, ich weiß nicht mehr, was damals war. Wenn es um Drogen geht, raste ich aus.«
Er starrte mich an und lächelte dann. »Wie lange ist das her?«
»Zehn Jahre. Aber es ist noch immer wie gestern. Tut mir leid. Komm her, ich habe rohen Schinken und einen uralten Gouda.«
»Das ist gut«, nickte er. »Also riechst du, wenn jemand süchtig ist?«
»Ja. Schwule riechen sich. Ich rieche Süchtige.«
»Ist Mario süchtig?«
»Mit Sicherheit nach dem Leben. Nicht nach irgendeinem Stoff.«
»Du siehst jetzt, wozu es gut war«, murmelte er. »Wie schlimm ist denn Haschisch wirklich?«
»Verdammt harmlos im Vergleich zu Alkohol. Das ist auch ein Punkt, der mich aufregt. Die braven Eltern fürchten Haschisch wie der Teufel das Weihwasser. Aber sie sind nicht bereit zu akzeptieren, daß die Suchtpotenz bei Alkohol tausendmal gefährlicher ist. Es gibt keinen Haschischtoten auf dieser Welt, aber allein 60.000 Alkoholtote pro Jahr in diesem kleinen Land.« Ich mußte grinsen. »Das war das Wort zum Sonntag.«
Rodenstock hockte sich an den Küchentisch. »Ehe ich es vergesse, Dinah ist auf dem Weg hierher. Sie rief eben an und hatte nur eine einzige wütende Frage. Und die lautete: Recherchiert ihr etwa schon? Sie hat es im Fernsehen gesehen, sie wird viel Gas geben.« »Das ist gut«, sagte ich. »Das ist sehr gut.«