* Zweites Kapitel

 

Nicht daran rühren! dachte ich. Nicht sofort nachfragen. Lenk sie ab.

  »Wer kommt denn jetzt her, um die Sache zu untersuchen? Wie läuft so etwas?«

  Der mit dem dunklen Schnäuzer hatte sich ausgeschaltet, wollte nicht mehr mitspielen, hatte wohl den Spruch im Sinn: Wer nichts sagt, kann auch nichts falsch machen. Er schlenderte einfach davon.

  Horst Böhmert räusperte sich; er war bereitwilliger. »Zunächst einmal fiel der General unter die Rubrik der unbedingt schutzwürdigen Personen, obwohl er gar nicht mehr im Dienst war. Aber er wußte zuviel. Wir haben ein paar davon hier in der Gegend. Lauter wichtige Leute aus Bonn. Wir sind nur die Statisten, wir kriegen unsere Anweisungen. Da steht im Dienstbuch: Wenn mit diesem oder jenem irgend etwas ist, mußt du der Reihe nach folgende Nummern anrufen. Beim General waren es gleich sechs Telefonnummern. Zusätzlich muß der Vorgesetzte aus dem Bett geholt werden, dann noch eine direkte Information an den jeweiligen Bundesminister und so weiter. Wer jetzt untersuchen wird, weiß ich auch nicht.«

  »Sechs Nummern in Bonn?«

  »So ist es«, bestätigte er. »Wissen Sie, was ich nicht verstehe? Da muß ich Sie fragen, weil mich das interessiert. Wie kommt man eigentlich als Mann dazu, freiwillig in der Eifel zu leben? Ich meine, Sie tun das, der General war auch so einer. Ich kann mir das nicht vorstellen.«

  Jeder Journalist kennt das: Jemand, der sich ausgefragt fühlt, dreht den Spieß um und fragt selbst. Eine Umverteilung der Gewichte.

  »Sie sind verheiratet, nicht wahr?« fragte ich.

  »Ja, bin ich.«

  »Die Männer, die allein hier leben, haben fast alle auch mal Familie gehabt, aber irgend etwas ist schiefgegangen. Dann kommt die Phase, in der man allein leben möchte. Die Eifel ist ein Ort, an dem man das kann. Es ist die Sorte Einsamkeit, die man will, über die man sich freut.«

  »Und der General? Was war das bei dem für eine Sorte Einsamkeit?«

  »Das weiß ich nicht. Ich weiß, er las viel, er dachte viel nach. Und diese Typen haben alle begriffen, daß sie allein am besten zurechtkommen.« Dann fiel mir etwas ein. »Hatte er eigentlich Familie?«

  »Hatte er. Aber er hatte wohl nix mehr damit am Hut. Alte kaputte Sache, darüber wissen wir nichts.«

  »Sagen Sie, der General muß doch eine Zweitwohnung gehabt haben. Wegen der Schränke.«

  »Hatte er tatsächlich. Wieso wegen der Schränke?«

  »In diesem Haus gibt es keinen einzigen Kleiderschrank. Das fällt auf. Und dann die Kennzeichen an seinen Autos - SU.«

  »Rhein-Sieg-Kreis, ja, da hatte er die Wohnung. In Meckenheim-Merl, Am Busch 12.«

  Warum bist du auf einmal so auskunftsfreudig? dachte ich. Laut fragte ich: »Haben Sie auch eine Vorstellung, wer ihn umgebracht haben könnte?«

  »Nicht die geringste. Aber so, wie er zugerichtet ist, scheint es eher eine private Sache zu sein. Irgend etwas mit Haß oder irrer Wut oder Wahnsinn.«

  »Das denke ich auch. Wurde der General ständig überwacht?«

  »Na ja, nicht ständig, aber dauernd.« Er lachte. »Wie man sieht, hat das alles nichts genutzt.«

  »Wie sieht so eine Überwachung aus?«

  »Das darf ich nicht sagen«, murmelte er.

  Unter den Bäumen war es jetzt ganz dunkel, aus dem Haus fiel ein tröstlicher Schein. Plötzlich war da ferner, massiver Motorenlärm.

  »Sie kommen mit dem Hubschrauber«, erklärte Böh-mert. Seine Stimme wurde leiser: »Sehen Sie am besten zu, daß Sie sich raushalten. Nicht fragen und so.«

  »Wieso das?«

  »Die sind unhöflich«, erwiderte er und ging davon.

  Es waren drei große Hubschrauber. Sie kamen in einer-ordentlichen V-Formation herangeflogen, und sie suchten nicht lange, ganz als seien sie schon öfter hiergewesen. Sie setzten gleichzeitig jenseits der schmalen Straße in einer Wiese auf, und ihre jeweils vier Scheinwerfer waren grell wie ein Schmerz. Es mußten mindestens 25 Männer sein, die sich versammelten und dann durch das Dunkelblau der Wiese auf den Zaun zumarschierten. Sie kletterten über den Draht, überquerten die Straße und kamen den Weg entlang. Sie wirkten irgendwie lächerlich, und dann fiel mir auch auf, warum: Sie sprachen allesamt kein Wort, machten jedoch den Eindruck, als brüllten sie: >Platz da, wir erledigen das schnell!< Die Macht und die Herrlichkeit.

  Vor dem Haus machte die Prozession halt, noch immer wurde kein Wort gesprochen. Sie sahen sich aufmerksam um, wie Touristen auf einem fremden Kontinent.

  Der Polizist Böhmert trat vor sie hin, machte irgendeine zackige Bewegung, sagte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Dann trat er einen Schritt zur Seite, und fünf der Männer sammelten sich um ihn. Es waren also fünf Parteien, fünf Institutionen, fünf Amtsvertreter. Ihre Gesichter sahen so aus, als hätten sie ständig recht. Böhmert ging vor ihnen her, an mir vorbei, blinzelte mir zu und verschwand um die Ecke. Sie zogen hinter ihm her wie ein Schleier — zur Besichtigung des toten Generals.

  Eine lange Weile war es vollkommen still. Dann erschien Böhmert an der Hausecke und sagte sehr förmlich, aber deutlich ironisch: »Herr Baumeister, die Herren sind jetzt bereit zu hören, was Sie zu sagen haben, bitte.«

  »Das ist aber nett.« Mir fiel nichts anderes ein.

  Da standen sie, nebeneinander aufgereiht wie eine Kette aus falschen schwarzen Perlen. Sie standen mit dem toten General im Rücken vor der Seitenfront des Hauses, und sie sahen mich so an, als erwarten sie huldvoll ein Geständnis. Ich nahm an, irgendeiner von ihnen würde etwas halbwegs Freundliches sagen, aber da nichts kam, murmelte ich: »Also, das war so...« Ich sagte es ihnen kurz und bündig und ließ nichts aus. Ich endete mit dem seltenen Satz: »Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann«, und wollte abdrehen, weil ich nicht mehr erwartete, daß sie meinen Auftritt irgendwie kommentieren wollten. Mir war sehr unwirklich zumute.

  Aber einer unter ihnen hatte den Abscheu gegenüber störenden Bürgern überwunden. Er trat fast zierlich einen Schritt vor und sagte: »Wir danken Ihnen sehr für Ihre Ausführungen, Herr Baumeister. Und nun wollen wir Sie nicht mehr aufhalten. Falls einer von uns noch Fragen an Sie hat, was ich im Grunde für ausgeschlossen halte, so haben wir ja sicher Ihre Adresse. Im übrigen: Totale Nachrichtensperre!« Er nickte mir beinahe freundlich zu, ein kleiner, sehr kugeliger Mann um die fünfzig mit einem sehr dünnen, grauen Haarschopf. Er hatte diese Haare sorgsam rund um den Schädel drapiert, was ihn so milde aussehen ließ wie einen Nikolaus. Er setzte noch einmal hinzu: »Wir wollen Sie nicht mehr aufhalten.« Dann klatschte er in die Hände, drehte sich zur Schar seiner Mitbrüder und gab laut und vernehmlich die Parole aus: »Nun, an die Arbeit, meine Herren!«

  Normalerweise hätte ich etwas Unartiges gesagt, wahrscheinlich: >Sie haben vergessen, sich vorzustellen< oder irgend etwas in der Art. Aber ich schwieg, weil ich wußte, daß dies die hochkarätigste Versammlung von Geheimdienstlern war, die ich jemals gesehen hatte. Ich schwieg, weil ich etwas von ihnen wollte, weil ich nur eine Chance bekommen würde, sie zu übertölpeln. Meistens nuscheln solche Leute, sie kämen >vom Ministerium< aber nie sagen sie, von welchem. Leute vom Verfassungsschutz oder vom Bundesnachrichtendienst lassen gelegentlich leutselig fallen, sie hätten irgendeine Verbindung zum Innenministerium, aber mehr sagen sie nie. Die meisten erklären lapidarisch, >vom Amt in Bonn< zu kommen. Aber niemals nennen sie ihre Namen, zumindest nicht die richtigen, was es praktisch unmöglich macht, sie aufzutreiben oder gar anzurufen. Sie suhlen sich geradezu in ihrer Anonymität.

  Ich ging um die Hausecke zur Giebelseite hin. Sie sollten sehen, daß ich diskret und zuvorkommend sein konnte. Ich schlenderte zu meinem Wagen, und der junge Polizist mit dem martialischen Schnäuzer erklärte: »Es ist so: Eigentlich sollten Sie abhauen. Aber das dürfen Sie nicht, denn Ihr Auto steht mitten in einem Tatort. Und in einem Tatort darf nichts bewegt werden, bis die Spuren-Spezialisten gekommen sind.« Dazu lächelte er strahlend.

  »Das macht nichts, ich habe Zeit. Ich will neuen Tabak tanken, ein paar Pfeifen aus dem Wagen holen, wenn es recht ist.«

  »Ist recht«, entschied er.

  »Hör zu«, berichtete ich Krümel, die eine derartig massive Vernachlässigung nicht gewohnt war, »hier ist ungeheuer viel los. Und Eintrittskarten für Katzen haben sie nicht.« Sie hörte gar nicht zu, leckte sich die rechte Vorderpfote und war wahrscheinlich froh, nicht in dieses menschliche Irrenhaus hineinriechen zu müssen.

  Gelobt sei die moderne Technik. Ich klinkte ein Superweit auf die Nikon und legte einen Kodak-High-Speed ein. Dann fädelte ich ein neues Band in mein Gerät und verstaute beides in meinen Jackentaschen. Ich sammelte Pfeifen ein, tat neuen Tabak in meinen Beutel und kam voll ausgerüstet wieder zum Vorschein, um freiberuflich tätig zu werden - das heißt: so zu tun, als täte ich nichts.

  Ich schlenderte zunächst den Weg hinunter zum Waldrand und stieß dort auf die Polizeibeamten, die die Einfahrt bewachten. Ich fotografierte die Hubschrauber auf der Wiese aus der Hüfte und war nicht sicher, ob das wegen der Dunkelheit überhaupt Zweck hatte. Es war jetzt 22.08 Uhr.

  Unter den Bäumen war es sehr dunkel. Eine Fotografie machte nur auf kürzeste Distanz Sinn. Also schritt ich, gemütlich schmauchend, hinter das Haus. Auch da eine gelangweilte Streifenwagenbesatzung. Ich fotografierte die Nummernschilder der Autos des Generals.

  »Das kann aber sehr lange dauern«, sagte ich freundlich.

  »Wie immer bei so was. Das kennen wir schon.«

  Ich erreichte um die Ecke den freien Platz vor den Fenstertüren. Ich setzte mich so in einen der Gartenstühle, daß ich in das erleuchtete Haus hineinsehen konnte.

  Der kleine, kugelige Dicke hatte gesagt: »An die Arbeit, meine Herren!«

  Wenn sie das, was sie im Haus taten, als Arbeit bezeichneten, sollte ich schleunigst den Beruf wechseln. Es sah eher so aus, als sei ein Haufen mittelmäßig erfolgreicher Geschäftsleute zum Klassentreffen zusammengekommen. Die meisten von ihnen schienen diskret miteinander zu klatschen, vielleicht erzählten sie sich auch vom letzten Kegelabend. Sie hatten sich zu zweit oder zu dritt zusammengefunden und hockten auf sämtlichen verfügbaren Sesseln und Stühlen um die Leiche herum. Gelegentlich sahen sie den General mißbilligend an, als störe er. Sogar auf der Wendeltreppe hockten ein paar dieser Bonner Arbeiter.

  Böhmert neben mir murmelte: »Falls da jemals auch nur Andeutungen von Spuren waren, so haben sie jetzt alles kaputtgetrampelt.« Er blieb bei mir stehen.

  »Was machen die da drin überhaupt?« fragte ich verwirrt.

  »Das weiß ich wirklich nicht. Und ehrlich gesagt will ich es auch gar nicht wissen.«

  »Wann fangen denn die Spurenleute endlich an?«

  Er grinste schief. »Bis jetzt sind doch gar keine da. Ich schätze mal, daß die da drin jetzt überlegen, ob irgendwelche Spurenleute überhaupt daran arbeiten sollen.«

  »Aber es ist doch ein Mord!«

  Er ging nicht darauf ein. Umständlich holte er eine Schachtel Zigaretten aus der Brusttasche und zündete sich eine an. Schließlich: »Wenn es ein Profi war, werden die Herren sowieso keine Spuren finden, das ist mal sicher.«

  »Sie meinen Spuren, die man nicht sieht?«

  »Ja. Mikrospuren. Sie kennen das ja. Wenn der Täter mit einer Jacke einen Türpfosten streift. Die Spurenleute finden raus, welche Farbe die Jacke hatte, wer sie fabrizierte und wo und wann sie gekauft wurde. Die da drin haben jetzt alles zerdeppert, jeder einzelne hat Spuren gelegt, 25 Mörder.«

  »Aber das wissen die doch.«

  »Sicher wissen sie das, und wahrscheinlich... Na ja, geht mich ja auch nichts an.«

  »Wer ist da drin der Wichtigste?«

  »Weiß ich nicht«, murmelte er desinteressiert. »Wir wollten heute abend ins Kino, meine Frau und ich. Candy Mountain, kennen Sie den?«

  »Nein. Wer ist der Mann im blauen Anzug in der Eßgruppe? Der, der auf dem Stuhl sitzt?«

  »Weiß ich nicht.«

  In einer Gruppe von angeblich gleichrangigen Männern ist immer einer der König. In der Regel hält er sich eine Spur abseits. Dieser hier, ein schlanker, schwarzhaariger Schönling, sicher einen Meter neunzig groß, hatte sich auf den äußersten Stuhl der Eßecke gesetzt. Er redete mit dem kugeligen Dicken, der mir ein paar Worte gegönnt hatte. Der Kugelige stand vor ihm, den Kopf nach vorn geneigt, sehr konzentriert, während der Schönling auf eine merkwürdige Weise sprach: Er sah den kleinen Dicken nicht an, er machte auch keine normalen Mundbewegungen, er schien die Worte aus sich hinauszupressen, als sei er bemüht, einen Bauchredner zu imitieren. Unter den anderen Männern waren viele, die für eine Sekunde zu diesem Paar hinblickten.

  »Die Wichtigsten sitzen rechts außen«, sagte ich.

  »Denke ich auch gerade. Meine Frau ist stinksauer, und ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll. Ich rede nur noch von Überstunden.«

  »Bringen Sie ihr Drachenfutter. Pralinen oder Blumen oder so was. Was passiert eigentlich, wenn ich jetzt da hineingehe?«

  »Erst einmal gar nichts vermutlich«, meinte er. »Solange Sie den beiden Bossen nicht auffallen, wird nichts passieren. Aber das darf ich nicht zulassen.«

  »Dann gehen Sie doch Ihre Truppe inspizieren.«

  »Warum nicht?« überlegte er.

  »Wann kommt die Staatsanwaltschaft?«

  »Die hat keinen Hubschrauber, die kommt mit dem Auto. Aber um Himmels willen nicht fotografieren und so.«

  »Sehen Sie einen Apparat?«

  Er grinste, schaute angelegentlich auf meine ausgebeulten Jackentaschen, stand auf und verschwand um die Hausecke.

  Ich schlenderte rauchend und angestrengt nachdenklich aussehend auf die offenen Türen zu. Ich drückte auf die Aufnahmetaste des Bandgerätes in der Tasche, ließ aber die Kamera zunächst drin. Die Männer sollten sich an mich gewöhnen.

  Ich blieb neben der Leiche stehen und starrte sie an. Ich bemerkte aus den Augenwinkeln, daß niemand auf mich achtete. In der Luft lag das feine Gemurmel einer heiter-vornehmen Cocktailparty. Ich bewegte mich nach links zur Stirnseite des Raumes hin, dort, wo die Ledersessel vor dem Kamin standen. Dann hatte ich Glück.

  Ein großer Mann mit einem Gesicht wie ein Catcher fragte mit fast unnatürlich hoher Stimme: »Na, was sagt der Journalist zu diesem Fall?«

  Ich drehte das Mikro in der Tasche auf und antwortete: »Der Journalist fühlt sich hilflos. Ich habe wirklich keine Ahnung, warum es passiert ist und wer es war.«

  »Sie wollten nichts Dienstliches von ihm, ich meine, nichts Berufliches?«

  »Nein. Hier in der Eifel sind wir total privat. Das ist hier eine Regel im Zusammenleben.«

  »Bei uns auf Sylt auch«, sagte ein zweiter affektiert. »Wo kämen wir auch sonst hin?« Er war ein ganz junger blonder Mann, dessen Schneidezähne etwas vorstanden.

  Der kugelige Dicke im Hintergrund hatte mich jetzt im Blick, aber er zuckte nicht zusammen, seine Augen weiteten sich nicht, also akzeptierte er es bisher.

  Ich nahm die Kamera aus der Tasche und hockte mich auf eine unbesetzte Sessellehne. Der junge Blonde hauchte hastig: »Um Gottes willen, keine Fotos!«

  »Mit dem Ding in der Tasche kann ich aber nicht sitzen«, sagte ich freundlich. Während ich die Kamera an mich heranzog und wieder in die Tasche steckte, fotografierte ich die Runde. Sie lachten erleichtert, und ich zündete geruhsam die Pfeife wieder an. »Was glauben Sie, wie lange es noch dauert? Ich kann nämlich nicht weg, solange die Spurenleute nicht da sind.«

  Der, der wie ein Catcher aussah, kannte sich aus. »Wir werden gleich eine Besprechung machen und entscheiden. Dann wird auch schon die Staatsanwaltschaft hier sein und die Bude versiegeln. Ein, zwei Stunden, schätze ich. Und ich wollte zur Weinprobe nach Kröv.«

  Vier oder fünf sagten der Reihe nach, wie sie eigentlich diesen Abend hätten verbringen wollen, und während dieses netten Geplauders stand ich auf und schlenderte zurück in die Raummitte. Dabei fotografierte ich die Leiche. Neben der Tür in die Küche stand ein weiteres Pärchen. Es ging sehr glatt und mühelos. Ich holte die Kamera immer gerade so weit aus der Tasche, daß die Linse frei war. Dabei tat ich so, als fischte ich nach dem Pfeifenstopfer. Dasselbe machte ich mit dem wichtigsten Pärchen am Rande der Eßecke. Dann eine weitere Dreiergruppe, auch in der Eßecke. Als ich fertig war, mußte ich achtzehn Männer fotografiert haben, fehlten also sieben. Zwei saßen auf der Wendeltreppe wie ein verliebtes Pärchen beim Schulball. Ich fotografierte sie und sagte dabei strahlend: »Darf ich Sie bitten, kurz Platz zu machen?« Ich quetschte mich an ihnen vorbei die Treppe hoch. Drei saßen oben auf dem Bett, das Gesicht zu mir, zwei standen an dem Stuhl vor dem Schreibtisch. Ich verlor die Pfeife, bückte mich nach vorn und erwischte sie alle zusammen, während sie mir besorgt zusahen, ob das kostbare Stück auch heil geblieben war.

  Der eine der beiden am Schreibtisch sagte gerade wütend: »Ich frage mich, weshalb die uns damals aus dem Fall hinausgeschmissen haben. Jetzt müssen wir wieder einsteigen. Schon von Amts wegen.«

  »Aber diesmal volle Pulle«, sagte der andere genauso wütend.

  »Aber sie werden versuchen, uns wieder rauszuschmeißen.«

  Die Dreiergruppe auf dem Bett hatte ein anderes Thema. Ein viel zu dicker Mann, ungefähr vierzig Jahre alt, sagte kurzatmig: »Du findest heutzutage nirgendwo mehr richtig schönes pappiges Graubrot. Nix als Vollkorn.«

  »Du kriegst auch kaum noch ordinäres Weißbrot«, pflichtete ihm ein Grauhaariger bei.

  Ich drehte mich um und stieg wieder hinab. Der kugelige Dicke unterbrach seine Unterredung mit dem Schönling, kam energisch auf mich zu und sagte bemüht locker: »Sie werden über diesen Fall doch nichts schreiben wollen, mein Lieber?«

  »Was soll ich schreiben? Daß jemand ihn umgebracht hat?«

  »Ja, zum Beispiel«, murmelte er bekümmert. »So etwas könnte empfindlich unsere Ermittlungen behindern. Stellen Sie sich vor, es steht in der BILD.«

  »Ich arbeite nicht für die. Also bitten Sie mich zu verschweigen, daß der General ermordet wurde?«

  »Richtig, genau das. Es ist ja sowieso Nachrichtensperre verhängt, darf ich Sie erinnern.«

  »Das haben wir aber nicht so gerne«, sagte ich.

  »Es ist mir auch nicht angenehm«, gab er zu. »Aber ich verlasse mich darauf, mein Lieber.« Er lächelte offen und freundlich.

  »Bitte, nennen Sie mich nicht immer mein Lieber. Ich bin kein Mitglied in Ihrem Verein.«

  Er sah mich an, und seine wässrig blauen Augen strahlten weiter. »Wenn Sie Ihre Schnauze nicht halten, reiße ich Ihnen persönlich die Eier ab!« Dann drehte er sich um und ging zu dem Schönling zurück.

  Ich ging hinaus auf den Ascheplatz und hockte mich erneut in einen Gartenstuhl. Böhmert stand an der Hausecke.

  »Können Sie mir Ihre private Adresse auf ein Stück Papier schreiben?«

  »Ich glaube nicht, daß ich Ihnen sagen sollte, daß ich in der Kirchgasse 28 in Adenau wohne. Aber sagen Sie mir mal, haben Sie da drin was gehört?«

  »Deshalb brauche ich ja Ihre Adresse. Ich melde mich. Wer sind diese Männer? MAD, BND, Verfassungsschutz ...?«

  »Ja, alles, was gut und teuer ist, und die Amerikaner mit CIA und NSA, der Geheimdienst der NATO Brüssel. Das ist auch nur logisch. Und weil alle drinhängen, müssen sie sich einigen, wer was macht.«

  »Und wer hat die meisten Chancen?«

  »Weiß ich nicht. Haben Sie Erfahrung mit Leichen?«

  »Sehr begrenzt. Wieso?«

  »Wie kalt war er, als Sie hier ankamen?«

  »Eine Spur kälter als normale lebende Haut«, sagte ich.

  »Dann könnte die Tatzeit so um acht Uhr abends gewesen sein«, überlegte er. »Sie steigen in die Geschichte ein, nicht wahr?«

  »Ich bin schon drin«, antwortete ich. »Ich habe den General gemocht, Sie nicht?«

  »Doch, doch, ein sehr guter Typ. Ich erinnere mich ...«

  In diesem Augenblick kam eine dunkle, kräftige Frauenstimme mit den Worten: »Wo ist die Party, Jungs?« Und dann: »Wo ist denn der alte Krieger, verdammt noch mal!«

  »Heilige Scheiße!« meinte Böhmert neben mir leise und sprang auf. Weil ihre Stimme so laut und resolut kam, herrschte plötzlich eine eisige Stille. Alle Köpfe fuhren herum. Da kam sie um die Ecke. Sie sah klein und bunt und zerbrechlich aus wie ein Clown.

  Ich spürte, daß Böhmert heftig werden wollte. »Ihre Leute haben die extra durchgelassen!« flüsterte ich scharf. »Extra!«

  Er sah mich verblüfft an und flüsterte dann zurück: »Na sicher!«

  »Was ist denn das für eine Party hier, und wo ist der alte Haudegen?« röhrte sie klar und laut. Dann etwas leiser, ein wenig erstaunt: »Ihr habt ja gar keine Musik hier.«

  Dann sah sie die Polizeiautos. Sie fuhr herum, als fürchte sie einen Angriff. Da war nichts. Sie wandte sich langsam wieder nach vorn, stand da, stemmte sich gegen das, was kommen würde.

  »Wer sind Sie denn, wenn ich fragen darf?« Horst Böhmert ging ganz ruhig auf sie zu.

  Die vielen Männer im Wohnzimmer verharrten so still, als hofften sie, nicht entdeckt zu werden.

  »Ich bin die Germaine«, sagte sie zögernd.

  »Germaine?« fragte Böhmert. »Germaine was?«

  »Germaine Suchmann«, sagte sie. Ihr Gesicht war angespannt, fast verzerrt. Aber sie konnte die Leiche nicht sehen. »Wo ist der General? Wo ist Otmar?«

  »Moment, Moment«, beruhigte Böhmert sie. »Hier ist gerade eine wichtige Konferenz. Bleiben Sie bitte dort stehen.« Er ließ sie einfach nicht vorbei.

  Dann entstand Bewegung im Wohnraum. Der kleine Dicke machte sich mit lächerlich kurzen Schritten auf den Weg.

  »Böhmert!« Seine Stimme war scharf. »Wie kann denn so etwas passieren?«

  Böhmert drehte sich nicht zu ihm herum; es war überdeutlich, daß er den Dicken nicht mochte. »Dies ist ein Tatort. Wenn ein Fremder unbedingt auf den Tatort will, dann sollte man ihn nicht aufhalten, sondern fragen, warum er das tut. So machen wir das wenigstens.«

  Er klang richtig arrogant. Mir wurde klar, daß Böhmert ein guter Polizist war. Aber ich stellte mir die Frage, ob man ihm je eine Karrierechance geben würde.

  Der Dicke begriff, schaltete zurück und sagte sanft: »Na sicher.« Dann machte er einen Schritt vorwärts. »Meine Dame. Was kann ich für Sie tun?«

  Der Wind ging sanft durch die Kronen der Buchen, die Gesellschaft im Wohnzimmer wirkte wie eine Versammlung von Schaufensterpuppen in einem modernen Stück. Die Lichtbahnen, die durch die Türen fielen, machten die Bühne perfekt.

  »Ich wollte zu General Otmar Ravenstein. Dies ist sein Haus.«

  »Wer sind Sie denn?«

  »Eine Freundin«, sagte sie einfach.

  »Es ist elf Uhr nachts«, bemerkte der kugelige Dicke. »Kommen Sie oft um diese Zeit?«

  »Ich bin der Meinung, das geht Sie nichts an«, sagte sie. »Wir waren verabredet, ich. .. Nein, das geht Sie nichts an.«

  »Wollen Sie sagen, er hat Sie herbestellt?«

  »Wenn Ihnen das besser gefällt, ja.« Sie versuchte einfach, um Böhmert und den kugeligen Dicken herumzugehen.

  Sie führten ein lautloses Ballett auf. Die Frau machte zwei Schritte links, drei Schritte rechts, und Böhmert und der kleine Dicke tanzten vor ihr her. .

  »Das ist doch lächerlich«, sagte ich laut. »Der General ist tot, er wurde erschossen.«

  Das Ballett hörte auf, Böhmert sah mich fast erleichtert an. »Richtig.«

  »Vollkommen richtig«, bestätigte der kugelige Dicke. »Das müssen wir Ihnen leider sagen.«

  Sie blieb da stehen und starrte vor sich auf den Boden. Sie war sicher nicht größer als einen Meter fünfundfünfzig. Ihr Gesicht war schmal und scharf geschnitten, mit großen dunklen Augen. Sie hatte lange, tiefbraune Haare, die sie mit einem feuerroten Tuch gebändigt hielt, wie wir es als Kinder von dem Seeräuber Errol Flynn kannten. Sie war nicht eigentlich hübsch, aber auf eine eigenwillige Weise schön, und vielleicht mochte sie diese Schönheit nicht, denn sie trug einen sackähnlichen Pullover in wild fließenden Farbstreifen. Grau, grün, rötlich. Dazu ein in braun-gelbe Streifen geschnittener Rock über rostroten Stiefeln. Sie hatte alles getan, um ein verwirrendes Bild von sich zu geben, und als sie mit großem Mund. »Das ist doch verrückt!« hauchte, sah ich die Zahnlücke. Oben fehlte ihr ein Schneidezahn, und das machte sie seltsam verletzlich.

  »Doch, es stimmt«, brummte Böhmert.

  Im Wohnraum bewegte sich noch immer niemand, das Wachsfigurenkabinett blieb komplett.

  »Ich will ihn sehen«, sagte sie fest.

  Der Dicke musterte sie mit dem kalten Interesse eines Käfersammlers und meinte dann: »Kommen Sie.«

  Sie machte ein paar Schritte nach vorn, und Böhmert hielt sich an ihrer Seite. Vielleicht war sie dreißig Jahre alt, vielleicht vierzig, das Nachtlicht machte ihr Gesicht hart. Auf dem Rücken trug sie einen kleinen, feuerroten, vollgepackten Rucksack. Die Männer im Wohnraum sammelten sich jetzt an den Fenstertüren und kamen hinaus; der Dicke, Böhmert und die Frau gingen hinein. Niemand sagte ein Wort, und niemand außer der Frau hob den Blick.

  Dann stand sie da, sah wie hypnotisiert auf den General hinunter und flüsterte: »Das ist ja furchtbar!«

  »Ja.« Der Dicke war betrübt.

  »Wann ist er.. . wie ist das geschehen?«

  »Gegen acht Uhr heute abend. Wann sollten Sie hier sein?«

  »Es war keine Zeit ausgemacht. Ich rief ihn an und sagte, ich käme vorbei.«

  »In welchem Verhältnis ... ich meine, was sind Sie für den General?«

  »Oh.« Sie drehte sich um und starrte zu Boden. »Wir sind Freunde. Ich bin eine Freundin von Otmar.«

  »Freundin?« fragte der Dicke interessiert. »Was heißt das, bitte?«

  »Was das heißt? Ja, was heißt das? Wir haben zusammen geschlafen. Wir mochten uns, wenn Sie wissen, was das ist.«

  »Aha.« Der Dicke war jetzt irritiert. »Und wann ... ich meine, wann haben Sie so mit ihm geschlafen?«

  Sie war nicht bei der Sache. »In München, in Washington, in Bonn, in Meckenheim, hier, suchen Sie es sich aus. Wissen Sie schon, wer es war?«

  »Nein.« Der Dicke war ungehalten, als stünde ihr diese Frage nicht zu. »Wir warten auf den Staatsanwalt. Haben Sie denn eine Ahnung, wer das getan haben könnte?«

  Sie schüttelte den Kopf, hockte sich im Türrahmen auf die Fersen und sah in die Bäume. »Er war so sanft. Ich kann gar nicht sagen, wie sanft er war. Das kann doch niemand absichtlich getan haben.«

  »Tja«, sagte der Dicke vage, und einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle er sich neben sie hocken. »Wann haben Sie mit ihm telefoniert?«

  »Heute morgen gegen zehn Uhr. Er war ganz außer Atem, er sagte, er hackte gerade Holz. Er fragte, ob ich nicht Lust hätte zu kommen.«

  »Aber warum kommen Sie erst so spät?«

  »Ich habe mich verspätet«, sagte sie uninteressiert und starrte an mir vorbei in den Wald.

  »Noch eine wichtige Frage«, meinte der Dicke. »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

  »Ungefähr vor sechs Monaten«, antwortete sie.

  »Seitdem auch nicht telefoniert?«

  »Nein. Das ging nicht. Ich war in Washington bei meinem Mann.«

  »Aha«, meinte der Dicke, als sei das alles völlig normal. »Ihr Mann? In Washington? Was macht der da?«

  »Deutsche Botschaft«, murmelte sie.

  »Aha. Und wo können wir Sie erreichen? Ich meine, falls wir Sie erreichen müssen?«

  »Ich habe eine Standadresse im PLAZA in Köln. Die wissen, wo ich bin. Meistens.«

  »Und wenn sie es nicht wissen?«

  »Dann werden Sie sich gedulden müssen«, entschied sie. Sie kam an den Gartentisch, setzte sich, nahm eine Packung Tabak aus den Falten ihres Rocks und drehte sich eine Zigarette. »Haben Sie mal Feuer?« fragte sie mich.

  Ich sah, daß sie den Zahn frisch verloren haben mußte, und sie war eher dreißig als vierzig Jahre alt.

  »Wer sind Sie? Auch so ein Wichtiger?«

  »Baumeister, Siggi Baumeister. Ich habe ihn gefunden.«

  »Wer sind diese ganzen Kerle?«

  »So ungefähr alle Geheimdienste der Welt. Wer hat Ihnen den Zahn ausgeschlagen?«

  Sie hob schnell den Kopf und grinste mich mager an. »Sie müssen ein Chauvi sein. Das war einer, der mich auf der Autobahn mitgenommen hat. Ich sollte die Fahrkarte nachlösen; er ist mir auf einem Rastplatz an die Wäsche gegangen. Ihm fehlen dafür jetzt bestimmt zwei, drei Zähne.«

  »Haben Sie das trainiert? Das mit den Zähnen?«

  »Nein. Ich habe einfach einen Schuh genommen. Und stellen Sie sich vor: Er war auch noch sauer!«

  »Wissen Sie etwas von den Feinden des Generals?«

  »Nein. Aber er hatte sicher eine Menge.«

  »Warum?«

  »Na ja, weil er eben er war.«

  »Aha.«

  Die Männer hatten erneut Grüppchen gebildet und wanderten wie Strafgefangene endlos um das Haus. Sie sahen die Frau abschätzend an. Es war nicht die Art Blicke, die fragten, ob sie vielleicht den General erschossen haben könnte, sondern die viel direktere Art, wie auf dem Viehmarkt.

  Es war 23.16 Uhr, als der Staatsanwalt eintraf. Er war ein kleiner, schmaler Mann um die fünfzig mit einer Halbglatze. Er schritt militärisch scharf aus, wobei er nach links und rechts den Kopf neigte und in unglaublich schneller Abfolge sein Lächeln ein- und ausschaltete. In seinem Kielwasser schwamm ein dicklicher junger Mann mit einem Teiggesicht und mit einer dicken, ausgebeulten Aktentasche, die er demonstrativ neben der Leiche abstellte, als wollte er sagen, daß von nun an alles Tote und Lebendige an diesem Platz ihm gehörte.

  »Doktor Faßbender!« bellte der Staatsanwalt. »Stellen Sie zunächst fest, was festzustellen ist!« Der kugelige Dicke wollte sich ihm nähern, aber er winkte mit einer scharfen Geste ab. »Später, später. Zuerst das Opfer.«

  Der junge Doktor Faßbender kniete also neben dem Kopf des Generals nieder, sah ihm in die Augen, faßte vorsichtig an die Nasenspitze der Leiche, beugte sich weiter und dichter darüber und fragte dann: »Irgendwelche Anhaltspunkte, die Todeszeit betreffend?«

  »Etwa gegen zwanzig Uhr«, half ich aus. Der wichtige Dicke sah mich strafend an, als habe ich verbotenerweise einem Mitschüler vorgesagt.

  »Kann hinkommen«, sagte Doktor Faßbender, »kann durchaus sein. Nehmen wir ihn mit?«

  »Selbstverständlich«, sagte der Staatsanwalt.

  »Wohl kaum«, murmelte der Dicke milde.

  Der Schönling, mit dem er gesprochen hatte, setzte hinzu: »Unmöglich. Wir brauchen ihn.« Es war eindeutig, er war Amerikaner.

  »Etwas eigenartig«, meinte der Staatsanwalt in milder Ironie.

  »Das wollte ich Ihnen erklären«, murmelte der Dicke. »Kommen Sie mal beiseite.« Er ging mit dem Staatsanwalt unter die Buchen, und sie sprachen kurz miteinander.

  »Doktor Faßbender«, sagte der Staatsanwalt dann leise und verwirrt, »füllen Sie die üblichen Unterlagen aus. Vermutliche Tatzeit, vermutliche Todesursache und so weiter. Legen Sie mir die Sachen morgen früh auf den Tisch. Wir gehen wieder.« Er sah den Dicken an, als sei vielleicht noch Hoffnung, etwas zu retten. »Und wegen der Zeugen?«

  Der Dicke senkte artig den Blick und schüttelte den Kopf.

  »Geht uns alles nix an«, seufzte der Staatsanwalt verbittert.

  »Wie Sie meinen.« Auch Doktor Faßbender war verwirrt. Dann zog er aus seiner großen Aktentasche eine Polaroidkamera und fotografierte das Gesicht des Toten aus nächster Nähe.

  »Sammy!« befahl der schöne Mann in einem Ton, als habe er es mit einem Irren zu tun.

  Sammy war ein dunkelhaariger, hünenhafter Mann mit sehr weichen, schnellen Bewegungen. Er machte ein paar Schritte zu dem Arzt hin und nahm ihm das Bild weg, das gerade surrend aus der Kamera gerutscht war. »Sorry«, sagte er und zerriß es mühelos. Faßbender starrte seinen Vorgesetzten hilfesuchend an, aber der half nicht.

  Bevor sie um die Ecke verschwanden, wünschte der Staatsanwalt mühsam gefaßt: »Einen schönen Abend, die Herren!«, und alle antworteten im Chor: »Schönen Abend!« Der kugelige Dicke entschied: »Meine Herren, wir sehen uns zur Abschlußbesprechung im oberen Raum. Und Sie, Frau Suchmann, und Sie, Herr Baumeister, warten bitte noch auf meine Weisungen.«

  Sie reagierte wie eine trotzige Fünfzehnjährige: »Das hältst du im Kopf nicht aus, wenn du einen hast.«

  Die Männer trampelten alle wieder in das Haus, an der Leiche vorbei, die Wendeltreppe hinauf. Es gab Stockungen, weil sie sich offensichtlich bemühten, die Treppe in der Reihenfolge der Hierarchie zu erklimmen.

  »Kannten Sie ihn gut?« fragte sie.

  »Ja und nein. Es gibt hier in der Eifel ein paar Männer, die allein leben und sich mögen, weil sie irgendwie ähnliche Typen sind. Ich habe ihn im August letzten Jahres kennengelernt.«

  »In Bonn sicher.«

  »Nein, hier in einem Steinbruch. Er beobachtete Rote Milane, und ich war hinter einem Bergmolchpärchen her. Dann trafen wir uns bei mir oder bei ihm. Ganz zwanglos zu einem Tratsch.«

  »Hat er erwähnt, ob seine Kinder in der letzten Zeit bei ihm waren?«

  »Nein. Er sprach nie oder selten über Privates. Ich wußte gar nicht, daß er Kinder hat. Wo sind diese Kinder?«

  »Johannes ist in Hamburg an der Bundeswehrakademie. Die Tochter lebt in Washington, Trude heißt sie. Sie ist da verheiratet.«

  »Wenn ich Sie frage, ob der General aus privaten oder militärischen Gründen erschossen wurde, was würden Sie antworten?«

  Sie war wütend; sie starrte mich aus weit offenen Augen an. »Er ist tot, und Sie stellen derartige Fragen.«

  »Sie haben mich gefragt, ob seine Kinder in der letzten Zeit hier waren. Sie hatten doch auch einen Grund, das zu fragen, verdammt noch mal.«

  Sie sah in die Wipfel der Bäume. »Ja, ja. Komisch, zuerst habe ich gedacht: Da haben sich die Kinder geholt, wonach sie gieren.«

  »Sagten Sie gieren?«

  »Ja. Die Kinder sind geldgeil. Es ist so furchtbar, einen Mann so zu erschießen.«

  »Hat er mit Ihnen je über seine Feinde gesprochen?«

  »Nein, so ausdrücklich nicht. Er hat immer vorausgesetzt, daß ich weiß, daß er Feinde hat. Muß er ja auch. Wenn ein General plötzlich auf die Idee kommt, Kriege seien nicht mehr führbar. Er hat auf gut deutsch gesagt: Alle Militärs, die einem Traum vom totalen Sieg nachhängen, sind Arschlöcher!«

  »Das habe ich irgendwo gelesen. War er eigentlich ein fröhlicher Mann?«

  Sie strahlte, es war, als sei eine kleine Sonne aufgestiegen.

  »O ja, du lieber Himmel, war er fröhlich. Alles an ihm war fröhlich, sogar seine Hände.« Sie schloß die Augen und kniff die Lippen zusammen. Sie zündete sich hastig und zittrig eine Gauloises an und war verlegen. »Er mochte Willy Brandt und hatte auch dieselben Lieblingswitze wie Brandt. Kennen Sie den von Lenin?«

  »Ich kenne kaum gute Witze.«

  »Der Jude Schmuel hat jahrelang einen Ausreiseantrag aus der Sowjetunion nach Israel laufen. Endlich kann er raus. Er geht auf dem Moskauer Flughafen durch den Zoll, und die Zöllner entdecken in seinem Gepäck einen großen Metallklumpen. Schmuel muß ihn auspacken, es ist eine Büste Lenins. >Was willst du damit in Israel?< fragen sie. >Nun<, sagt Schmuel, >werde ich in Israel Heimweh nach Rußland haben. Werde ich Lenin angucken und damit fertig werden.< Die israelischen Zöllner in Tel Aviv entdecken den Metallklumpen natürlich auch und fragen ihn. Sagt Schmuel: >Nun, wenn ich Heimweh nach Rußland kriege, und ich werde es kriegen, sehe ich Lenin an, und es wird sich beruhigen.< Schmuel bekommt eine Wohnung und stellt die Büste auf einen Sockel. Kommt ein sehr konservatives Ehepaar zu Besuch. >Lenin? Hier? Lenin?< - >Nein, nein<, lächelt Schmuel, >Platin!«<

  Ich lachte, es war wie eine Explosion.

  Horst Böhmert kam um die Ecke und fragte: »Wird hier schon das Fell versoffen?«

  Ich erzählte ihm den Witz, und er lachte und setzte sich zu uns.

  Germaine Suchmann stand auf: »Darf ich die Toilette benutzen?«

  »Sicher«, murmelte Böhmert. »Irgendwelche Spurenspezialisten werden erst gar nicht kommen.«

  »Also wird gar nicht untersucht?«

  Er schüttelte den Kopf und sah hinter der Frau her. »Der General war ein wichtiger Mann, sehr wichtig. Sie werden es herunterspielen, sie werden sich irgend etwas einfallen lassen. Sie werden es natürlich untersuchen, aber ganz heimlich. Es wird still werden.«

  »Woher wissen Sie das?«

  »Man kriegt so einiges mit.«

  Germaine Suchmann kam aus der Badezimmertür und ging dann in den Windfang. Sie kam um die Ecke des Hauses und setzte sich wieder zu uns.

  Die Versammlung in des Generals Schlafzimmer war zu Ende, und sie kamen die Wendeltreppe herunter. Der Dicke trat an den Tisch. »Herr Böhmert, mit Ihnen spreche ich später. Haben Sie die Siegel?«

  »Natürlich«, sagte Böhmert und verschwand.

  Der Dicke beugte sich vor. »Was hier geschah, ist schlimm. Wie Sie wissen, war er nicht irgendein General ...«

  »ATOMAL und NATO COSMIC«, sagte ich schnell.

  »Ach, das wissen Sie schon. Nun, so ist es. Wir sind nach Lage der Dinge nicht geneigt anzunehmen, daß das irgendwie mit des Generals früherer dienstlicher Tätigkeit zu tun hat. Wir glauben an eine höchst brutale private Sache. Trotzdem wollen wir sichergehen und alle Möglichkeiten untersuchen. Deshalb absolute Nachrichtensperre, Herr Baumeister. Sie dürfen in dieser Sache nicht recherchieren. Wir wissen, daß Sie gern wider den Stachel locken, aber in diesem Fall kenne ich nur einen Haftbefehl und kein Pardon.« Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern setzte hinzu: »Wir ziehen Sie insofern ins Vertrauen, als wir Ihnen genau sagen, was wir beabsichtigen. Da wir nicht verhindern können, daß der Tod des Generals bekannt wird, werden wir eine offizielle Meldung herausgeben. Die wird besagen, daß der General beim Reinigen seines Gewehres verunglückte und ...«

  »Er besaß doch kein Gewehr!« platzte Germaine Suchmann.

  »Sie wissen das«, murmelte der Dicke melancholisch. »Die Öffentlichkeit weiß das nicht.«

  »Wer wird es untersuchen?« fragte ich.

  »Zuerst ich, also meine Dienststelle ...«

  »Wer sind Sie denn überhaupt?« fragte ich.

  »Innenministerium«, sagte er ruhig und sah mich an.

  »Das besagt doch nichts«, protestierte ich. »Was ist, wenn ich Sie erreichen muß?« Ich hatte ihn in der Falle.

  »Sie sollen doch nicht recherchieren«, mahnte er.

  »Wir sind hier in der Eifel, mein guter Mann, und es kann durchaus sein, daß ich Dinge erfahre, die Sie niemals erfahren würden. Leuchtet das Ihrer unendlichen Güte ein?«

  »Arrogant, aber richtig. Sagen wir so: Wenn Sie mir etwas Wichtiges weitergeben möchten, wenden Sie sich an die Pressestelle des Innenministeriums. Verlangen Sie Josef Schmitz. Sagen Sie ihm, es betreffe Axel, einfach Axel. Ich rufe Sie dann an.«

  »Ihr seid alle paranoid«, murmelte ich. »Gut, lieber Axel. Wohin kommt die Leiche jetzt?«

  »Nicht recherchieren!« sagte er kalt.

  »Ich frage, weil ich zu seiner Beerdigung gehen will.«

  »Wir werden es Sie wissen lassen. Und nun zu Ihnen, gnädige Frau. Wie wir annehmen, haben Sie sehr viele Bekannte in Kreisen des diplomatischen Korps. Es ist Ihnen aber nicht gestattet, zu irgendeinem Menschen über die Vorkommnisse hier zu sprechen.«

  Sie nickte, und ihr Gesicht war weiß.

  Der Dicke rief plötzlich: »Meine Herren! Wir können!« Er wechselte noch einige Worte mit Böhmert, dann marschierte der Trupp den Weg hinunter zur Landstraße, über den Zaun und durch die Wiese zu den Hubschraubern. Ameisen.

  Böhmert seufzte: »Die Veranstaltung ist zu Ende, Sie können endlich gehen. Ich warte noch auf die Ambulanz, die die Leiche holt...«

  »Wohin?« fragte ich schnell.

  »Bundeswehrkrankenhaus Koblenz.«

  Die Motoren der Hubschrauber heulten auf, die Rotoren begannen sich zu drehen, die grellen Scheinwerfer leuchteten, und die Stille der Eifel war kaputt. Sie hoben ab und flogen davon.

  »Ob ich oben in Otmars Bett schlafen kann?« fragte Germaine.

  »Auf keinen Fall.« Böhmert schüttelte den Kopf. »Das Haus wird geschlossen, versiegelt.«

  »Aber, aber...« Sie war verwirrt.

  »Sie können bei mir übernachten«, beruhigte ich sie. »Sagen Sie, Herr Böhmert, ist dieses Haus eigentlich von anderen Häusern aus zu beobachten?«

  »Gute Frage. Eigentlich nicht. Quer über die Straße liegt der Hof von Adolf Wirges. Vierhundert Meter, würde ich sagen. Aber der kann dieses Haus nur sehen, wenn er mit einem Fernglas auf den Dachboden klettert.«

  »Wir hauen ab. Grüßen Sie Ihre Frau.« Ich stopfte mir eine Pfeife, zündete sie an und ging. Ich spürte, wie sie hinter mir herkam und den kleinen Rucksack über den Waldboden hinter sich herschleifen ließ.

  Sie sagte heftig: »Verdammte Scheiße!«

  In der Ferne verklang der Lärm der Hubschrauber, der Streifenwagen, der die Zufahrt blockierte, glitt zur Seite, die Beamten grüßten uns freundlich.

  »Sie müssen erst einmal schlafen«, sagte ich, nur um etwas zu sagen. Krümel kam auf meinen Schoß. »Mein Tiger«, stellte ich vor. Dann überlegte ich, was sie ablenken könnte, und entschied mich für ein Band mit Haydn-Quintetten. Das drückte ich schleunigst wieder aus, es glitt sehr schnell in Moll. Ich versuchte es mit Manhattan Transfer und schaltete auch das wieder aus. In meiner Hilflosigkeit gab ich Vollgas und raste, als ginge es um unser Leben.

  »Halt mal an!« preßte sie irgendwann heraus. »Halt diese verdammte Karre an!«

  Als ich in der Einfahrt eines Feldweges stoppte, fiel ihr der Kopf auf die Brust, und sie schluchzte: »Verdammt noch mal, und ich habe ihn doch so lieb gehabt.« Sie weinte laut, stieg plötzlich aus, stolperte ein paar Schritte und übergab sich. Krümel sprang hinaus und sah ihr aufgeregt zu.