bildet. Meistens gelingt das. Der Mann, der unermüdlich Bier zapfte, sah mich mürrisch an, als wolle er mich fragen, wieso ich nicht in eine andere Kneipe gegangen sei.

  »Einen Kaffee«, brüllte ich.

  »Nur Kännchen!« schrie er zurück.

  »Dann Kännchen.« In dem Winkel, den ich erobern wollte, saß ein schwergewichtiger Vollbart und schlürfte ein Glas Wein, das bestimmt aus einer Zweiliterflasche Kälterer See stammte.

  »Irrer Betrieb«, meinte ich.

  »Das müßtest du mal am Sonnabend erleben«, erwiderte er und machte mir gutmütig für meinen Kaffee Platz.

  »Ein Bekannter hat mir erzählt, die rasante Moni würde hier bedienen, und ich weiß nicht mal, wie sie aussieht.«

  »Die da!« sagte er so stolz, als sei er ihr Eigentümer.

  Die Moni war knabenhaft schlank, in einem ganz kurzen schwarzen Kleidchen, das kaum ihren Po bedeckte. Sie hatte schulterlanges schwarzes Haar, trug eine kleine weiße Schürze und, als I-Tüpfelchen, ein Paar Netzstrümpfe, die ihr mehr als einen Hauch von Irma la Douce verliehen. Ihr Gesicht war sehr stark geschminkt, aber offensichtlich war sie auch ohne Schminke eine sehr hübsche Frau. Sie mußte Carlo fasziniert haben.

  Sie sagte zu dem Mann am Bierhahn: »Sechzehn Kölsch, drei Cola, sechs Frikadellen, eine Schachtel Lord«, dann sah sie mich an, weil sie auf die kurze Distanz nicht an mir vorbeisehen konnte.

  »Schöne Grüße von Carlo«, sagte ich in ihr Gesicht.

  Plötzlich wurden ihre Züge müde und steinhart. »Das muß lange her sein. Er ist tot.«

  »Ja. Wir sprachen über dich. Ich habe ihn gefunden.«

  »Scheiße!« sagte sie heftig und sah auf einmal so aus wie ein Clown, der zu weinen beginnt, weil man ihm sein Saxophon geklaut hat.

  »Bist du noch 'ne Weile hier? Ich meine, ich habe jetzt keine Zeit.«

  »Ich bin noch hier«, sagte ich.

  Sie drehte sich ab, nahm das Tablett und steuerte damit wie eine Schlafwandlerin durch die Tischreihen.

  »Bist du ein Freund von Carlo?« fragte der Bärtige.

  Ich nickte.

  »Stimmt das, daß er sich mit seinem Motorrad verabschiedet hat?«

  »Ja.«

  Ich wollte gerade eine Geschichte erfinden, als ich im Eingang den kleinen nervösen Wieselflinken und die Bohnenstange sah, die vor Mechernichs Fleischerladen Wache geschoben hatten. Sie musterten mich verkniffen und waren offensichtlich nicht gewillt, mich aus dieser Rattenfalle entkommen zu lassen.

  »Ach je«, murmelte ich, »schon wieder Kumpels. Würdest du der Moni sagen, daß ich später wiederkomme?«

  »Na sicher doch«, sagte er.

  Ich ging den beiden entgegen und sagte dem Langen ins Gesicht: »Machen Sie keinen Lärm, ich komme freiwillig mit.«

  »Das wollte ich Ihnen auch geraten haben«, sagte er in einem Ton, als hätte ich ihn persönlich beleidigt.

  »Und wohin geht es jetzt? Bloß nicht wieder in eine dunkle Ecke.«

  »Zum Chef«, sagte der Lange.

  »Sagen Sie, arbeiten Sie eigentlich freiberuflich?« fragte ich freundlich. »Freiberufler sind immer so schlecht ausgebildet.«

  Der Kleine guckte mich an, als wollte er mich fressen, sobald er größer wäre. Dann nahmen sie mich in die Mitte und verfrachteten mich auf die Rückbank eines Opel Vectra. Der Lange sagte in einen Telefonhörer: »Sieben meldet Ankunft in zehn Minuten.« Dann sprachen sie kein Wort mehr.

  Es ging die Godesberger Allee entlang, dann nach rechts hinein, wo das Schild steht, daß es dort zum Studio des ZDF und zum Zentralfriedhof geht. Beides lockte mich nicht. Sie fuhren vor einem Block vor, der an Langeweile nichts zu wünschen übrig ließ, und fuhren mit mir im Lift bis ins sechste Stockwerk. Dann ging es einen Gang entlang zu einem Raum im äußersten Winkel. Hinter dem Schreibtisch hockte mein kugeliger, dicker Freund, Oberst Werner Bröder.

  »Setzen Sie sich dort auf den Stuhl. Ihr könnt uns allein lassen.« Dann, als sie draußen waren: »Ich habe nicht vor, mir das bieten zu lassen!«

  »Sehen Sie es einmal von der menschlichen Seite«, wandte ich ein. »Ich war der Mann, der den toten Carlo im Wald fand.«

  »Aber deswegen waren Sie doch nicht bei seinen Eltern«, sagte er.

  »Doch«, widersprach ich, »genau deswegen.«

  Er versuchte, gelangweilt zu wirken. »Ich will nicht mit Ihnen streiten. Sie recherchieren. Sie haben sogar in Berlin recherchiert. Ich halte keine Stunde mehr still, ich lasse Sie verhaften, wenn sich das wiederholt.«

  »Dann haben Sie mir also den Berliner Schläger geschickt.«

  »Machen Sie sich doch nicht lächerlich«, murmelte er voll Verachtung. »Es ist nicht meine Sache, wenn Sie unter Verfolgungswahn leiden.«

  »Sicherlich.« sagte ich. »Worte der Unschuld.«

  »Sie haben trotz der Auflagen recherchiert«, stellte er erneut fest und machte deutlich, daß er mit Typen wie mir nicht konnte und auch nicht können wollte.

  »Das ist doch offensichtlich auch nötig. Vergessen Sie nicht: Ich bin fast immer schneller als Ihr Verein«, sagte ich. »Ich teile Ihnen also offiziell mit, daß ich weiter recherchieren werde.«

  Ich hatte das Katz-und-Maus-Spiel endgültig satt. Ich wollte wissen, wie weit er gehen würde.

  Er sah mich verblüfft an. Dann faßte er sich wieder. »Demokratie ist sicher eine feine Sache«, führte er aus, »aber sie erfordert Disziplin. Sie haben keine Disziplin. Mit anderen Worten: Es wäre Ihnen vermutlich nur recht, wenn ich Sie festnehmen ließe. Denn dann würden Sie darüber auch noch schreiben. Aber warten Sie, da haben wir ganz andere Methoden.«

  »Jetzt langt's mir aber. Ich habe das alles auf Band; mit den Photos müßte sich das großartig machen.« Ich hoffte, ich klang eiskalt. »Und falls einer Ihrer frustrierten Typen mich auch nur beim Pinkeln behindert, komme ich vorbei und haue Ihr Büro zu Klump.«

  »Das darf doch nicht wahr sein.« Er war so entgeistert, daß ihm nichts mehr einfiel.

  »Doch, doch, und ob. Sie können sich darauf verlassen.« Ich drehte mich um und marschierte hinaus. Auf dem Gang war niemand zu sehen. Ich wußte, daß ich ihn zu hart angegangen hatte, aber das war jetzt nicht mehr zu ändern. Außerdem hatte es mir gut getan. Jetzt aber hieß es nichts wie weg. Ich rannte, so schnell ich konnte, auf die Glastür zu, die am Ende des Korridors zwischen mir und dem Lift war. Aber ich riß sie nicht auf, denn dort standen drei Männer und sahen mir gespannt entgegen. Ich machte hastig kehrt, irgendwo mußte doch ein Treppenhaus sein. Die letzte Tür war geöffnet, ich sah in ein noch nicht verputztes Treppenhaus mit rot gestrichenem Eisengeländer. Als ich um die Ecke sprintete, sagte jemand gutgelaunt und guttural: »Komm nur!«

  »Na sicher doch«, sagte ich mit falscher Munterkeit. Ich dachte flüchtig, daß es besser sei, in so einem miesen Treppenhaus verprügelt zu werden, als den feinen Velours vor den Lifts vollzubluten. Da war plötzlich soviel Zynismus in mir, daß ich fragte: »Ich habe eine neue Brille auf. Darf ich die absetzen?«

  Er war ein eher unscheinbarer junger Mann in Jeans und einem T-Shirt, auf dem ein Duschmittel Reklame machte. Er trug selbst eine Brille. Das irritierte mich so, daß ich hastig fragte: »Nehmen Sie denn die Brille nicht ab?«

  Er nahm sie ab und grinste. Ein wenig breitbeinig stand er auf dem rauhen Beton des Treppenabsatzes unter mir und sagte mit sehr viel Vorfreude in der Stimme: »Komm doch!« Vielleicht war er fünfundzwanzig, vielleicht dreißig. Er trug sein dunkelbraunes Haar ganz ähnlich wie Elvis Presley in >Aloha from Hawaii<, und er spreizte seine Hände so, daß sie wie Klauen aussahen.

  »Es ist wie beim Zahnarzt«, sagte ich; mir kam das alles furchtbar absurd vor. »Je näher man dem verdammten Liegestuhl kommt, um so eher sind die Schmerzen vorbei. Können Sie das eigentlich?«

  »Was?« fragte er irritiert.

  »Auf Befehl verprügeln.«

  »O ja«, antwortete er vergnügt. »Das werden Sie'gleich sehen.«

  Ich hatte noch zwei Stufen zu gehen. »Sie sind ein armer Irrer, ein ganz dummer Mensch.« Ich dachte, daß es zweckmäßig sein könnte, zu ihm hinunterzuspringen. Ich sprang.

  Er hatte es natürlich kommen sehen, machte einen langen, eleganten Schritt zur Seite, und ich sah sehr alt aus, als ich an ihm vorbei auf den Beton stürzte und mich nicht einmal gut abfangen konnte.

  Hinter mir stellte er fest: »Das sind mir die liebsten. Die die schlimmste Arbeit selbst machen.«

  Ich hockte auf dem Beton, und mein rechtes Knie und mein linker Ellenbogen taten höllisch weh. Ich sah ihn wie in Zeitlupe agieren und hatte plötzlich Angst. Er stellte sich auf dem linken Bein in Positur, als wollte er eine Pirouette drehen, aber statt dessen sprang er fast ansatzlos mit dem rechten Bein voran auf mich zu.

  »Heh!« schrie ich, warf mich zur Seite und fiel hart auf die Betonstufe unter mir. Durch meine ungelenke Bewegung verfehlte er mich und kam schwer und hart auf. Sein Gesicht war ganz dicht vor meinem, und ich sah, wie seine Augen sich kurz schmerzhaft schlossen. Ich hörte ihn unnatürlich laut atmen, und wie in einer stark verlangsamten Filmsequenz sah ich seinen Kopf schwer auf meinen Unterschenkel herunterfallen. Ich zog die Beine an, murmelte >pardon< und trat zu. Blut schoß aus seinem Mundwinkel, seine Augen verloren den Glanz, und bewußtlos sackte er auf der untersten Stufe zusammen.

  Nach einigen Schritten gehorchte mein Körper wieder. Ich erwartete, daß irgendwo auf dem nächsten Absatz andere Männer auf mich warteten, aber da war niemand. Ich kam auf der Rückseite des Blocks aus einer Tür. Nach einigen Minuten Spaziergang durch eine labyrinthartige Betonwüste erreichte ich eine Schnellstraße und hockte mich erschöpft ins Gras. Nach zwanzig Minuten gelang es mir, ein Taxi anzuhalten. Ich ließ mich an die Godesberger Fußgängerzone heranfahren, überquerte sie zu Fuß und erreichte mein Auto. Niemand war zu sehen, aber ein umsichtiger Mensch hatte alle vier Reifen zerstochen.

  Aus der nächsten Telefonzelle rief ich Germaine an. »Hör zu, keine Zeit für Fragen. Ich bin in massiven Schwierigkeiten. Pack bitte Hemden, Jeans und Unterwäsche in eine Reisetasche. Dazu noch den kleinen blauen Sack, der auf dem Dachboden liegt. Du gehst in Richtung Steinbruch und deponierst das alles hinter dem riesigen Stein am Eingang des Bruchs, dann. ..«

  »Was ist denn los, verdammt noch mal?«

  »Dann nimmst du ein Taxi und fährst morgen früh hierher.« Ich beschrieb ihr, wo der Wagen stand. »Den Schlüssel lege ich auf das linke Vorderrad. Laß neue Reifen aufziehen, pump dir das Geld dazu von Isolde. Tschüß.«

  Ich humpelte vor das Blue Grass. Dort fand ich eine Bank, von der aus ich den Eingang des Lokals sehen konnte, und nach einiger Zeit beruhigte ich mich und kriegte auch die Schmerzen unter Kontrolle.

  Sie kam um Viertel nach eins aus der noch immer vollen Kneipe und sah sich um. Schnell war ich neben ihr und sagte: »Guten Abend!«

  »Wollen wir noch einen trinken?« fragte sie müde. »Oder gehen wir zu mir?«

  »Zu dir, bitte«, sagte ich.

  Nach ein paar Schritten hielt sie mich am Ellenbogen fest: »Also, ich weiß ja nicht, ob das klug von euch war, dem Carlo die Waffe zu geben. Wenn der nun einen damit umgelegt hat?«