28
sei ein gutes mädchen, joy.
Ich bin ein Mensch und bleibe auch ein Mensch. Ich bin ein Mensch, ich bin ein Mensch.
Das Mantra half mir, meinen Weg zu gehen. Ich stand vor dem Haus meines Vaters und außer diesem einen Satz gab es nichts, was mich motivierte, die Hand zu heben und an die Tür zu klopfen. Ich zögerte.
Es war unmenschlich, von ihm zu wissen und ihm nicht einmal die Möglichkeit für eine Erklärung zu geben. Monster taten so etwas und ich wollte kein Monster sein. Also blieb mir keine Wahl. Ich bezweifelte allerdings, dass er sich überhaupt noch für mich interessierte.
Ich blickte über meine Schulter. Die Brombeerhecke verdeckte Neel fast vollständig, ich sah ihn nur, weil ich genau wusste, dass er da war. Zu kneifen war nicht möglich, er würde mich ja doch nicht in Ruhe lassen. Resigniert schlug ich meine Fingerknöchel gegen das Holz.
»Maggy?«, drang eine brüchige Stimme aus dem Inneren der Kate. Dem unsicheren Tonfall war zu entnehmen, dass der Mann bereits wusste, dass es nicht Maggy war, die dort draußen stand. Maggy hieß seine neue Frau, sie würde wohl kaum an ihrer eigenen Tür klopfen.
»Wer ist da?« Geräusche erklangen, die mich an einen Sack erinnerten, der über Holzboden geschleift wird. Ein nasser Sack.
Am liebsten wäre ich weggelaufen. Aber der einzige Weg führte an den Brombeerbüschen vorbei. Und da würde Neel mich abfangen und mit seinen Argumenten zurückzwingen. Ich glaubte, seine Stimme zu hören: Komm schon, Joy. Du tust das Richtige.
Ich räusperte mich. »Ich bin es.« Eine sehr aussagekräftige Antwort, wenn man sich seit weit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen hatte. »Hier ... hier ist Joy.«
Stille. Noch mehr Stille, laute Stille. Sie dröhnte in meinem Kopf.
»Hallo?«, flüsterte ich, nur um die Stille zu durchbrechen. »Darf ich reinkommen?«
Die Antwort klang wie ein Stöhnen.
Ich öffnete die Tür und war versucht, sie gleich wieder zu schließen. Feuchte, sauer riechende Luft quoll mir entgegen. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.
Alle Fenster waren mit Stoffen oder Pappe verhängt und es brannte kein Licht, sodass sich meine Augen erst an die Dunkelheit gewöhnen mussten.
Ein Mann (dass er mein Vater war, konnte ich nicht glauben) saß an einem Tisch, vor ihm zwei Häufchen Ackersalat. Vermutlich hatte er diesen gerade geputzt.
»Joy«, sagte er. Mein Name klang, als wäre er eine ungeheuer große Last.
»Ich will nicht stören.«
»Nein!« Er wollte aufstehen, zuckte aber mitten in der Bewegung zusammen und unterließ es. »Bitte, komm rein.«
Ich trat nur ungern in die Hütte. Die Tür fiel hinter mir zu und die Luft wurde noch stickiger. Ich erkannte die Gerüche von Pilzen, zu lang gelagerten Zwiebeln und ... Krankheit. Die Bodendielen fühlten sich morsch unter meinen Füßen an, ich mochte kaum auftreten, aus Angst, das Holz würde in sich zusammenfallen.
»Bist du es wirklich?«
Ich zwang mir ein Lächeln ins Gesicht. »Sieht so aus.« Denn der Mann mochte unförmig sein, sein Gesicht weiß wie Ziegenkäse,
schwammig und gleichzeitig eingefallen, sodass ich es kaum wiedererkannte. Aber er hatte meine Augen. Sie schienen das einzige Lebendige an ihm zu sein. Eine Wasserleiche mit meinen Augen.
Ich will hier weg, schoss es mir wieder durch den Kopf, doch unbewusst machte ich einige Schritte in den Raum und setzte mich, ohne darüber nachzudenken, an den Tisch.
»Was ist passiert?«, fragte ich.
Der Mann, der mein Vater war, verdeckte seine blauen Augen mit der Hand. »Das ist eine so lange Geschichte. Hat Mars sie dir nicht erzählt?«
Ich winkte ab. Warum er Penny und mich im Clan zurückgelassen hatte, war in diesem Moment nicht so wichtig. Er würde seine Gründe haben, und wenn das keine guten waren, dann wollte ich sie auch gar nicht erst hören. »Mit dir, meine ich. Du bist krank. Was hast du?«
Er seufzte. »Bloß ein paar Geschwüre. Lästig, aber mehr auch nicht.« Er log. Und er sah mir an, dass ich es wusste.
»Geschwüre«, wiederholte er, aber diesmal klang sein Tonfall endgültig.
Ich nickte und hatte plötzlich zu viel Spucke im Mund. Saure Spucke, die ich nicht schnell genug hinunterschlucken konnte. Ich kannte diese Krankheit. Der ganze Körper wurde irgendwann von den Geschwüren aufgefressen. Von außen, von innen ... es gab keine Heilung. Unter der speckigen Kleidung meines Vaters erkannte ich mindestens drei Wucherungen, die so groß wie Säuglingsköpfe waren, daneben einige faustgroße. Wie viele kleine oder nach innen wachsende Geschwüre es gab, konnte ich nicht abschätzen. Ihn so zu sehen, ließ meinen eigenen Bauch kalt und stumpf schmerzen. Absolut klar war, dass Neel recht gehabt hatte: Dieser Mann würde bald sterben. Und - verflucht sollte ich sein - das ging mir weit näher, als ich gedacht hatte.
Mein Vater sprach lange. Er erzählte von meiner Mutter, von ihrem Drang nach Freiheiten, die die Stadt nicht bot. Ich erzitterte, während ich zuhörte. War sie mir tatsächlich derart ähnlich gewesen? Es klang so sehr danach, dass mir ganz flau wurde. Die Flucht der ganzen Familie war nicht nur der Wunsch meiner Mutter gewesen, sondern fußte auch auf ihrer Organisation. Nach ihrem Tod hatte Robin das Leben im Clan nichts mehr gegeben, er plante eine Rückkehr mit uns in die Stadt, weil er die ständigen Gefahren satthatte. Mars allerdings erlaubte das nicht. Junge, formbare Menschen waren sein höchstes Gut - die ließ er niemals gehen. Schließlich jagte er Robin davon. Für ein Umkehren war es zu spät, auch das wusste Mars zu verhindern.
Robin erzählte von seinen Jahren in der Stadt, von den Arbeiten, die er verrichtet hatte, davon, dass er irgendwann wieder eine Frau fand, die verwitwet war wie er.
Er erzählte, dass er oft davon geträumt hatte, Penny und mich irgendwann wiederzusehen. Er hatte Pläne geschmiedet, Mars Herrschsucht zum Trotz zurück zum Clan zu gehen, um nach seinen Töchtern zu schauen, aber immer kam etwas dazwischen, mal ein Loch im Dach, mal eine Verletzung, mal die Armut und mangelnde Vorräte. Er verschob die Planungen vom Frühjahr auf den Sommer, vom Sommer auf den Herbst und vom Herbst auf den nächsten Frühling. Und dann kam die Krankheit, und die Geschwüre fraßen erst seine Pläne und dann die Wünsche, einen nach dem anderen. »Gut, dass du heute gekommen bist«, schloss er seine Erzählung. »Heute ist ein guter Tag. Ich kann aufrecht sitzen, sprechen und mich erinnern.«
»Und Salat putzen«, fügte ich heiser hinzu.
Mein Vater lachte leise. »Ja. Da wird Maggy zufrieden sein.«
»Und an den schlechten Tagen?«
Er zuckte resigniert mit den Schultern. »Es soll Tage gegeben haben, an denen ich meinen eigenen Namen nicht mehr kannte. Ich weiß es nicht mehr.« Er kratzte sich am Kopf. »Die Geschwüre«, fügte er hinzu.
Ich verstand. Sie waren auch in seinem Kopf.
Darauf wusste ich nichts zu sagen. Alles, was mir blieb, war, aufzustehen, zu ihm zu gehen und unbeholfen meine Arme um ihn zu legen wie zwei steife Gummischläuche. Ich hasste es, Mitleid zu empfinden, aber es war überall in mir und ging nicht weg.
»Erinnerst du dich daran, als du Penny und mir von dem Rebellenlicht erzählt hast? Ich habe eins gesehen, glaubst du mir das?«
Er legte die Stirn in Falten. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Ein Lichtstrahl, der Dark Canopy durchdringt und die Erde berührt! Daran musst du dich doch erinnern.«
»Wirklich nicht, tut mir leid.«
Ich war fassungslos und versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen. Hatte er es vergessen, als er in die Stadt zurückgegangen war? Oder - diese Idee machte mich ganz beklommen - war es gar nicht er gewesen, der meiner Schwester und mir davon erzählt hatte, sondern jemand anders, und meine Erinnerung hatte das durcheinandergebracht? War es womöglich Mars gewesen?
Meine Versuche, mich an früher zu erinnern, an den Mann, der mein Vater gewesen war, machten alles nur noch schlimmer. Ich wollte so gerne die Verbundenheit spüren, die einmal zwischen uns bestanden haben musste. Als ich ein Kind gewesen war, sein Kind. Ich hatte zu ihm aufgesehen und ihm ausnahmslos alles geglaubt.
Aber alles, was ich nun zustande brachte, war Mitleid, Mitleid einem alten, kranken, stinkenden Mann gegenüber, der mit meinem Bild von meinem Vater nicht mehr viel gemein hatte.
»Kann ich irgendetwas tun?«, fragte ich. »Braucht ihr Münzen, etwas zu essen? Hilfe beim ...« Ich stockte, da ich ihn nicht beschämen wollte, sprach aber trotzdem weiter. »Beim Saubermachen?«
Er senkte den Kopf. »Essen ist immer knapp.«
»Ich kann etwas auftreiben.«
Er wechselte das Thema, es war ihm peinlich. Lieber wollte er wissen, wie ich gelebt hatte, wie ich in die Stadt gekommen war und was ich nun machte.
Ich tat, was ich für das einzig Richtige hielt. Ich log und log und log. Es waren nur ein paar Punkte, die ich wegließ oder abänderte, aber es waren die entscheidenden Punkte: Amber, mein Bruch mit Mars, das Chivvy, mein Bruch mit Matthial. Neel. Selbst dass ich die Arbeit in der Bar - die ich für ihn in eine harmlose Garküche umwandelte - verloren hatte, erzählte ich ihm nicht.
Es war meinem Vater nicht zuzumuten zu erfahren, was wirklich aus mir geworden war und wie unsicher sich mein Leben anfühlte. Wie soll ein Mann friedlich sterben, während seine Tochter im Sturm trudelt?
»Und wie sehen deine Pläne aus, Kind?« Seine Frage berührte den wundesten Punkt überhaupt. Es gab keine Pläne, und das war das Problem, denn so, wie es war, konnte ich nicht weitermachen.
»Mal schauen«, meinte ich ausweichend, »was sich so ergibt.«
Ich musste an das Lied denken, das Tara für ihren Bruder Tom gesungen hatte. Wo sind all die Engel hin, von denen uns der Vater sang.
Seit ich ihr gelauscht hatte, wünschte ich mir, meinen Vater nach diesen Engeln zu fragen - wer sie waren. Doch jetzt konnte ich es nicht mehr. Ich hatte zu viel Angst, er würde sich auch daran nicht erinnern, und das würde einen endgültigen Bruch zwischen meinem starken Vater von früher und meinem kranken Vater von heute bedeuten. Einen Bruch, den ich nicht wollte.
Er musste einfach wissen, wer diese Engel waren. Ich fragte nicht.
Als es an der Zeit war zu gehen, erhob sich mein Vater trotz offensichtlicher Schmerzen und umfasste meine Schultern. Erst jetzt registrierten wir beide, dass ich ein wenig größer war als er. Wie seltsam. In meinen Kindheitserinnerungen war er der größte Mann von allen - so groß wie die Percents. Auch er schien verwundert, ungläubig schüttelte er den Kopf.
»Ich komme bald wieder«, versprach ich. Sehr bald. Mit allem an Nahrungsmitteln und Seife, was ich auftreiben konnte.
»Das musst du nicht. Mach mir einfach Ehre und sei ein gutes Mädchen.«
Mir wurde kalt. Erneut fand er genau die Worte, die ich am wenigsten hören wollte. Zu spät, hätte ich fast gesagt, aber ich erinnerte mich zu gut an das böse Gefühl, das dieser Vorwurf verursachte, wenn man für die vergangene Zeit nur begrenzt die Verantwortung trug. Versprechungen machen konnte ich ihm allerdings auch nicht. Ich war kein gutes Mädchen - weder aus menschlicher Sicht noch aus der der Percents.
Schließlich sagte ich: »Ich bin schon lange kein Mädchen mehr. Tut mir leid.«