* Viertes Kapitel

 

Wir gingen in den Garten und ließen uns unter dem Apfelbaum nieder. Wir machten alles sehr umständlich, wie es Leute so tun, die hilflos sind. Wir breiteten sorgfältig zwei Wolldecken aus, wir besorgten zwei Aschenbecher, zwei Flaschen Mineralwasser. Dann endlich:

  »Leg los, weshalb wurde er umgebracht? Und gleich die wichtigste Zusatzfrage: Wenn du so sicher weißt, weshalb er umgebracht wurde, von wem wurde er umgebracht?«

  »Na ja, von den Eisenfressern aus Brüssel.« Sie sah mich nicht an. Sie lag auf der Seite, aufgestützt auf den linken Arm, und starrte in den Garten meines Nachbarn hinüber, als gäbe es dort etwas Interessantes zu sehen.

  »Du meinst von den Leuten der NATO?«

  »Ja sicher.«

  »Und warum sollen diese heiligen Militärs das getan haben?«

  Sie lächelte, es war wie ein Glitzern auf einem stillen Wasser.

  »Sie tun so etwas nicht selbst, sie lassen es tun.«

  »Gut. Nehmen wir an, sie haben den Mord bestellt. Weshalb?«

  »Weil Otmar ihnen in die Quere kam. Weil er sagte, was sie seit Jahrzehnten für einen Mist gebaut haben. Er sagte, daß sie ihre Parlamente immer wieder übers Ohr gehauen haben, damit die ihnen möglichst viel Waffen kauften, weil sie die Bedrohungslage erfunden haben ...«

  »Moment, Moment, nicht so schnell. Du bist wie der Entertainer, der die Witze erzählt und die Gags vergißt. Otmar Ravenstein ist nicht der erste General, der die NATO kritisiert, und er ist nicht der erste General, der deshalb kaltgestellt wurde. Niemand wird auf die Idee kommen, ihn deshalb erschießen zu lassen, auch wenn ein toter General sicher ein bequemer General ist. Außerdem ist die Öffentlichkeit zu groß, meine Kollegen passen gut auf.«

  »Ach nee.« Sie grinste ohne jede Heiterkeit. »Du hast erlebt, wie er umgebracht wurde und wie sofort die totale Nachrichtensperre kam. Große Öffentlichkeit? Nein, mein Lieber, bleib auf dem Teppich!«

  »Du behauptest also, daß die NATO-Leute ihn umbringen ließen, aber du hast keine Beweise?«

  »Es muß so sein. Er hat nämlich berechnet, daß in jedem NATO-Land mindestens zwanzig Prozent des Verteidigungsetats absolut unsinnig sind. Das sind viele Milliarden Dollar. Ich kann mir vorstellen, daß Generale ziemlich gemein werden, wenn jemand ihnen das Spielzeug klauen will.«

  »Das leuchtet ein, aber bestellter Mord? Und außerdem war dieser General aus dem Geschäft raus, er hat den Dienst quittiert...«

  »Einspruch. Otmar Ravenstein war gerade erst dabei, wirklich gefährlich zu werden.«

  »Woher weißt du denn das, wenn du dich nicht einmal getraut hast, zu ihm zu gehen und ihn anzupumpen? Am besten erzählst du deine und des Generals Geschichte von Anfang an. Deine Behauptung, die NATO habe ihn umlegen lassen, wird nie zu beweisen sein und widerspricht jeder Erfahrung.«

  »Barschel widersprach auch jeder Erfahrung.« Sie war wieder wütend.

  »Die NATO braucht nicht morden zu lassen. Sie macht einfach ihren großen Eisschrank auf. Also: Deine Geschichte.«

  »Da!« sagte sie erschreckt mit großen Augen. »Da an der Mauer schleicht was!«

  »Das ist Kleopatra, eine Kreuzotter.«

  »Eine Giftschlange im Garten?« fragte sie entsetzt.

  »Es ist mein Garten und meine Kleopatra, und sie wird dich niemals beißen, vorausgesetzt, du trittst ihr nicht auf den Schwanz.«

  »Darauf verläßt du dich?«

  »Ja.«

  »Du kannst keine Ahnung von Frauen haben. Und was ist, wenn Krümel sie in den Schwanz beißt?«

  »Krümel ist eine hochintelligente Katze, sie beißt nicht so ohne weiteres in fremde Schwänze.«

  »Du bist ein engstirniger, arroganter Macho.«

  »Die Frauen haben mich so erzogen. Los jetzt.«

  Sie legte sich umständlich zurecht. »Was ich von der Geschichte des Generals weiß, ist meine eigene Geschichte. Weniger eine Geschichte, eher eine Katastrophe. Mein Vater würde sich im Grabe herumdrehen ... Ich bin Jahrgang 1956. Mein Vater war evangelischer Pfarrer in Berlin. Er war mein Halleluja-Mann. Er lebte mit himmlischen Heerscharen und jubilierenden Engeln und der gewaltigen Streitmacht Gottes und so. Mami war ursprünglich wohl auch so, jedenfalls war sie eine Pfarrerstochter. Die Ehe mußte furchtbar gewesen sein, jedenfalls zu dem Zeitpunkt, als sie mich zeugten. Über unserem Leben hing das Zitronenwort. Wenn ich später mit Mami kicherte und alberte, pflegte sie zu sagen: Beißen wir schnell in eine Zitrone, Kind, damit Papi nicht merkt, wie wohl wir uns fühlen. Sie hatten sich meilenweit auseinander entwickelt. Papi wurde immer himmlischer, und Mami entdeckte irdische Wohltaten, zum Beispiel den eigenen Körper, den Orgasmus und was weiß ich. Papi bekam dann einen Krebs am Magen und am Darm. Er starb einen elenden Tod, ich war zwanzig, hatte gerade mein Abitur gemacht und war in jeder Beziehung eine Jungfrau. Mami erholte sich ziemlich schnell und wurde in der Frauenbewegung aktiv, was auf gut deutsch heißt, daß sie bald als eine unerschrockene Feministin galt. Sie benutzte diesen Feminismustrubel, um mit wahnwitziger Geschwindigkeit ein Bataillon von Liebhabern zu verschleißen. Ich guckte fasziniert zu. Angeekelt war ich aber auch ...«

  »Germaine, sie haben Otmar Ravenstein erschossen. Du erzählst mir hier die Geschichte von deiner leistungs-bumsenden Mutter. Ich brauche aber die vom General!«

  »Aber seine Geschichte ist meine Geschichte«, erwiderte sie traurig.

  »Du kannst mir deine Geschichte später erzählen. Wir haben keine Zeit, versteh das doch! Wann tauchte er auf?«

  »Ja, ich verstehe.« Sie streichelte die Wolldecke. »Also, ich lebte in einer Wohngemeinschaft in Schwabing. Ich war vierundzwanzig, keine Rede mehr von Studium. Ich hatte ein bißchen Medizin gemacht, dann Philosophie. Aber eigentlich diskutierte ich mehr über den Kaloriengehalt von männlichem Samen als über Kant und Bloch. Dann tauchte der General auf.« Ihre Stimme war sanfter und leiser geworden, als versuchte sie herauszufinden, ob sie diese Germaine von damals wohl leiden könnte. »Wir waren in irgendeiner Disco und amüsierten uns über ihn. Er war allein, und er lachte für sich allein. Hast du ihn mal lachen sehen? Ich weiß noch, man merkte deutlich, wie scheißegal wir ihm waren. Er saß am Nebentisch, trank Sekt und klopfte den Takt zur Musik. In meiner Clique war einer namens Ulrich, ein ziemlich aggressiver Typ aus dem Sauerland. Der ärgerte sich über die fröhliche Gelassenheit dieses nicht mehr jungen Mannes, ging an seinen Tisch und fragte ihn, ob er nicht seine Schwester kaufen wolle. Otmar sah ihn lächelnd an und fragte, ob er denn nicht seine dumme Schnauze halten könne. Wörtlich. Da wollte der Ulrich dem General an den Kragen und lag plötzlich mit zwei gebrochenen Armen auf der Tanzfläche.«

  »Bist du ganz sicher, daß du in der Erinnerung nichts verherrlichst?«

  »Nein, nein, das war genau so. Was der General mit Ulrich getan hatte, bezog ich auf mich. Ich dachte plötzlich: Wir sind eine kleine, miese, traurige Truppe voller Scheißangst, das Leben endlich wirklich zu leben. Zu der Zeit war Otmar Lehrer an der Bundeswehrakademie in München und schon irgend etwas Haushohes bei der NATO. Das war 1980/81.«

  »Ihr wurdet also Freunde.«

  »O ja, ich habe ihn nicht mehr aus den Klauen gelassen. Anfangs wollte ich ihn bloß haben. Wieder mal ein Quickie auf einem Mehrzwecksofa. Aber da lief nichts. Wir kamen ins Gespräch, ich erzählte ihm etwas von mir. Jedenfalls zog ich zwei Tage später aus der Wohngemeinschaft aus, ich sah die Clique nie wieder, ich zog um ..

  »Er half dir dabei. Zahlte er die Miete?«

  »Ja. Er fand in Bogenhausen eine winzige Zweizimmerwohnung, managte den Umzug und so. Wir gingen ins Kino und ins Theater, und ich wartete darauf, seine Geliebte zu werden. Aber das wollte er nicht, warum, das begriff ich erst später. Ich entdeckte allmählich, wie wichtig er in der Bundeswehr war, aber er lachte nur darüber. Er schenkte mir eine Glasmenagerie, lauter kleine Tiere aus Glas. Die schleppe ich noch heute mit mir rum. Er war nur vorübergehend in München, bald kam er nach Washington, und da war er ein King ...«

  »Wann war das genau?«

  »Anfang 1982. Ich studierte wieder Philosophie, und es machte mir Spaß. Ich bekam ein paar Freunde, wirkliche Freunde.«

  »Hast du ihn nie gefragt, weshalb er dich nicht zur Geliebten haben wollte?«

  »Doch, sicher. Er antwortete, ich sei seine Tochter. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ich habe einige Zeit gebraucht, das zu akzeptieren.«

  »Als was ging er nach Washington? Was für ein General war er?«

  »Eigentlich Panzerspezialist. Aber er war längst Manager. In Washington war er zuständig für alle deutschen Soldaten, die in den USA und Canada ausgebildet werden.«

  »Wann hast du ihn wiedergesehen?«

  »1983, als ich heiratete und selbst nach Washington ging.«

  »War das Zufall?«

  »Tja, das wüßte ich selbst gern. In meinem Bekanntenkreis in München gab es jedenfalls einen jungen Mann namens Homer, ein Deutscher mit englischer Mama. Er studierte Wirtschaftswissenschaften und wollte in den diplomatischen Dienst. Er war fuchsblond mit schneeweißer Haut und so vielen Sommersprossen, daß ich mit dem Zählen nie zu Ende gekommen bin. Homer stand eines Abends auf der Matte und fragte mich, ob ich seine Frau werden wollte. Einfach so.«

  »Und du hast ja gesagt.«

  »Nicht sofort. Er hatte sehr genaue Pläne. Studium, dann Diplomatenschule in Bonn, dann erste Entsendung ins Ausland. Nichts dem Zufall überlassen. Und es war schon sicher, daß er die ersten drei Jahre in Washington machen würde. Na ja, ich habe ein paarmal mit ihm geschlafen, und dann haben wir angefangen, Zukunftspläne zu machen. Als er in Bonn noch drei Monate Drill für Amerika bekam, haben wir geheiratet.«

  »Wußte der General, daß du kommst?«

  »Natürlich. Wir schrieben uns dauernd. Er war richtig zufrieden. Es war, als käme ich nach Hause.«

  Krümel kam durch die Sonne und legte sich schnurrend an Germaines Bauch. Ich stopfte mir eine Pfeife und fragte mich, ob Germaines Lebensgeschichte mir überhaupt weiterhelfen könnte.

  »Wie war Homer?«

  »Er hatte seine Karriere, ich war sein Vorzeigestück. Er sprach nie über sich. Nicht, weil er verschlossen war, sondern weil er dachte, ich wisse alles. Die Ehe war keine, und der Sex wurde schnell fade. Weil es gerade in war, als Diplomatenfrau einen Halbtagsjob zu machen, mietete ich ein Apartment im Univiertel Georgetown, da, wo Washington ganz dörflich ist. Ich malte, obwohl ich nicht malen kann. Homer ist ein höflicher Mann, er fand das riesig.«

  »Was war mit dem General?«

  »Tja, der General. Er lebte ein dreigeteiltes Leben. Ich wußte, daß er früher mal verheiratet war. Seine Frau war die Tochter eines stinkreichen US-Generals. Sie hatten zwei Kinder, einen Sohn, eine Tochter. Die Ehe ging schnell kaputt. Die Frau war so ein richtiges Washingtoner Schmuckstück mit weißblond gefärbten Haaren und Blechlocken. Die schmiß sich jetzt wieder an den General ran. Aber er wollte nicht, er mochte sie nicht mehr.«

  »Wieso ein dreigeteiltes Leben?«

  »Die dauernden Reisen zu seinen Jungs, der Washingtoner Diplomatenrummel, sein Büro, der Stab ...«

  »Das sind erst zwei Leben, nicht drei.«

  »Das dritte Leben kannte wohl auch keiner außer mir«, meinte sie zögernd. »Ich war Zeugin; wie dieses dritte Leben entstand. Ich möchte wissen, ob er das Gutachten in seinem Jagdhaus hatte.«

  »Was für ein Gutachten?«

  »Das Gutachten, das der dritte Teil seines Lebens war. Deshalb ist er erschossen worden, da bin ich sicher.«

  »Was weißt du über dieses Gutachten?«

  »Der Titel war >Argumentationsfelder in der NATO<. Sein Exemplar ist damals verschwunden. Aber ich glaube, das hat er nur fingiert. Das gab jede Menge Stunk.«

  »Und du glaubst, wegen dieser Geschichte wurde er getötet?«

  »Ja, das glaube ich«, sagte sie und begann zu weinen. »Dann müßten wir eigentlich noch mal in sein Haus und gründlich suchen. Bloß ist das leider versiegelt.«

  »Aber ich habe den Schlüssel geklaut. Gestern abend habe ich sofort daran denken müssen. Ich habe alle Schlüssel geklaut. Die aus der Eifel und die aus Meckenheim.«

  »Dann laß uns sofort fahren, du kannst im Auto weitererzählen.«

  Die Sonne stand noch immer hoch und grell, das Land wiegte sich in der Hitze. Ich hatte Mühe, mich auf die ganze absurde Geschichte zu konzentrieren. »Wie war dein Washingtoner Leben mit dem General?«

  »Wir machten keinen Hehl daraus, daß wir gute alte Bekannte waren. Alle nahmen an, ich schliefe mit ihm. Aber das war uns egal. Ich hatte das Apartment in Georgetown, und er kam, so oft er konnte. Meist legte er sich auf die Couch, ruhte aus, dachte nach, machte sich Notizen.«

  »Was sagte dein Homer» dazu?«

  »Er schwieg höflich. Irgendwie war ihm das Arrangement so ganz recht. Aber natürlich gerieten wir in den Tratsch der Diplomatenkreise. Jedenfalls, das dritte Leben des Generals begann auf meiner Couch, und ich bin stolz darauf.«

  »Wie sah das aus?« Ich hoffte, sie würde endlich von dem Gutachten erzählen, aber ich wußte, daß sie so voll von ihrer Geschichte war, daß sie es auf ihre Weise erzählen mußte.

  »Es fing damit an, daß er sagte, die Erde sei endgültig zu alt für Kriege. Er brachte sich NATO-Schriftstücke mit. Manchmal las er daraus vor. Es ging immer um Waffen und Waffensysteme. Er sagte zum Beispiel, die Generation nach ihm werde eines Tages fragen, warum sie vierzig Jahre lang nichts anderes getan hätten, als immer mehr Waffen in Stellung zu bringen. Er redete viel über die große Übung der NATO, die alle zwei Jahre in Europa stattfindet. Dann kriechen sie in ihre Bunker und schmeißen auf den Computern mit Atombomben. Sie gehen dabei davon aus, daß im Ostblock Unruhen ausbrechen und die Russen plötzlich mit all ihren Truppen gegen Westen marschieren. Otmar sagte, das alles wäre völliger Quatsch und würde real niemals passieren.«

  »Das ist sicher spannend, aber es ist nicht so neu, daß er deshalb umgebracht werden müßte. Also, er schrieb auf deiner Couch.«

  »Da hatte er Ruhe, da machte er sich Notizen. Er diktierte die Sachen dann in seinem Büro. Seepferdchen nahm das Stenogramm auf.«

  »Wer ist bitte Seepferdchen?«

  »Seine Sekretärin. Sie hatte ein Aquarium mit lauter Seepferdchen. Sie war auch mal Erbin. Du mußt wissen: Der General war von seiner Familie her sehr reich.«

  »Langsam, langsam. Was geschah mit den Manuskripten?«

  »Die Stenoblocks wurden vernichtet. Es blieben das Original und zwei Kopien. Er selbst ließ sie NATO TOP SECRET stempeln.«

  »Und sein eigenes Exemplar verschwand?«

  »Richtig. Das lag ordnungsgemäß in der Geheimdienststelle der deutschen Botschaft in Washington. Und irgendwie verschwand es.«

  »Was war mit den anderen beiden Ausfertigungen?«

  »Eine Kopie ging an den Minister, das Original an den Bundeskanzler. Der Minister ließ Otmar sofort kommen und machte einen Riesenkrach. Er forderte ihn auf, das Gutachten zurückzuziehen. Das machte Otmar nicht mit. Er bat um vierzehn Tage Bedenkzeit in Washington und dann um eine stille Entlassung aus dem Dienst. Und genau in diesen vierzehn Tagen verschwand sein eigenes Exemplar.«

  Ich wußte immer noch nicht, was an dem Gutachten so brisant gewesen war, aber ich hatte so eine Ahnung. Und wenn ich recht hatte, dann war die Sache so heiß, daß ein paar Morde mehr bestimmt nicht zählten. Trotz der Hitze schauderte ich zusammen. Dann fragte ich mit möglichst ruhiger Stimme: »Wann war das?«

  »September 1986. Eine Menge Leute sagten damals, die CIA hätte das Papier geklaut, oder der NSA, oder der KGB, oder irgendein anderer dieser Clubs. Es gab eine Untersuchung nach der anderen. Otmar kam am Ende zu mir und sagte, ich müsse nun allein erwachsen werden. Dann war er weg, und ich ging auch.«

  »Du bist einfach gegangen?«

  »Nun, ganz einfach war es nicht. Ich überzeugte Homer, daß unsere Ehe keine Ehe sei. Das funktionierte erst, als ich behauptete, ich sei sowieso unfruchtbar, der Arzt habe es mir bestätigt. Ja, und dann reiste ich rum. Ich hatte ja mittlerweile viele Bekannte, und zunächst bekam ich Geld von Homer. Dann zahlte er irgendwann nicht mehr, und ich saß auf dem Trockenen. Ich wollte zum General.«

  »Und du hattest Angst, zu ihm zu gehen, weil du noch immer nicht erwachsen bist?«

  »Ja, so ähnlich.«

  »Ich glaube, du bist erwachsen. Du bist nur noch nicht traurig genug, es zuzugeben.«

  Sie erwiderte nichts, sie starrte zur Seite aus dem Fenster. Schließlich murmelte sie: »Weißt du, deine Eifel ist schön. Was treibst du hier so?«

  »Ich lebe und fühle mich wohl.«

  »Bist du ein Aussteiger?«

  »Das ist ein plattes Wort. Nein, bin ich nicht. Ich habe nur gefunden, was ich suchte.«

  Sie schwieg eine Weile. Sie wußte, wir würden gleich da sein. Unvermittelt fragte sie: »Hätte ich Otmars Tod verhindert, wenn ich gleich zu ihm gegangen wäre?«

  »Auf keinen Fall. Du wärst jetzt bloß auch tot. Denk an Carlo und den alten Mattes.«

  Wieder folgte ein Schweigen, so dick und fühlbar wie alter Zigarettenrauch. Sie starrte aus dem Fenster. Dann zeigte sie ganz aufgeregt zum Himmel: »Was ist das für ein Vogel?«

  »Ein Bussard. Er hat etwas unter sich entdeckt, eine Maus wahrscheinlich. Er stößt gleich runter.«

  Ich mußte sie wieder zum Thema zurückbringen. »Sag mal, was war mit Frauen bei dem General?«

  »Er hatte welche, aber er war sehr diskret. Er hatte eindeutig keine Schwierigkeiten mit dem weiblichen Teil der Bevölkerung. Seepferdchen seufzte manchmal: Sie telefonieren mir die Bude ein.«

  »Waren die Russen an ihm dran?«

  »Mit Sicherheit. Die luden ihn dauernd ein. Sie wußten, daß er ein scharfer Kritiker der NATO war, und sie wollten rausfinden, was er dachte und wußte. Aber er ging nie hin. Und zweimal im Jahr machte er ein neues Testament.«

  Ihre Gedankensprünge machten mich langsam nervös, aber ich blieb still und steuerte konzentriert in die schmalen Kehren oberhalb von Jammelshofen.

  Sie plapperte weiter. »Seine Kinder sollten den Pflichtteil bekommen, mehr auf keinen Fall. Es dauerte lange, bis er herausgefunden hatte, wieviel das ist. Ich bin übrigens auch eine Erbin.«

  »Was erbst du?«

  »Geld. Ziemlich viel. Aber auf diese Weise wollte ich es niemals bekommen«, setzte sie heftig hinzu.

  Wir waren da. Ich parkte den Wagen an den ersten Büschen des Besenginsters, und wir gingen den Hang durch den Hochwald hinunter zu dem Haus, das von hier wie ein großer Felsbrocken aussah, viel mehr wie ein Fremdkörper als früher. Es war niemand da, niemand zu entdecken, der uns entdecken konnte.

  Die Siegel ähnelten denen vom Zoll. Über die kleinen Bleiplomben waren zusätzliche Papiersiegel geklebt, mit dem Bundesadler und der Aufschrift Staatsanwaltschaft^

  Der, der vor uns im Haus gewesen war, hatte den dünnen Draht der Plombe unmittelbar unter dem pfenniggroßen Bleistück abgeknipst. Es war kaum zu sehen.

  Ich schloß auf und ließ sie vorangehen, aber sie blieb nach dem ersten Schritt stehen und sagte atemlos: »Um Gottes willen!« Dann machte sie einen Schritt beiseite, trat dabei auf einen Haufen Bücher und fiel fast hin. »Diese Schweine!« sagte sie in die Stille.

  »Wir haben keine Zeit«, sagte ich schnell. »Geh zum Wagen. Im Handschuhfach liegt eine Nikon. Und bring meinen Kassettenrecorder mit.«

  Wer immer es war, hatte brutal und gründlich gearbeitet. Sie hatten Dielenbretter herausgebrochen und dann irgendwo liegen lassen. Sie hatten sogar Bretter aus der Deckenverkleidung gestemmt, die elektrischen Heizkörper auseinandergeschraubt, jedes Buch aus den Regalen geholt und ein paar der fest eingebauten Regale herausgerissen und auf einen Haufen geworfen. Sie hatten sogar die Ledermöbel an den Nähten aufgeschlitzt, um zu sehen, was der General darin versteckt haben mochte.

  Im Bad war der Spiegelschrank über dem Handwaschbecken aus der Wand gerissen und hing nur noch an den dünnen Strippen der elektrischen Leitung. Die Verkleidung der Badewanne war abgeschraubt, ein kleiner Medizinschrank lag zertrümmert auf dem Boden. In der Küche hatten sie die Einbaumöbel von den Wänden gezogen und in alle Einzelteile zerlegt. Jemand hatte zwei der Stufen aus der Wendeltreppe ausgebrochen, um zu entdecken, daß deren Achse massiv war.

  »Was jetzt?« Sie stand unten am Eingang und hielt die Kamera und das Kassettengerät hoch, als handele es sich um ekelerregende Tiere.

  »Du fotografierst. Der Apparat macht alles allein. Und ich diktiere, was ich so sehe.«

  Im oberen Raum war das Bett in seine Einzelteile zerlegt, die Decken aufgeschlitzt. Der lederne Schreibtischstuhl war zerschnitten, der Schreibtisch auseinandergeschraubt. Wenn eine Schraube zu fest gesessen hatte, so war sie herausgebrochen worden. Kein Buch stand mehr in den dunkel gebeizten Regalen, die offensichtlich mit Stemmeisen aus der Wand geschlagen waren.

  »Der Film ist voll«, rief sie atemlos.

  »Im Wagen sind neue. Ich leg sie dir ein.«

  Nach einer Weile kam sie herauf. Ratlos fragte sie: »Wer macht so etwas?«

  »Auf jeden Fall jemand, der sich stundenlang Zeit nehmen konnte: Nach dem Fund der Leichen ist hier polizeilich abgesperrt worden. Erst dann konnten die Leute ins Haus. Und das kann niemand gewesen sein, der sehr heimlich arbeiten mußte.«

  »Sieh dir das mal an, die haben sogar das Futter von den Teppichen aufgetrennt. Was haben die gesucht?«

  »Das Gutachten, von dem du erzählt hast. Was sonst?«

  »Aber das ist ja schlimmer als im Mittelalter.«

  »Das waren damals dieselben Leute.«

  Wenig später sagte sie von unten: »Die haben sogar den Briefkasten abgeschraubt und die Garderobenbretter. Die müssen doch vollkommen irre sein!«

  Rechts neben dem Bett des Generals war in der Außenmauer eine Tür, ungefähr siebzig mal siebzig Zentimeter groß. Sie wurde normalerweise vom Bett verdeckt, denn sie war in Fußbodenhöhe eingelassen. Ein kleiner Riegel hielt sie fest. Ich schob den Riegel zurück und öffnete die Tür. Dahinter lag ein kleiner, tiefer Schrank, fast ganz ausgefüllt von einer stählernen Trommel, auf die ein Feuerwehrschlauch aufgerollt war.

  »Komm rauf. Du mußt hier fotografieren.«

  Als sie die Treppe hinaufkam, sagte unten eine Männerstimme zornig: »Seid ihr denn verrückt, Leute?«

  »Wer ist denn da?« fragte ich so natürlich wie möglich.

  »Ja, wer ist hier schon? Der Nachbar«, sagte der Mann.

  Wir stiegen die Treppe hinunter. Da stand er, schmal und abgearbeitet, neben der Tür und schaute fassungslos auf das Chaos. Er war vielleicht 60 Jahre alt.

  »Was macht ihr hier?« fragte er scharf. »So kann man doch kein Haus zurichten!«

  »Wir sind auch gerade erst gekommen, wir machen so eine Schweinerei nicht.«

  Er starrte mich mißtrauisch an. »Mein Gott!« sagte er schließlich tonlos und balancierte in den Raum hinein. »Sie sind der Journalist, der ihn gefunden hat, was?«

  »Ja. Haben Sie denn niemanden gesehen?«

  »Wie denn?« sagte er abwesend. »Erst war die Polizei da, als man die anderen Leichen fand. Das war sicher eine Hundertschaft. Dann kam überhaupt keiner mehr. Außerdem kann ich das von mir aus nicht sehen. Wie kann man bloß ein Haus so kaputtmachen?« Und dann noch leiser: »Gut, daß er es nicht mehr erlebt. Wer war denn das bloß?«

  »Wir wissen es nicht. Sagen Sie, da oben ist ein Fach in der Außenmauer, mit einem Feuerwehrschlauch drin...«

  Er sah mich an und lächelte schmal. »Ja, ja, ich weiß. Das ist aber kein Brandschlauch.«

  »Was ist es dann?«

  »Kommen Sie mal mit«, sagte er vertraulich und suchte sich einen Weg zur Wendeltreppe. Er ging in die Ecke neben das Bett und murmelte: »Alles für die Katz.« Dann faßte er mit einer Hand neben die Schlauchtrommel und drückte auf eine Feder. Der Schrank schwang lautlos nach draußen, und ich konnte plötzlich die Sonnenflecken auf dem Waldboden sehen.

  »Er hatte ja auch gar keinen Anschluß für einen Druckschlauch«, erklärte der Bauer Wirges mit wissendem Lächeln. »Verstehen Sie das Ding?«

  »Nicht die Spur«, sagte ich verblüfft.

  »Ganz einfach. Wenn Sie hier die Feder am Schlauchende drücken und einen Fuß in diese Triangel stellen, segeln Sie langsam nach unten wie in einem Fahrstuhl. Und wenn Sie unten angekommen sind, können Sie verschwinden.« Er grinste matt. »Sie haben sogar noch eine Kanone in der Hand. Er hat lange dran rumgefummelt.«

  »Wie bitte?« Ich war nur noch verwirrt.

  »Es ist so. Sie stehen in der Triangel, der Schlauch wickelt sich langsam ab. Und wenn Sie unten sind, brauchen Sie das Ding nur noch zu entsichern.« Er zeigte mit einem krummen Zeigefinger auf eine Parabellum Fire-queen, die gut geölt in einer Feder auf der Schlauchtrommel befestigt war. Sie war erst jetzt sichtbar; vorher hätte man sie nicht einmal mit der Hand ertasten können. Ich gab sie vorsichtig Germaine, damit nicht irgend jemand damit Unfug machte.

  »Das heißt ja, daß ...«

  »O ja«, sagte Bauer Wirges. »Er ahnte was.«