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dark destiny.
wir sind auf der dark destiny.
Ich fragte mich, wann der Himmel sich aufhellen würde. Wir entfernten uns von Dark Canopy und den Aschewolken über der Stadt und doch blieb es dunkel. Es musste wohl schon später Abend sein. Mein Zeitgefühl hatte mich völlig im Stich gelassen.
»Du hast umsonst versucht, ihn zu retten.« Joshs Stimme klang hohl, als wäre er in seinem Inneren völlig leer, als wären all seine Tränen schon geweint. Er hatte Matthials Hemd geöffnet und seine Hose aufgeschnitten, um die Wunde freizulegen, und den Bolzen aus seinem Unterbauch entfernt.
Ich trat mit der Öllampe näher und sah im Licht sofort, was er meinte. Die Blutung war schlimm, aber schlimmer war ein unscheinbarer Riss unterhalb der Haut. Das Geschoss hatte den Darm aufgeschlitzt. Josh hatte die Wunde notdürftig gesäubert, aber wir wussten beide genug über solche Verletzungen, um leeres Geschwätz wie »Das wird schon wieder« nicht in den Mund zu nehmen. Darmverletzungen führten mit tödlicher Sicherheit zu einer Blutvergiftung.
Ich legte eine Hand auf Matthials Stirn. Sie war eiskalt und verschwitzt. Das waren der Schock und der Blutverlust. Bald würde er Fieber bekommen.
»Ob er das Land hinter dem Meer noch sehen wird?«
Ich bedeutete Josh, leiser zu sprechen. Matthial war während der Versorgung der Wunde bewusstlos geworden, aber ich wusste nicht, wann er wieder zu sich kommen würde. Ich wollte ihm und Edison, der ständig in seiner Nähe war, keine Angst machen. Doch wenn ich Matthial so ansah, erschien er mir nicht länger ängstlich. Er wirkte erschöpft. Unsagbar müde.
»Weißt du, was das Schlimmste ist? Dass wir nichts für ihn tun können. Gar nichts, wir können es nicht mal versuchen«, äußerte Josh völlig niedergeschlagen.
Ich seufzte leise und nahm dann mein Messer, um ein Stück von Matthials Hemd abzutrennen und Verbandsstreifen zuzuschneiden. Auf Sauberkeit mussten wir wohl nicht mehr achten, außer Meerwasser hatten wir ohnehin nichts zum Auswaschen. Der Trinkwasservorrat war äußerst knapp bemessen.
Ganz vorsichtig deckte ich die Wunde ab. Meine Hände zitterten und meine Zähne klapperten. »Das stimmt so nicht. Wir können bei ihm sein und es ihm leichter machen.«
Josh blieb neben mir sitzen, während ich Matthials Wunde verband. Er beobachtete Graves, der Edison zu sich gerufen hatte und ihm erklärte, wie man das Segel mit dem Wind bewegte, um das Boot zu steuern. Er zeigte ihm auch den runden Gegenstand, auf den er so stolz war; das Gerät aus der Zeit vor dem Krieg. Man nannte es Kompass und mit seiner Hilfe würden wir den richtigen Weg über das Meer finden. Behauptete Graves. Es fiel mir schwer zu glauben, dass so ein kleines, uraltes Ding den richtigen Weg kannte.
Niemand von uns hatte jemals zuvor ein Schiff betreten, geschweige denn gesteuert, und so kam es schon in der ersten Nacht zu Problemen. Die Strömung trieb uns in die falsche Richtung, das Segel wollte nicht so wie wir, mal waren wir zu langsam oder der Wind drohte das Boot umzukippen, und letztlich wusste schon jetzt keiner mehr, wo wir uns befanden. Vielleicht wusste es der Kompass, aber ich hatte das Gefühl, wir verstanden nur einen Bruchteil von dem, was seine zitternde Nadel uns anzeigte.
»Wir sollten etwas schlafen«, sagte ich zu Josh. Ich bezweifelte, dass ich bei dem Geschaukel ein Auge zubekommen würde. Doch uns stand der erste Tag ohne Dark Canopy bevor. Die Percents würden sich unter Deck zurückziehen müssen, in die kleine Kammer, in der nicht einmal Edison aufrecht stehen konnte. Ich wusste nicht, was mir mehr Angst machte: das Schiff mit Josh allein steuern zu müssen oder Neel mit den beiden anderen in dieser Kiste eingesperrt zu wissen.
Er hatte noch immer kein Wort mit mir gesprochen und ich verstand ihn nur zu gut. Auch Josh schien über Neel nachzudenken, er starrte nun schon länger in seine Richtung. Ich folgte seinem Blick. Neel saß ganz vorne im Boot, in der Düsternis war nur seine Silhouette zu erkennen.
»Ich dachte, er bringt ihn um«, murmelte Josh.
»Das würde er nicht tun.« Matthial lag immerhin im Sterben. Allerdings erahnte ich Neels Hoffnung, Matthial würde überleben. Dann ...
Ich seufzte. Spekulieren führte uns nicht weiter. »Sie sind nicht alle so schlecht, wie du denkst«, sagte ich bitter.
»Woher weißt du, was ich denke?«
»Weil ich früher auch so gedacht habe.« Weil alle Menschen so dachten. Ich hatte die Schlacht um die Stadt doch miterlebt.
Josh nickte. »Früher. Mag sein. Aber unsere Welt hat sich auch weitergedreht, Joy. Matthial und ich - wir haben viel nachgedacht. Wir wollten keinen Krieg.«
Matthial regte sich unter der Decke, als wollte er dem zustimmen.
Ich lächelte Josh an und drückte Matthials Hand. Die Sorge, was aus all den Menschen und Percents geworden war, die wir kannten, wog schwer, so unerträglich schwer. Wie lange mochten sie noch kämpfen? Wem würde die Stadt am Ende gehören? Gab es überhaupt noch eine Stadt oder fiel der Zaun in diesen Stunden und ließ den Krieg hinaus wie ein wildes Tier? Womöglich verbrannten just in diesem Augenblick die Wälder, in denen wir aufgewachsen waren. Würden die Percents eine weitere Rebellion zerschlagen? Wer lebte noch? Wer nicht? Wir würden es nie erfahren.
»Auch wenn wir nicht genau wissen, wohin uns diese Reise führt«, sagte ich in die Stille hinein, rau und leise klang meine Stimme, fremd, »hoffe ich darauf, dass dort Frieden herrscht.«
• • •
Am nächsten Abend wurden wir Zeugen eines fantastischen Schauspiels. Die Sonne versank am Horizont. Langsam schien sie ins Meer zu steigen und verlor sich in Farben, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Das Meer leuchtete orange und purpurn, als würde es brennen. Auf dem Himmel darüber rannen Gelb, Lila, Rosa und Blau in bizarren Schichten ineinander, eingerahmt von dunkelblauen Wolkentürmen, die sich wie ein Vorhang vor der vergehenden Sonne zuzogen.
»Ob es jeden Abend so ist?«, fragte Matthial. Er hatte einen seiner wenigen klaren Momente, in denen ihn das Fieber für ein paar Minuten freigab. Mein Herz begann hart und wild zu schlagen, als mir klar wurde, was wir da sahen. Es war ein Sonnenuntergang - unser allererster Sonnenuntergang.
Wie gerne hätte ich ihn Neel gezeigt.
Graves zeigte auch in der folgenden Nacht einen unermüdlichen Einsatz, was die Steuerung des Schiffes betraf. Er probierte alles aus, rollte das Segel auf, zog es den Mast hoch, drehte es nach links und nach rechts und murmelte dabei Worte wie »Steuerbord«, »Achtern« und »Luftwiderstand«. Wenn er etwas Neues herausfand, folgten Lehrstunden, in denen er alles an uns weitergab und uns unter seinen kritischen Blicken üben ließ.
Vermutlich hatte er in den letzten Wochen einiges über Boote gelesen und ich hoffte, dass es sich nicht bloß um ausgedachte Geschichten gehandelt hatte. Doch nachdem wir bisher damit zufrieden gewesen waren, nicht zu sinken, bekam ich langsam das Gefühl, dass Graves das Boot und die Richtung, in die es fuhr, wirklich kontrollierte.
Als er eine Pause machte, da für den Augenblick alles richtig zu funktionieren schien, rief er mir zu: »Joy, wie soll dein Schiff überhaupt heißen?«
Ich sah zu Neel, aber für ihn war ich weiterhin Luft. Er hielt sich im Bug auf und starrte aufs Meer. Mir war klar, dass er Matthials Anwesenheit nicht ertrug. Und meine ebenso wenig.
»Braucht es einen Namen?«, fragte ich skeptisch. Was sollte es damit anfangen?
Graves nickte wichtig. »Natürlich. Jedes Schiff hat einen Namen. Zumeist einen weiblichen. Ich vermute, weil echte Frauen auf See Unglück bringen und die Seemänner trotzdem nicht ganz ohne Frau hinausfahren wollen.«
»Ach ja? Wie viele Schiffe und Seemänner kennst du denn?«
Matthial hustete, es klang fast wie ein Lachen, und verschluckte sich prompt. Edison half ihm, etwas zu trinken.
»Es muss sein.« Graves wurde fast ärgerlich. »Wir können nicht die ganze Zeit im Nirgendwo herumschippern. Wir sollten den Ort, an dem wir sind, benennen können, und sei es nur durch den Namen, den unser Boot trägt. Außerdem«, er wandte sich ab, als wäre es ihm peinlich, »bringt es einfach Unglück, auf einem namenlosen Schiff zu fahren.«
Wenn es ihm so wichtig war ... »Gib du ihm einen, Graves. Es ist mehr dein Schiff als meins.« Um ehrlich zu sein, war mir das Boot immer noch nicht ganz geheuer mit seinem Schwanken und Schaukeln. Die See war zwar recht ruhig, aber ich konnte mich dennoch nicht daran gewöhnen.
»Daisy«, rief Graves wie aus der Pistole geschossen, verdrehte dabei aber die Augen, als Zeichen, dass es ein Scherz sein sollte und er den Namen schrecklich fand.
»Desire«, schlug Josh vor.
Neel aber formte ein Wort mit den Lippen, das ich laut aussprach. »Destiny.« Und weil Neels Miene sogleich düsterer wurde, verbesserte ich mich: »Nein. Dark Destiny.«
»Das ist gut!« Graves hob den verkohlten Pfeil auf, den die Menschen im Hafen auf uns abgeschossen hatten, schwenkte ihn wie eine Trophäe und reichte ihn mir mit einer spöttischen Verbeugung. »Richtig optimistisch. So soll sie heißen: Dark Destiny.« Er zeigte mir die Stellen am äußeren Schiffsrumpf, an denen ich den Namen auf das Holz schreiben sollte.
Es behagte mir überhaupt nicht, mich so weit hinauszulehnen. Meine Haare flatterten im Wind und die Spitzen hingen bis ins Wasser. Ich stellte mir vor, dass Fische danach schnappen und in den Strähnen hängen bleiben würden.
Warum tat ich das überhaupt? Die Kohle würde ohnehin nach kürzester Zeit wieder abgewaschen sein - und dennoch gab ich mir größte Mühe. Als ich fertig war, verspürte ich tatsächlich ein klein wenig Leichtigkeit. Wir lächelten uns gegenseitig an, der Augenblick hatte trotz allem Kummer etwas Feierliches. Ich suchte Graves' Blick und nickte ihm dankbar zu. Es war gut, den Namen auf das Schiff gemalt zu haben. Nun waren wir nicht mehr im Nirgendwo, verloren auf dem unendlichen Meer. Es gab einen Ort, an dem wir uns befanden.
Wir waren auf der Dark Destiny.