»Es ist merkwürdig«, meinte Germaine, »seitdem ich mit dir rumziehe, hab ich alle paar Stunden das Gefühl, duschen zu müssen.«
»Die Beschäftigung mit unserer Demokratie erzeugt zuweilen Waschzwänge«, erklärte ich ihr. »Aber bevor du abtauchst, solltest du vielleicht am besten wegen der acht Stunden Zeitunterschied deine Leute in Washington jetzt gleich anrufen, und genauso diese treue Seele namens Seepferdchen in Berlin. Wenn wir nicht bald weiterkommen, können wir aufgeben.«
»Du gibst tatsächlich auf, wenn die zivile Seite nichts hergibt?«
»Ja. Ich bin kein Held. Wenn ich außer Prügel von neurotischen Geheimdienstfritzen nichts ernten kann, dann steige ich aus.«
»Hm«, sagte sie und sah mich mit einem merkwürdigen Ausdruck an.
Als wir auf den Hof fuhren, kam der erste heftige Windstoß. Die große Linde ächzte und sah aus wie eine wildbewegte Wasserfläche, Krümel kam uns entgegen und trauerte offensichtlich ihrem Freund nach. Sie rieb sich jämmerlich maunzend an meinen Beinen. Ich ging mit ihr durch den Garten, wir hockten uns an die große Bruchsteinmauer und konnten durch das Fenster Germaine telefonieren sehen. Sie sprach mit dem ganzen Körper, und sie lachte unentwegt.
Krümel fauchte den Frosch Fritz an, dem ich in Spenderlaune ein Plastikbecken in die Erde gesenkt hatte. Aber Fritz glotzte sie nur ungerührt an und schien sich auf das Gewitter zu freuen, das ihm frisches Wasser bringen würde und möglicherweise ein paar fette Insekten.
»Laß ihn in Ruhe«, sagte ich, »er ist ein Philosoph.«
Die Böen wurden heftiger; schließlich blies ein kräftiger, steter Wind. Vom Süden her, über der Mosel, quollen die Wolken grauschwarz und dunkelblau in den Himmel. Eine Amsel warnte keckernd in der Hecke, zwei verliebte Schwalben flogen die letzten Kapriolen vor dem Regen, und Krümel verdrückte sich in schnellen Sprüngen zu ihrem Kellerfenster. Nur der Frosch und ich blieben hocken und starrten vor uns hin. Die Tropfen fielen senkrecht und waren groß und schwer. Dann wurde der Regen schlagartig dicht und rauschte aus niedrig hängenden Wolken.
Erst als ich bis auf die Haut naß war, ging ich langsam ins Haus. Es war ein gutes Gefühl, so reingewaschen zu sein.
Germaine telefonierte noch immer, und ich ging ins Bad, um die nassen Sachen auszuziehen. Dann hörte ich unter Blitz und knallendem Donner den >Stormy Weather Blues<, und ich dachte mit Wut daran, daß es in dem Chaos dieses Falles wahrscheinlich nie mehr gelingen würde herauszufinden, weshalb der junge Carlo in seiner sonnenbeschienenen Idylle erschossen werden mußte.
Mit einem »Whow!« kam Germaine herein und sagte aufgeregt: »Penelope ist langweilig. Penelope weiß nichts. Aber Whoopi weiß ziemlich viel.«
»Wer ist Whoopi?«
»Eine Schwarze irgendwo aus Louisiana, eine ganz gute Freundin. Eine der besten. Ihr Macker ist irgendwas bei den Rauschgiftfritzen von der DEA, du weißt schon, Drug Enforcement Administration. Die machen ziemlich viel mit der CIA. Whoopis Typ sagt, daß der General damals in Washington mit dem Gutachten einen Riesenwirbel gemacht hat. Plötzlich waren alle an ihm interessiert, besonders die Leute vom KGB, die alle bei Aeroflot und den Handelsmissionen sitzen. Die Amis wollten natürlich das Gutachten auch haben, aber sie haben es nicht gekriegt. Anfangs jedenfalls nicht. Es war dem Bundeskanzler wohl peinlich, daß ein deutscher General so friedlich sein kann. Dann hatten sie es aber plötzlich doch. Whoopi sagte, die Amis hätten es sich beim Bundeskanzler kopieren dürfen. Seitdem spuckten alle Falken in Washington dem General vor die Füße. Der hatte sein Exemplar in der Geheimschutzstelle der Deutschen Botschaft deponiert, wie du ja weißt. Und jetzt stell dir vor: Die in der Botschaft in Washington haben das Gutachten eingetütet und dem diplomatischen Kurier mitgegeben. Es ist in Bonn auch angekommen, aber anstelle des Gutachtens waren nur leere Seiten drin.« Sie sah mich strahlend an, als sei das ein prima Gag. »Und nun Seepferdchen. Sie kann uns nicht treffen. Sie fliegt nämlich morgen mittag mit einer Pan Am nach Rom, von da zur Kur nach Ischia. Sie sagt, sie hat nur noch morgen früh vor dem Abflug in Tegel zwei Stunden für uns. Gesundheit geht vor, sagt sie.«
»Wenn wir sofort fahren, schaffen wir das noch.«
»Ist das dein Ernst?«
»Ja natürlich. Pack eine Zahnbürste ein, vergiß deinen Paß nicht, wir fahren jetzt.«
»Dann muß ich aber noch ganz schnell ein paar Sachen packen.«
Krümel wollte mit, aber ich hatte Bedenken wegen der DDR-Zöllner. Die hatten nämlich bestimmt noch nicht mitbekommen, daß sich auch bei ihnen alles immer schneller veränderte. Also türmte ich ihr in der Küche einen 3-Tage-Fraß in Plastikschalen und ermahnte sie, es sich gut einzuteilen. Wir fuhren um Mitternacht.
Das Gewitter hatte sich verabschiedet, der Himmel war dunkel, die Luft warm. Germaine hatte Jeans und einen dünnen Pullover an, hockte mit angezogenen Beinen auf dem Sitz und erklärte: »Ich werde wahrscheinlich gleich einschlafen, denn einer muß fit sein, wenn wir Seepferdchen interviewen wollen.« Sie schlief dann bis Berlin keine Minute. Es ging schnell. Dreieck Leverkusen, Dortmund, auf die völlig leere Bahn nach Hannover, Dreieck Hannover Richtung Helmstedt. Die ganzen, unendlich langen Jahre der Teilung dieses Landes war es so, daß der Normaleuropäer auf der Reise in die DDR zwanghaft an der Autobahnraststätte Helmstedt anhielt, um noch einmal zu tanken, bevor er sich auf die Reise durch die Kälte des täglichen Sozialismus machte. Ich machte auch halt, tankte auch.
Wir aßen eine Currywurst, tranken einen Kaffee, und wir setzten uns nicht einmal, da in diesem scheinbar ewigen Provisorium Helmstedt kein Mensch nach einem gemütlichen Platz Ausschau hielt. Wir passierten den westlichen Zoll, ohne anhalten zu müssen, und erreichten die Lichterstadt des DDR-Grenzpunktes, diese endlose Anhäufung häßlicher greller Neonleuchten, diese Versammlung von Scheinwerfertürmen, den Platz der Furcht zwischen Ost und West, der mich immer an die schattenlose Brutalität von Schlachthöfen erinnerte. »Das ist alles so überholt«, flüsterte Germaine. Komisch, daß man an solchen Orten automatisch leise spricht. Nun, damit ist es dort wenigstens inzwischen vorbei. Schön wäre es nur gewesen, wenn statt der lauten nationalen Töne der moderate Klang freundlicher Verständigung an die Stelle des Fürchtens getreten wäre.
Wir fuhren ohne Zwischenstopp weiter in die konsumüberladene Glitzerstadt des sogenannten freien Westens. Es war sieben Uhr morgens, als wir ankamen, der Tag versprach heiß zu werden.
»Wo wohnt sie?«
»Wehrgraben in Spandau. Kriege ich erst ein Frühstück?«
Ich fuhr in die Innenstadt, wir parkten am Bahnhof Zoo und schlenderten den Ku'damm hinunter und suchten uns ein Frühstück. Es gab erst ein paar Touristen, und am Europa-Center fanden wir ein Straßencafe, das offen war. Noch ließ sich die Stadt aushalten.
Pünktlich um acht hielten wir vor dem Haus am Wehrgraben in Spandau. Seepferdchen hieß Isolde, Isolde Eutin.
Sie stand klein, kompakt, strahlend mit weit ausgebreiteten Armen in der Wohnungstür und quietschte: »Ich hab's doch geahnt! Kindchen, wie geht es dir? Wie geht es meiner kleinen Georgetown-Hexe? Ist das da deine neue Flamme?« Sie war bestenfalls einen Meter fünfzig groß, aber sie war überwältigend. Ihr Haar war wusche-lig silbergrau, ihr Gesicht rund und rosig wie das eines Babys. Sie konnte alles zwischen sechzig und achtzig sein.
»Ich mußte kommen«, sagte Germaine und umarmte sie. »Ich mußte kommen, verstehst du? Otmar ist tot. Ich konnte es dir am Telefon nicht sagen. Irgendwer hat ihn erschossen.«
Sie wurde von einem Moment zum anderen grau und steinalt. Sie hielt sich am Geländer fest, wollte etwas sagen, blieb stumm. Dann siegte das, was man ihr ein ganzes Leben eingetrichtert hatte: Disziplin, eiserne Disziplin. Sie winkte uns matt, ihr zu folgen, und ging durch die Wohnungstür. Durch einen großen Vorraum kamen wir in eines jener alten Berliner Wohnzimmer, die mit Möbeln und Krimskrams aus zwei Jahrhunderten vollgestellt sind und bei denen kein Mensch auf die Idee käme, das einen Stilbruch zu nennen.
»Ich werde nicht weinen. Ich frage auch nicht, ob ich richtig gehört habe. Ja, ich habe richtig gehört, er ist tot. Ich habe auch gehört, daß er erschossen worden ist, also müssen wir reden.«
Sie setzte sich auf einen echten Empiresessel, stützte sich auf die stämmigen Oberschenkel, und dann brach es aus ihr heraus: »Ich habe ihm, gottverdammt, immer gesagt, er soll vorsichtig sein. Aber war er vorsichtig? Nein, war er nie. Ich ... Ach Gott, ist das furchtbar. Wann ist es geschehen?«
Germaine schniefte in ein Taschentuch. »Das alles ist erst ein paar Stunden her. Siggi Baumeister will herausfinden, wer es getan hat.«
Isolde Eutin stand auf und bewegte sich zu den langen Tüllgardinen vor den hohen Fenstern. »Wir haben vor vierzehn Tagen noch miteinander telefoniert. Er war so gutgelaunt, so lustig. Er hat gesagt, ich soll mein altes Skelett in Ischia überholen lassen, nach Berlin zurückkehren und einen richtigen Kerl heiraten. Und jetzt. . . Ich fürchte, ich brauche noch eine Weile, Kinder.« Sie ging langsam und ganz in sich versunken zwischen uns durch, ihr Mund bewegte sich, als spräche sie weiter, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Dann ging ein Ruck durch die kleine Frau. »O Gott, Kinder, ihr seid doch sicher die ganze Nacht durch gefahren. Geh doch bitte in die Küche und brau euch einen Kaffee, sei so lieb, du wirst schon alles finden. Ich muß mal eine Weile ...« Sie schüttelte den Kopf und ging hinaus.
»Sie hat ihn sehr verehrt«, murmelte Germaine. »Ich glaube, sie hat ihn richtig geliebt. Willst du einen Kaffee?«
»Nein. Wie alt ist sie eigentlich?«
»Ich weiß nicht, aber bestimmt 75. Es gab für sie eine Sonderregelung, sie wurde erst viel später pensioniert. Es gab Leute, die nannten sie die Steineiche, weil sie nie krank war und niemals eine Schwäche zeigte.«
»Zwei Drittel aller Eichen sind todkrank«, sagte ich, nur um etwas zu sagen. Dann schwiegen wir beide.
Ich weiß nicht mehr, wieviel Zeit verging, bis Isolde Eutin wieder auftauchte. Sie hatte sich in Schwarz gekleidet. Eine schwarze Hose zu einem schwarzen Männerhemd. Sie bewegte sich, als müsse sie angestrengt darauf achten, nicht gegen die Möbel zu laufen. Sie setzte sich vorsichtig in einen Sessel, seufzte und sagte: »Nun, erzählt mal, Kinder.«
Germaine erzählte.
Die Sonne wanderte vor den Fenstern von links nach rechts, irgendwann schlief ich ein und wurde wach, als Isolde gerade sagte: »Er war ja schon ein verrückter Hund, er hat's ihnen wirklich dauernd gezeigt.«
»Wir müssen jetzt deine Koffer packen«, meinte Germaine.
»Ja, ja«, sagte sie gedankenverloren. »Ich muß die Klamotten auswechseln. Mehr Schwarz, das bin ich ihm schuldig. Und dann muß ich auch noch etwas ändern.« Sie stand auf und ging hinaus in den Flur, wo auf einem Wandbrettchen das Telefon stand. Sie wählte und sagte dann: »Isolde hier. Hör mal, Doktor, ich kann nicht in dieses Schlammbad fahren, ich habe einen Trauerfall in der Familie. - Nein, liebster Doktor, das ist zu wichtig, da lass' ich den Schlamm sausen. - Nein, ich rege mich nicht auf, ich nehme auch brav meine Pillen. Mach's gut, Doktor.« Dann kam sie wieder herein. »Das habe ich vom Hals. Nun kann ich mit euch fahren.«
»Wir werden aber dauernd unterwegs sein«, wandte ich hastig ein.
»Das macht doch nix«, sagte sie einfach. »Ihr braucht kein Händchen zu halten, ich bin allein alt geworden. Ich kann ja ein Hotelzimmer nehmen.«
»Ich glaube, das ist eine wirklich gute Idee. Du wirst uns sehr helfen können«, sagte Germaine, ehe ich noch irgend etwas dagegen sagen konnte.
»Leg dich mal eine Weile in mein Bett, Kindchen«, sagte Isolde. »Ich vergesse immer, daß ihr ja gar nicht geschlafen habt.« Sie nahm Germaine um die Schulter und ging mit ihr hinaus. Ich paffte eine Pfeife vor mich hin und dachte darüber nach, wie der General es fertiggebracht haben könnte, sein eigenes Gutachten zu klauen. Ich hoffte inständig, daß Isolde davon etwas wußte.
Ich muß wieder eingeschlafen sein, denn ich schrak hoch, weil sie mich an der Schulter rüttelte und jammerte. »Ach Gott, wo steckt sie denn bloß? Sie wird doch keine Dummheiten machen.«
»Was ist denn?«
»Germaine ist weg. Ich wollte gucken, ob sie gut schläft, aber sie ist weg. Im Bad ist sie auch nicht.«
»Wieviel Uhr ist es denn?«
»Es ist drei, ich habe meine Koffer gepackt, wir können. Wo mag sie nur stecken?«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Sie ist in Berlin zu Hause. Sie taucht bestimmt bald wieder auf. Hören Sie, ich mache mir jetzt einen Kaffee. Können wir dann reden?«
»Ich darf doch eigentlich nichts sagen, das sind ja alles Dienstgeheimnisse. Als ich in Pension ging, haben sie gesagt: Die Geheimhaltungspflicht wird niemals aufgehoben, bis zum Tod nicht.«
»Die Leute, die ihn umgebracht haben, halten sich auch nicht an Geheimhaltung. Und er zumindest ist jetzt tot.«
»Ja, ja, Sie haben ja recht.«
Ich ging in die Küche, braute mir einen Kaffee, dann hockte ich mich in einen Sessel und stopfte mir die Jean-tet. Isolde setzte sich mir gegenüber und sah so aus wie ein braves, folgsames Kind, das versucht, sich an alles zu erinnern, wonach man es gefragt hat.
»Germaine hat mir von dem Gutachten erzählt. Es kann sein, daß diese Geschichte nichts mit seinem Tod zu tun hat, sie kann aber auch der Grund sein. Hatte er in Washington irgendwelche Beziehungen zu den Russen?« fragte ich zur Einleitung.
»O Gott, nein!« sagte sie so schnell und heftig, als sei das ein Makel.
»Aber man meint inzwischen doch, auch offiziell, daß Russen so schlechte Leute gar nicht sind«, wandte ich ein.
»Sicher, und das ist gut so, aber dienstliche Beziehungen zu Russen waren trotzdem streng verboten, von privaten wollen wir gar nicht erst reden. Es gab wohl schon mal Russen, mit denen man auf Empfängen in Berührung kam, aber eben nur oberflächlich.«
»Gut. Also keine sichtbare Verbindung zu Russen. Kommen wir zu dem verschwundenen Gutachten. Wie konnte das geschehen?«
»Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht.« Sie war mir viel zu rasch mit der Antwort. »Und außerdem lag es ja im Safe in der Botschaft, nicht bei uns.« Sie wich meinem Blick aus.
Der Punkt war offensichtlich heikel, und ich beschloß, ihn sofort zu verlassen. »Germaine sagte, er habe so eine sonderbare, aber nette Art gehabt, mit seinem Testament umzugehen.«
»Ja, die hatte er.« Sie strahlte. »Aber das kam nur von seinem guten Herzen, von nix sonst. Was wollen Sie denn darüber wissen?« Sie sah mich fast schelmisch an.
»Ich weiß nichts davon. Erzählen Sie bitte alles, was Sie darüber wissen.«
»Also, er besaß ... nun, er besaß ziemlich viel, könnte man sagen. Er brauchte eigentlich nicht zu arbeiten. Ja, er besaß viel. Dieses Haus zum Beispiel auch.«
»Es ist sein Haus?«
»Ja. Er hat es mir gekauft. Jetzt ist es mein Haus.« Sie lächelte. »In dieser Wohnung lebten meine Eltern, und sie sind auch hier gestorben. Dann zogen andere Mieter ein, ich war ja in Bonn und Washington und so. Nach meiner Pensionierung wußte ich nicht genau, wohin, und ich erzählte ihm mal, es sei mein Traum, in diesem Haus alt zu werden.« Sie lächelte bei der Erinnerung. »Er hat mir kein Wort gesagt, sondern einfach dieses Haus gekauft und mir überschrieben. Die Mieteinnahmen der zwölf Parteien gehen auf sein Konto und sind meine Abzahlung. O Gott! Was wird die Bank jetzt sagen, wo er nicht mehr lebt?«
Ich mußte lachen. »Das wird er alles geregelt haben, er hat Sie bestimmt nicht vergessen. Sie wollten aber eigentlich von seinen Testamentsgeschichten berichten.«
Sie sah auf ihre Knie. »Er war ein lausiger Kaufmann, wissen Sie. Da gibt es in Nürnberg ein Büro, das seine Vermögensangelegenheiten regelt. Wenn der Mann, der das machte, anrief, wurde der General ganz nervös und sagte: Halt mir bloß diesen Geldhai vom Hals! Aber der war der einzige, der wirklich wußte, was mit dem Vermögen los ist. Und so übel war er wirklich nicht. Es nervte den General bloß, daß er immer aufpaßte, daß der General nicht zuviel verschenkte ...«
»Verschenkte?«
»Ja, andauernd spendete er. Amnesty International, Greenpeace, Robin Wood und so weiter. Das mußte sein Geldmann für ihn erledigen, er wollte anonym bleiben. Er selbst konnte mit Geld nicht umgehen, weil es ihn einfach nicht interessierte.« Sie sah mich an. »Hat er eigentlich leiden müssen?« fragte sie abrupt.
»Nein. Mit Sicherheit nein.« Ich dachte an das von Böhmert entworfene Bild: Der General wird getroffen, stirbt nicht sofort, geht weiter nach vorn... »Er war sofort tot.« Eine barmherzige Lüge bringt einen bestimmt nicht in die Hölle. Dann brachte ich sie behutsam zum Thema zurück. »Wie lange haben Sie mit dem General zusammengearbeitet?«
»Achtzehn Jahre.«
»Und wie oft hat er ein Testament gemacht?«
»Acht- oder zehnmal, ich weiß es nicht mehr so genau.«
»Sie sagen, er hat Ihnen das Haus hier gekauft. Germaine sagt, auch sie würde etwas erben. Wer erbt denn sonst so?«
»Er sagte: Ich richte mich nach meinem Bauch. Wenn er einen Menschen traf, den er wirklich mochte, dann wollte er ihm etwas schenken. So wie Germaine eben.«
»Wieviel wird sie erben?«
»Es wird für ihr Leben reichen. Er hat sogar jede Sekretärin, die er wirklich mochte, mit einem Legat bedacht. Mal mehr, mal weniger.«
»Ich muß eine indiskrete Frage stellen: Hatte er etwas mit diesen Frauen?«
»Tja, das dachte jeder, aber es war nicht so. Es stimmt, die Frauen waren hinter ihm her wie der Teufel hinter der armen Seele, aber mit Geld hatte das nie zu tun. Und er hat ja auch bittere Erfahrungen machen müssen. Ich weiß zum Beispiel, daß seine Tochter ihn zweimal oder dreimal mit einem Baby richtig betrogen hat. Sie rief an und jubelte: Papi, ich erwarte ein Kind! Er freute sich riesig. Haben Sie im Eifelhaus den Babystuhl gesehen? Den hat er selbst gemacht, für dieses Kind, das nie kam. Die Tochter ist, wenn ich das einmal so sagen darf, ein neurotisches Balg, sonst nichts. Der Sohn ist noch schlimmer. Der nahm die deutsche Staatsbürgerschaft an, weil er bei der Bundeswehr schneller Karriere machen konnte. Und er hörte seinem Vater immer genau zu, wenn der über die Friedensaufgaben des neuen Soldaten sprach. Einmal sagte er zu mir, da war er ziemlich betrunken: Durch meinen Vater erfahre ich am schnellsten, wie meine Gegner denken! Das habe ich damals dem General gesagt. Das hat ihn furchtbar getroffen.«
»Hat er seine Kinder enterbt?«
»Das hat er versucht. Aber sein Geldmann sagte, das ginge nicht. Dann haben sie in tagelanger Arbeit herausgefunden, wie er den Kindern wenigstens möglichst wenig hinterlassen muß.«
»Und? Wie haben die reagiert?«
»Sie haben Gift und Galle gespuckt. Es gab eine furchtbare Szene, bei der dieser schreckliche Sohn Sachen gesagt hat, an die ich nicht einmal mehr denken möchte.«
»Und wie hat der General reagiert?«
»Es war schlimm für ihn«, sagte sie einfach. Sie wollte nicht mehr über ihren geliebten General sprechen. Sie hatte endlich verstanden, daß er niemals mehr auftauchen würde, und wollte mit ihrer Trauer allein sein. Sie murmelte: »Ich lege mich ein bißchen hin.«
Ich hockte da in dieser wunderschönen Berliner Altbauwohnung und dachte an den Menschensammler Otmar Ravenstein. Und ich trauerte um ihn, als sei er ein Freund gewesen. Dann hielt ich es nicht mehr aus in der Wohnung und fuhr zum Bahnhof Zoo. Ich schlenderte auf dem Kurfürstendamm herum, ich wollte jetzt unter Menschen sein. Am Fuß des großen Brunnens zwischen Gedächtniskirche und Europa-Center erwischte ich einen freien Stuhl und bestellte mir ein Eis.
Die Stadt badete in der Sonne, und es gab Scharen von fröhlichen Leuten, die Schlange standen, um ihre Füße in das Wasser zu halten. Bald zog es mich nach Spandau zurück; es ging mir so, wie es Griesgramen immer geht: Diese fröhlichen Geschöpfe gingen mir auf die Nerven.
Neben dem Eingang von Seepferdchens Haus lag eine Toreinfahrt, die in einen jener Hinterhöfe führte, wie es sie so wohl nur in Berlin gibt. Es roch verblüffend nach Natur, und ich ging neugierig hindurch. Es gab einen niedrigen Anbau mit acht Garagentoren, und mitten in dem noch mit Katzenkopfpflaster gehaltenen Hof ein kleines erhöhtes Erdrondell mit einer alten, mächtig verzweigten Linde, die in drei Metern Höhe mit drei schweren Eisenbändern zusammengehalten werden mußte, weil irgend etwas sie gespalten hatte. Jemand hatte um den Stamm Kapuzinerkresse gesetzt, die ihren Dschungel mit feuerroten und gelben Blüten beleuchtete. Bienen taumelten und Wespen schwirrten. Fast fühlte ich mich zu Hause.
»Hallo, Macker!« sagte jemand hinter mir mit großer Lässigkeit. »Hast du mal 'ne Fluppe für mich?«
»Ich rauche keine Zigaretten«, sagte ich und fuhr herum.
Er war dürr und baumlang; er trug ganz enge schwarze Hosen, die unten in Fallschirmspringerstiefeln endeten, und ein T-Shirt, wie Panzerfahrer es tragen oder solche, die gern Panzer fahren würden. Er war blond, mit einem etwas verpickelten Gesicht, das mir spontan den Eindruck vermittelte, er sei ständig zu kurz gekommen. Die Haare waren stoppelig und ragten steil in die Höhe. Er war die Inkarnation des häßlichen Halbstarken, der sich möglichst beschissen benimmt, um sein Erwachsensein zu unterstreichen.
»So'n Pech«, sagte er wegwerfend. Dann grinste er breit. Seine Zähne waren schlecht und bestimmt ungeputzt. Er sagte sehr dicht vor mir: »Schöne Grüße aus Bonn soll ich bestellen!« und schlug gleichzeitig mit beiden Händen zu. Er traf mich beidseitig in der Taille. Weil ich sofort keine Luft mehr bekam, knickte ich japsend nach vorn, und er erwischte mich mit dem Knie schrecklich im Gesicht. In meinem Kopf explodierte rot und grell der Schmerz, und ehe ich aufschlug, hörte ich ihn »Na siehste!« schnaufen.
Ich fiel nicht einmal in eine gnädige Ohnmacht. Ich kniete nur da, konnte den Kopf nicht wenden, mich auch nicht auf den Rücken legen. Ich starrte auf das Katzenkopfpflaster zu meinen Füßen und sah zu, wie das Blut aus meiner Nase ein fast schwarzes Rinnsal bildete. Ich weiß nicht, wie lange ich so verharrte.
Irgendwann hörte ich Schritte. Bitte, nur nicht noch mal, dachte ich. Beine, stämmige Beine in Jeans tauchten in meinem Blickfeld auf; ein Mann sagte gutmütig: »Na, komm man hoch, Alter. Ick soll dir zu Isolde bringen.« Ich bemühte mich aufzustehen, und als das nicht gelang, griff er mir unter die Arme und meinte: »Irjendwie kriejen wa dir schon hoch.«
Ich erinnere mich nicht an Einzelheiten, ich weiß nur noch, daß Isolde erschreckt sagte: »Erst mal aufs Sofa!« Dann lief sie hinaus, kam wieder und meinte besorgt: »Ich weiß ja nicht genau, was war, aber hier sind ein paar Aspirin mit Vitaminen.« Sie stupste mir das Glas an die Lippen, und ich bemühte mich, soviel wie möglich von der Brühe in mich reinzukriegen. Dann wusch sie mir das Gesicht mit einem kalten Lappen. Ich kam mir vor wie ein hilfloses Kind.
Im Flüsterton fragte sie: »Geht es denn etwas besser?«
Vorsichtig öffnete ich die Augen.
Vor den Fenstern war noch immer Tag. »Es geht«, sagte ich. »Ich war ein Trottel. Ich hätte wissen müssen, daß sie Ihr Haus und mich überwachen. Ich werde wahrscheinlich nie klug.«
»Klugheit kommt mit der Zeit«, meinte sie freundlich.
»Dann ist meine Zeit aber noch nicht gekommen. Ist Germaine jetzt endlich da? Wir müssen heim.«
»Nein, aber sie hat angerufen, daß sie gleich kommt.«
»Wenigstens etwas. Können Sie einen Eisbeutel machen?«
»Na sicher. Und ich habe auch Salbe. Wenn wir die jetzt auftragen, gibt es nicht so viele blaue Flecken.«
»Die Schönheit ist noch mein geringstes Problem. Aber ich hätte gern noch etwas Aspirin und einen dünnen schwarzen Tee, bitte.«
»Was ist denn nun wirklich passiert?« fragte sie.
»Irgendeiner hat mich verprügeln lassen, weil ich mich um den Tod des Generals kümmere«, sagte ich leicht nuschelnd.
»Dann sollten Sie es auch lassen«, sagte sie, als spräche sie mit einem unartigen Kind.
Germaine kam eine Viertelstunde später sehr blaß zurück, sah mich auf dem Sofa liegen und fragte entgeistert: »Hattest du einen Unfall?«
»Er wurde bei mir im Hof verprügelt!« sagte Isolde. »Und er leidet ein bißchen unter Verfolgungswahn. Er glaubt, daß es irgendein bezahlter Schläger war, den ein finsterer Geheimdienst geschickt hat.«
Ich starrte sie an und begriff, daß sie mir die ganze Zeit nicht geglaubt hatte. Ich sagte verbittert: »Er bestellte schöne Grüße aus Bonn und schlug mich zusammen.«
»Seepferdchen, du bist schrecklich«, sagte Germaine. »Baumeister darf nicht untersuchen, aber er untersucht. Natürlich lassen sie ihn verprügeln.«
»Das ist doch nicht dein Ernst«, meinte sie abwehrend.
Germaine verzog den Mund. »Ich muß es dir einmal sagen: Du bist eine kluge Frau. Und du bist genau an den Stellen naiv, an denen es dir paßt.«
Jetzt begriff sie, jetzt nahm sie es an. »Tut mir leid, ich habe es wirklich nicht geglaubt. Setz dich doch. Wo hast du denn gesteckt? Komm, ich mach' dir einen Kaffee.« Als Isolde schon draußen war, murmelte Germaine abwesend: »Ich bin rumgelaufen. Tut es weh, Baumeister?«
»Mit der Zeit gewöhnt man sich dran«, sagte ich. Dann sah ich ihr direkt in die Augen. »Du warst bei deiner Mutter, nicht wahr?« Sie nickte, wich meinem Blick aus und wiegte sich hin und her. »Sie ist krank. Sie liegt zu Hause und ist krank. Sie machte mir auf, sie sah mich und... Es war schrecklich, Baumeister, einfach schrecklich.«
»Meinst du, daß wir trotzdem bald fahren können?«
»O ja. Ich will weg hier, ich will ganz schnell weg. Mami hat Aids, Baumeister.« Ich nahm sie in den Arm, und sie schluchzte wie ein ganz kleines Mädchen.