Wir verließen Berlin gegen acht Uhr am Abend. Germaine fuhr blaß, schweigsam und verbissen die erste Etappe.
Ich spielte mit der Idee, Isolde weiter zum General auszufragen, aber ich ließ es, weil sie ganz versunken war in ihrem Schmerz, weil mein Gesicht brannte, weil ich Kopfschmerzen hatte, und weil Germaine überdies so vieles durch den Kopf gehen mußte, bei dem ich sie nicht stören wollte.
In Hannover-Garbsen machten wir halt, und jeder von uns lief ein paar hundert Meter allein über den Parkplatz.
Dann hockten wir uns schweigsam an einen Tisch und schlürften einen grauenhaften Automatenkaffee.
Morgens um vier waren wir in der Eifel. Krümel war nicht da. Ich befahl uns allen, ins Bett zu gehen. Germaine nahm irgendwelche Pillen, ging nach zehn Minuten leicht schwankend die Treppe hinauf und verschwand in ihrem Zimmer. Ich bezog mein Bett für Isolde, die am Fenster stand und protestierte: »Es ist eine Schande, ins Bett zu gehen, wenn der Tag kommt. Kann ich sein verbranntes Haus sehen?«
»Natürlich, wir fahren später hin. Aber erst schlafen.«
»Wo schlafen Sie?«
»Irgendwo. Ich bin hier zu Hause.«
Sie zögerte. Dann sagte sie leise: »Germaine geht es sehr schlecht.«
»Ja«, sagte ich. »Aber wir helfen niemandem, wenn wir jetzt nicht schlafen. Frühstück nicht vor zwölf.«
Sie schaute mich an wie einen Unmensch, aber ich wußte, daß ich recht hatte. Ich zog mit dem Schlafsack hinaus unter die Birke an der Bruchsteinmauer. Das Thermometer zeigte neunzehn Grad, der Tag war jung. Ich hatte versucht, wilde Akelei in den reinen Farben rot und violett zu ziehen. Es war nicht ganz gelungen, aber sie blühten kräftig. Krümel kam herangeschnürt und kroch zu mir in den Schlafsack. Ich war zu Hause.
So schliefen wir ein, und ich wurde nur einmal kurz wach, als dicht bei uns eine Haselmaus nichtsahnend den Tag begann und im dürren Laub herumkramte. Krümel stemmte sich zum Absprung fest gegen meine Brust.
Das nächste Mal wurde ich wach, weil ich Kaffee roch, ein großer Topf davon stand vor meiner Nase.
»Guten Morgen«, sagte Isolde. »Das ist ja wunderbar hier.«
»Es ist meine Welt. Haben Sie gut geschlafen?«
»Überhaupt nicht, aber in meinem Alter macht das nix. Ich habe im Leben genug geschlafen. Ich habe über Germaine und ihre Mutter nachgedacht und darüber, daß Sie verprügelt wurden. Ich bin wohl in dem Alter, in dem man häßliche Dinge nicht sehen will. Ist das da Akelei?«
»Ja, und zwischen den wilden Holunderbäumen da hinten habe ich einen roten Gartenholunder gesetzt. Geht aber sanft ein, weil er wahrscheinlich in einem Treibhaus unter tropischen Bedingungen erfunden wurde.«
»Hier stirbt der Wald aber nicht.«
»O doch, und wie! Was macht Germaine?«
»Die liegt im Bett und trinkt Kaffee und liest irgend etwas. Die Glocken haben so schön geläutet, und irgendein Nachbar hat ein Holzfeuer, man riecht es.« Sie machte eine Pause. Dann: »Fahren wir gleich zu seinem Haus?«
»Sicherlich. Wir haben jede Menge Zeit.«
»Wieso das auf einmal?«
»Ich höre auf, ich recherchiere nicht mehr.«
»Wissen Sie... eigentlich finde ich das klug. Wenn man den General erschießt und andere, und wenn man Sie verprügelt, dann könnte es ja sein ...«
»Ja, eben«, sagte ich und sah ihr nach, wie sie hastig durch das hohe Gras lief und um die Hausecke verschwand.
Krümel kam von irgendwoher und brachte den Kater Knubbel mit, der mich sehr herablassend betrachtete, sich aber vorsichtshalber in einigen Metern Abstand hielt. »Wenn du versprichst, Krümel anständig zu behandeln und nicht allzu wilde Versprechungen zu machen, werde ich dich auf meinem Grund und Boden dulden«, erklärte ich friedfertig. Er machte nicht den Hauch von Demutsgeste, Kater sind einfach widerliche Tiere. Krümel sonnte sich in seiner Arroganz. Germaine schlenderte in einem meiner Trainingsanzüge um die Ecke. Sie hockte sich an den Birkenstamm und fragte tonlos:
»Stimmt das, gibst du auf? Schmeißt du das Handtuch?«
»Ja.«
»Warum?«
»Es gibt eine Menge Gründe. Erstens ist heute gerade der vierte Tag, und ich wurde bereits zweimal verprügelt. Wenn das so weitergeht, kann ich damit rechnen, ab Dienstag jeden Tag und ab Donnerstag täglich zweimal in die Mangel genommen zu werden. Das hält niemand aus.«
»Das ist doch Scheiße!« kommentierte sie heftig.
»Ich fühle mich auch nicht gut dabei. Aber es gibt einen weiteren Grund. Der alte Mattes und der junge Carlo hatten keine Chance. Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, daß wir dem Mörder zwangsläufig immer näher rücken. Und der würde jeden töten, der ihm in die Quere kommt. Euch, und genausogut mich.«
»Aber dann werden wir nie erfahren, was wirklich geschah.«
»Lebst du denn nicht gern?«
Sie stand auf. »Nein. Im Moment lebe ich nicht gern.« Dann lief sie ins Haus.
Ich folgte ihr langsam und rief Böhmert an. »Ich steige aus«, sagte ich.
»Bei soviel Geheimdienst kann ich das verstehen«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Ich habe mich noch einmal um die Identifizierung einiger Männer bemüht, die Sie fotografiert haben. Ich kenne jetzt den Namen des Dicken vom MAD. Und ich kenne auch den wirklichen Namen des MAD-Mannes, der die Aktionen in den Häusern leitete.«
»Wie schön für Sie.«
»Sie muß es aber schwer erwischt haben, daß Sie nicht einmal mehr fragen.«
»Ich habe ein Gesicht wie ein alter Mond, und mein Zahnarzt wird allmählich reich.«
»Im Ernst, warum hören Sie auf?«
»Ganz einfach. Ich nähere mich immer mehr dem Mörder. Irgendwann wird er wieder töten, oder?«
»Zweifellos. Wenn Sie trotzdem noch etwas erfahren, rufen Sie mich an. Ganz privat. Tun Sie das?«
»Das mache ich. Und entschuldigen Sie, daß Sie von mir nicht lernen konnten, wie ein Pressefritze arbeitet.«
Einen Augenblick war er still. »Das vielleicht nicht«, meinte er schließlich. »Aber zumindest habe ich gelernt, daß es auch Pressefritzen gibt, deren Arbeit mir gefällt. Machen Sie's gut!«
Germaine kam herein und sagte: »Du brauchst wirklich auf mich keine Rücksicht zu nehmen.«
»Erklär das mal dem Mörder.«
»Sei doch nicht so giftig. Ich kann weggehen, dann hast du mich nicht mehr am Hals.«
»Red keinen Unsinn.«
Isolde kam leise herein, setzte sich auf das Sofa und tat so, als sei sie nicht da.
»Laß mich wenigstens erklären, warum das so schrecklich für mich ist«, sagte Germaine verzweifelt.
»Das kannst du mir erklären, aber meine Entscheidung steht. Und nun sag schon, was daran so schrecklich ist.«
»Es ist nicht primär der Tod von Otmar, es ist auch nicht die Idee der Rache oder so. Aber in meinem Leben war alles halb, verstehst du? Halbe Kindheit, halbe Jugend, halbes Studium, halbe Männer, halbe Ehe. Sogar das, was du das Streunen genannt hast, war nur halb. Dann legst du los, um die Wahrheit zu finden, ich mache mit, du gibst auf. Wieder halb.«
»Nur, um dir die ganze Sache vorzuführen, kann ich aber nicht riskieren, daß wir getötet werden.«
»Schrei doch nicht so. Ich wollte es nur erklären«, sagte sie lahm.
Ich kam mir elend vor. »Sieh mal, ich bin ein Solist, ich arbeite ohne das Orchester einer Redaktion. Wenn ich verprügelt werde, habe ich keinen Hausjuristen, der auf Schadenersatz klagt. Und meine Krankenversicherung zahlt auch bald nicht mehr. O nein, ich habe die Schnauze voll.«
»Nun schrei doch nicht so, wir verstehen dich gut.«
»Ihr versteht gar nichts. Die Redaktionen sind jedesmal des Lobes voll, wenn ein Manuskript von mir eintrudelt, aber kein Mensch fragt, woher ich die blauen Augen habe, die gebrochenen Rippen, die panische Angst nachts. In diesem Fall kommt dazu, daß wir fast nichts wissen. Wir wissen nicht einmal, für wen der General zuletzt arbeitete, ob er überhaupt für jemanden arbeitete, an was er genau arbeitete. Verdammt noch mal!«
»Das ist aber doch gar nicht wahr!« protestierte Isolde vehement. »Er arbeitete doch für die SPD.«
»Wie bitte?« fragte ich ungläubig.
»Na, wenn ich es doch sage!«
»Woher wissen Sie das?«
»Von ihm selbst natürlich.«
Ich explodierte. »Verdammt noch mal, warum haben Sie das denn nicht eher gesagt?«
Sie bekam vor Entrüstung ein ganz rundes Gesicht. »Ich dachte doch, daß Sie das längst wüßten. Mich hat ja auch keiner gefragt.«
»Baumeister!« mahnte Germaine vorwurfsvoll.
»Ach ja, es ist doch nicht zum Aushalten. Da zerbrechen wir uns den Kopf, und sie spielt die beleidigte Sekretärin.«
»Seepferdchen, es ist aber wirklich schlimm mit dir. Weißt du noch etwas, wovon wir keine Ahnung haben?«
Sie stand auf, warf uns einen entrüsteten Blick zu und rauschte hinaus.
»Was hat er denn in euren trauten Gesprächen noch alles gesagt?« brüllte ich wütend hinter ihr her. Sie antwortete gar nicht, sondern stapfte schnell die Treppe hinauf.
»Du bist zu hart mit ihr, Baumeister.«
»Ja, ja, tut mir leid.« Ich stand auf und ging hinauf in mein Schlafzimmer. Da lag sie auf dem Bett wie ein Häufchen Elend und heulte.
»Es tut mir wirklich leid«, sagte ich. »Ich war richtig wütend, und sicher bin ich auch enttäuscht darüber, daß ich aufhöre.«
»Ist ja gut, macht ja nix«, nuschelte sie. »Fahren wir trotzdem zum Haus?«
»Na sicher, wir können sofort aufbrechen.«
Wir fuhren und waren bemüht freundlich zueinander. Das Land lag sehr heiß und träge unter der Sonne; die Eifel schläft an Sonntagmittagen.
Es war nicht viel vom Haus geblieben. Die Feuerwehr hatte die brennenden Holzflächen auseinandergezogen, um wenigstens die benachbarten Bäume zu retten. Ich sah, wie Germaine in den schwarz verkohlten Haufen herumstocherte, einen Eßlöffel fand, ihn schnell am Ärmel ihrer Jeansjacke abwischte und einsteckte.
Isolde stöhnte: »O mein Gott!« Dann stand sie mit hängenden Schultern da, weinte lautlos und wollte nicht aufhören damit.
Germaine schlich die ganze Zeit um mich herum. Dann brach es aus ihr heraus: »Glaubst du, daß dieser Bauer, dieser Wirges noch etwas weiß?«
»Sicher weiß er etwas.«
»Warum fragen wir ihn nicht?«
»Ich bin ausgestiegen.«
»Ja, ja, entschuldige.« Sie trödelte ein paar Schritte weiter und stocherte wieder in den Aschehaufen herum. Ich hockte mich an den Stamm einer Buche, stopfte mir die kleine Chacom und starrte durch die Bäume zum Bruch hinüber. Mein Verstand sagte mir, daß ich mit dem Fall fertig war. Aber zugleich grübelte ich immer wieder darüber nach.
»Was hat er für die SPD getan?« fragte ich Isolde schließlich betont desinteressiert.
»Als wir das Gutachten schrieben, sagte er wiederholt, das sei viel zu lasch, man müsse noch viel konsequenter nachdenken. Dann schieden wir aus dem Dienst. Als er mit mir telefonierte, sagte er, er habe das Gutachten weiter ausgebaut. Für die SPD. Es wäre noch geheim, aber es würde sicherlich ein Knaller.«
»Dann haben die womöglich nicht das Gutachten gesucht, sondern die neue Arbeit für die SPD. Wir haben aber kein einziges Blatt mit Maschinenschrift gefunden«, meinte ich nachdenklich.
»Er war bei so was sehr pingelig«, erklärte Isolde. »Er notierte die Gedanken, übertrug sie in ein Manuskript und verbrannte jeden Hinweis.«
»Erinnern Sie sich an Namen in der SPD?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er hat keine Namen erwähnt.«
»Da kommt der Bauer Wirges«, sagte Germaine warnend.
Er kam durch die Wiese jenseits der Straße, trug seinen Sonntagsstaat, rauchte eine Zigarre und ließ sich Zeit. Es war deutlich, daß er uns hatte kommen sehen. Aber er ließ sich viel Zeit, weil Eifelbauern niemals offen zugeben, daß sie ein massives Interesse an einem Schwätzchen haben.
Es dauerte noch einige Minuten, ehe er in das Dunkel des Waldes tauchte und so tat, als habe er uns erst in dieser Sekunde entdeckt. Er nickte den Frauen nur nebenbei zu, kam zu mir, wies auf die verkohlten Haufen und stellte fest: »Schöne Schweinerei, was? Ich möchte wissen, was die Versicherungen vom General dazu sagen. Wie man so hört, soll das Haus in Meckenheim ja auch abgebrannt sein. Zur gleichen Zeit.«
»Das stimmt«, bestätigte ich. »Nehmen Sie doch Platz.« Ich wies ihm großzügig die nebenstehende Buche zu.
Er hockte sich auf die Fersen und wiederholte: »Haben Sie eine Ahnung, was Versicherungen zu so was sagen?«
»Keine Ahnung.« Ich hatte keine Lust auf eine Sonntagsplauderei.
»Er hat mir ja nie etwas gesagt, aber ich will Ihnen mal was zeigen. Das ist sicher was, das Journalisten gebrauchen können.«
Er stand auf und winkte mit dem Daumen, als wolle er trampen. »Kommen Sie mal mit.« Dann marschierte er los.
Ich erhob mich seufzend und ging hinter ihm her.
Er spazierte durch den Hochwald in Richtung auf das Gebiet, wo ich den alten Mattes und Carlo gefunden hatte. Als er die ersten Ginsterbüsche erreicht hatte, blieb er stehen und fragte: »Fällt Ihnen nichts auf?«
»Wieso? Was soll mir auffallen?« Ich starrte auf den Besenginster, der den Weg sperrte. Ein Besenginster eben.
»Gar nichts soll Ihnen auffallen. Das ist es ja. Sieht doch aus wie hier gewachsen, oder? Dabei hat der General jeden einzelnen Busch extra hier angepflanzt.«
»Angepflanzt?«
»Na sicher. Er hat alle Wege auf diese Weise zugemacht. Ist doch klar: Ein Zaun fällt auf. Da kommen die von außerhalb, sehen die Büsche, denken: Da geht es nicht weiter. Und kehren um. Und alle die Heinis aus Bonn sind auch immer umgekehrt.«
»Aber warum hat er das gemacht?«
»Ich sag' ja, er hat was geahnt. Aber da ist noch was.« Er schob die Büsche auseinander und hielt die Zweige so fest. »Gucken Sie sich den Weg mal genau an.«
Was sollte das? Ach so, ja, das hätte mir auffallen müssen. »Das war auch er? Der General hat den Weg glattgemacht, die Schlaglöcher ausgebessert, er hat...?«
»Das ist alles glatt wie eine Kegelbahn«, stellte er triumphierend fest.
»Und das alles hat er gemacht, um schnell verschwinden zu können?«
»Also: ich meine schon. Die Luke nach außen, der Feuerwehrschlauch, der kleine Jeep hinterm Haus, immer der Schlüssel drin, ein aalglatter Weg durch den Wald hoch. Ich weiß das doch aus Stalingrad. Du gewinnst immer, wenn du ein paar Sekunden schneller bist als der andere, oder?«
»Wann hat er das alles gemacht?«
»Im Sommer 88.«
»Hat er mal was dazu gesagt?«
»Nix. Er hat mir ja nix gesagt.«
»Hat er viel gearbeitet in der letzten Zeit?«
»Jeden Tag. Hat über Büchern gesessen und geschrieben.«
»Wie hat er geschrieben? Mit der Hand oder einer Maschine?«
»Mit der Hand. Immer mit der Hand.«
Wir schlenderten zurück, und er teilte mir mit, wenn nicht bald Regen käme, stände es schlecht um das Korn und die Kartoffeln. Das war für ihn bedeutender als alles, was mit dem General passiert war. Im Vorbeigehen nickte Wirges den Frauen noch einmal beiläufig zu und schlurfte heim.
»Was Wichtiges?« fragte Germaine.
»Isolde, hat der General einmal gesagt, daß er in irgendeiner Gefahr schwebt?«
»Nein. Und wenn, hätte er nichts gesagt.«
»Warum denn nicht?« fragte Germaine verunsichert.
»Er hat dir doch auch nie etwas von Gefahren erzählt, oder? Er war eben nicht der Typ, der über so was spricht. Und was hätte so eine Gefahr schon sein sollen vor dieser .., dieser Sache?«
»Gefahr hätte heißen können, daß er sich konkret bedroht fühlte. Also vom KGB, CIA oder MAD etwa.«
»Vom MAD?« fragte Isolde verblüfft. »Wieso denn das? Wir waren doch beim MAD.«
»Wann?«
»1970. Alle beide.«
»Germaine«, knurrte ich. »Davon hast du nichts gesagt.«
»Ich wußte es nicht.«
»Wie soll ich weiter überlegen, wenn ich nicht einen kompletten Lebenslauf von ihm habe?«
»Damit kann ich dienen«, meinte Isolde fast heiter. »Den kann ich auswendig, mit jedem Datum. Das habe ich jährlich zweimal in sechsfacher Ausfertigung schreiben müssen.«
»Wie gut«, sagte ich. »Können wir heimfahren?«
»Können wir nicht irgendwo einen Kuchen essen?« fragte Isolde beschwingt. Offensichtlich dachte sie, der Fall sei für mich noch nicht endgültig vom Tisch. Sie hakte Germaine unter, und sie gingen zum Wagen. Ich hörte Isolde laut sagen: »Nicht wahr, es ärgert uns schon ein wenig, daß er aufgegeben hat.« Germaine antwortete: »Ach, laß ihn doch, ich kann es ja manchmal verstehen.«
Ich fuhr sie also zum Restaurant an der Hohen Acht, und während sie gutgelaunt Kaffee tranken, fühlte ich mich hundsmiserabel.
»Ich will es noch einmal zu erklären versuchen«, sagte ich lahm. »Ich habe Erfahrungen mit Geheimdiensten gesammelt. Die verprügeln mich nicht, weil ich gefährlich bin, sondern weil sie noch weniger wissen als ich und total frustriert sind.«
»Das hast du uns ja schon erklärt«, meinte Germaine mit vollem Mund. »Wir sind doch nicht begriffsstutzig.«
»Lieber Himmel, hör doch auf mit deinen schnippischen Bemerkungen.« Isolde lächelte wissend.
»Was würdest du denn wissen wollen, wenn du weiter im Rennen bleibst?« fragte Germaine so beiläufig, als wäre ich nicht gerade aus der Haut gefahren.
»Ich hätte nur eine Frage: Welche Spur ist wirklich wichtig?«
»Aber so viele Spuren gibt es doch gar nicht.«
»Germaine Suchmann, ich habe dich für klug gehalten. Überleg einmal: Das alte Gutachten, das neue Gutachten, die SPD, seine Erben, Carlo, der alte Mattes. Wir behaupten immer, der alte Mattes wurde aus Versehen erschossen, weil er dem Mörder begegnete. Kann es nicht auch sein, daß es einen ganz anderen Grund gab, ihn zu töten? Wir behaupten einfach, der junge Carlo sei getötet worden, weil er dem Mörder begegnete. Ist das so? Kann es nicht sein, daß Carlo den Mörder sehr gut kannte? Wir gehen davon aus, daß Carlo nichts mit dem General zu tun hatte, aber woher wissen wir das eigentlich?«
»Ja, Kindchen«, meinte Isolde da mit Unschuldsmiene, »das ist ja nun wirklich Quatsch. Der General kannte den Carlo doch!«
»Wie bitte?« fragte Germaine in die Stille.
»Na ja, der Carlo sauste doch immer durch die Wälder hier. Da haben sie sich irgendwann mal kennengelernt.« Sie saß da und strahlte Gelassenheit aus.
»Moment mal, Isolde.« Ich ahnte Unheil. »Nehmen Sie das jetzt nur an, oder wissen Sie das?«
Sie senkte den Blick. »Etwas weiß ich ja schon.«
»Was denn?« fragte ich scharf.
»Der General hat den Jungen gekannt. Sie haben miteinander gesprochen. Ich würde sagen, sie mochten sich.«
»Was noch?«
»Wie, was noch?«
»Woher wissen Sie das, Isolde?«
»Na ja, er schrieb mir einen Brief. Der General, meine ich.«
»Wo ist der Brief?«
»In meinem Koffer in Ihrem Haus.«
Dann herrschte Stille.
Germaine sagte vorsichtig: »Baumeister, Seepferdchen steckt nicht in deiner Haut. Außerdem war die Bekanntschaft mit Carlo wahrscheinlich das Übliche: Man kennt sich, man trifft sich, wie das eben so ist...«
»O nein, das nun wirklich nicht!« Isolde war richtig empört. »Im September wollten die beiden doch zusammen ins Tessin fahren, Urlaub machen.«
»Aha«, sagte ich. Ich brauchte eine volle halbe Minute, um mich zu sammeln. »Es würde mich nicht wundern, wenn Sie in zwei Jahren zufällig zugeben, daß Sie in Washington das Gutachten Ihres Chefs geklaut haben.«
Isolde zuckte zusammen. »Einmal muß es ja raus«, hauchte sie schließlich und hielt die Augen gesenkt. »Das habe ich ja auch. Wissen Sie, der Chef war in diesen Dingen so schrecklich unpraktisch. Und er ärgerte sich, daß alle Geheimdienstfritzen sein Gutachten kannten. Ich ging also in Washington in die Botschaft, weil ich den Bürovorsteher... na ja, ich kannte ihn eben gut. Dann tauschte ich das Gutachten gegen leere Seiten aus, und das war's.«
»Und Sie gaben es dem General?«
»Na sicher. Und er schickte es an einen Freund bei der SPD. Und nun denken Sie nicht, ich wüßte, wer das war. Ich weiß es nicht, ich kann ja nicht alles wissen.«
»Sagen Sie mal, als das Gutachten verschwand, müssen doch BND oder MAD Ihnen ständig auf den Fersen gewesen sein?«
»O ja, und wie!« Sie strahlte wieder. »Das war damals eine Frau vom Bundesnachrichtendienst in Washington. Renate nannte sich die Kleine, das weiß ich genau. Sie war nicht klug, aber schön. Ich weiß das alles, weil der General mich gewarnt hat. Und dann habe ich sie auch mal auf dem Markt in Georgetown getroffen. Sie stand da rum. Genau vor deiner Wohnung, Germaine. Diese Renate überwachte ja nicht nur den General, sondern auch dich. Wir haben es dir nur nicht gesagt.« Sie seufzte in der Erinnerung. »Und ein bißchen überwachten sie auch mich.«
»Ich will jetzt heim«, preßte ich heraus.
Isolde sah Germaine an. »Ist er jetzt sauer?«
»Es geht«, meinte Germaine nach einem prüfenden Blick. »Er denkt wahrscheinlich, daß du genau weißt, wer den General ermordet hat. Du bist nur nicht gefragt worden, nicht?«