2  Zwischen Mediendemokratie und Mediokratie

Bild, BamS und Glotze – mehr brauche er nicht zum Regieren, sagte Gerhard Schröder zu Beginn seiner Amtszeit. Wer Schröders Hang zum Größenwahn kennt, wird ihm diese Aussage durchaus abnehmen. Kein anderer Spitzenpolitiker der jüngeren Geschichte kokettierte so sehr mit seiner Medienwirksamkeit. Schröder ist jedoch nicht der erste Politiker, der seine Rolle fundamental falsch beurteilte. Dachte er zu Beginn seiner Amtszeit noch, er könne mit den Medien spielen, musste er sich schon bald eingestehen, dass er nicht der Spieler, sondern der Spielball in einem Spiel war, dessen Regeln nicht von der Politik, sondern von den Medien selbst aufgestellt werden.

Nachdem Schröder die – sozialdemokratische Politik eigentlich konterkarierenden – neoliberalen Reformen umgesetzt hatte, die ihm und der Öffentlichkeit zuvor von den Leitmedien1 vorgebetet wurden und die in der SPD während seiner zweiten Amtszeit auf Widerstand stießen, hieß es: »Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.« Bild, BamS und Glotze entdeckten plötzlich ihre Liebe zu Angela Merkel, der enttäuschte Kanzler gab sich bockig und verhängte schon vor dem Wahlkampf 2005 einen einseitigen Interviewboykott gegenüber den Springer-Zeitungen.

Bis heute unvergessen ist sein »suboptimaler« Auftritt in der Elefantenrunde am Abend der verlorenen Bundestagswahl im September 2005. Welche Ironie des Schicksals: Der »Medienkanzler«, der die Medien nie so recht verstanden hat, wurde von den Medien gestürzt. Lange währte der Groll Schröders jedoch nicht. Bereits ein Jahr nach seiner Wahlniederlage durften Bild und der Spiegel exklusiv Vorababdrucke aus seiner Biographie veröffentlichen, was für die Auflage sicher nicht von Nachteil war.

Anders als in Diktaturen, in denen die jeweiligen Machthaber sich der Medien bedienen, haben wir es hierzulande eher mit einer Mediendemokratie zu tun, in der die Medien immer häufiger selbst von der Politik Gebrauch machen, um ihre Interessen durchzusetzen. Die Medien sind heutzutage nicht nur Kommunikationskanäle, auf die die politischen Akteure zur Verbreitung ihrer Botschaften angewiesen sind, sondern sie sind selbst auch Akteure, welche die Meinungsbildung – und damit politische Handlungsspielräume – maßgeblich bestimmen. Wer über die veröffentlichte Meinung verfügt, verfügt über die öffentliche Meinung, und die öffentliche Meinung bestimmt die Politik. Der Politik- und Medienwissenschaftler Thomas Meyer spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer »Mediokratie«, einer Medienherrschaft, die klassische Prozesse der Demokratie unterminiert hat.2

Der bloße Umstand, dass die Medien über Politik nicht nur informieren und sie kommentieren, sondern sie auch aktiv gestalten, ist keinesfalls neu und auch nicht anrüchig. Jeder Beitrag, der über die neutrale Berichterstattung, wie sie idealerweise im Nachrichtenteil zu finden ist, hinausgeht, ist immer auch ein politisches Statement. Medien können nicht objektiv sein. Aber das verlangt ja auch niemand. Um ihre Funktion als Instrument zur demokratischen Willensbildung zu gewährleisten, sollten sie jedoch unabhängig sein und ein möglichst großes Meinungsspektrum abbilden. Die real existierende Medienlandschaft erfüllt jedoch diese zwei Voraussetzungen nicht mehr. Ein Paradebeispiel für den Niedergang der Medien stellt das ehemalige Flaggschiff des unabhängigen Journalismus, der Spiegel, dar.

Vom Sturmgeschütz der Demokratie zu Angela Merkels Spritzpistole

Neben dem Spiegel-Gründer Rudolf Augstein hat wohl niemand die Geschicke dieses Blattes derart intensiv geprägt wie Stefan Aust, der das Blatt von 1998 bis 2008 als Chefredakteur autokratisch leitete. Wie es so weit kommen konnte, dass ein einzelner Mensch aus einem kritischen Nachrichtenmagazin ein neoliberales Kampfblatt machen kann, beschreibt der ehemalige Spiegel-Redakteur Oliver Gehrs in seinem Buch Der Spiegel-Komplex.3

Schon zu seinen »wilden Zeiten« während der Studentenbewegung der 68er Jahre passte sich Aust mehr schlecht als recht dem aktuellen Zeitgeist an. Seine journalistischen Sporen verdiente er sich beim Erotikblatt St. Pauli Nachrichten – zusammen übrigens mit dem späteren Spiegel-Autor und Rechtspopulisten Henryk M. Broder. Bei seinen damaligen Mitstreitern war Aust wegen seines verdächtig bürgerlichen Äußeren nur als »die linke Bügelfalte« bekannt. Über die Zwischenstation NDR kam Aust 1988 zum Spiegel, wo er im Auftrag Augsteins die Konzerntochter Spiegel-TV aufbauen sollte. Austs Gebräu aus Sex, Crime und Politik war kommerziell sehr erfolgreich, weshalb er von Augstein zehn Jahre später gegen den heftigen Widerstand der Redaktion zum Chef des Verlagsflaggschiffs ernannt wurde. Es ist strittig, ob Aust je »links« war. Für Oliver Gehrs waren es vielmehr die Auseinandersetzung und die »Action«, die den jungen Aust in seiner frühen Schaffensphase an der politischen Linken faszinierten. Aust sei demnach eher ein »Anti-Intellektueller«, den nicht die politische Debatte, sondern der Lärm reizt.

Von seiner vermeintlich »linken« Vergangenheit hatte die »Bügelfalte« sich jedoch zum Zeitpunkt der Machtübernahme beim Spiegel ohnehin längst verabschiedet. Der Sohn eines Landwirts residierte mittlerweile samt Familie im noblen Hamburg-Blankenese und widmete sich in seiner Freizeit der Zucht von edlen Reitpferden auf seinem Zweitanwesen im Hamburger Speckgürtel. Trat er früher noch gegen die Atompolitik, den Sozialabbau und die Springer-Presse ein, machte er sich als Spiegel-Chef zum Erfüllungsgehilfen der Energiekonzerne und neoliberalen Abrissbirnen des Sozialstaats im Parlament und kopierte die Methoden des Springer-Konzerns, so dass der Spiegel von seinen Kritikern bereits hämisch als »Bild am Montag« bezeichnet wurde.

Es gibt wohl keine Anekdote, die Austs Charakter so gut beschreibt wie die »Windmühlen-Affäre«. Die Windenergie war Aust stets ein Dorn im Auge, stören Windkrafträder doch den wunderbaren Ausblick, den die wohlhabenden Bürger beim Ausritt so gern genießen. Befreundete Pferdezüchter sind im Mai 2003 in einem Brief an Aust herangetreten,4 um ihn für dieses Problem zu sensibilisieren. Damit traten sie bei Aust offene Türen ein, bedrohten geplante Windparks doch zu diesem Zeitpunkt auch die Idylle rund um seinen eigenen Pferdehof.

Da kam es Aust überhaupt nicht gelegen, dass sein Mitarbeiter Harald Schumann, der schon vor Austs Amtsantritt in verschiedenen leitenden Positionen für den Spiegel tätig war, einen von ihm verfassten Artikel ins Blatt bringen wollte, der die Windenergie durchaus positiv bewertete. Aust lehnte den Druck des Artikels nicht nur ab, sondern verhöhnte Schumann öffentlich mit dem Vorwurf, er habe »Mist« geschrieben,5 und gab seinerseits einen hanebüchenen Gegenartikel mit dem Titel »Der Windmühlenwahn« in Auftrag,6 der sich wie ein Pamphlet der Atomlobby gegen die Windenergie las und von Aust sogar als Titelstory platziert wurde. Schumann verließ daraufhin den Spiegel und veröffentlichte seinen Artikel über die Windkraft online bei der Netzeitung, um der Branche zu beweisen, dass er keinen »Mist« geschrieben hatte. Aust störte dies nicht sonderlich, polemisierte er doch fröhlich weiter gegen alles, was nicht in sein Weltbild passt. Ist der Ruf erst ruiniert, schreibt es sich ganz ungeniert …

Selbst die auf den Skandal folgende Palastrevolution im Spiegel saß Aust aus. Den Wunsch seiner Mitarbeiter, den Chef auf einer Gesellschafterversammlung zu befragen, lehnte er mit dem abstrusen Verweis ab, dies widerspreche allen Geboten der journalistischen Unabhängigkeit. Aust wollte also mit seinen Mitarbeitern, denen immerhin auf Bestreben Rudolf Augsteins über die Mitarbeiter KG 50,5 Prozent des Verlags gehören, nicht über redaktionelle Inhalte oder gar die politische Ausrichtung »seines« Blattes debattieren. Das führte dazu, dass viele couragierte Mitarbeiter in der Ära Aust das Blatt verließen, während opportunistische Mitläufer und neoliberale Überzeugungstäter unter Aust Karriere machten.

War der Spiegel in seinen besten Zeiten ein linksliberales Blatt, das nach allen Seiten kritisch war, entwickelte er sich in der Ägide Aust zu einem neoliberalen Kampfblatt. Oliver Gehrs bezeichnete den Kurswechsel in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur als »[Wegrücken] von den Minderheiten [und den] sozial Schwächeren auf die Seite der Wirtschaftskapitäne«.7 Als grobe Arbeitsmaxime gilt demnach, dass man lieber nichts Schlechtes über Menschen schreibt, die mehr verdienen als Aust oder sogar über ein eigenes Flugzeug verfügen. Zahllose Artikel des Spiegel belegen diesen Vorwurf. Der Spiegel polemisiert, »wie der Sozialstaat zur Selbstbedienung einlädt«,8 philosophiert über die »Melkkuh Sozialstaat« und zitiert dabei kritiklos aus einer Broschüre des Sozialministeriums, in der es heißt, »Biologen verwenden für Organismen, die zeitweise auf Kosten anderer leben, die Bezeichnung Parasiten«. Noch nie hat der Spiegel diesen harten Ausdruck für Investmentbanker und Spekulanten gewählt. Das Nachrichtenmagazin hetzt gegen Muslime, phantasiert von einer »stillen Islamisierung Deutschlands«9 und spielt damit Rechtspopulisten wie Thilo Sarrazin in die Hände, von dessen Beststeller der Spiegel natürlich – zusammen mit der Bild – die exklusiven Vorabruckrechte erwarb. Die Zeiten, in denen der Spiegel Minderheiten gegen dumpfe Ressentiments verteidigt hat, sind schon lange vorbei.

In unzähligen Titelstorys, zum Beispiel »Die blockierte Republik«10, »Radikalkur gegen Arbeitslosigkeit«11, »Wie (un)sozial darf/ muss die SPD sein«12, »REFORMEN«13, »Die Stunde der Wahrheit im Land der Lügen«14 oder »Die veruntreute Zukunft«15, trommelte der Spiegel für neoliberale Reformen und gab die Blaupause für die Agenda 2010 vor. Als der Reformeifer der rot-grünen Regierung langsam erlosch, schwenkte der Spiegel um, läutete in einem Leitartikel den »langen Abschied von Rot-Grün«16 ein und schrieb Angela Merkel ins Amt. Als die schwarz-gelbe Regierung dann doch nicht so erpicht auf unpopuläre neoliberale Reformen war, strafte der Spiegel schließlich auch seine einstige Wunschkoalition ab, titelte »Aufhören!«17 und machte aus der Kanzlerin »Angela Mutlos«18. Im Jahre 2011 setzte man beim Spiegel auf die Grünen (»Neue Volkspartei«19) und Peer Steinbrück (»Er kann es«20), den man in Zusammenarbeit mit der Zeit als reformfreudigen SPD-Kanzlerkandidaten auserkoren hat. Es bleibt abzuwarten, ob die SPD-Parteibasis gegen so viel mediale Einflussnahme widerstehen kann.

Der Spiegel berichtet nicht nur über Politik, er macht Politik. Selbst wenn die eifrigsten Mitläufer und Überzeugungstäter (beispielsweise Gabor Steingart, Henryk M. Broder, Claus C. Malzahn) nach der Demission Austs im Jahre 2009 das Blatt mehr oder weniger freiwillig verließen und zur Konkurrenz wechselten (Steingart wurde Chefredakteur des Handelsblatts, Broder und Malzahn schreiben mittlerweile für die Welt), konnte der Spiegel sich in den letzten zwei Jahren nicht von der Ära Aust erholen. Für Franziska Augstein, Tochter des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein, ist der Spiegel nur noch ein geschwätziges Blatt unter vielen.

Der Spiegel steht mit seiner neoliberalen Agenda jedoch nicht allein dar, er ist vielmehr nur die Spitze eines gigantischen Eisbergs, der die Republik erdrückt. Mit Ausnahme der kleinen taz vertreten sämtliche überregionalen Tageszeitungen mit einer nennenswerten Auflage einen wirtschafts- und finanzpolitischen Kurs, der sich am ehesten als marktliberal (siehe auch Kapitel 4) bezeichnen ließe. Selbst die in anderen Bereichen eher linksliberale Süddeutsche Zeitung vertritt unter der Regie des Marktfundamentalisten Marc Beise in ihrem Wirtschaftsteil Positionen, bei denen das Attribut »arbeitgeberfreundlich« eine glatte Verharmlosung wäre. Progressive Positionen sucht man in den sogenannten Qualitätszeitungen vergebens, und wenn man sie dennoch findet, dann nicht im Wirtschaftsteil. In der konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) findet Kritik beispielsweise lediglich im Feuilleton statt. FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher ist einer der wenigen deutschen Großjournalisten, die aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt haben und sich von Neo- und Marktliberalismus losgesagt haben. Sein bemerkenswerter Artikel »Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat«21 stellte den Auftakt für eine ganze Serie von kritischen Artikeln dar, die im Herbst 2011 im FAZ-Feuilleton erschienen sind.

Die Liste der hausgemachten Probleme und Fehler der Tagespresse ist lang. Nahezu alle größeren Zeitungen klagen über eine rückläufige Auflage und sinkende Werbeeinnahmen. Das Internet mit seiner »Kostenlosmentalität« sei schuld an diesem Phänomen, so hört man. Doch diese Erklärung greift zu kurz. Warum soll ein potentieller Leser sehr viel Geld ausgeben und eine Zeitung abonnieren, die zu fünfzig Prozent aus Werbung, zu 45 Prozent aus Agenturmeldungen, die man überall lesen kann, und zu fünf Prozent aus Kommentaren besteht, die langweilig sind und doch nur dem konservativen und neoliberalen Dogma folgen? Anstatt umzudenken und sich auf die originären Aufgaben des Journalismus zurückzubesinnen, verstärken die Zeitungen den Trend abermals, indem sie aus Kostengründen Mitarbeiter entlassen, sich mit anderen Zeitungen redaktionell zusammenschließen und schlussendlich noch mehr Agenturmeldungen abdrucken.

Anstatt investigativ zu arbeiten und die vorherrschenden Positionen zu hinterfragen, werden lieber günstige PR-Artikel übernommen. Der unabhängige Journalist, so es ihn überhaupt noch gibt, ist nur noch ein Störfaktor im Getriebe der Medienkonzerne. Wer sich intensiver mit der fortschreitenden Vermischung von PR und redaktioneller Berichterstattung beschäftigen will, dem seien an dieser Stelle die Bücher Am besten nichts Neues: Medien, Macht und Meinungsmache von Tom Schimmeck22 und Meinungsmache. Wie Wirtschaft, Politik und Medien uns das Denken abgewöhnen wollen von Albrecht Müller23 ans Herz gelegt.

Ratschläge vom Wirtschaftsklempner

Im Mittelalter tingelten Scharlatane von Hof zu Hof und sagten die Zukunft aus Tierinnereien voraus. Heute tingeln »Wirtschaftsexperten« durch die Talk-Shows und Gazetten. Es vergeht kaum ein Tag, an dem Ökonomen wie Hans-Werner Sinn oder Michael Hüther nicht in einer Tageszeitung oder einer Fernsehsendung ihr Statement zur Lage der Nation abgeben dürfen. Den Lesern und Zuschauern werden diese Herren dann von den Redaktionen als »Experten« vorgestellt. Die Bild nennt Hans-Werner Sinn in der Überschrift auch gern »Deutschlands klügsten Wirtschaftsprofessor«,24 und Michael Hüther darf als Ökonom sogar Gastartikel für den Spiegel verfassen.25 Sinn und Hüther sind Popökonomen, die es verstehen, ihre Botschaften so klar zu formulieren, dass sie auch vom Boulevard verstanden werden. Dagegen ist freilich wenig einzuwenden. Sinn und Hüther sind jedoch – ebenso wie viele ihrer Kollegen – nur auf den ersten Blick neutral.

Hans-Werner Sinn gehört zu der Gruppe von Ökonomen, die man am ehesten mit dem Attribut »marktradikal« bezeichnen könnte. Sinn ist kein Freund von staatlichen Eingriffen in das Marktgeschehen und überzeugt davon, dass es für die Allgemeinheit am besten ist, wenn man den Märkten möglichst viel Freiraum lässt. Auch wenn Sinn sich schon in den Neunzigern öffentlich zu wirtschaftspolitischen Fragen äußerte, wurde er erst nach der Veröffentlichung seines Buches Ist Deutschland noch zu retten? im Jahre 2003 zum gern gesehenen Interviewpartner und Talk-Show-Gast. Sinn gab dem Neoliberalismus ein Gesicht, er forderte einen umfassenden Abbau des Sozialstaats, die Liberalisierung des Arbeitsmarktes, und er war damit einer der Stichwortgeber der Agendapolitik. Obgleich seinem ifo-Institut von wissenschaftlichen Gremien immer wieder gravierende Qualitätsschwächen attestiert wurden,26 schaffte es Sinn, sein Institut zu einem Mitglied der Leibniz-Gesellschaft zu machen und sich damit eine Zweidrittel-Finanzierung durch die öffentliche Hand zu sichern. Präsident der Leibniz-Gesellschaft war zu jener Zeit niemand anderes als Hans-Olaf Henkel, der zuvor als Vorsitzender des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) Cheflobbyist der deutschen Industrielobby war.

Mit dem Popularitätszuwachs des neoliberalen Überzeugungstäters Hans-Werner Sinn schaffte es auch sein ökonomisches Projekt, der ifo-Geschäftsklimaindex, in die Medien. Jede Veröffentlichung dieses Index schafft es auf unerklärliche Weise sogar bis in die Tagesschau. Doch welcher Zuschauer weiß schon, was es zu bedeuten hat, wenn Jens Riewa oder Marc Bator mit ernster Miene berichten, dass die Märkte mit Erleichterung aufgenommen hätten, dass der ifo-Geschäftsklimaindex trotz gegenteiliger Erwartungen nun schon zum dritten Mal in Folge gestiegen sei? Bei der Erhebung dieses Index fragt das ifo-Institut Entscheider in ausgewählten Unternehmen nach ihrer Erwartung, wie sich ihr Geschäftsklima in den nächsten sechs Monaten entwickeln wird. Die gesammelten Rohdaten werden dann vom ifo-Institut nach einem intransparenten Algorithmus »bereinigt« und am Monatsende veröffentlicht.

Dabei ist jedoch zu beobachten, dass der Index in der Regel nur die gesamtwirtschaftliche Situation leicht zeitverzögert wiedergibt und keinesfalls als Indikator für zukünftige Entwicklungen verstanden werden kann. So musste das ifo-Institut im Krisenwinter 2008/2009 allmonatlich die schlechtesten Indexwerte veröffentlichen,27 die es je »gemessen« hatte. Diese Daten korrelierten erstaunlich gut mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – auch das Statistische Bundesamt meldete für diesen Zeitraum einen Einbruch des Bruttoinlandsprodukts.28 Im zweiten Quartal 2009 wuchs die Wirtschaft jedoch bereits wieder, obgleich sie laut ifo-Geschäftsklimaindex doch eigentlich schrumpfen sollte, da der Index ja die Entwicklung der nächsten zwei Monate prognostizieren soll. Wie durch ein Wunder schnellte der Index daraufhin ab dem Sommer 2009 in die Höhe. Ob die Unternehmen oder die ifo-Forscher für diese Anpassung an die realwirtschaftlichen Zahlen verantwortlich sind, lässt sich jedoch aufgrund der mangelnden Transparenz nicht sagen. Wenn ein Tagesschau-Sprecher daher mit wichtigem Gesicht sagt, dass die Märkte erleichtert auf einen steigenden ifo-Geschäftsklimaindex reagiert hätten, heißt dies strenggenommen, dass die Spökenkieker am Frankfurter Börsenparkett in ihrer Glaskugel andere Zahlen gesehen haben als die Spökenkieker im Münchner ifo-Institut, die ihrerseits die Rohdaten der Spökenkieker in den Unternehmen aufbereitet haben. Gehört eine solche Meldung in die wichtigste Nachrichtensendung des Landes?

Handelt es sich bei Hans-Werner Sinn um ein staatlich alimentiertes Sprachrohr des Neoliberalismus, gehört Michael Hüther eher in die Kategorie »Mietmäuler«. Hüther ist Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), das nicht nur so heißt, sondern in der Tat ein Institut ist, das ausschließlich von den Wirtschaftsverbänden finanziert wird. Im Vorstand und im Präsidium des IW sind die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), der Verband der Automobilindustrie (VDA), der Verband der Chemischen Industrie (VCI), die Metallarbeitgeber sowie Vertreter von Unternehmen der Schwer- und Montanindustrie vertreten. Wes’ Brot ich ess’, des’ Lied ich sing. Es ist natürlich vollkommen klar, dass die Arbeitgeberverbände sich nicht dem Allgemeininteresse verpflichtet fühlen, sondern ihre ureigenen Interessen verfolgen. Das ist ja nicht ehrenrührig, auch die Gewerkschaften haben mit dem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) ein – wenn auch wesentlich schlechter finanziertes – eigenes Wirtschaftsinstitut. Ärgerlich wird es jedoch, wenn die Medien nicht ihrer Verantwortung gerecht werden und den nachweisbaren Wirtschaftssprecher Michael Hüther als vermeintlich neutralen Experten vorstellen. Würde Hüther in Interviews und Talk-Shows als Interessenvertreter der Wirtschaft präsentiert, könnten die Leser und Zuschauer sich zumindest ein Bild davon machen, warum er beispielsweise den Mindestlohn verabscheut wie der Teufel das Weihwasser und den Arbeitnehmern fortwährend zum Lohnverzicht rät. Niemand verlangt, dass die Medien ausschließlich die Interessen des normalen Gebührenzahlers oder Abonnenten vertreten sollen. Ein Mindestmaß an Neutralität und Transparenz bei der Vorstellung der Interviewpartner und Zitatlieferanten sollte jedoch keine allzu überzogene Forderung sein – und wenn es nur das in Printmedien noch häufiger anzutreffende Attribut »arbeitgebernah« ist.

Folgt man den Massenmedien, scheint es in Deutschland ohnehin nur rund ein Dutzend präsentable Ökonomen mit Reputation zu geben. Es interessiert die Redaktionen dabei offenbar nicht, wer deren angeblich unabhängige Forschungsinstitute finanziert, woher die Hauptauftraggeber kommen oder wer mit welcher wirtschaftspolitischen Ausrichtung in den Beiräten dieser Institute sitzt. In den Medien wartet man auch vergebens auf den Hinweis, dass das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung eine Abteilung der Bundesagentur für Arbeit ist und schon deshalb dem politisch vorgegebenen Auftrag der Bundesagentur nicht in die Parade fahren kann.

Niemand macht transparent, dass das »Institut zur Zukunft der Arbeit« weitgehend von der Deutschen Post AG alimentiert wird und dessen Chef Klaus Zimmermann gerne in Anzeigen für die INSM posiert. In kaum einer Talk-Show fehlt ein »Botschafter« der »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM). Hans-Olaf Henkel, Arnulf Baring, Oswald Metzger, und wie die »Botschafter« dieser arbeitgeberfinanzierten PR-Organisation auch heißen mögen, werden fast nie als wirtschaftsliberale Polit-Lobbyisten, sondern meist als »Experten« präsentiert.

Wenn man sich den Hintergrund der vermeintlichen Experten anschaut, braucht man sich auch nicht zu wundern, warum neoliberale Thesen bei Teilen der Bevölkerung immer noch den Ruf genießen, wissenschaftlich abgesichert zu sein. Wer soll es den Menschen verdenken, dass sie auf die übermächtige Propagandamaschinerie hereingefallen sind?

Wenn man Lieschen Müller fragt, ob Mindestlöhne ökonomisch sinnvoll sind, braucht man sich erst gar nicht zu wundern, wenn man eine wiedergekäute Weisheit der »Wirtschaftsexper-ten« aus den Medien zur Antwort bekommt. Dass Mindestlöhne von vielen internationalen Koryphäen der Volkswirtschaft für sinnvoll gehalten werden und selbst in Deutschland viele Ökonomen völlig anders argumentieren als einige wenige öffentlichkeitswirksame Kollegen, wird Lieschen Müller wohl nie erfahren. Das ist vor allem den Medien zuzuschreiben, die alternativen Ansichten zu wenig Raum geben. Ein Blick über den Atlantik zeigt, dass es auch anders geht. Wer amerikanische Qualitätszeitungen verfolgt, bekommt ein ganz anderes Bild von gesamtwirtschaftlichen Fragen und Zusammenhängen. Dort spielen die Prediger der neoliberalen Angebotspolitik schon seit langem nicht mehr eine derart exklusive Rolle. Stattdessen wird die Debatte von Ökonomen wie Paul Krugman, George Akerlof oder Joseph Stiglitz mitbestimmt, anerkannte Koryphäen, die das Allgemeinwohl als Ziel wirtschaftlichen Handelns ansehen. Allesamt übrigens Nobelpreisträger.

Das systemische Versagen der Medien

»Der tagesaktuelle deutsche Wirtschaftsjournalismus stand dem globalen Finanzmarkt gegenüber wie ein ergrauter Stadtarchivar dem ersten Computer, mit einer Mischung aus Ignoranz und Bewunderung, ohne Wissen, wie er funktioniert, ohne Ahnung von den folgenreichen Zusammenhängen, die sich aufbauen; im Zweifel schloss man sich der vorherrschenden Meinung an. Die weltweite Krise des Finanzmarktes, die globale Krise der großen Spekulation, löste auch eine Krise des Wirtschaftsjournalismus aus«, so fassen die Autoren Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz die Versäumnisse der Medien in einer umfänglichen Studie zusammen.29 Es will schon etwas heißen, wenn ein Publizist und ein ehemaliger Chefredakteur das eigene Nest derart beschmutzen.

Arlt und Storz haben im Namen der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung die wirtschaftsjournalistische Arbeit der wichtigsten Leitmedien, darunter ARD-Aktuell, Deutsche Presseagen-tur (dpa) und fünf überregionale Tageszeitungen von 1999, also dem Jahr des Rücktritts von Oskar Lafontaine als Finanzminister, bis zur offenen Krise 2009 gründlich ausgewertet. Das Ergebnis ist niederschmetternd:

image  Die untersuchten Qualitätsmedien haben bis 2005 die Mindesterwartungen an journalistische Arbeit (etwa die Erläuterung von Zusammenhängen oder die Unabhängigkeit der Informationen) nicht erfüllt.

image  Erst die globale Krise hat den Wirtschaftsjournalismus zur Beschäftigung mit der Finanzentwicklung gezwungen.

image  Die wichtigste Nachrichtenagentur hat sich in der Finanzpolitik nur als offizielles Sprachrohr der Finanzwirtschaft verstanden.

image  Das journalistische Verhalten von ARD-Aktuell gegenüber der regierenden Politik kann nur als devot bezeichnet werden. Es gibt dort jede Menge Börsennachrichten, aber so gut wie keine Vermittlung von volkswirtschaftlichen Zusammenhängen.

Zu einem vergleichbar vernichtenden Ergebnis kommt ein Monitoring der Schweizer Medienwissenschaftler Kurt Imhof und Mario Schranz. »Lemminge statt Wachhunde«30 titelte die Schweizer Wochenzeitung am 1. April 2010. Die Spezies der Wirtschaftsjournalisten sei »mehrheitlich konditioniert im Paradigma der unfehlbaren Selektions- und Entdeckungsfunktion des Marktes«.

Natürlich wäre es nicht sonderlich hilfreich, nun jedem Wirtschaftsjournalisten pauschal den Vorwurf des Versagens zu machen. Man muss auch berücksichtigen, dass der Zeitdruck und der Personalabbau innerhalb der Branche dazu geführt haben, dass viele Journalisten gar nicht mehr die Möglichkeit haben, ihre eigene Berichterstattung kritisch zu hinterfragen und Recherchen anzustellen, die der Stoßrichtung des Blattes zuwiderlaufen. Nicht die Kollegen selbst, sondern die Ressortleitungen haben versagt. Jahrelang war jede Kritik an den Finanzmärkten und der neoliberalen Vorstellung von den selbstregulierenden Marktmechanismen schlicht und einfach nicht erwünscht. Statt Achtsamkeit und kritische Distanz erleben wir bei vielen Journalisten Nähe und Kooperation mit Wirtschaft und Politik. Vor allem in den Chefredaktionen ist allzu oft eine beängstigende Verbrüderung mit der politischen und wirtschaftlichen Macht festzustellen. In den hehren Idealen der Branche ist der Journalismus der unbestechliche Wachhund der Gesellschaft. In der Praxis ähnelt dieser Wachhund jedoch leider eher einem Schoßhund, der sich bereitwillig von jedem kraulen lässt, der ihm eine leckere Wurst hinschmeißt.

Manch ein Journalist fühlt sich dabei schon gebauchpinselt, wenn er den Vorstandsvorsitzenden eines Großunternehmens in dessen Privatjet begleiten darf und bei Schampus und edlem Fingerfood auf gleicher Augenhöhe über die Probleme des Standorts Deutschland aufgeklärt wird. Was ist dagegen schon ein Treffen mit einem Leiharbeiter des Großunternehmens bei Currywurst und Pommes frites?

Der kritische Journalismus weicht immer häufiger dem Gefälligkeitsjournalismus, statt ausgewogener Analyse wird immer häufiger einfach nur noch nachgeplappert. Der Leitartikler plappert das nach, was ihm sein »Freund« aus Politik und Wirtschaft gesteckt hat, die kleinen Journalisten plappern unreflektiert das nach, was ihnen der große Leitartikler vorgeplappert hat, und alle plappern das nach, was ihnen die Nachrichtenagenturen vorplappern, die ihrerseits nachplappern, was ihnen von den Vertretern der mächtigen Verbände vorgeplappert wird. Kritische Stimmen gehen entweder in diesem ganzen Geplapper unter oder werden erst gar nicht publiziert.

Vor allem in den sogenannten Qualitätsmedien war und ist es für freie wie festangestellte Journalisten oft gar nicht möglich, kritische Beiträge ins Blatt zu bringen. Man kann sich vorstellen, wie groß die Not in den Chefredaktionen der Republik war, als sie auf einmal von der Finanzkrise überrascht wurden und sich ihre Vorstellungen von freien und selbstregulierenden Märkten quasi über Nacht in nichts auflösten. Da mussten nun die gleichen Journalisten, die gestern noch die Unfehlbarkeit der Märkte als Naturgesetz ansahen, kritische Kommentare zu den Finanzmärkten verfassen. Die Schockstarre währte jedoch nur kurz. Nachdem man in den Redaktionen feststellte, dass die Welt nach den Turbulenzen auf den Finanzmärkten doch nicht unterging, riss man sich schnell am Riemen und bastelte eifrig an einer eigenen Dolchstoßlegende. Marktliberale Claqueure wie der ehemalige Spiegel-Mann und jetzige Handelsblatt-Chef Gabor Steingart sind mittlerweile davon überzeugt, dass die Finanzkrise nicht wegen einer zu geringen Regulierung, sondern wegen einer zu großen Einmischung des Staates in die freien Märkte über uns hereingebrochen sei. Mit dieser reichlich verschrobenen Sichtweise ist Steingart keinesfalls allein – menschlich mag es ja auch verständlich sein, dass man seine Lebenslüge mit abstrusen Ausflüchten aufrechterhalten will, mit kritischem Journalismus hat dies jedoch so gar nichts gemein.

Journalismus berichtet jedoch nicht nur über Politik, er macht auch Politik, indem er die öffentliche Meinung mitbestimmt. Ohne das andauernde ideologische Trommelfeuer der überzeugten oder aber interessengesteuerten »Wirtschaftsexperten« hätte es den klaren Sieg des Neoliberalismus womöglich nie gegeben. Ohne das Totalversagen der Medien, die dieses Trommelfeuer willfährig weiterverbreitet und verstärkt haben, hätten es die Interessengruppen wesentlich schwerer gehabt, ihre ideologische Borniertheit als »alternativlos« darzustellen und den Parteien somit eine Steilvorlage zu geben. Es ist müßig, darüber zu diskutieren, ob der Wirtschaftsjournalismus nun ein Getriebener oder ein Antreiber des neoliberalen Zeitgeists war. Da die Verantwortlichen sich bis heute aus der Verantwortung stehlen und sich als immun gegen interne und externe Kritik erweisen, spielen solche Unterscheidungen ohnehin keine Rolle.

Hätten die Wirtschaftsjournalisten sich nicht vereinnahmen lassen, wäre dem Land womöglich der radikale Abbau des Sozialstaats und das Lohndumping des letzten Jahrzehnts erspart geblieben. In unseren Nachbarländern konnten die Neoliberalen jedenfalls nicht in diesem Umfang ihr Unwesen treiben, und dies lässt sich sicherlich nicht nur auf eine unterschiedliche Mentalität zurückführen.

Da die Wirtschaftsjournalisten jedoch kaum ein Wort über ihre Defizite in der Vergangenheit verlieren, sind innere Einkehr und Besserung nicht zu erwarten. Im Gegenteil, es scheint vielmehr so, als ob die kurze Phase der Selbstkritik, die sich mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers in der Zunft ausgebreitet hatte, nur ein kurzes Strohfeuer der Erkenntnis war. Wenn man sich heute die Artikel der Wirtschaftsressorts ansieht, erkennt man beileibe nicht, dass die Journalisten aus ihren Fehlern gelernt hätten. Vor drei Jahren, als sich die stets propagierte Effizienz der Finanzmärkte im Zuge des Lehman-Zusammenbruchs als grandioser Denkfehler erwies, standen sie wie das Kaninchen vor der Schlange. Heute steht man wie ein Kaninchen vor der Schlange, wenn es um die Turbulenzen bei den Euro-Staatsanleihen geht, und plappert immer noch reflexartig die Versatzstücke der marktliberalen Agenda nach. Die Branche hat nicht nur versäumt, aus ihren Fehlern zu lernen, sie macht im alten Stil weiter.

Machtkartell Bertelsmann

Maßgeblich verantwortlich für das systemische Versagen der Medien sind drei Frauen, die von Wolfgang Lieb sehr treffend als das »Triumfeminat« beschrieben wurden.31 Wenn sich die beiden Verlagserbinnen Friede Springer und Liz Mohn mit ihrer Duzfreundin Angela Merkel treffen, wird große Politik gemacht. Neben den bisher bekannten »Old Boys’ Networks« der Industriekapitäne, die die Spitzen der Politik bei »Wein, Weib und Gesang« beackern, ist ein neues Netzwerk entstanden, bestehend aus drei älteren Damen, die beim Kaffeekränzchen zwischen Linzer Torte und einem Gläschen Eierlikör die neoliberale Umgestaltung der Gesellschaft planen. Friede Springers Verlag bestimmt mit Bild/ BamS und all ihren Spin-offs, der Welt/WamS, dem Hamburger Abendblatt, der Berliner Morgenpost und der B. Z. vor allem den Boulevard und ist mit diversen Beteiligungen an privaten Radiostationen auch im Äther präsent. Liz Mohn kontrolliert mit dem Bertelsmann-Konzern sogar eines der größten Medienunternehmen der Welt.

Als der Bertelsmann-Konzern im Jahr 2010 sein 175-jähriges Bestehen feierte, erinnerten die Feierlichkeiten eher an einen Staatsakt als an ein Firmenjubiläum – eine überaus freundliche Laudatio von Angela Merkel, tausend Prominente aus Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, darunter das Who is Who der deutschen und internationalen politischen Elite wie beispielsweise EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Keine Frage, Bertelsmann ist nicht nur ein Weltkonzern, sondern auch ein politisches Unternehmen.

Viele Bürger auf der Straße verbinden mit dem Namen Bertelsmann jedoch meist nur den gleichnamigen Buchclub – Club Bertelsmann –, der mit seinen Filialen in den meisten deutschen Städten präsent ist. Im großen Bertelsmann-Reich ist der Buchclub jedoch nur ein kleines, relativ unbedeutendes Rädchen. Das größte Rad im Bertelsmann-Getriebe ist die hundertprozentige Konzerntochter Arvato. Arvato gehört zu den weltweit größten Outsourcing-Dienstleistern und ist mit 270 Tochterunternehmen und mehr als 67 000 Mitarbeitern weltweit vertreten. Das Leistungsspektrum von Arvato zielt jedoch nicht nur auf die Privatwirtschaft, sondern auch auf die öffentliche Verwaltung. Wann immer eine Behörde schlanker wird und Verwaltungstätigkeiten an private Dienstleister ausgliedert, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Arvato die passende Lösung in seinem Angebotsportfolio hat.

Wie weit das Leistungsspektrum von Arvato geht, zeigt die Arbeit des Unternehmens in der Grafschaft East Riding in Yorkshire, England.32 In Großbritannien folgte man schon früh dem Ruf nach einem schlankeren Staat und ging dabei auf regionaler Ebene sogar so weit, dass man öffentliche Kernbereiche wie beispielsweise die Zuteilung von Sozialhilfe, Sozialwohnungen und Studiengeldern sowie das Inkasso der Steuereinnahmen an den privaten Dienstleister Arvato UK ausgliederte. Auch im Chester-field Borough Council und im benachbarten Derby City Council ist Arvato präsent. Bertelsmann ist – egal wie gut oder schlecht Arvato in East Riding arbeitet – der Gewinner einer solchen Privatisierung. Die Gewinne sprudeln, ein Zurück ist für die Kommunen nur unter hohem Investitionsbedarf möglich.

Im Heimatland des Bertelsmann-Konzerns konnte Arvato bislang noch nicht so recht Fuß fassen. Das ist auch kaum verwunderlich, scheiterte doch bereits das Pilotprojekt »Würzburg integriert!« mit Ach und Krach. Als Arvato im Jahre 2008 den Bürgerservice übernahm, wollte man die Dienstleistungen effizienter, gewinnbringender und bürgerfreundlicher gestalten. Daraus wurde jedoch nichts. Das Projekt wurde im Frühjahr 2011 eingestellt, Arvato konnte keines der versprochenen Ziele realisieren. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sich der Weltkonzern von diesen Rückschlägen auf dem Heimatmarkt nicht entmutigen lässt. Immerhin beziffert man in Gütersloh den deutschen Markt für öffentliche Dienstleistungen auf zwanzig Milliarden Euro.33 Um diesen Markt zu erschließen, ist jedoch noch einiges an Überzeugungsarbeit zu leisten. Wie praktisch, dass Bertelsmann auch zu den größten Medienkonzernen der Welt gehört.

Über die RTL-Group (Bertelsmann-Beteiligung 91 Prozent) und das Verlagshaus Gruner + Jahr (74,9 Prozent) zählt der Bertelsmann-Konzern zu den größten und wichtigsten Meinungsmachern des Landes. Das Konglomerat kontrolliert die deutschen Fernsehsender RTL, RTL II, Vox, Super-RTL und n-tv, diverse private Radiosender sowie die Financial Times Deutschland und die Zeitschriften Stern, Gala, Brigitte, Capital, Börse Online und viele mehr. Darüber hinaus ist Gruner + Jahr auch noch mit einer Sperrminorität von 25,5 Prozent am Spiegel-Verlag beteiligt, der neben dem Spiegel und Spiegel-Online auch das Manager Magazin publiziert. Die klassische Verlagsarbeit ist heute in der Verlagsgruppe Random House zusammengefasst – der größte Publikumsverlag der Welt ist eine hundertprozentige Tochter der Bertelsmann AG. 2010 konnte Random House über die zur Gruppe gehörende Deutsche Verlags-Anstalt (DVA) mit dem Buch von Thilo Sarrazin (Deutschland schafft sich ab) einen Millionengewinn erzielen.

Um Erbschaftssteuern zu sparen, gründete Reinhard Mohn bereits im Jahre 1977 die Bertelsmann Stiftung. Heute besitzt die Bertelsmann Stiftung auf dem Papier 77,4 Prozent der Bertelsmann AG – konservativ geschätzt, entspricht dies einem Volumen von rund acht Milliarden Euro. Der Rest der Bertelsmann AG gehört der Familie Mohn, für die nach dem Tod von Reinhard Mohn dessen Witwe und Merkel-Duzfreundin Liz Mohn und die Mohn-Tochter Brigitte die Geschäfte führen. Die Familie Mohn hat jedoch auch in der Bertelsmann Stiftung das Sagen und kontrolliert damit die Bertelsmann AG zu hundert Prozent.

Durch das Doppelstiftungskonstrukt hat die Familie Mohn nicht nur Erbschafts- beziehungsweise Schenkungssteuer gespart – die Gewinne und Dividenden, die alljährlich ausgeschüttet werden, müssen dank Stiftungsstatus ebenfalls nicht versteuert werden. Dies ist eine Lücke im deutschen Stiftungsrecht, durch die Bertelsmann bereits Milliarden gespart hat – Milliarden, die eigentlich dem deutschen Staat und somit dem deutschen Volk zustehen würden. In einer transparenten Demokratie hätte man ein solches Steuerschlupfloch schon längst geschlossen, doch Bertelsmann ist in Deutschland »unberührbar«, wie es die ehemalige Grünen-Politikerin Antje Vollmer in einem Interview mit der taz ausdrückte.34

Um von der Steuer befreit zu werden, muss eine Stiftung nach deutschem Stiftungsrecht gemeinnützig sein und somit den Interessen der Allgemeinheit dienen. Schaut man sich das Betätigungsfeld der Bertelsmann Stiftung an, fragt man sich unweigerlich, was an der Stiftung, die sich laut Selbstdarstellung als eine Politikberatung versteht, die den »Grundsätzen des Unternehmertums und der Leistungsgerechtigkeit« und dem Leitbild »so wenig Staat wie möglich« folgt, nun eigentlich gemeinnützig sein soll. Eine Stiftung, die einen schlanken Staat propagiert und gleichzeitig ein Unternehmen besitzt, das einer der Marktführer auf dem Gebiet des Outsourcings von Verwaltungstätigkeiten ist, kann selbst mit sehr viel Phantasie nicht als gemeinnützig gelten. Der Paderborner Soziologieprofessor Arno Klönne beschreibt diesen offensichtlichen Widerspruch mit den passenden Worten: »Die Stiftung weckt einen öffentlichen Bedarf, den der Bertelsmann-Konzern dann anschließend befriedigt.«35

Die Bertelsmann Stiftung ist ein Staat im Staate. Sie fordert von öffentlichen Behörden ein Höchstmaß an Transparenz, ist aber selbst so intransparent wie nur irgend möglich. Sie fordert mehr Wettbewerb, vergibt ihre Finanzmittel aber nur für eigene Projekte und schließt somit jeglichen Wettbewerb um die eigenen Stiftungsgelder aus. Anspruch und Wirklichkeit driften bei der Bertelsmann Stiftung weit auseinander.

Das Lieblingswerkzeug der Bertelsmänner sind dabei Rankings – verglichen wird so gut wie alles, angefangen bei Grundschulen über die Kommunen und Universitäten bis hin zu ganzen Volkswirtschaften. Bertelsmann erhebt Daten und erstellt daraus Bestenlisten. Die Parameter für Erfolg auf diesen Listen sind dabei denkbar einfach: je weniger Staat, je weniger Verwaltung, je schlanker, je privater, desto besser. Trotz ihrer offensichtlichen ideologischen Färbung finden die Rankings aus dem Hause Bertelsmann mit erstaunlicher Regelmäßigkeit ihren Weg in Medien und Politik.

Wer im Wettbewerb um mehr Neoliberalismus nicht mitmachen kann oder will, steht im Lichte der Öffentlichkeit als »Reformverweigerer« oder »Modernisierungsverlierer« da. Die Bertelsmann Stiftung war einer der Ideengeber für Gerhard Schröders Agenda 2010, sie wird in den Parteizentralen von Union und FDP ebenso gern gesehen wie bei der SPD und den Grünen. Egal was der Bürger wählt, die Männer und Frauen aus Gütersloh sitzen bereits als Berater neben der neuen Regierung.

Bertelsmann und die Bertelsmann Stiftung sind – im wahrsten Sinne des Wortes – postdemokratisch. Die Interessen der Familie Mohn sind nicht deckungsgleich mit den Interessen des Volkes. Wie kann man die Macht ohne Mandat beschneiden und Volkssouveränität herstellen? In einer repräsentativen Demokratie ist das natürlich nicht einfach. Wie soll Lieschen Müller eine Gefahr für die Demokratie erkennen, wenn sie noch nicht einmal die Gefährder kennt?

Trotz der einflussreichen und die Demokratie bedrohenden Stellung der Meinungsmacher aus Gütersloh findet kein öffentlicher Diskurs über die damit verbundenen Gefahren statt. Keine größere Zeitung, kein größeres Magazin und kein quotenstarkes TV-Format wagt sich an dieses heiße Thema heran – eine Medienkrake legt sich nicht mit der anderen an.

Die Meinungsmacht der Campagneros

Eine besondere Gattung des Journalisten stellt der sogenannte Hauptstadtjournalist dar. Er ist das oberste Glied in der Kette einer selbstgefälligen Branche, kein Beobachter, sondern ein Gestalter. Hauptstadtjournalisten besuchen keine Pressekonferenzen, deren Ergebnisse ohnehin jede Redaktion über den dpa-Ticker lesen kann. Hauptstadtjournalisten treffen sich lieber in den echten Zentren der Macht mit echten »Entscheidungsträgern«: Politikern, Lobbyisten und anderen Hauptstadtjournalisten. Zwischen Café Einstein und Hackeschem Markt hat sich im Berliner Stadtteil Mitte über die Jahre hinweg ein eitles und selbstgerechtes Völkchen entwickelt, das schon lange die Bodenhaftung verloren hat. Politik wird in der Hauptstadt und nicht in der Provinz gemacht, und wer dazugehören will, muss sich zumindest den Regeln der neuen Schreiberelite unterwerfen. Wer das nicht tut, sollte lieber gleich seine Koffer packen.

Ein solcher Verweigerer war in den Augen der Hauptstadtjournaille der ehemalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck. Der joviale und bisweilen plumpe Pfälzer stand für all die Dinge, die in der Berliner Republik als anachronistische Provinzialität gelten. Beck trägt keine maßgeschneiderten Anzüge von Brioni, sondern kauft sich zweimal im Jahr seine schlecht sitzenden Pfälzer Anzüge im Bekleidungshaus Michel in Landau. Er lässt sich die Haare nicht wie Angela Merkel vom Metropolenschwätzer und Sabine-Christiansen-Freund Udo Walz designen, sondern Becks Frau Roswitha, eine gelernte Friseurin, schneidet seine Meckifrisur im Keller des eigenen Hauses. Wenn Beck in seinem seltsamen Englisch parliert, wirkt selbst Helmut Kohl wie ein weltgewandter Kosmopolit. Für die aufgeschäumten Journalisten in den Szenetreffs von Berlin-Mitte, in denen sogar die Kellnerinnen »Medienschaffende« sind, wirkte dies wie ein schlechter Witz. Wer dann auch noch einen rationaleren Kurs gegenüber der Linkspartei propagiert, die von den Hauptstadtjournalisten als Schreckgespenst der Berliner Republik gesehen wird, hat bereits verloren, bevor er in den Ring steigt.

Die erfolgte mediale Demontage Becks war fulminant und ohnegleichen. Eine breite Mehrheit von Bild über den Spiegel bis hin zur Frankfurter Rundschau stellte Kurt Beck plötzlich als eine Art politischen Zombie dar, der die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat und der den Wählern nicht zu vermitteln ist. Ein Mann, der lieber auf dem Dürkheimer Wurstmarkt als in der Programmkommission im fernen Berlin weilt und dem der Dachdeckermeister im heimischen Steinfeld näher ist als die Hauptstadtjournaille, kann in der Berliner Medienrepublik keine führende Rolle spielen. Nicht das Volk und nicht die Parteibasis, sondern die Medien machen die Politik.

Um die Lufthoheit über den Stammtischen der Republik zu erlangen, ist bei den Meinungsmachern geschlossenes Auftreten unerlässlich. Hat sich erst einmal eine geschlossene Medienfront gebildet, ist es für die Vertreter alternativer Positionen nahezu unmöglich, sich im öffentlichen Diskurs zu behaupten beziehungsweise überhaupt Gehör zu finden. Der Kampagnenjournalismus36 zielt jedoch oft auch ganz direkt auf die politischen Entscheidungsträger, die zwar anderer Meinung sind, aber weder das Rückgrat noch das Durchhaltevermögen haben, innerhalb ihrer Reihen als »Außenseiter« zu gelten. Ohne massive Schützenhilfe nahezu sämtlicher Medien wäre es beispielsweise dem neoliberalen Flügel der SPD wohl nie gelungen, eine ehemals sozialdemokratische Partei auf »Agendakurs« zu bringen. Der ehemalige Leiter des Spiegel-Hauptstadtbüros und seit April 2010 Chefredakteur des Handelsblatts, Gabor Steingart, der als Personifizierung des eitlen Hauptstadtjournalisten gelten darf, sonderte einst den bemerkenswerten Satz ab: »Journalismus braucht zuweilen Wirtstiere. Wir haben für Schröders Agenda mitgestritten.«37 Freilich vergisst »seine Lässigkeit Sir Steingart«38 hier zu erwähnen, dass der Spiegel die Agenda durch massive Kampagnen aktiv gestützt hat und in diesem Sinne eher das Wirtstier war, an dem sich die SPD parasitär ausgerichtet hat.

Die wohl langlebigste und erschreckendste Kampagne der deutschen Medienlandschaft ist die fortwährende Dämonisierung der politischen Linken. Sei es der – kaum noch vorhandene – linke Flügel der SPD, seien es die – ebenfalls selten gewordenen – Fundis bei den Grünen oder die Linkspartei: Alles, was links der »neuen Mitte« ist, wird von den Medien kategorisch bekämpft. Wenn beispielsweise von der Linkspartei die Rede ist, fallen stets die Begriffe »DDR«, »Mauertote« und »Stasi«.

Sicher, die Linkspartei ist mit ihrer PDS-Vergangenheit auch Nachfolgepartei der SED, aber was haben die aktuellen Politiker der Linkspartei mit der SED zu tun? Haben CDU und FDP etwa nicht mit ihren Schwesterparteien aus der DDR fusioniert, die damals fröhlich die Blockflöten im Kammerkonzert des real existierenden Sozialismus gegeben haben? Anders als in der Linkspartei haben ehemals überzeugte Stützen des DDR-Systems in der CDU sehr wohl Karriere gemacht. Der ehemalige thüringische Ministerpräsident Dieter Althaus rief beispielsweise noch im Herbst 1989 – wenige Tage vor dem Mauerfall – als stellvertretender Schulleiter dazu auf, die »marxistisch-leninistische Weltanschauung der Jugendlichen in der DDR zu stärken«. Für seine »hervorragenden Leistungen bei der kommunistischen Erziehung« wurde er als einziger Lehrer im Bezirk Erfurt damals mit dem Thälmann-Orden in Gold ausgezeichnet. Wäre Althaus nicht Mitglied der CDU, sondern der Linkspartei, hätte er das mediale Sperrfeuer wohl kaum überlebt.

Bei ihren Kampagnen gegen die Linkspartei können sich die Medien jedoch in steter Regelmäßigkeit auf Informanten aus den Reihen der Partei verlassen. Die Heckenschützen in den Reihen der Linken verrichten ihre Arbeit mit großem Erfolg. Ist die NPD von verdeckten Mitarbeitern des Verfassungsschutzes infiltriert, so scheint es, als sei die Linkspartei mit verdeckten Mitarbeitern des Spiegel durchsetzt. Nur selten geht es bei der Berichterstattung über die Linkspartei um politische Inhalte. Die Medien interessiert nicht, was Sahra Wagenknecht zu Eurobonds oder Außenhandelsüberschüssen zu sagen hat, sondern mit wem sie ihre Zeit privat verbringt und, vor allem, gegen welchen Politiker der Linkspartei sie vielleicht ein paar druckreife Zitate in die Mikrophone diktieren kann.

Linke-Politiker, die »nur« ihre Arbeit machen und sich nicht zu parteiinternen Streitereien äußern, kommen in der überregionalen Presse fast überhaupt nicht vor. Oder wann haben Sie in Ihrer Tageszeitung zum letzten Mal etwas über Axel Troost gelesen? Troost ist promovierter Volkswirt, seit 1981 Geschäftsführer der überparteilichen Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik und finanzpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag. Fast täglich gibt Troost Pressemeldungen heraus, die sich in ihrer Analyse wohltuend vom Meinungsmainstream abheben. Fast nie schafft es eine dieser Pressemeldungen in die Medien. Im gesamten Spiegel-Archiv, das auch die zahlreichen Artikel des Onlineablegers Spiegel-Online umfasst, taucht Axel Troost ganze fünfzehnmal auf – fast jeder dieser fünfzehn Artikel hat eine negative Konnotation wie beispielsweise »Mit Marx und Murks«. Was für ein Unterschied zu seinem Kollegen Frank Schäffler, der finanzpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion ist, und es mit seinen halbgaren Dummheiten immer wieder in die Medien schafft – allein im letzten Jahr zitierte der Spiegel Schäffler mehr als sechzigmal. Schäffler wird als »Experte« in Talk-Shows eingeladen und konnte dank der Medien eine gewisse Berühmtheit erlangen. Axel Troost kennen wahrscheinlich noch nicht einmal die verantwortlichen Redakteure bei Günther Jauch oder Anne Will.

Porsche-Klaus und die Selektivität der Medien

Wenn es um Politiker der Linkspartei geht, legen die Hauptstadtjournalisten immer wieder absurde Maßstäbe an. Ein Paradebeispiel für diese Bigotterie stellt wohl die »Porsche-Klaus-Kampagne« von Spiegel, Süddeutsche Zeitung, Bild und zahlreichen Mitläuferpublikationen dar. Wir erinnern uns: Im Sommer 2010 fand ein »investigativer Journalist« der Bild heraus, dass Klaus Ernst, seines Zeichens Parteivorsitzender der Linkspartei, doch tatsächlich mehr Geld verdient als ein Redaktionsassistent im Springer-Verlag. Und außerdem fährt er in seiner Freizeit auch noch einen Porsche. Ei der Daus! Wasser predigen und Wein saufen, so etwas geht aber nun wirklich nicht. Dabei wissen wir gutgläubigen Medienkonsumenten doch, dass so ein linker Kommunist in der Platte wohnen, seine privaten Reisen mit dem Sozialticket des öffentlichen Personennahverkehrs unternehmen und seinen Urlaub – wenn überhaupt! – auf einem Campingplatz in der Nähe von Bitterfeld verbringen muss. Wer gegen Armut ankämpft, muss selbst arm sein – alles andere sprengt schließlich unser kleinbürgerliches Weltbild.

Um ihren Lesern vorzuführen, wie reich »Porsche-Klaus« ist, addierte man bei der Bild in einer Nacht- und Nebelaktion sämtliche Aufwandspauschalen und Zuschüsse auf sein Bruttogehalt und kam auf ein sagenhaftes Einkommen von 17 050 Euro pro Monat. Diese Rechnung würde natürlich jedem Milchmädchen zur Ehre gereichen. Die Kostenpauschalen sind schließlich kein Bestandteil des Einkommens, sondern ein Zuschuss für Auslagen, die einem Abgeordneten entstehen. Dazu gehören beispielsweise die Büromiete im Wahlkreis oder die Kosten für notwendige Mitarbeiter. Bleiben 13 081 Euro brutto, was bei Steuerklasse eins und schlechtem Steuerberater rund 7 000 Euro netto sind. Für dieses Gehalt würde nicht nur so mancher Chefarzt, sondern auch fast jeder Hauptstadtjournalist noch nicht einmal aufstehen.

Aber wer sagt eigentlich, dass ein »Linker« arm sein und allen weltlichen Vergnügungen abschwören muss? Ist die Linkspartei etwa ein Bettelorden? Darf man nur dann linke Positionen vertreten, wenn man sich in Sack und Asche hüllt? Wann darf man eigentlich neoliberale Positionen vertreten? Muss ein FDP-Abgeordneter mindestens 100 000 Euro pro Jahr bei seinen Nebentätigkeiten verdienen, um glaubwürdig zu sein? Karl Marx war Angehöriger des Bildungsbürgertums, Friedrich Engels, Ferdinand Lassalle, Lenin und Che Guevara waren sogar waschechte Großbürger. Wer käme auf die Idee, ihnen ihre »linke Gesinnung« qua Klassenzugehörigkeit postum abzusprechen?

Es scheint jedoch bei der bürgerlichen Presse eine Art Beißreflex gegen »linke« Politiker zu geben, die den Annehmlichkeiten eines ordentlichen Einkommens nicht abgeneigt sind. Was musste sich Oskar Lafontaine schon alles anhören, weil er in einem stattlichen Haus lebt. Sogar Deutschbanker Ackermann entblödete sich einst nicht, Lafontaines Wohnstätte öffentlichkeitswirksam zu instrumentalisieren, als er in einem Spiegel-Interview zum besten gab, dass der Linken-Politiker »wesentlich prunkvoller« als er selbst leben würde.39 Und wer kann sich nicht mehr an die künstliche Empörung erinnern, die zelebriert wurde, als herauskam, dass Sahra Wagenknecht in einem Restaurant Hummer aß? Hummer! Unglaublich! Dürfen linke Politiker etwa nur Steckrüben essen?

»Porsche-Klaus« kommentierte die Vorwürfe damals mit dem lakonischen Satz: »Es gehört zur historischen Wahrheit, dass der Porsche dem Trabant überlegen ist.« Wer könnte diese Aussage bestreiten?

Warum liest man in den Medien nur sehr selten etwas über Guido Westerwelles Einkommen? Bevor er Außenminister wurde, ließ er sich als Partei- und Fraktionschef seine Diäten von der Partei verdoppeln. Das ist natürlich weder anrüchig noch unanständig. Anrüchig und unanständig sind jedoch Westerwelles Nebeneinkünfte. Als »Redner« hielt er in der letzten Legislaturperiode (Oktober 2005 bis Oktober 2009) ganze 35 Vorträge bei Banken, Versicherungen und Unternehmen, die mit mehr als 7 000 Euro pro Vortrag vergütet wurden. Wie hoch Westerwelles Nebeneinkünfte aus der freien Wirtschaft sind, wissen nur er selbst und sein Steuerberater. Vielleicht war es nur das rechnerische Minimum von 270 000 Euro, die sich aus den angegebenen Nebenverdienststufen (siehe Kapitel 3 über Lobbyismus) ergeben würden, vielleicht war es aber auch deutlich mehr als eine Million. Aber das interessiert die freie Presse nicht, schließlich fährt Guido ein kunterbuntes Guidomobil und keinen Porsche – und »links« ist er auch nicht.

Welchen Wagen Peer Steinbrück fährt, ist dem Autor dieses Buches leider nicht bekannt. Fest steht jedoch, dass der SPD-Politiker sich alleine mit seinen Nebeneinkünften jeden Monat einen neuen Porsche leisten könnte. In seiner Amtszeit als Finanzminister pumpte Peer Steinbrück mehr als 500 Milliarden Euro Steuergelder in das deutsche Finanzsystem – wie viel davon irgendwann wieder zurückgezahlt wird, darüber kann man nur spekulieren. Die Formalien stehen im Kleingedruckten, und das ist – natürlich – nicht öffentlich einsehbar. Wessen Interessen hat Steinbrück vertreten? Die des Volkes, dem er als Staatsdiener verpflichtet war? Oder doch die der Finanzinstitute, die er als Fachminister eigentlich überwachen sollte? Kaum wurde Steinbrück vom Wähler aus dem Amt entfernt, ließ er sich fürstlich von den Profiteuren seiner großzügigen »Rettungspakete« und »Subventionen« honorieren. Heute ist Steinbrück Nebeneinkommensmillionär. Hätte die Infamie der politischen Klasse ein Gesicht, so wäre es das von Steinbrück.

Allein im Jahre 2010 hielt er ganze 29 Vorträge bei Privatveranstaltungen, die er sich großzügigst bezahlen ließ. Teilweise überschnitten sich dabei sogar die Termine zwischen Hauptund Nebentätigkeit, wobei nicht wirklich klar ist, welchen Beruf Peer Steinbrück nun haupt- und nebenamtlich ausübte. Als der Bundestag in diesem Jahr den Haushalt debattierte, referierte Steinbrück in Mannheim auf der »Leitmesse für Finanzprofis«.40 Die Sponsoren dieser Messe waren das Who is Who der deutschen Finanzwirtschaft, und es ist davon auszugehen, dass Peer Steinbrück für seine Rede in Mannheim mehr Geld bekam, als er vom Staat für die Wahrnehmung seines Bundestagsmandats in einem ganzen Monat bekommt. Wenn man sich an den Branchenangaben orientiert, kann man davon ausgehen, dass Peer Steinbrück zwischen 15 000 und 25 000 Euro für eine Rede bekommt. Nimmt man einen Mittelwert von 20 000 Euro als Basis, verdient Peer Steinbrück im Jahr rund 580 000 Euro als Redner. Zusammen mit rund 70 000 Euro41, die Steinbrück von der Krupp-Stiftung bekommt, weil er für sie im Aufsichtsrat des Stahlkonzerns Thyssen-Krupp sitzt (der ebenfalls in seiner Amtszeit üppige Subventionen aus der Staatskasse bekam), und den Honoraren für seine Bücher, die Brancheninsider auf rund 250 000 Euro schätzen, kann sich Steinbrück damit als Nebeneinkommensmillionär bezeichnen.

Doch wer zahlt dem ehemaligen Finanzminister solch stolze Summen? Und vor allem wofür? Steinbrücks Kundenliste ist durchaus beeindruckend: Deutsche Bank, BNP Paribas, KPMG, Union Investment und diverse Interessenverbände, die natürlich kein Interesse an einer sozialen Politik haben, sondern die Interessen der Märkte und des Finanzkapitals vertreten. Er wird also von denjenigen bezahlt, deren Wünsche er auf Kosten der Staatskasse nur allzu bereitwillig erfüllt hat. Das hat nichts mehr mit einem »G’schmäckle« zu tun. Es ist vielmehr so, als ob ein ehemaliger Innenminister, der die Ermittlungen gegen die organisierte Kriminalität eingestellt hat, nach seiner Amtszeit gut dotierte Vorträge bei der Mafia hält, in denen er Tipps für kreative Geschäftsmodelle zur Geldwäsche gibt und sich von den Kapos feiern lässt. Das ist nicht nur Betrug am Wähler, sondern auch Betrug am Staat, vertritt ein Minister doch die Interessen des obersten Souveräns. Und dieser Souverän ist, auch wenn das heutzutage kaum jemand mehr glaubt, immer noch das Volk – so will es das Grundgesetz.

Während der Porsche des Linken-Vorsitzenden Klaus Ernst den Medien ein Sommerlochtheater wert war, ziert man sich kollektiv, die wirklich heißen Eisen anzufassen. Nicht die Presse, sondern das Blog Abgeordnetenwatch42 hat die Nebeneinkünfte von Peer Steinbrück aufgedeckt. Die klassischen Medien ignorierten diese Erkenntnisse in einem Kartell des Schweigens. Statt Steinbrück zu kritisieren, wird er von den Medien kollektiv zum Kanzlerkandidaten der SPD hochgeschrieben. Von seinen anrüchigen Nebeneinkünften ist in den jüngeren Elogen von Spiegel und Zeit erst gar nicht die Rede.

Was ist Klaus Ernst schon gegen Peer Steinbrück? Und hier geht es ausnahmsweise nicht um die Höhe der Einkünfte, sondern um die Verbindung zwischen Macht und Politik, zwischen Interessengruppen und Politikern. Peer Steinbrück ist korrupt – wenn auch nicht aus strafrechtlicher, so doch aus moralischer Perspektive. Denn ein Politiker, der sich von den Interessengruppen fürstlich bezahlen lässt, denen er in seiner aktiven Zeit wohlgesonnen war und die er mit Steuergeldern überhäuft hat, ist wahrlich kein leuchtendes Beispiel für moralische Integrität.

Öffentlich-rechtliche Klofrauen

»Diese Politfiguren dürfen dann in den öffentlich-rechtlichen Bedürfnisanstalten bei den Klofrauen Christiansen und Illner ihre Sprechblasen entleeren. Und wenn bei der intellektuellen Notdurft noch was nachtröpfelt, dann können sie sich bei Beckmann und Kerner an der emotionalen Pissrinne unter das Volk mischen.«

Georg Schramm

Die großen Talk-Shows der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten kommen nur sehr selten über höfliche Belanglosigkeiten und artig vorgelesene Steilvorlagen für die Politik hinaus. Sie zeichnen sich seit jeher durch ihre bedingungslose Kritiklosigkeit an den Mächtigen aus, und ihre kärtchenhaltenden Impresarios gefallen sich offenbar gut in der Rolle des netten Grüßaugusts. Diese Form von Pseudojournalismus ist ein optimales Umfeld für Meinungsmache jeglicher Couleur. Die Zeiten eines Günter Gaus sind wohl ein für alle Mal vorbei. Die öffentlich-rechtlichen Chefplaner trauen es ihren Zuschauern anscheinend einfach nicht mehr zu, ein kritisches Programm zu goutieren.

Nicht nur der meilenweit verfehlte journalistische Anspruch, sondern vor allem die personelle Zusammensetzung dieser Veranstaltungen muss jedem aufgeklärten Menschen ein Greuel sein. Wenn es um wirtschaftliche Fragen geht, folgen Redaktionen meistens einem simplen, aber überaus effektiven Verteilungsschema: Eingeladen werden ein moderater kritischer Geist, ein moderater Vertreter der neoliberalen Schule und ein neoliberaler Extremist – garniert wird das Ganze meist durch ein oder zwei Promis aus dem kulturellen Bereich, die dafür sorgen sollen, dass das Gespräch nicht allzu anspruchsvoll wird. In der Sendung werden dann der moderate kritische Geist und der neoliberale Extremist aufeinandergehetzt, so dass der moderate Neoliberale sich als vermeintlich schlichtende und neutrale Instanz in Szene setzen kann. Die Rolle des neoliberalen Kettenhundes wird dabei gern an Personen wie Hans-Werner Sinn, Arnulf Baring oder Hans-Olaf Henkel vergeben – Henkel und Baring stehen mit neun beziehungsweise acht Auftritten auf Platz zwei und drei der inoffiziellen Liste der meisteingeladenen Talk-Show-Gäste des Jahres 201043 und mussten sich nur dem greisen S-21-Schlichter Heiner Geißler geschlagen geben, der zwölf Auftritte absolvierte. Wie kommt ein Redakteur eigentlich auf die Idee, ausgerechnet Baring und Henkel in eine Talk-Show einzuladen? Ist es die Quotentauglichkeit der beiden verhärmten alten Männer? Ist es deren – zum Teil extrem – rechte Position? Man weiß so wenig.

Der triste Mangel an Abwechslung bei der Gästeauswahl in den großen Abend-Talk-Shows setzt sich beim Presseclub fort, dessen Vorgänger die Urmutter aller deutschen Talk-Shows war, der »Internationale Frühschoppen« mit sechs Journalisten aus fünf Ländern. Wer kann sich eigentlich noch an die »gute alte Zeit« erinnern, als sich bei Gastgeber Werner Höfer in einem dichten Nebel aus Zigarettenqualm streitbare Denker bei einem Schoppen Wein die Köpfe heißredeten? Heute herrscht in Fernsehdiskussionen ein strenges Rauchverbot, das nur für den unberührbaren Alt-kanzler Helmut Schmidt aufgehoben wird, und statt Wein nippen unsere großkopferten Hauptstadtjournalisten lieber an einem Glas stillen Mineralwassers. Aufgrund des sinkenden Promillegehaltes der Getränke ist die Umbenennung des »Frühschoppen« durch die ARD in »Presseclub« insofern auch nur konsequent. Die Diskussionen sind dabei so fad wie die Getränke. Wer die Presselandschaft nicht kennt, könnte aufgrund der handverlesenen Selektion des Presseclubs glatt denken, es gäbe nur rund ein Dutzend Journalisten in Deutschland, die allesamt neoliberale Ansichten vertreten. Ganz selten wagt man einmal die Palastrevolution und lädt auch einen der letzten kritischen Vertreter dieser Zunft wie beispielsweise die taz-Redakteurin Ulrike Herrmann ein – dass man diese »bunten« Alibigäste dann nicht zu Wort kommen lässt, versteht sich schon fast von selbst.

Spätestens als bekannt wurde, dass Günther Jauch künftig den Premiumsendeplatz hinter dem Tatort mit seinem eigenen »Polit-Talk« ausfüllen darf, war bereits klar, dass er es binnen kürzester Zeit schaffen würde, der angeschlagenen Branche den intellektuellen Fangschuss zu geben. Jauch kassiert für jede Minute (!) seiner PR-Veranstaltung in der ARD vom Gebührenzahler stattliche 4 487 Euro. Mit kritischem Journalismus lässt sich freilich nicht so viel Geld verdienen. Sendungen wie »Günther Jauch« passen eigentlich eher in zentralasiatische Despotien.

Das alles wäre eigentlich nicht weiter tragisch und für das Dahinsiechen des kritischen Journalismus nur eine Fußnote. Die Talk-Shows der Öffentlich-Rechtlichen erfreuen sich jedoch paradoxerweise durchaus einer gewissen Beliebtheit. Zwischen vier und fünf Millionen Zuschauer schalten ihre Geräte ein, wenn Günther Jauch am Sonntagabend den kärtchenhaltenden Impresario bei seiner Journalismus-Simulation gibt. Das sind Zahlen, mit denen sich ansonsten nur noch der Branchenprimus der gedruckten Verdummungsmaschinerie, die Bild-Zeitung, messen kann. Selbst jeder mehr oder weniger kluge Leitartikel der sogenannten Qualitätszeitungen kommt nicht einmal im Ansatz auf eine solche Reichweite. Alternative Medien und Blogs spielen quantitativ eh in einer anderen Liga – wenn Günther Jauch die »Champions League« der Meinungsmache ist, spielen selbst reichweitenstarke Blogs wie die NachDenkSeiten nur in der Bezirksliga. Qualitativ ergibt sich freilich ein umgekehrtes Bild.

Retten die Blogger die Demokratie? The good, the bad and the ugly44

Es existiert keine stichhaltige und belastbare Kartierung der deutschen Bloglandschaft. Laut einer Allensbacher Computer- und Technikanalyse sollen zwar 8,4 Prozent der deutschen Internetnutzer ein eigenes Blog führen, wie viele davon überhaupt aktiv geführt und als »politisch« betrachtet werden können, lässt sich jedoch ohne zuverlässiges Zahlenmaterial nicht sagen. Empirisch könnte man die Zahl der Weblogs in Deutschland, die sich auch mit politischen Themen abseits von Netzpolitik beschäftigen, vielleicht auf wenige Tausend schätzen. Selbstverständlich ist diese politische Blogosphäre jedoch sehr heterogen. Neben einer Phalanx von Blogs, die man anhand der klassischen Gesäßtopographie als »links der Mitte« einordnen könnte, gibt es auch zahlreiche Blogs aus dem nationalkonservativen bis rechtsextremen und dem libertären Spektrum. Sehr großer Beliebtheit erfreuen sich auch Blogs, die man am ehesten als »verschwörungstheoretisch« bezeichnen könnte und deren politische Linie oft erstaunlich indifferent ist. Einzig im engeren Umfeld der Volksparteien gibt es erstaunlicherweise fast gar keine Blogs, die nicht von den Jugendorganisationen der Parteien selbst betrieben werden.

Wenn man unterstellt, dass Blogger vor allem die Lücken, die der mediale Mainstream entstehen lässt, füllen wollen, kann diese Verteilung nicht überraschen. Würden die klassischen Medien ihrer Aufgabe ordentlich nachkommen, gäbe es auch weniger Gründe, beispielsweise die NachDenkSeiten zu lesen. Da die klassischen Medien in ihrer Rolle als vierte Gewalt jedoch eklatant versagen, sind Blogs wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, sich ohne eine große Kapitaldecke oder Organisationsstruktur publizistisch gegen die Allmacht der Parteien, Verbände, Denkfabriken und der monopolartigen Medienunternehmen zu wehren. Genau diese Begründung wird jedoch auch von politischen Extremisten und »bunten Vögeln« angeführt, weshalb man die Blogosphäre auch nicht als monolithischen Block gegen den Mainstream verstehen darf. Nicht alle Blogger wollen die Demokratie retten, und die Blogger, die die Demokratie retten wollen, sind oft in Detailfragen grundverschiedener Meinung.

In Deutschland verstehen sich daher die meisten politischen Blogger eher als Aufklärer in eigener Sache und als Korrektiv zur Gatekeeper-Funktion der klassischen Medien. Diese Aufgabe können Blogger ohne weiteres erfüllen, und wegen dieser Aufgabe werden sie auch von immer mehr Menschen gelesen. Die rund sieben Millionen Seitenaufrufe pro Monat, die beispielsweise die NachDenkSeiten verzeichnen können, sind ein Ausrufezeichen, auch wenn diese Zahl natürlich nur einem Bruchteil der Leserreichweite der Mainstreammedien entspricht. Dieses krasse Missverhältnis ist jedoch für Blogger kein Grund, den Kopf hängen zu lassen, sondern im Gegenteil eher ein Ansporn. Das größte Wachstumspotential der Blogs ist freilich dem Umstand geschuldet, dass die Massenmedien kontinuierlich versagen. Sollten sie das Ruder nicht herumreißen, wird die quantitative und wohl auch qualitative Bedeutung der Blogs unweigerlich weiter zunehmen, zumal die Blogs im »linksliberalen« Spektrum in vielen politischen Punkten mit der Mehrheitsmeinung größere Schnittmengen haben als die neoliberal und parteiennah geprägte Berichterstattung der Massenmedien.

Auf jeden klugen Artikel in den Blogs kommen aber auch mindestens hundert weniger kluge Artikel in den Massenmedien, und die meinungsbildende Propaganda auf den Stühlen von Günther Jauch und Anne Will hat eine ungleich höhere Reichweite. Es ist eher die Rolle Davids gegen Goliath oder die Arbeit eines Sisyphus, der den Felsbrocken jeden Tag aufs neue den steilen Berg hinaufrollen muss. Auch wenn das Potential zweifelsohne vorhanden ist, wird es den politischen Blogs in der momentanen Struktur sehr schwerfallen, dieses signifikant auszuweiten. Die Heterogenität der Blogosphäre steht dabei einer wünschenswerten stärkeren Vernetzung – oder gar einer Kampagnenfähigkeit – im Wege. Heute können Blogs vorhandene Protestbewegungen begleiten, fokussieren und bestenfalls verstärken. Um selbst ein aktives Agenda-Setting zu betreiben oder gar Protestbewegungen anzustoßen, fehlt den deutschen Blogs jedoch (noch) die nötige Reichweite und Professionalität.

Gern werden deutsche Politblogs von Gegnern wie Befürwortern mit ihren amerikanischen Pendants verglichen. Die Gegner von Blogs verweisen auf Erfolg und Professionalität amerikanischer Blogs und attestieren den deutschen Blogs eine vergleichsweise chaotische und amateurhafte Struktur. Die Befürworter von Blogs verweisen stattdessen lieber auf das Potential und die Kampagnenfähigkeit der Blogs jenseits des Atlantiks. Beide Argumentationen laufen jedoch ins Leere, da sich der Vergleich schon allein aus Gründen der unterschiedlichen medialen und politischen Systeme verbietet. Oder könnte sich hierzulande irgendwer ernsthaft vorstellen, dass die sozialen Netzwerke eine aktive Kampagne für den vermeintlichen Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück anstoßen? Steinbrück ist nicht Obama, und die NachDenkSeiten sind nicht die Huffington Post. Diese verfügt über ein Budget von mehreren Millionen Dollar und beschäftigt mehr hochqualifizierte Vollzeitmitarbeiter als viele deutsche Verlagshäuser. Ein Vergleich mit deutschen Blogs, die sich meist ausschließlich über Spenden finanzieren und ehrenamtlich oder im Nebenerwerb betrieben werden, verbietet sich daher. Hätte die deutsche Blogszene vergleichbare finanzielle und personelle Möglichkeiten, sähe die Welt auch hierzulande anders aus.

Es wäre gegenüber den Lesern auch vermessen, den Einfluss von Blogs rein quantitativ bewerten zu wollen. Wenn es um Aufklärungsarbeit geht, zählt ein durchschnittlicher Blogleser ungleich mehr als der passive Konsument einer Polit-Talk-Show. Blogleser sind oft selbst Multiplikatoren, die die Arbeit der Blogger in der Offline-Welt fortsetzen. Wie aus dem Feedback vieler Leser klarwird, nutzen sie die gewonnenen Informationen nicht nur zur eigenen Meinungsbildung, sondern auch im privaten oder beruflichen Umfeld zur Argumentation gegen vorhandene Mainstreammeinungen. Blogs sind in diesem Kontext ein ausgesprochen interaktives Medium. Die Autoren greifen auf Hinweise und Erfahrungen ihrer Leser zurück, während diese ihrerseits oft die Hinweise und Analysen der Autoren rezipieren. Die Bindung zwischen Leser und Autor ist wohl bei keinem Medium so groß wie bei den Blogs. Wenn Blogs ihre Wirkmächtigkeit ausbauen wollen, so ist dies daher nur zusammen mit den Lesern möglich.

Ob die deutschen Politblogger ihre Relevanz mittel- bis langfristig erhöhen können, ist jedoch ungewiss und an verschiedene Faktoren gekoppelt:

image  Kann eine stärkere Vernetzung innerhalb der Blogosphäre möglich und zielführend sein?

image  Ist es möglich, die personellen und finanziellen Ressourcen zu verbessern?

image  Gelingt es den Blogs, sich vor Abmahnungen und politischer wie wirtschaftlicher Einflussnahme zu schützen?

image  Reicht die Verbreitung über soziale Netzwerke (online wie offline) aus, um die Leserschaft signifikant zu erhöhen?

Wenn sich all diese Fragen bejahen lassen, steht den Medien womöglich ein Strukturwandel bevor, bei dem die Blogs das Monopol der Medienkonzerne aufbrechen könnten. Bis dahin ist es jedoch noch ein weiter Weg. Aber sogar der längste Marsch beginnt mit dem ersten Schritt.

Gefahren für die digitalen Bürgermedien

Bei aller zurückhaltenden Euphorie für die alternativen Medien lässt sich jedoch nicht verleugnen, dass dieses zarte Pflänzchen der Meinungsfreiheit keinen Artenschutz genießt und gleich mehreren elementaren Gefahren ausgesetzt ist. Das deutsche Rechtssystem ist ein System, in dem es einen kleinen, aber feinen Unterschied zwischen »recht haben« und »recht bekommen« gibt. Hierzulande kann nur derjenige recht bekommen, der sich dies auch leisten kann. Eine einfache Unterlassungserklärung mit einer vierstelligen Kostennote reicht bei den meisten kleineren Blogs bereits aus, um sie mundtot zu machen.

Die Stärke der Blogs ist gleichzeitig ihre Schwäche. Wer seine Seite in der Freizeit oder im Nebenerwerb betreibt, kann es sich gar nicht leisten, teure Anwälte zu bezahlen oder vor Gericht zu gehen, um sein Recht zu erstreiten. Wenn die Kanonen nur groß genug sind, hat der Spatz keine Chance, ihnen zu entkommen. In Deutschland bestimmt der Streitwert auch die Anwaltskosten der verklagten Partei. Welcher Blogger könnte sich beispielsweise die Anwaltskosten leisten, wenn es um einen Streitwert von 16,25 Millionen Euro geht? Auf diese Summe verklagte August von Finck, dessen Name nicht nur im Umfeld der Großspender der FDP,45 sondern auch im Umfeld von Razzien gegen Steuerhinterzieher auftauchte, 46 jüngst das Handelsblatt. Die Rechtsschutzund Betriebshaftpflichtversicherung des Handelsblatts wird die Prozesskosten und die etwaigen Strafen sicherlich übernehmen, weshalb sich die Zeitung auch kampfeslustig geben kann. Kein Blogger kann sich jedoch Versicherungen leisten, die derartige Kosten auch nur im Ansatz absichern.

Eine weitere Gefahr für die Meinungsfreiheit stellt auch die technische Infrastruktur dar, die für ein Blog benötigt wird. Wie schnell ein Blog dauerhaft im Datennirwana verschwinden kann, konnte man im Sommer 2010 beobachten. Damals zog der Server-Hosting-Gigant BurstNet in einer Nacht- und Nebelaktion bei 70 000 Blogs den Stecker. Die betroffenen Blogs waren Kunden der Plattform Blogetery, die kostenlose WordPress-Blogs anbietet. Grund für den »digitalen Massenmord« war eine Anfrage des FBI – die Geheimdienstler wollten von BurstNet die Kontaktdaten der Blogetery-Betreiber in Erfahrung bringen, da offenbar eines der 70 000 gehosteten Blogs »islamistische Propaganda« verbreitete. Anstatt die Betreiber von Blogetery zu kontaktieren, griff man bei BurstNet zur Ultima Ratio – man nahm die Server der Blogplattform nicht nur vom Netz, sondern löschte sie bis aufs letzte Bit. So verloren 69 999 komplett unschuldige Blogger über Nacht nicht nur ihr Blog, sondern auch gleich ihre kompletten Daten.

Der Fall Blogetery zeigt, dass die größte Gefährdung digitaler Inhalte nicht etwa paranoide Behörden, sondern übereifrige und bisweilen inkompetente Internetdienstleister sind. Bereits im Fall des iranischen Dissidenten Hossein Derakshan war es ein übereifriger Internetdienstleister, der auf die bloße Beschwerde eines US-Think-Tanks hin gleich das gesamte Blog des Journalisten löschte. Sowohl im Fall Blogetery wie im Fall Derakshan hat nie ein Gericht darüber entschieden, ob die mutmaßlich gesetzeswidrigen Inhalte auch wirklich justiziabel sind. Was nutzen uns also die besten Gesetze, wenn sie in der Praxis nicht zur Geltung kommen, weil Internetdienstleister sich als die Herren des Netzes aufspielen?