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die sonne wirft schatten.
tiefschwarze schatten.
Neel hielt sein Versprechen. Er gab sich Mühe und entweder fiel es ihm leichter als gedacht oder er log so gut, dass selbst ich es nicht bemerkte. Wahrscheinlich war ich geblendet von dieser hellen Welt mit all ihren Farben.
Wenn die Sonne schien, rannte ich nach draußen, fing Schmetterlinge, die so bunt waren, dass es in den Augen brannte. Ich brachte sie ins Haus (auch wenn Neel protestierte), schleppte Blumen und farbenfrohe Vogelfedern herein, blaugrün schillernde Käfer und Schnecken in bunten Häusern, mit denen Edison stundenlang spielen konnte. Er spielte immer dasselbe: draußen sein.
Die Gilde der Wölfe plante, ein leer stehendes Haus für uns herzurichten. Es war nicht besonders groß, aber ich mochte es auf Anhieb. Im Garten standen ein Pflaumenbaum und ein Hasel-nussstrauch und vor dem Haus grüne Essigbäume, die sich laut Mellenie im Sommer rot verfärben würden und eine Art natürlichen Zaun bildeten.
Nachts arbeiteten wir gemeinsam an unserem Haus, zimmerten Fensterläden, nähten Vorhänge, flickten die Löcher im Dach und reparierten die Wasserleitungen. Als Gegenleistung für ihre Hilfe erwartete die Gilde unsere Unterstützung. Wir sollten unsere Erfahrungen teilen, den Menschen und Percents zeigen, wie das Zusammenleben funktionieren konnte.
Für Graves tat man eine Schreibmaschine auf und in kürzester Zeit hatte er gelernt, sie zu bedienen - er war in seinem Element. Von da an ertönte beinahe den ganzen Tag und die halbe Nacht
hektisches Geklapper aus dem Haus. Er träumte nicht länger davon, Bücher zu sammeln. Er wollte sie schreiben. Er begann mit unserer Geschichte.
• • •
An einem sonnigen Nachmittag begleitete Mellenie mich in die Stadt. Wir wollten Stoffe kaufen, um Kissen zu nähen. Als wir schwer bepackt wieder auf den Marktplatz traten, hatte die ungewohnte Wärme mir längst den Schweiß aus allen Poren getrieben. In Tropfen rann er mir über die Schläfen und ich fühlte mich großartig.
Der Musiker war wieder da, er spielte abwechselnd auf einer Flöte und einer Gitarre, zu deren Klängen er auch sang. Ich verstand kaum ein Wort, aber genug, um zu wissen, dass das Lied vom Glück handelte. Glück, das nach Meer und Seife roch. Einige Menschen standen im Halbkreis um den Straßenmusiker herum, andere tanzten.
»Los, lass uns auch tanzen!«, rief Mellenie. Sie kickte ihre Holzschuhe zur Seite, stellte unsere Taschen daneben ab, und ehe ich widersprechen konnte, zog sie mich mit sich.
Ich konnte nicht tanzen. Hatte es nie gelernt. Warum auch?
Ich stand erstarrt da, wie ein in den Boden gerammtes Schwert, zwischen all den Menschen, die sich leicht und gelöst bewegten, als würde die Musik sie lenken. Ein harter Fremdkörper mitten unter ihnen, das war ich. Und das wollte ich nicht sein. Verdammt, ich wollte das nicht!
Erst bewegte ich nur die Arme, dann den Oberkörper und schließlich vorsichtig auch die Beine. Bei den anderen sah das so leicht aus, aber mir fiel es schwer, ihnen die Schritte nachzumachen. Erst hatte ich Angst, sie würden es mir übel nehmen, dass ich so ungeschickt war, oder sie könnten über mich lachen. Aber das war unbegründet, aufmunternd lächelten sie mir zu.
Mellenie zog mich zur Seite. »Du musst deine Schuhe ausziehen!«, rief sie. Ihre Wangen waren gerötet und ihre Augen leuchteten. »Na los, runter mit den schweren Stiefeln. Das sind Schuhe für den Krieg, zum Kämpfen. Niemand kann in solchen Schuhen tanzen.«
»Ich ... kann doch nicht ...« Nein, das ging nicht. In meinem Stiefel steckte mein Messer, und Waffen zu tragen war verboten!
»Warum denn nicht?« Mellenie lachte. »Trau dich einfach.«
Sehr vorsichtig öffnete ich die Schnürriemen und zog meinen schwitzenden Fuß heraus, darauf achtend, dass niemand das Messer zu Gesicht bekam. Die Frauen und Kinder hüpften munter umher, der Musikant sang - niemand beachtete mich.
Bloß Mellenie. Und ihr konnte ich nichts vormachen.
Sie kniete sich neben mich und legte ihre Hand auf meine, unter der ich das Messer verbarg. Ich hielt den Atem an. Wenn sie mich jetzt an die Polizei verriet, war alles aus. Vorbei der Traum von unserem Haus und dem neuen Leben, das wir uns so mühsam zusammenzimmerten.
Doch als ich aufsah, bereits eine Rechtfertigung auf den Lippen, lächelte sie. »Schon gut. Leg es ab, wenn du bereit bist. Du musst nicht mehr kämpfen, wir beschützen euch. Aber ich verstehe, dass du noch nicht daran glaubst. Wir brauchen alle unsere Zeit, so sind wir Menschen eben.«
Ich biss mir auf die Lippe, hoffte inständig, sie möge nicht weitersprechen, weil ich sonst in Tränen ausgebrochen wäre.
Sie tat mir den Gefallen, als würde sie meine Gedanken erraten, und stieß mich an. »Und nun komm, weg mit den Strümpfen, ehe dem Sänger die Puste ausgeht!«
Und so tanzten wir. Barfuß zu Liedern vom Glück, inmitten von Frauen und Kindern, deren Gesichtern man ansah, dass sie vom
Krieg nichts wussten. Ich machte mich sicher lächerlich, denn ich konnte ja überhaupt nicht tanzen. Ich rempelte gegen andere Tänzer, trat ihnen auf die Füße und rief laufend Entschuldigungen, die nicht nötig waren, denn ohne Schuhe tat ich niemandem weh. Und nach kurzer Zeit bemerkte ich verblüfft, dass ich mich genauso ausgelassen bewegte wie alle anderen.
• • •
»Du riechst nach Sonne«, sagte Neel, als ich wieder zu Hause war. Er rieb seine Nase an meiner nackten Schulter. »Man riecht hier tatsächlich das Wetter auf deiner Haut.«
Ich glaubte gern, dass ihn das erstaunte. In Großbritannien roch man vor allem den Staub.
»Ich habe tanzen gelernt«, sagte ich. Sofort zog ich meine Schuhe aus, um es ihm zu zeigen, aber die Schritte wollten mir nicht mehr einfallen. »Die Musik fehlt«, meinte ich und summte die Melodie vor mich hin. Es half nichts. Ich suchte lange und verbissen nach dem Gefühl, das mich beim Tanzen begleitet hatte, doch ich konnte es nicht mehr finden.
»Vielleicht bist du einfach müde?«, fragte Neel. Unrecht hatte er nicht. Der Tag war aufregend und anstrengend gewesen. »Du solltest dich etwas hinlegen.«
»Wir wollten doch noch zusammen zum Meer.«
»Du schläfst viel zu wenig.«
Auch das stimmte. Ich fand keine Zeit, um zu schlafen. Meine Nächte gehörten Neel und während der Tagesstunden, die er, Edison und Graves (wenn er nicht schrieb) zum Schlafen nutzten, fand ich keine Ruhe, solange es so viel zu entdecken gab.
»Leg dich etwas hin«, wiederholte er sanft. »Wir gehen morgen zum Strand.«
Ich musste gähnen. »Morgen? Kommt morgen nicht die Lehrerin, die Mellenie für Edison engagiert hat?«
»Hhm. Und danach gehen wir alle zusammen zum Meer. Der Zwerg freut sich schon darauf, enttäusche ihn nicht.«
• • •
Ich lernte Edisons Lehrerin am nächsten Nachmittag kennen. Marlie Bick war eine gemütlich aussehende, rundliche Frau, die lila gefärbte Kleidung trug und mich an eine Pflaume erinnerte. Sie hatte helle, freundliche Augen. Doch diese Augen verdüsterten sich abrupt, als Neel zu uns in die Wohnstube trat und ihr die Hand reichte. Sie wusste wohl, dass es ein Percent-Kind war, das sie unterrichten sollte, aber dass weitere Percents im Haus lebten, hatte ihr offenbar niemand gesagt (und ich ahnte auch, warum). Nur äußerst widerwillig streckte sie Neel ihre rechte Hand entgegen und hielt dabei so viel Abstand wie möglich. Ich bemerkte beklommen, dass sie mir Blicke zuwarf, als erhoffte sie sich meine Hilfe, sollte Neel ihr gefährlich werden. Unauffällig atmete ich tief durch, lauschte Graves' Schreibmaschinengeklapper im Nebenraum und versuchte, den sich mir aufdrängenden Eindruck abzuwenden, dass dieser Tag mit einem Drama enden würde.
Neel wünschte Marlie Bick auf Europäisch einen guten Tag. Mit Begrüßungsfloskeln waren unsere Fähigkeiten leider erschöpft, daher wechselte er in unsere Sprache. »Mellenie sagte, du würdest uns verstehen, Marlie?«
»Sehr wohl«, antwortete sie ein wenig steif.
An irgendetwas stieß sie sich, aber ich kam nicht dahinter, was es war. Möglicherweise war es allein die Tatsache, dass Neel Schlangenaugen hatte. Ich unterdrückte ein Stöhnen und bot ihr Tee an, den sie ablehnte, als hätte ich etwas Unanständiges vorgeschlagen.
Man konnte es auch übertreiben. Ein wenig beleidigt holte ich für Neel und mich eine Tasse.
Als ich mit dem dampfenden Tee zurückkam, war die Verunsicherung im Gesicht der Lehrerin einem Ausdruck gewichen, als würde man sie zwingen, mit einem ekligen Insekt zu verhandeln.
Ich bewunderte Neel für seine Geduld und das Talent, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihre Ablehnung ihn zutiefst verletzte.
»Nun, es ist so, dass er nichts von alldem kann«, antwortete er gerade auf eine Frage, die ich nicht mitbekommen hatte.
»Er wurde nicht unterrichtet?«
Neel verkniff sich ein Grinsen. »Er kann Buchstaben abschreiben. Das Lesen und Rechnen lernen Kinder dort, wo wir herkommen, erst später.«
Marlie Bick seufzte, als hätte sie es mit unfassbarer Dummheit zu tun. »Das ist nicht viel.«
»Er lernt schnell«, versprach ihr Neel, »und wird sicher bald aufgeholt haben, was ihm fehlt.«
»Ich gebe mein Bestes, Herr ...« Sie hielt kurz inne. »Aber ich möchte keine Versprechungen machen. Das, was ich bisher gehört habe, klingt nach viel Arbeit. Sehr viel mehr, als ich in dem Semester, das die Gilde bezahlt, zu leisten imstande sein werde. Es wird länger dauern, den ... Jungen zu erziehen. Ich stelle mir natürlich die Frage, wer mich in Zukunft bezahlen wird ...«
Neels Lächeln wurde für einen Moment sehr glatt. »Wir werden schon eine Möglichkeit finden.«
Ich konnte beinahe spüren, wie schmerzhaft es für ihn war, trotz ihrer abschätzigen Haltung freundlich zu bleiben. Ich wünschte, Marlie Bick könnte nur ein einziges Mal hinter die Maske blicken und den Percent-Krieger sehen, der Neel war. Sehen, wer ihr da gegenübersaß und von ihr mit Verachtung behandelt wurde. Sie würde augenblicklich ihre Haltung überdenken.
Aber Marlie Bick war die einzige Lehrerin, die für Edison infrage kam, und Neel wusste das nur zu gut. Mellenie hatte uns darauf hingewiesen, dass er dieselbe Schulbildung wie die Menschenkinder benötigte, wenn er seine berufliche Laufbahn ebenso frei wählen wollte. Allerdings ohne die Möglichkeit, eine Schule zu besuchen, was ohne Zweifel ungerecht war und seine Chancen schmälerte, aber als Tatsache feststand.
Neel hatte wieder einmal keine Wahl.
Allen Vorbehalten zum Trotz war Marlie Bick so gütig, Edison zu unterrichten. Wir saßen etwas ratlos ob ihrer Ablehnung beisammen, während sie sich mit dem Jungen und ihren mitgebrachten Büchern in sein Zimmer zurückzog.
»Ich hätte ihr gerne verraten, was Edison wirklich in den letzten Jahren gelernt hat«, murmelte Neel. Er kämpfte mit einem dreckigen Grinsen, das ich nur halbherzig erwidern konnte.
»Wie man einen Menschen mit bloßen Händen kampfunfähig macht?«
»Hhm. Zum Beispiel.« Er stieß die Luft aus. »Ich fürchte, er wird noch Ärger machen. Edison will überhaupt nicht von dieser Frau unterrichtet werden. Er will in eine dieser Schulen, von denen er gehört hat. Zu anderen Kindern. Er ist so verdammt einsam, Joy. Er kann nicht nur mit Erwachsenen zusammenleben.«
»Ich rede noch mal mit Mellenie«, versprach ich. »Vielleicht gibt es ja doch eine Möglichkeit für ihn, eine Schule zu besuchen. Vielleicht in einem Schutzanzug?«
Neel winkte ab. »Ich habe längst mit ihr geredet. Keine Chance. Glaubst du, irgendwer würde zulassen, dass sein Kind auf die gleiche Schule geht wie ein Percent?«
Ich wollte etwas erwidern, aber er ließ mich nicht zu Wort kommen.
»Er hat gelernt, wie man ein Krieger wird. Alles, was in seinem
Kopf verankert ist, macht den Menschen hier Angst und widerspricht ihren Grundsätzen.« Er stand auf und ging im Zimmer umher, so viel Spannung im Körper, dass ich dachte, er würde gleich auf die Wände losgehen. Schließlich fuhr er sich mit beiden Händen durch die Haare.
»Ich habe dabei ein ganz blödes Gefühl, Joy.«
• • •
Neel hatte es kommen sehen. Doch dass sich seine Befürchtungen schon wenige Minuten darauf als berechtigt erweisen würden, schockierte auch ihn.
Marlie Bick kam vollkommen entrüstet und mit hochrotem Gesicht aus Edisons Zimmer gestürzt. Mein erster, unangebrachter Gedanke war, dass der Junge nackt auf dem Tisch tanzen musste -anders konnte ich mir ihre Empörung nicht erklären. Beinahe hätte ich gelacht.
»Dieser Junge«, brüllte sie Neel an. »Eine Zumutung! Das ... das kann keiner von mir verlangen.«
Neel und ich waren beide kurz davor, Edison mit scharfen Worten zu verteidigen, doch dann bemerkten wir die Tränen in den Augen der Lehrerin. Ich schluckte.
Sie nahm ihre Tasche, warf mir einen entschuldigenden und Neel einen bitterbösen Blick zu und rauschte aus der Tür.
»Das fängt ja gut an«, seufzte Neel und ging, um nach Edison zu schauen. Ich folgte ihm in den kleinen Raum und fand Neel dort allein vor.
»Wo ist er hin?«
Neel wies aus dem offenen Fenster. Die Dämmerung schmiegte sich über den Garten. Von Edison keine Spur.
Wir mussten den Zwerg nicht lange suchen. Lärm aus dem Nachbargarten führte uns schnell auf seine Spur. Wir hörten Kinder grölen, Hühner aufgeregt gackern und eine alte Dame keifen. Das ließ nur zwei Schlüsse zu: Entweder versteckte sich ein Percent in ihrem Garten oder ein wildes Tier.
Wir fanden Edison in einem Apfelbaum hockend. Er presste sich an den Stamm und wich Steinen aus, die zwei Kinder, nur geringfügig älter als er, nach ihm warfen.
Neel, den ganzen Tag über die Fleisch gewordene Beherrschung in Person, setzte mit einem Sprung über den Zaun und stand im nächsten Moment zwischen Edison und den Steinewerfern.
Er musste keinen Laut von sich geben. Bei seinem Anblick flohen die Kinder krakeelend ins Haus. Die alte Frau brüllte Schimpftiraden aus dem Fenster. Ich verstand nur ein Wort und das machte mir große Sorgen: »Polizei.«
Beklommen pflückte Neel den Zwerg aus dem Baum und stellte ihn auf den Boden. Schweigend trotteten wir zum Haus zurück.
Ich sah Neel fragend an. Dass die Polizei bei uns auftauchen würde, war klar, aber ich wollte Edison nicht noch mehr Angst machen und hätte das Thema am liebsten irgendwo vergraben und nie wieder vorgeholt. Daraus wurde natürlich nichts.
Sie kamen nicht einmal eine halbe Stunde später und sie waren schwer bewaffnet. Ich hätte gern Mellenie oder Jesko als Unterstützung dagehabt, aber die beiden würden erst später heimkommen und die Polizisten ließen sich nicht auf dieses Später vertrösten.
In hilflosen Wortfetzen, weil sie unsere Sprache nicht verstanden und wir ihre erst lernten, versuchten wir die Situation zu klären.
Ich argumentierte, Graves untermalte meine Erklärungen mit Skizzen, Edison heulte lautlos und Neel hatte schlicht und ergreifend nichts mehr zu sagen. Er starrte mit dem gleichen misstrauischen Gesichtsausdruck zu Boden, mit dem die Polizisten ihn musterten.
Es war unmöglich zu beurteilen, ob sie unsere Geschichte glaubten oder davon ausgingen, Neel und Edison hätten versucht, die Nachbarn anzugreifen. Irgendwann verschwanden sie wieder. Einer von ihnen, ein Mann mit verhärmter Mimik und schwarzem Haar, was ihm einen Ausdruck brutaler Kälte verlieh, sagte etwas, das ich mir sinngemäß als Warnung zusammenreimte. Man würde uns im Auge behalten ...
Neel sprach erst wieder, nachdem Edison auf seinem Schoß in einen erschöpften Schlaf gefallen war.
»Ich weiß, was die Lehrerin so aufgewühlt hat«, sagte er ohne jeden Zusammenhang.
Ich erinnerte mich gut an meine erste Begegnung mit Edison. Auch mich hatte er zu provozieren versucht. »Was hat er angerichtet?«
Neel fuhr sich erst durch die Haare und dann über die Augen. »Er hat ihr von der Ermordung Lavaders erzählt. Jedes kleine Detail. Verdammt, ich hatte nicht gewusst, dass er das wirklich alles gesehen hat.«
Ich ließ mich niedergeschlagen auf einen Stuhl sinken. »Fuck. Warum hat er das getan?«
»Um sie zu testen? Um sie zu vertreiben?« Neel ließ durchklingen, dass er das selbst nicht recht glaubte. »Die Lehrerin wird nicht wiederkommen. Wir müssen ihn selbst unterrichten.«
»Ich helfe euch natürlich.«
Neel nickte knapp. »Danke. Aber ich habe das Gefühl, das Wichtigste ist zunächst, dass er lernt, wie man sich wehrt, wenn man angegriffen wird. Vielleicht hat er der Lehrerin darum von diesem Erlebnis erzählt. Vielleicht wollte er Antworten auf die Frage, was er hätte tun können.« Erneut raufte Neel sich die Haare. Er war ganz durcheinander. »Verdammt, warum hat er nie mit mir darüber geredet?« »Was hast du vor?«, fragte ich zögernd.
Er schüttelte den Kopf, als wäre ich für die Wahrheit nicht bereit. Dann sprach er es doch aus. »Er muss schießen lernen.«
»Was?« Ich rutschte fassungslos ein Stück von ihm weg. Der Stuhl schabte über den Boden und Edison regte sich, schlief dann aber weiter. »Hast du denn gar nichts begriffen?«
»Ich habe die hiesigen Gesetze genau studiert, Joy, ich kenne sie«, entgegnete Neel, meinen Blick meidend. »Ich weiß, dass er keine Waffe tragen darf. Aber er muss sich verteidigen können. Er hat Angst.« Neel atmete durch, als stünde ihm eine große Anstrengung bevor. »Wusstest du, dass dein sauberes Europa Handel mit der Triade treibt?«
Diese Frage schien mit unserem Gespräch nichts zu tun zu haben und traf mich völlig unvorbereitet.
»Was meinst du damit?«
»Hast du nicht die Pistolen gesehen, die Jesko und Mellenie tragen?«
Ich nickte. »Sie sind für den Fall der Fälle. Weil man nie sicher sein kann, dass -«
Neel hob die Hand. »Natürlich. Nur ein Idiot traut blind dem Frieden.« Er hatte recht und gerade deshalb schmerzten seine Worte so: Ich war der Idiot, ich wollte dem Frieden blind trauen. Und er sprach es aus. »Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass es dieselben Waffen sind, die die Triade an ihre Regimente ausgibt. Sie werden hier hergestellt und nach Großbritannien verkauft.«
»Das glaube ich nicht.« Leider tat ich es irgendwie doch, denn es bestand keinerlei Grund, an Neels Worten zu zweifeln. »Bist du ganz sicher?«
»Ich hatte mehr als genug dieser Pistolen in der Hand.«
Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen.
Neel seufzte, vermutlich hatte er mich nicht so erschrecken wollen. »Jesko kann es natürlich erklären. Die Waffenschmiede, die diese Pistolen produzieren, dürfen sie überallhin verkaufen. Man ist nicht erfreut, dass sie mit den Schatteninseln Handel treiben.« Er lachte bitter. »Natürlich ist man das nicht, solange mit diesen Waffen die eigenen politischen Boten abgeknallt werden. Aber es ist das Recht der Wirtschaft, eigene Handelsabkommen zu schließen.« Neel legte den schlafenden Edison auf das Sofa, trat zu mir und schloss mich in den Arm. Er küsste meinen Hals. Und dabei flüsterte er kühl in mein Ohr: »Auch das ist Demokratie, Joy. Freie Handelsrechte. Ein kluger Waffenschmied ahnt, dass der Feind einen Bedarf an Waffen hat, und er liefert.«
Ich lehnte mich eine Weile an ihn und war dankbar, dass er mich hielt, nachdem er mich aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.
»Verstehst du jetzt, dass hier lange nicht alles so idyllisch ist, wie es scheint?«
Ich nickte. »Aber sie sind so weit gekommen. Sie sind auf dem richtigen Weg, glaubst du nicht?«
»Aber der Weg ist noch lang. Und bis wir sein Ende erreicht haben, ist es wichtig, dass Edison eins lernt: kämpfen. Mit Worten und Waffen und allem, was er hat.«
Ich musste an die Parole denken. »Mit dem Herzen und dem Verstand und allem, was wir sagen und tun.«
Ich stand auf und Neel legte seinen Kopf auf meine Schulter. »Das habe ich lange nicht mehr gehört. Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an.«
• • •
Der Tag, an dem mich die Schatten einholten, begann auf diese friedliche, trügerische Art. Nach Seife riechend. Wir lebten inzwischen in unserem eigenen, kleinen Haus; ein
Haus, das eine stabile Tür und lichtdichte Fensterläden besaß, in dem es fließendes Wasser gab und das in seinem Inneren nach den blühenden Bäumen in unserem Garten roch und nach dem Meer, denn es lag nur wenige Kilometer von der Küste entfernt.
Ich saß auf der Veranda und übersetzte mithilfe eines Wörterbuchs Texte der Gilde der Wölfe. Ich musste dringend besser Europäisch lernen. Wann immer ich in die Stadt ging, stellte ich fest, wie hilflos ich mich fühlte, weil ich die Sprache nicht in all ihren Feinheiten beherrschte. Der Wind spielte mit den Seiten meiner Bücher, doch abgesehen vom Rascheln des Papiers und den singenden Vögeln war es ruhig.
Neel und Edison schliefen. Mellenie war zu Besuch, sie hatte sich im Wohnzimmer gemeinsam mit Graves in dessen Texte vertieft, die sie drucken lassen wollte. Josh begleitete Jesko zur Werkstatt, um eine Reparatur an Jeskos Motorrad vornehmen zu lassen. Er spekulierte auf eine Arbeit in der Werkstatt und Mellenie räumte ihm gute Chancen ein.
Auch meine zukünftige Arbeit stand nun fest. Ich hatte mich entschieden, mich der Gilde anzuschließen und zur Lehrerin ausbilden zu lassen, um mit meinen Erfahrungen dazu beizutragen, Menschen von einer gemeinsamen Welt zu überzeugen - und Frieden zu schaffen. Mellenie stieß sich an meiner Wortwahl. »Wir haben Frieden«, meinte sie, aber unsere Auffassung von Frieden deckte sich nun mal nicht ganz. »Wir sind auf einem guten Weg«, erwiderte ich, »aber wir müssen noch viel weiter gehen.«
Ich wollte dafür kämpfen, dass wir auf diesem Weg vorankamen, aber nicht mehr länger mit einer Waffe. Mein Messer lag Tag und Nacht in meinem Schrank zwischen meinen Strümpfen.
Als die friedliche Stimmung brach, geschah das zunächst nur durch Schritte, die ich rasch näher kommen hörte. Ich sah auf und erkannte den Küstenspäher Hendrik, der mit seiner mürrischen
Frau in einem Leuchtturm wohnte, den Schiffen durch sein Licht den Weg wies und unseren Hafen bewachte.
»Schiff!«, brüllte er und winkte aufgeregt. Sein Gesicht war krebsrot vor Anstrengung. »Fremdes Schiff.«
Ich klopfte an die Scheibe, um Mellenie Bescheid zu geben.
»Ein Schiff von den Schatteninseln?«, wollte ich von Hendrik wissen.
Er nickte und ließ einen Redeschwall auf mich los, von dem ich nur Bruchstücke verstand. Mein Puls jagte. Dass Hendrik mit mir sprach, war nicht selbstverständlich, er misstraute mir mehr noch als den Percents und fand meine Beziehung zu Neel vollkommen unerhört. Ich beschloss, es als positives Zeichen zu sehen, dass er mir heute bereitwillig Auskunft erteilte.
Ein kleines Schiff aus Richtung der Schatteninseln näherte sich. Mellenie bekam die letzten Worte mit und wir rannten sofort los, den Deich hinauf, von wo aus wir das Schiff sehen konnten.
»Sie segeln auf die Fischerdocks zu«, stellte Mellenie fest und hob ein Fernglas vor die Augen. Dann reichte sie es mir. »Menschen. Und sie scheinen wirklich aus deinem Land zu kommen.«
»Woran erkennst du das?«, fragte ich sie, während wir bereits zum Fischerhafen liefen.
Sie antwortete atemlos: »Bleiche Haut und Sonnenbrand.«
»Sind Percents dabei?«
»Ich habe keine gesehen.«
Aber wenn welche an Bord waren, dann versteckten sie sich ohnehin vor der Sonne.
Mellenie war eine ausdauernde Läuferin, aber mit mir konnte sie nicht mithalten. Ich war vor ihr und noch vor dem Schiff im Hafen. Kurz blieb ich neben der Dark Destiny stehen, die wir unlängst hergeholt hatten, und stutzte. Jemand hatte den Namen des Bootes fein säuberlich auf seinen Rumpf geschrieben, sodass er kein Geheimnis mehr war - keine Asche, die das Wasser fortwusch. Wer mochte das getan haben?
Während ich auf das Schiff wartete und zusah, wie es näher kam, hatte ich Zeit, mir darüber klar zu werden, was dort möglicherweise im Anmarsch war: Gewissheit, was nach der Schlacht jenseits des Meeres passiert war. Mein Herz, das bereits durch das Laufen schneller schlug, trommelte immer heftiger gegen meine Rippen, als wollte es sich seinen Weg nach draußen erkämpfen. Es übertönte das Klopfen, mit dem die Fischkutter gegen die Anlagestellen stießen, das leise Knirschen der Seile und das Gezeter der Möwen.
Ich hielt meine Hände über die Augen, damit ich die Menschen auf dem Schiff besser sehen konnte. Ich sah in fremde Gesichter, in Augen, in denen sich Staunen, Misstrauen und unglaubliche Erleichterung spiegelte. Ich wusste genau, warum sie weinten, als sie vom Boot wackelig auf die Stege kletterten, hinfielen und sich am Holz festhielten. Ich hatte damals ebenfalls nur mit Mühe die Tränen zurückhalten können.
Ich zählte zwei Männer, vier Frauen und drei Kinder. Im Arm einer Frau lag ein Säugling, der so winzig war, dass er nur auf dem Meer geboren sein konnte.
Ich wollte ihnen so vieles mitteilen, als sie das Schiff verließen und wieder festen Boden unter den Füßen hatten, ihnen so viele Fragen stellen, aber Tränen stiegen in meine Augen und ich bekam nicht mehr heraus als ein einziges Wort: »Willkommen.«
• • •
Die Gefahr, wenn man Fragen stellt, besteht darin, dass man Antworten bekommt, die man nicht hören will.
Die Gefahr guter Nachrichten liegt darin, dass sie etwas bewegen, das möglicherweise besser unbewegt bleiben sollte.
Die Gefahr der Freude ist, dass man sie nicht immer teilen kann, so gerne man das möchte.
Im Osten der großen Schatteninsel, so erzählten die Ankömmlinge, die tatsächlich Flüchtlinge aus unserer Heimat waren, gab es eine zerstörte Stadt aus Asche, die ein einzelner, überlebender Präsident mit einer Handvoll Anhängern wieder aufzubauen versuchte, nachdem er sie erfolgreich gegen die Rebellen verteidigt hatte.
Um auf dem verbrannten Boden neu zu beginnen, hatte er den wenigen überlebenden Menschen zugestanden, die Stadt in alle nur möglichen Richtungen zu verlassen, ehe die Präsidenten der umliegenden Städte kamen, um zu holen, was sich zu holen lohnte, wie sie es immer taten, wenn sie irgendwo Schwäche witterten. »Diese Stadt gehört nun mir«, sollen seine Worte gewesen sein. »Und ich teile sie nicht.«
»Cloud«, erkannte Neel. Er hatte keinen Zweifel. Er ging davon aus, dass Cloud, der immer an einem friedlichen Zusammenleben interessiert gewesen war, verletzt und enttäuscht vom Angriff der Rebellen sein musste, die seine Stadt in Schutt und Asche gelegt hatten. Ich spürte Neels Schmerz angesichts dieser Tatsache wie meinen eigenen. Und ich spürte, wie groß sein Drang war, Cloud in diesen finsteren Zeiten beizustehen. Denn Cloud war immer viel mehr für Neel gewesen als nur ein militärischer Mentor.
Als er mich in der kommenden Nacht im Halbschlaf fragte, ob ich ihm mein Schicksal schenken würde - mein dunkles Schicksal -, antwortete ich ihm, dass ich ihm alles schenken würde. Und ich wusste, dass ich nun nicht mehr schlafen durfte.
Aber der Versuch war natürlich zum Scheitern verurteilt.