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spuren weisen wege.
spuren weisen wege. mitunter die falschen.
Matthial und ich einigten uns auf einen Kompromiss. Er würde mich zu Jamies Clan begleiten, damit ich meine Fragen stellen konnte. Dafür blieb ich bis zum Frühjahr.
Ich glaube, er willigte nur ein, weil er wusste, dass ich ohnehin gehen würde. Wenn ich gegen seinen Willen floh, würden mir die anderen, die mir schon lange nicht mehr trauten, gewiss nicht erlauben zurückzukommen, und ich müsste in die Stadt gehen. Matthial befürchtete vermutlich weniger, dass ich dort nur schlechte, harte Arbeit finden würde. Ich denke, er hatte Angst, dass ich den Clan verraten könnte.
Ich konnte ihn verstehen.
Die Verantwortung war so groß.
Josh litt von Tag zu Tag mehr unter der Dunkelheit in unserem Versteck und sorgte sich um die Pferde.
Kendra und Zac würden ein Kind bekommen.
Jake begann zaghaft, von einer Städterin zu sprechen, einer früheren Nachbarin seiner Eltern, in die er heimlich verliebt war und die sich immer nach einem Leben außerhalb der Zäune gesehnt hatte.
Alles deutete darauf hin, dass der Clan in den kommenden Monaten wachsen würde. Vorsicht war geboten, mehr denn je, und so viele Reserven wie möglich mussten aufgespart werden. Ich nahm es Matthial daher nicht übel, dass er unseren Ausflug zu Jamie vorerst verschob. Doch aus ein, zwei Tagen wurden ein, zwei Wochen. Ich wagte kaum zu fragen, weil Matthial permanent unterwegs war. Er schleppte Kerzen, Stoff, Öl, Rauchfleisch und getrocknete Heilkräuter in unser Versteck. Er brachte sauberes, trockenes Feuerholz, das beim Verbrennen kaum rußte, und Schweineschmalz, mit dem wir Kendra, die anstatt dicker immer dünner zu werden schien, etwas aufpäppeln konnten. Niemand fragte, woher er die Sachen hatte. Handel schied aus. Mit wem hätte Matthial handeln sollen? Und vor allen Dingen: mit was?
Ich zählte die Tage, tat unbeteiligt. Die Asche um mich herum schien zu Stein gefroren und für das Tier gab es kein Entkommen. Doch nach und nach nahm meine Geduld ab und mein Frust zu. Ich gab mein Bestes, dies niemanden merken zu lassen. Der Winter war hart genug und ich hatte ihnen bereits ausreichend Ärger verursacht. Es war an der Zeit, mich zusammenzureißen. Es reichte, wenn die Trauer um Neel mein Leben beherrschte. Die anderen hatten ihn nicht gekannt, ich durfte es ihnen nicht verübeln, dass sie meine Gefühle nicht verstanden.
Doch irgendwann konnte ich nicht mehr warten. Ich wollte mich nicht länger hinhalten lassen. Ich war das stumme Betteln leid.
Ich wartete, bis Matthial wieder zu einem Beutezug verschwand, gab mich unauffällig und stahl mich durch tintenschwarze Tunnel davon, während Jake in irgendeine Ecke pinkelte. Nachdem ich zwei Abbiegungen hinter mir gelassen hatte, konnte ich sicher sein, dass er mich auch mithilfe einer Fackel so schnell nicht finden würde. Die alten Kanäle stellten ein solches Labyrinth dar, dass man innerhalb einer Minute unauffindbar war, wenn man es darauf anlegte. Die Dunkelheit bot mir Schutz.
Ich begann erst, mich unwohl zu fühlen, als ich die Kanalisation verließ. Aus dem schwarzen Schlund hörte ich noch das Kratzen von Rattenpfoten auf Stein, aber es machte mich weniger nervös als das Bomberland, das sich vor mir auftat und mich so schutzlos präsentierte wie ein Stück Fleisch auf einem großen, schmutzigen Teller. Ich sah ein paar Kaninchen in einiger Entfernung kauern und hatte das Gefühl, sie würden mich beobachten. Die Krähen in einem nahen Baum verharrten still und unbeweglich, nachdem sie mich ausgemacht hatten. Mir schauderte.
Wann war ich zu einer feigen Ratte geworden, die sich nur im Dunklen sicher fühlte?
Ich zog die Jacke über meiner Brust zusammen und lief los. Der Boden war gefroren und jeder Schritt fuhr unangenehm in meine steifen Gelenke. Doch wenn ich Jamies Clan erreichen, mit seinen Männern sprechen und vor Anbruch der Dunkelheit wieder zurückkommen wollte, musste ich mich beeilen. Ob Matthial mich noch im Clan akzeptieren würde, wenn ich eine Nacht fort gewesen war, schien mir fraglich. Er ließ sich reizen, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Früher hätte ich ihn besser einschätzen können. Ja, früher ...
Aus meinem Laufen wurde ein Rennen. Ich kannte die Gegend nur vage, aber ich war sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. Der Himmel war schwer und dunkel wie Blei. Es begann zu schneien. Dark Canopy machte die Flocken grau und schwer. Sie sahen aus wie Steine.
Ein paar der Krähen hatten Interesse an mir gefunden. Immer wieder setzten sie sich vor mich in die Bäume, beobachteten, wie ich sie passierte, und flogen wieder auf. In ihren kleinen, bösen Augen glomm eine Erwartung. Sie ließen mich nicht entkommen.
Ich lief, bis sich mein Hals anfühlte, als hätte ihn die eisige Luft rau und wund geschmirgelt. Nur kurz pausierte ich und suchte mir ein paar möglichst saubere Stücke Eis, die ich gegen den Durst lutschen konnte. Ich hatte keinerlei Vorräte mitgenommen, damit die anderen nicht argwöhnisch wurden. Sollte ich mich verirren, könnte mein Ausflug tödlich enden. Im Winter fand man kaum Nahrung, bis auf ausgegrabene Kräuter und zähes, erfrorenes Gras. Nicht dass ich umkippte, wenn ich einmal zwei oder drei Tage lang nichts zu essen bekam. Aber eisige Kälte in Verbindung mit wenig Nahrung schwächt den Körper. Man wird müde. Will schlafen. Und dann wird man einfach nicht mehr wach. Nie wieder.
Die Krähen behielten mich weiterhin im Blick. Die Augäpfel waren der erste Leckerbissen, den sie sich holten - meistens bevor man tot war.
Eine Gänsehaut zog sich über meine Schultern. Ich beschloss, wieder zu laufen. Der Schmerz im Hals ließ sich ignorieren, wenn ich durch die Nase atmete. Der Schweiß, der meinen Rücken benetzte, zeugte von Körperwärme. Gut. Wer warm war, war nicht tot.
• • •
Mein Plan hatte einen Haken. Vielmehr: Mein Weg hatte einen Haken. Der Schnee legte sich wie der räudige Pelz eines Tieres über das Land und verbarg die kleinen Anhaltspunkte, an denen ich mich sonst orientierte. Ich näherte mich dem Versteck von Jamies Clan viel langsamer als gedacht und dazu kam, dass diese verdammte Siedlung gut verborgen lag. Sehr gut verborgen. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren. Überall, wo der Schnee die Erde nicht verhüllte, stieß ich auf Spuren menschlichen Lebens. Lumpenfetzen, am Alter verreckte Tiere, Blätter, Stiele und abgenagte Kolben von Maispflanzen, Scheißhaufen. Das Dorf musste in der Nähe sein. Warum fand ich es nicht?
Der Nachmittag dämmerte in den frühen Abend hinein. Es vor Einbruch der Nacht zu Matthials Clan zurückzuschaffen, war aussichtslos.
Ich trottete in eine Richtung und merkte erneut, dass die Spuren weniger wurden - wieder war ich falsch! Meine Schritte wurden schwerer; nicht weil ich müde wurde, sondern weil ich den Mut verlor. Es war inzwischen so kalt, dass ich glaubte, die Luft um mich herum müsse gefrieren und knisternd zerbrechen, wenn ich mich zu schnell bewegte.
Wo war dieses verfluchte Dorf? Wie gelang es den Waldleuten nur, ihre Spuren so sorgfältig zu verwischen?
Die Lösung kam mir derart plötzlich in den Sinn, dass mein Herz zu rasen begann. Natürlich! Ich war eine solche Idiotin! Sie verwischten ihre Spuren.
Ich war so naiv gewesen zu denken, dass ich ihren Spuren folgen musste. Das Gegenteil war der Fall. Die Spuren waren falsche Fährten. Dort, wo keine waren, musste das Dorf liegen. Ich hatte Stunden zuvor einen Pfad gefunden, kaum mehr als ein Wildwechsel, den ich ausgeschlossen hatte, da dort - von meinen Fußabdrücken im Schnee einmal abgesehen - nichts auf menschliche Existenz hinwies. Mit einem Mal war mir klar, dass dies der richtige Weg sein musste: der einzige Weg ohne Spuren. Ich fand Hoffnung, weil ich nichts fand, und rannte. Mag sein, dass ich unaufmerksam wurde -einen Moment nur, aber der reichte, um in die Falle zu gehen. Aus dem Augenwinkel realisierte ich etwas zu meinen Füßen - eine Schlange? da raschelte es über mir in einer Tanne und ich sah hoch. Ehe mir einfiel, dass im Winter keine Schlangen im Wald herumkrochen, hatte sich das Seil um meinen Fuß festgezogen und ich wurde kopfüber in die Höhe gerissen. Ich wollte schreien, bekam aber nur ein »Mmpf!« heraus. Mein Kopf baumelte über dem Boden und ich musste hilflos mit ansehen, wie jemand - eine Frau oder ein Mädchen - das Seil an einer Astgabel verknotete. Die Chancen, mich selbst zu befreien, standen miserabel. Mein Bein schmerzte bestialisch und ich fürchtete, dass sämtliche Knochen, zumindest aber mein Fußknöchel gebrochen waren. Um nicht zu wimmern, musste ich die Zähne zusammenpressen und den Kiefer derart anspannen, dass das Atmen schwer wurde. Blut stieg mir in den Kopf.
»Spionierst wohl rum, he?«, fragte die Frau mit scharfem, aber eindeutig erheitertem Tonfall. Sie trug eine Kapuze, die ihr Gesicht beschattete.
»Ich will nur reden«, brachte ich hervor. Meine Haare fegten den Boden unter mir, aber mit den Fingern kam ich nur gerade eben an den Schnee. Ich konnte mich nicht abstützen, um meinen Fuß zu entlasten. »Ich komme in friedlicher Absicht.«
»Meinst du, irgendeiner würde was anderes sagen, wenn er da hängt?«
Ich war offenbar nicht die Erste, die ihnen in die Falle gegangen war. Ein schwacher Trost.
Die Frau hoppelte näher an mich heran. Sie war klein und zierlich, aber nur auf den ersten Blick hatte sie jung gewirkt. Nun konnte ich ihr Gesicht unter der Kapuze erkennen. Es war faltig, aber es waren nicht jene Art von Falten, die das Alter schafft, sondern solche, die sich bilden, wenn man ständig die Stirn runzelt oder die Lippen zu einem missmutigen kleinen Kreis zusammenzieht. Verkniffen, das war das Wort, das zu ihr passte.
»Was willst du hier, kleines Mädchen?«
Mein Gesicht befand sich auf der gleichen Höhe wie ihre Knie und das gefiel mir nicht. Sie deutete immer wieder mit der Stiefelspitze an, mich treten zu wollen, tat es aber nicht. Noch nicht.
»Ich gehöre zu Matthials Clan.«
»Matthials Clan«, wiederholte sie höhnisch. »Matthial hat keinen Clan.«
»Wir sind wenige«, gab ich zu. »Aber Matthial ist Mars' Sohn und damit berechtigt, Clanführer zu sein.«
»Pah, Mars! Mars ist weit weg.« Sie drehte sich um und ich atmete etwas leichter. »Und das ist auch gut so.«
»Bitte lass mich runter. Ich bin nur zum Reden gekommen.«
»Und zum Essen! Aber wir haben nichts für euch dumme Kinder, die so wenig vom Leben wissen, aber immer so schlau sein wollen.«
«Ich brauche euer Essen nicht. Ich will nur ein paar Fragen stellen.«
Sie wandte sich mir wieder zu. »Was für Fragen?«
Ich setzte auf ihre Neugier und schwieg.
»Was willst du? Zu wem willst du?« Sie nahm einen eisverkrusteten Stock und pikte mir mit dem einen Ende in die Rippen.
»Lass mich runter.«
Sie zog ein Messer, doch sie stach damit nicht nach mir. Sie schnitt das Seil durch, so schnell, dass es mir nicht mehr gelang, den Sturz mit den Händen abzufangen. Ich krachte auf den Kopf und kippte zur Seite wie ein gefällter Baum. Eine Sekunde lang glaubte ich, mich nie wieder regen zu können. Überall, wo ich hinsah, flackerten rote Lichter. Während ich versuchte, meine Sinne zu sortieren, bewegte ich vorsichtig meine Zehen. Es schien nichts gebrochen.
Die Frau sah mich fest entschlossen an und mir war klar, dass ich für die Vorleistung, mich freizulassen, nun zahlen musste - mit Antworten. Viel lieber hätte ich meine Hände um ihren drahtigen Hals geschlossen, aber der Clan würde kaum noch gesprächsbereit sein, wenn ich eine Späherin erwürgte.
»Es gab einen Gefangenen«, sagte ich leise. »Matthial und Jamie wollten ihn den Percents zum Tausch anbieten. Als Geisel, verstehst du?«
Die Frau nickte bedächtig.
»Ich will wissen, was mit ihm passiert ist.«
Sie schien das zu akzeptieren, was nicht bedeutete, dass sie darauf reagierte. »Wie heißt du?«, fragte sie stattdessen.
»Joy.«
»Ich bin Myria. Ich bin die Hebamme hier.«
Sie überlegte lange, dabei hatte ich das Gefühl, dass die Entscheidung längst feststand. »In Ordnung«, meinte sie schließlich. »Hast du Waffen?«
Ich schüttelte den Kopf. Eine Lüge. Doch mein Messer war unter dem losen Futter im Schaft meines Stiefels gut versteckt.
Myria nahm eine dünne Schnur aus geflochtenem Leder aus ihrer Jackentasche und forderte mich mit einer Geste auf, die Hände auszustrecken. »Das ist Vorschrift. Wir kennen dich nicht - wir trauen dir nicht.«
Ich spielte mit dem Gedanken, das auszudiskutieren - womöglich auch mit den Fäusten -, ließ dann aber zu, dass sie mich fesselte. Ich wollte jetzt endlich zu diesem Clan, Antworten auf meine Fragen bekommen und dann verschwinden, um damit leben zu lernen, dass Neel nicht mehr da war. Das musste doch möglich sein! Mein Herz konnte es - es schlug einfach weiter. Warum tat sich mein Kopf nur so schwer?
Ich versuchte krampfhaft, nicht daran zu denken, wann und in welcher Situation ich das letzte Mal gefesselt irgendwohin geführt worden war. Es war ziemlich genau ein Jahr her. Wenige Sekunden nachdem ich Neel das erste Mal gesehen hatte. Damals hatte ich vor Angst gezittert. Heute zitterte ich bloß, weil es saukalt war.
Wir trotteten los. Ich hinkte ein wenig, konnte aber schon absehen, dass mein Fuß nicht ernsthaft verletzt war. Das Schlimmste war vermutlich die brennende Abschürfung, die das Seil an meinem Knöchel verursacht hatte.
Nach einigen Minuten Fußmarsch glaubte ich bereits, Feuer und darüber geröstetes Brot zu riechen. Frauen riefen und Kinderstimmen antworteten.
Ich folgte Myria in das Clandorf und gab mir Mühe, mich nicht allzu neugierig umzusehen. Dennoch sog ich jedes Detail auf.
Matthial hatte recht gehabt, die Waldleute lebten beeindruckend. Ihre Hütten schmiegten sich wie große, stabile Vogelnester zwischen die Äste der Laubbäume. Ich hatte schon Baumhäuser gesehen, aber nie in solcher Höhe. Ein paar Leute sahen aus den Fenstern nach unten - ich konnte kaum ihre Gesichter erkennen. Zu Füßen der Bäume befanden sich kleine Pferche, teilweise mit Stroh überdacht, in denen Tiere gehalten wurden. Ich sah ein paar wenige Pferde, Dutzende von wohlgenährten Hühnern und ein paar Schafe, deren Geruch sich mit den Aromen von Speisen mischte. An einzelnen Feuern am Boden wurde das Abendessen zubereitet. Wir gingen an zwei Frauen vorbei, die in einem großen Kessel eine Suppe oder einen Eintopf kochten, und angesichts des Dufts lief mir nicht nur der Speichel im Mund zusammen, vor allem begann mein Magen laut zu knurren. Für eine Schüssel mit heißer Suppe hätte ich all meine Fragen noch ein wenig nach hinten verschoben. Allerdings schien niemand daran interessiert, mich durchzufüttern. Die kochenden Frauen wandten sich in aller Deutlichkeit von mir ab und Myrias Gesicht verzog sich leicht, als sie mein Magengrollen hörte.
Schon als wir das nächste Feuer erreichten, verging mir der Hunger wieder. Eine Gruppe junger Mädchen saß eng beisammen, wärmte sich an den niedrigen Flammen und bereitete Felle für die Weiterverarbeitung vor. Die Tiere waren schon länger tot und offenbar hatte man die Haut nicht sofort abgezogen. Der süßliche Verwesungsgeruch ließ Galle in meiner Kehle aufsteigen. Ausgerechnet hier blieb Myria stehen und winkte einen Mann heran, der zuvor untätig in der Nähe gesessen und über seinen Krug hinweg die schuftenden Mädchen beobachtet hatte.
»Achte auf unseren Gast«, sagte Myria.
Er sah weiter mit glasigem Blick zu den Mädchen, während Myria zu einem nahen Baum ging und leichtfüßig eine dort angebrachte Strickleiter emporkletterte. Das Baumhaus schien eines der größeren zu sein, und wenn meine Augen mich nicht täuschten, war es auch weiter oben angebracht als die anderen.
Nach einigen Minuten kehrte Myria zurück. Hinter ihr kletterte ein Mann das Seil herab, den ich bei einem Tauschhandel, das musste Jahre her sein, schon einmal gesehen hatte: Jamie.
Er schien keinen Tag älter geworden zu sein, noch immer schmiegten sich drahtige Muskeln eng um seine Knochen. An seinem Körper war kein Gramm Fett zu erkennen, was sein Gesicht aussehen ließ, als wäre es eine Maske. Er musterte mich und für den Bruchteil einer Sekunde schien mein Anblick ihn zu irritieren. Die letzten beiden Meter kletterte er nicht, sondern sprang, kam lautlos auf und federte den Aufprall lässig ab. Der Säufer trollte sich, als hätte er einen scharfen Befehl erhalten. Mit einem überlegenen Lächeln auf den Lippen trat Jamie auf mich zu.
Als Mars unseren Clan angeführt hatte, war Jamie ein Handelspartner gewesen. Wir hatten ihm Respekt entgegengebracht und die leisen Gerüchte über seine maßlose Strenge, die immer wieder die Runde machten, nie als Gerede abgetan. Wer Jamie einmal in die Augen gesehen hatte, nahm die Geschichten über die grausamen Strafen ernst, mit denen er den Ungehorsam seiner Clanleute ahndete. Angst hatte ich allerdings nie vor ihm gehabt. Ich war keine von seinen Leuten.
Aber wie sah es nun aus? Mars war weit weg, ob Jamie Matthial als Clanführer akzeptierte, schien nicht so sicher, wie Matthial gerne tat, und die Fragen, die ich mit mir herumtrug, waren von gefährlicher Natur.
Ich straffte die Schultern. Meine Fragen waren das Einzige, was zählte. Ich kannte Neels Geheimnisse, ich kannte sie alle. Das um seinen Tod konnte ich unmöglich seinen Feinden überlassen. Und es barg außerdem meine einzige Hoffnung auf ein normales Leben.
»Ich grüße dich, Jamie«, sagte ich und spielte ihm unerschütterliches Selbstvertrauen vor.
Er umrundete mich halb, so wie Hunde es tun, wenn sie sich nicht sicher sind, ob sie angreifen wollen. »Joy.« Es klang, als wägte er mit meinem Namen im Mund etwas ab.
»Du erinnerst dich also.« Ich lächelte, aber er schüttelte ruppig den Kopf.
»Myria hat mir deinen Namen genannt. Du kommst von Matthials Clan. Wie geht es dem jungen Clanführer?«
Schwang da Spott in seiner Stimme mit? Ich war mir nicht sicher. Jamie galt als ein Meister darin, durch subtile Schwingungen in seiner Stimme Verunsicherung zu schüren.
Das Dorf um mich herum veränderte sich kaum merklich. Die Gerbermädchen ließen ihre Arbeit liegen und verschwanden schnell wie Eichkätzchen zwischen den Bäumen. In den Häusern bewegten sich die Tücher, die vor den Fenstern hingen. Die Suppe kochenden Frauen nahmen ihre Kleinkinder auf die Hüften. Ihre Aufmerksamkeit war nun auf mich, nicht länger auf ihren Kessel gerichtet. Hinter mir raschelte es im kahlen Gebüsch. Schlich sich dort jemand an? Ich drehte mich nicht um. Verrückt machen konnten sie jemand anders.
»Ich komme nicht auf Matthials Anweisung. Ich bin hier, weil ich Fragen habe, auf die Matthial mir keine Antworten gibt.«
Jamie schmunzelte. »Er verschweigt dir etwas? Ich dachte, ihr seid Partner?«
»Schon lange nicht mehr.« Ich erschrak, wie hart das klang, und fügte rasch hinzu: »Ich fürchte, er kennt die Antworten selbst nicht.«
»Und da lässt er dich ganz allein zu mir kommen?« Jamie sprach deutlich, sodass ich ihn nicht falsch verstehen konnte, aber ich hatte das Gefühl, dass er mich eigentlich etwas ganz anderes fragte.
Mein Mund wurde trocken und ein beklemmendes Gefühl wuchs in mir, ohne dass ich benennen konnte, woran das lag. Warum sahen denn alle her? »Ich frage nicht um Erlaubnis, wenn ich irgendwohin gehe«, antwortete ich, und im gleichen Moment wurde mir mein dummer Fehler bewusst.
Jamies Frage hatte sich nicht auf die Beziehung zwischen Matthial und mir bezogen. Er hatte herausfinden wollen, ob Matthial wusste, wo ich war, und zu hören, dass das nicht der Fall war, gefiel ihm zweifelsfrei. Nun konnte er mich ohne Risiko an die Percents ausliefern. Ich hätte daran denken müssen, verdammt! Matthial hatte mir doch erzählt, dass Jamie mit ihnen Handel trieb. Was sollte er ihnen schon geben, wenn nicht Menschen? Ich war nie auf eine solche Idee gekommen, hatte die Vorstellung für abwegig gehalten, für völlig verrückt. Doch nun blickte ich in Jamies Gesicht, in seine Augen, in denen schon die Vorfreude aufleuchtete. Die Vorfreude auf das, was ich einbringen würde.
Ich überlegte, ihm zu erzählen, dass eine Freundin wusste, wo ich war, aber mir fiel nicht ein einziger Name ein. Es war ohnehin zu spät. Jamies Lächeln, eine Mischung aus Stolz, Überheblichkeit und ein klein wenig Bedauern, bewies, dass er mich durchschaut hatte. Das Netz um mich herum war zugezogen. In den Büschen hinter mir waren die Schritte nun ganz nah. Aus dem Augenwinkel nahm ich schon Silhouetten wahr. Es waren Männer. Sie würden jeden Fluchtversuch vereiteln.
»Ich bin hergekommen, weil ich Fragen habe«, wiederholte ich und erschrak angesichts meiner Stimme, die so resigniert und müde klang. Ich verspürte keine Angst, ich war bloß enttäuscht, schon wieder verraten zu werden. Eine Gefangene der Percents war ich schon einmal gewesen, und auch wenn mir klar war, dass ohne Neel alles anders sein würde, war die Vorstellung keine Bedrohung mehr für mich. Es war mir völlig gleichgültig. Entscheidend war, dass ich vorher meine Antworten bekam. Wann war ich mir so egal geworden?
Jamie nickte bedächtig. Er wies mich an, ihm zu folgen, und brachte mich zu der Strickleiter, die in sein Baumhaus führte. Mit einem kleinen Messer durchtrennte er meine Fesseln. »Hier sind sehr viele Krieger. Sie haben ihre Anweisungen, dich aufzuhalten. Flucht hat keinen Sinn, versuch es gar nicht erst.«
Nickend rieb ich mir die Handgelenke.
Die baumelnde Strickleiter hochzuklettern, war schwieriger, als ich gedacht hatte. Die ersten drei Meter fielen mir noch leicht, doch die ungewohnten Bewegungen waren anstrengend. Die Seilschlingen schienen sich zu wehren. Wenn ich mit den Fußspitzen danach tastete, rutschten sie mir weg. Bei den Waldleuten hatte es so leicht ausgesehen, wie sie die Leitern hoch- und runterhuschten.
Als ich oben ankam und durch eine Luke ins Baumhaus gelangte, war mein Rücken nass geschwitzt. Jamie und Myria folgten mir mit etwas Abstand. Keiner von ihnen hatte mich zur Eile gedrängt. Ihre Geduld war bewundernswert.
»Setz dich doch«, sagte Myria und nahm selbst auf einem Kissen auf den Bodendielen Platz. Ich wollte sie nicht brüskieren, tat dennoch nicht sofort, was sie sagte. Der Ausblick war so beeindruckend, dass ich mich nicht vom Fenster losreißen konnte, obwohl die Höhe in meinem Magen ein flaues Gefühl verursachte. Es war nicht besonders windig, dennoch brachte jede kleine Böe die Hütte leicht zum Schwanken. Ich drehte mich erst um, als Myria ihre Aufforderung wiederholte.
Jamie, der mit einem Kessel hantierte, lebte spartanisch und ordentlich. In offenen, in die Wände eingearbeiteten Holzschränken standen ein paar Teller und Tassen. Außer dem Teekessel gab es keine Töpfe, aber ich konnte auch keine Kochstelle erkennen, vermutlich kochten sie nur unten an den Feuern. Auf dem Boden lagen ein paar alte Polster und Kissen zum Sitzen und in einer Ecke, die hinter einem Vorhang halb verhüllt war, erkannte ich die Umrisse einer Matratze. An der gegenüberliegenden Wand hingen Jamies Waffen - und es waren einige - griffbereit an Haken. Mit Sicherheit gab es noch irgendwo Schreibzeug und ein paar persönliche Gegenstände, aber ich konnte nichts entdecken.
Jamie trug die Teetassen zu den Sitzkissen, daher ließ auch ich mich nun nieder und trank einen ersten Schluck. Der Tee schmeckte nur schwach nach Kräutern - vermutlich mussten auch die Waldleute im Winter sparsam damit umgehen -, war aber so stark mit Honig gesüßt, dass er auf meinen Lippen klebte. Er war so heiß und mein Körper so ausgekühlt, dass er in meiner Kehle und in meinem leeren Magen regelrecht brannte.
»Trink langsam«, sagte Myria freundlich. Auch Jamie nahm einen winzigen Schluck.
Ich machte mir keine Illusionen, sie könnten ihre Meinung geändert haben und mich vielleicht doch freilassen, aber offenbar wollte man fair mit mir umgehen, ehe man mich offiziell zur Handelsware erklärte, und dafür war ich dankbar.
Ich hatte im letzten Jahr gelernt, dass Menschen - und nicht nur die - oftmals genau das taten, wozu sie aufgrund der Umstände gezwungen waren. Das hielt meinen Groll klein, und dass Myria und Jamie freundlich zu mir waren, auch wenn sie es sich leichter machen könnten, tat sein Übriges.
»Du wolltest reden, Joy«, sagte Jamie. »Ich will versuchen, offen zu dir zu sein. Erwarte dir davon nicht zu viel.«
»Wir sagen dir, was wir können«, ergänzte Myria. Ihr Lächeln sagte sehr ehrlich ein einziges Wort: Entschuldige. »Aber du musst verstehen, dass wir dir nichts sagen können, was unseren Clan in Gefahr bringt.«
Ich schüttelte langsam den Kopf. »Ein solches Dorf schützt man nur, wenn man äußerste Vorsicht walten lässt. Und ... die eigenen Interessen wahrt. Nur die eigenen.« Jamie wirkte eine Sekunde lang erstaunt. Er nahm einen Schluck Tee und instinktiv griff auch ich zu meiner Tasse und führte sie an meine Lippen. Mir war das oft bei Matthial aufgefallen: Wenn er diskutierte, spiegelte er die Gesten und Worte seines Gegenübers und nicht selten verhalf das zu mehr Einigkeit. Leider gab es einen Menschen, bei dem sämtliche Tricks scheiterten: Matthial.
»Es freut mich, dass du verstehst -«, sagte Jamie, doch ich hob die Hand und unterbrach ihn.
»Ich verstehe, aber das heißt nicht, dass ich es hinnehme.« Ich lächelte. »Ich würde es genauso machen wie ihr«, eine Lüge, aber auch das Lügen hatte ich bei Matthial gelernt, »und ebenso würdet ihr versuchen zu entkommen. Wie ich es tun werde.«
Die beiden wechselten einen Blick. Myria zuckte mit den Schultern und schien mich wahrhaftig zu bedauern. Jamie konnte ich nicht einschätzen. So wie er mich musterte, hätte ich darauf gewettet, dass er mit der Idee spielte, mich für seinen Clan anzuwerben.
Doch dann stellte er seine Tasse energisch auf dem Boden ab und räusperte sich. »Wie dem auch sei, du wirst verstehen, dass ich nicht ewig Zeit habe. Eine Reise muss organisiert werden, eine nicht ganz ungefährliche Reise. Stell deine Fragen, damit ich an die Arbeit gehen kann.«
Ich atmete ein und sammelte meinen Mut, aber ehe ich so weit war, sprach Myria bereits. »Sie fragte nach der Percent-Geisel.« Jamie sah von Myria zu mir und hob eine Augenbraue. »Neel?« Ein Blitz schoss durch meine Wirbelsäule. Er sprach den Namen falsch aus, aber er konnte wohl kaum einen anderen gefangenen Percent meinen. Woher kannte er Neels Namen? In jedem Fall schien dieser Name sein Misstrauen zu wecken. Er schien die Arme verschränken zu wollen, überlegte es sich dann anders, lehnte sich allerdings ein Stück von mir weg. »Was ist mit dem?«
Wenn man nicht weiß, was man sagen soll, und Angst hat, beim Lügen ertappt zu werden oder sich in einem Geflecht aus Geschichten zu verheddern, hilft nur eins: so nah wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben.
»Du hast sicher davon gehört, dass ich Soldat war und im Chivvy gelaufen bin«, sagte ich, als wäre es das Normalste der Welt. »Neel hat mich trainiert.«
Jamie nickte, als wüsste er Bescheid. Aber das tat er nicht. Ich erkannte den kurzen Augenblick, in dem er die neue Information zu fassen bekam, dabei aber noch nicht ausreichend auf seine Mimik achtete. Er war neugierig, wie das alles zusammenhing: mein Trainer Neel, gefangen genommen von meinem Clan.
Ich war mir nicht sicher, was ich ihm vorgaukeln sollte. Die vom Hass getriebene Rebellin, die auf Rache sann? Das hätte Jamie einerseits gefallen und ich wäre in seinem Ansehen sicher gestiegen. Aber Neel zu verraten, sei es nur, um mir Vorteile zu verschaffen, kam mir falsch vor. Dass er tot war, änderte nichts an meinen Gefühlen für ihn.
»Er hat mich ziemlich gut trainiert«, sagte ich schließlich und grinste dabei so nichtssagend, wie ich konnte, in der Hoffnung, ihn irgendwie zu verwirren. »Sonst wäre ich wohl kaum hier. Ich möchte wissen, was mit ihm geschehen ist, nachdem Matthial ihn euch ausgehändigt hat.«
Jamie lehnte sich wieder vor, trank aus seiner Tasse und atmete dann tief durch. »Was soll ich dir erzählen, Mädchen? Wem ich ihn übergeben habe? Tut mir leid, das wollte auch Matthial natürlich schon wissen, aber ...«Er hielt inne, vermutlich weil er mein irritiertes Gesicht sah.
»Weißt du, ich habe mir die Zusammenarbeit mit der Triade über Jahre mühsam erarbeitet. Ich gebe meine Kontakte sicher nicht einem jungen Kerl preis, dessen einzige Qualität es ist, der Sohn seines Vaters zu sein.«
»Na, na«, unterbrach ihn Myria freundlich. »Ganz so schlecht ist deine Meinung sonst aber nicht vom jungen Clanführer.«
Jamie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, kann schon sein, dass ich ihn ganz gern mag. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ich keine Namen herausgebe. Soll er doch eigene Kontakte knüpfen. So habe ich das schließlich auch gemacht.«
Die Art, wie sich seine Schultern verspannten, ließ mich vermuten, dass Jamie einen hohen Preis für diese Verbindungen zu den Percents gezahlt hatte. Ich musste mir in Erinnerung rufen, dass er mich schamlos benutzen wollte, sonst würde ich noch Mitleid für ihn empfinden.
Sie haben Neel umgebracht!, dachte ich und betonte stumm jede Silbe. Na also. Der Zorn kam zurück und ließ meinen Kopf so heiß werden wie der Tee vorhin meinen Magen.
»Matthial interessiert sich nicht für deine Kontakte. Zumindest weiß ich nichts davon. Darum bin ich nicht hier.«
»Was willst du dann wissen?«, fragte Jamie.
»Warum musste er sterben?« Die Worte platzten viel zu heftig aus mir heraus. Anklagend.
Wie erwartet irritierte Jamie das. »Wer?«
Durchatmen. »Der Percent. Neel.«
Jamie zog die Stirn kraus. »Der ist tot?«
Mir wurde heiß und kalt zugleich. Mein Gesicht prickelte, ich war nicht sicher, ob ich krebsrot wurde oder bleich. Mein Kopf war mit einem Mal leer und meine Zunge wurde zu schwer zum Sprechen.
Angespanntes Schweigen breitete sich aus.
»Er ... Matthial ... er sagte, N...Neel wäre t...t...tot«, rang ich mir schließlich mühsam ab. Ich rieb mir über den Mund, als hätte ich gesabbert oder könnte so das Gestotter wegwischen. »Matthial sagte, er wäre auf dem Transport gestorben«, sagte ich schließlich mit beherrschter Stimme. »Ich möchte wissen, wie es passiert ist.«
Jamie sah Myria fragend an, aber auch sie schien keine Antwort zu haben.
Er rieb sich die Handflächen an der Hose ab. »Mädchen, ich glaube, die Sache zwischen dir und Matthial steht schlimmer, als ich dachte. Der Percent ist nicht gestorben.«
Ich hätte in Ohnmacht fallen müssen. Zumindest mein Herzschlag hätte aussetzen müssen.
Aber es passierte rein gar nichts.
»Ich verstehe«, entgegnete ich, aber ich verstand überhaupt nichts.