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An diesem Abend war Craig bei Miller und seiner Familie zum Essen eingeladen. Er war überrascht, als er Violet Miller kennenlernte. So wie Miller von ihr gesprochen hatte, erwartete er eine selbstgefällige, dickliche Frau zu sehen, die sich rechthaberisch in alles einmischte und dazwischenredete. Statt dessen begegnete ihm eine kleine, zierliche Person, attraktiv und elegant selbst in dem Konfektionskleid. Sie war von einer natürlichen Zurückhaltung, beinahe Scheu, die jedoch bei der Begegnung mit Craig bald wich. Er merkte sofort, daß Miller noch immer in seine Frau verliebt war und sein Gesicht lediglich das Gefühl verbergen sollte.
Das Essen verlief lebhaft, nicht zuletzt wegen der beiden Teenager, die vor Vitalität barsten. Sie waren am Abend zu einer Party eingeladen, die eine vor zwei Jahren nach Frindhurst gezogene Freundin der Tochter gab.
Nach dem Essen, als die Kinder gegangen waren, setzten sich Millers mit ihrem Gast ins Wohnzimmer.
«Albert erzählte mir, daß Sie eine Polizeischule in Hampshire besuchen sollen und später die Akademie», sagte Mrs. Miller.
«Ich hoffe stark», antwortete Craig. «Doch das hängt alles davon ab, wie ich mich hier mache und was bei der Sergeantenprüfung passiert.»
«Ich nehme an, Sie würden gerne studieren?»
«Liebend gern. Aber der Himmel weiß, ob mein Verstand dazu ausreicht.»
«Verstand wofür?» fragte Miller. «Verbrecher zu fangen?»
Sie lächelte. «Albert kann den Mann nicht vergessen – war es nicht Lord Trenchard? –, der mal versuchte, die Schüler der Adels- und Standesschule für den Polizeidienst zu werben. Erinnerst du dich, Bert, wie du geschworen hast, dir eine Etonkrawatte umzubinden und deine Hosen ’runterzulassen, falls so einer dein Vorgesetzter würde? Mein Mann ist überzeugter Sozialist, John. Er kann es nicht vertragen, wenn jemand etwas besitzt, das er nicht hat.»
«Das ist doch Unsinn», protestierte Miller.
«Deine Politik oder deine Reaktion?» fragte sie lächelnd und legte ihre kleine Hand auf seinen Arm. «Wenn sich bei dir mal eine Idee festbeißt, kriegt sie kein Mensch wieder weg. Nicht einmal der Beweis vom Gegenteil kann dich überzeugen. Wenn einer von Lord Trenchards Leuten einen Bewußtlosen aus der Höhle eines Löwen befreit hätte, dann würdest du steif und fest behaupten, daß es nur ein harmloser Zirkuslöwe war.»
«Ich will dir mal was sagen …», unterbrach Miller sie.
«Lieber nicht, solange John hier ist, du wirst ihm nur einen Schreck einjagen.»
«Antworte mir nur auf eine Frage. Steigt die Rate der Kriminalität oder etwa nicht?»
«Ja. Aber das kommt daher, weil die Polizisten der alten Schule versagt haben.»
«Weiber, eure Argumente sind wirklich …»
«Sage nichts gegen Weiber.»
«Ja, warum denn nicht?»
«Ich weiß genau, was los ist, wenn Polizisten über Weiber sprechen. Ich mag eine Menge Fehler haben, aber keiner kann sagen, daß ich nicht anständig bin.»
Miller grinste. «Wie schade. Ich sage immer, es geht nichts über Erfahrung.»
«Jetzt muß ich das Thema wechseln.» Sie wandte sich an Craig. «Möchten Sie einen Kaffee, John?»
«Ja, gerne, vielen Dank.»
«Bert?»
«Oh, ja, liebend gern.»
«Gut, dann geh und mach einen.»
Laut brummend erhob sich Miller und verließ den Raum.
Sie sagte fast scheu zu Craig: «Ich wünsche Ihnen so sehr, daß Sie auf die Schule kommen und dann studieren dürfen. Ich finde, es ist eine großartige Idee. Oder denken Sie, ich weiß nicht, wovon ich spreche? Wie viele Ehefrauen sind an der Arbeit ihrer Männer völlig uninteressiert. Zuletzt haben wir in einer Dienstwohnung gelebt, und ich sah, wie die meisten Frauen von der Arbeit ihrer Männer keine Ahnung hatten. Zum Teil schämten sie sich sogar, daß ihr Mann nur Polizist war. Ich war immer stolz darauf. Und ich bin sicher, auch Sie sind stolz, der Polizei anzugehören.»
«Jawohl, das bin ich auch», sagte Craig mit Überzeugung.
Miller kam zurück und hatte Craigs letzte Worte gehört. «Was bist du? Was hat mein geliebtes Weib dir für ein Geständnis entlockt?»
«Ich bin stolz darauf, bei der Polizei zu sein.»
Miller begann laut, aber schrecklich falsch die Nationalhymne zu singen, doch seine Frau unterbrach ihn und sagte, der Kessel pfiffe und er solle ihn doch abstellen. Als er in die Küche trat, mußte er jedoch feststellen, daß das Wasser noch lange nicht kochen würde.
Craig verabschiedete sich erst gegen elf Uhr, und Violet Miller bat ihn ganz aufrichtig, bald wiederzukommen. Und er konnte mit der gleichen Aufrichtigkeit antworten, daß ihm nichts mehr Freude machen würde.
Auf seinem Heimweg durch die regennassen Straßen dachte er ein wenig neidisch an die Behaglichkeit und Fröhlichkeit im Hause Millers. Es war so wunderbar gemütlich bei ihnen, obwohl sie gerade erst umgezogen waren und auch noch in Untermiete wohnten. Er war davon überzeugt, daß auch Daphne und er in gleicher Eintracht leben würden. Schon jetzt bestand eine tiefe Vertrautheit, Ungezwungenheit und Aufrichtigkeit zwischen ihnen. Jäh durchzuckte ihn der Gedanke, daß Daphne hundertmal recht hatte. Sie hätten heiraten sollen, ehe er hierherversetzt wurde. Dann hätte er sich allein schon das gräßliche Gefühl erspart, jetzt in diese unfreundliche Bude zu marschieren, wo nur diese alte Krähe von Wirtin ihn begrüßte.
Obwohl es Sonntag vormittag war, befand sich Radamski in seinem Büro. Er gehörte wahrhaftig nicht zu denen, die mit einem Minimum an Arbeit ein Maximum an Gehalt kassieren. Er versuchte wirklich, sein Bestes zu leisten. Der Raubüberfall auf den Geldtransport war ein brutales Verbrechen, das unbedingt geahndet werden mußte. Die Frindhurster Polizei war nicht groß und konnte nicht alle verfügbaren Kräfte bei diesem Kapitalverbrechen einsetzen, denn natürlich gab es auch noch eine Reihe von kleineren Verbrechen und Vergehen, die bearbeitet werden mußten. Es galt also zu entscheiden, welche davon liegenbleiben mußten.
Um zehn Uhr kam der Chefinspektor zum Rapport. Radamski wußte, daß Barnard ein fähiger und tüchtiger Beamter war, doch er erschien ihm kalt wie ein Fisch. Der Polizeichef mochte Männer, die sich zur rechten Zeit entspannen konnten und auch mal einen Witz machten. Die einzigen Witze, die je von Barnard kamen, waren unfreiwillig.
«Morgen, Barnard. Nehmen Sie Platz. Zigarette?»
«Vielen Dank, nein, Sir, ein Haufen Arbeit erwartet mich.» Und er kam sofort zur Sache: «Der Laborbericht von London ist da, die beiden Lackproben sind identisch. Also stammt das Partikelchen, das wir in der alten Ziegelei gefunden haben, von Haggards Wagen.»
Radamski zündete sich eine Zigarette an. «Dann sind wir also sicher, wer der Täter war», sagte er ruhig. «Allerdings haben wir noch nicht viele Beweise für diese Behauptung. Wir wissen lediglich, daß Haggards Wagen in dieser Ziegelei gewesen ist. Doch nun müssen wir beweisen, daß er zur Zeit des Überfalls dort war, und das erscheint mir ziemlich unmöglich.»
«Ich muß Ihnen leider zustimmen, Sir.»
«Was gedenken Sie als nächstes zu tun?»
«Ich werde die Polizei von Telton einschalten, und die beiden Männer vom R.C.S. sollen mit ihnen zusammenarbeiten.»
«Schön», sagte Radamski und fügte eindringlich hinzu: «Wir müssen die Bande fangen! Ist das klar?»
«Wir werden sie kriegen, Sir.»
Craig war gerade in der Polizeizentrale von Telton, als eine Meldung aus Gresham eintraf, nach der auf dem Parkplatz des Bahnhofs seit Freitag eine Jaguar-Limousine stand. Da der Wagen völlig in Ordnung, aber nicht verschlossen war, sah es so aus, als hätte ihn jemand abgestellt.
Der Sergeant schlug Craig vor, ihn zu begleiten. Die Verbrecher hätten bestimmt mit gestohlenen Wagen gearbeitet, meinte er, und Jaguar erfreuten sich in Verbrecherkreisen besonderer Beliebtheit. Sie machten sich also auf den Weg, untersuchten den Wagen, schrieben die Nummer auf und fragten telefonisch nach, ob er auf der Liste der gestohlenen Wagen stand. Man konnte ihn nicht finden, doch Craig meinte, er würde mal auf der Landesliste nachsehen lassen, und rief bei Miller an. Der Jaguar war am Donnerstag abend in Brighton gestohlen worden. Obwohl die Kennzeichen vertauscht waren, konnte man ihn an der Motornummer identifizieren.
Der Sergeant besorgte Zündschlüssel und einen Lenkradschutz, damit etwaige Fingerabdrücke auf dem Lenkrad bei der Überführung zur Polizei nicht verwischt würden.
Unterdessen durchsuchte Craig das Gelände um den Wagen. Er durchstöberte den kleinen Grasstreifen hinter dem Zaun aus Kastanienpfählen, er kniete sich hin und spähte unter die benachbarten Autos. Unter dem dritten Wagen rechts fand er einen einzelnen Handschuh. Er mußte sich auf den Bauch legen, um ihn mit zwei Fingern erwischen zu können. Es war ein einfacher baumwollener Handschuh, wie er auch bei der Gartenarbeit benutzt wurde. Der Handrücken war schmutzig, Autoreifen waren darübergefahren, aber die Innenseite war verhältnismäßig sauber. An einer Stelle war ein matter brauner Fleck, der wie Blut aussah. Craig zeigte dem Sergeanten seinen Fund, und sie steckten ihn sorgfältig in einen Plastikbeutel.
Die Polizei hatte den Ablauf des Überfalls ziemlich genau rekonstruiert, und auch jetzt machte sie noch kleine Fortschritte in der Ermittlung. In dem Jaguar hatten sie keine Fingerabdrücke gefunden, doch unter dem Rücksitz lag ein Kabel für eine Funkausrüstung. Es wurde zur Identifikation nach London geschickt. Haggard stand unter ständiger Beobachtung. Nach Einbruch der Dämmerung sah der Polizist, der ihm folgte, Haggard aus dem Haus kommen und davonfahren. Er hängte sich mit seinem kleinen Austin an ihn dran. Normalerweise wäre das ein aussichtsloses Unterfangen gewesen, doch zwei Faktoren halfen ihm. Die gelbe Farbe des Buick war deutlich zu erkennen, und die Fahrt war nur kurz.
Der Buick hielt in einem der armseligsten Viertel von Telton vor einem Haus, das schon seit Jahren einen neuen Anstrich nötig hatte. Zufällig wußte der Beamte, daß Soapy Brown hier wohnte. Soapy galt jetzt als zuverlässig, als friedlicher Bürger, der den geraden Weg nicht verließ. Doch das war nur eine Vermutung. Wichtig war, daß es weit und breit keinen Geldschrankknacker gab, der sich mit ihm messen konnte. Also genau der richtige Mann für den Frindhurst-Job. Der Detektiv hielt in einem gewissen Abstand und wartete.
Nach kurzer Zeit fuhr ein Kleinwagen vor und hielt hinter dem Buick. Zwei Männer stiegen aus und verschwanden in dem Haus. Der kleinere der beiden war ihm fremd, doch in dem großen erkannte er Ringo Grant.
Das war ja wahrhaftig eine Versammlung der gesamten Gaunerelite des Ortes.
Der Donnerstag war ein herrlicher, sonniger Tag. Der Himmel war voll kleiner Kumuluswolken, die wie Schäfchen aussahen und flinke Schatten auf die Erde warfen. Zwei der Tageszeitungen enthielten Berichte über den Raubüberfall von Frindhurst, und beide Zeitungen kritisierten die Polizei, die die Täter noch immer nicht hinter Schloß und Riegel hatte. Ein Blatt brachte die lange Liste der Kapitalverbrechen, die England in den letzten Monaten erschreckt hatten. Die Polizei, so schrieb der Autor, sei nicht in der Lage, sich den Spitzfindigkeiten der Verbrecher anzupassen. Er vergaß es aber, die außerordentlich hohen Kosten für einen modernen, technischen Polizeiapparat zu erwähnen.
In London beendete einer der Gerichtsmediziner nach vierzehn Stunden ununterbrochener Arbeitszeit sein Tagewerk. Müde setzte er sich nieder und schrieb seinen Bericht. Der Fleck auf dem Handschuh war Blut und gehörte zur Gruppe LU (a + b +). Das ist eine Blutgruppe, die bei einer halben Million Menschen nur einmal auftritt. Obwohl er es jetzt noch nicht wissen konnte, hatte der Mann bewiesen, daß dieser Blutfleck – sollte nicht ein unwahrscheinlicher Zufall im Spiele sein – von dem verletzten Posten McQueen stammte, denn der gehörte der seltenen Blutgruppe LU (a + b +) an.
Um vierzehn Uhr am gleichen Tage fuhren Inspektor Glaze von der Teltoner Polizei und Sergeant Miller mit dem Lift zum fünften Stockwerk des Appartementhauses, in dem Haggard wohnte. Glaze, ein großer Mann mit gutmütigem Gesicht, klopfte an die Tür von 5 A.
Florence öffnete. Sie wußte sofort, wer dort vor der Tür stand, und ersparte den Männern die Vorstellung.
«Was wollen Sie?» fragte sie schrill.
«Ist Haggard da?» fragte Glaze.
«Nein.»
Kaum ausgesprochen, brach ihre schöne Lüge schon zusammen, denn Haggard kam in die Diele, um zu sehen, wer da gekommen war.
Glaze sah sich anerkennend in der eleganten Wohnung um. «Sie leben standesgemäß», sagte er.
«Wer hat Sie hereingebeten?» protestierte Haggard.
«Ihr liebendes Weib.»
Florence belegte die Detektive mit einer Sammlung obszöner Ausdrücke.
«Halt die Klappe!» sagte Haggard scharf.
Es entstand eine kurze Pause.
«Immer fleißig in der letzten Zeit?» fragte Glaze schließlich.
«Sicher», sagte Haggard mit unbewegter Miene.
«Fleißig bei was?»
«Dies und das.»
«Das muß sich auszahlen, wenn Sie sich so ein Appartement leisten können.»
«Man tut, was man kann.»
«Ich könnte mir das nicht leisten.»
«Nanu? Was ist los? Bietet man Ihnen keine Bestechungsgelder mehr?» Sofort bereute Haggard die für ihn typische Entgleisung.
«Wollen Sie uns bestechen?»
«Warum sollte ich?»
«Es könnte Ihnen ja einfallen, daß das vielleicht ein Weg wäre, sich aus Ihrem letzten Ding herauszuwinden.»
«Was für ein Ding?»
«Muß ich Ihnen das auch noch sagen?»
«Müssen Sie nicht.»
«Dreißigtausend Pfund sind eine ganze Menge, selbst heutzutage, wo die Posträuber nur so aus dem Boden wachsen.»
«Was Sie nicht sagen.»
Haggard ballte nervös die Hand in der Hosentasche. Bisher hatte er sich eingeredet, die Polizei hätte keine Ahnung, daß er seine Finger in dieser Geldtransportgeschichte hatte. Trotz der Sache mit dem Wagenlack. Damit war es nun Essig. Wie waren die bloß dahintergekommen? Irgend jemand mußte gepfiffen haben. Das war die einzige Antwort. Das Ding war zu verdammt gut eingefädelt, als daß die dusselige Polente etwas merken konnte.
«Haben Sie Freunde hier in der Stadt?» fragte Glaze weiter.
«Ich habe überall Freunde. Bin sehr beliebt.»
«Vielleicht Soapy Brown?»
«Ich kenne ihn flüchtig.» Hatte etwa Soapy gesungen? Diese widerliche kleine Ratte würde seine eigene Frau verkaufen, wenn es nur etwas einbrachte.
«Sie haben mal zusammen gesessen, nicht wahr?»
«Ich kann mich nicht erinnern.»
«Und was ist mit Ringo Grant?»
«Was soll mit ihm sein?»
«Kennen Sie ihn?»
«Vielleicht erzählen Sie es mir.»
«Also schön, ich werde Ihnen was erzählen.»
«Sparen Sie sich die Mühe. Ich bin nicht neugierig.»
«Ich möchte mit Ihnen wetten. Wenn ich Sie jetzt nach einem Alibi frage, werden Sie mir einen der beiden nennen.»
Haggard fluchte in sich hinein. Immer mußten diese Bullen spotten, wenn sie meinten, sie hätten einen beim Wickel.
«Nur interessehalber: Wo waren Sie?» fragte Glaze.
«Wann?»
«Als das Ding mit dem Geldtransport gedreht wurde natürlich.»
«Was geht Sie das an, wo ich war?»
«Ist das Ihr Ernst?»
Haggard fluchte.
«Wo waren Sie zwischen elf und ein Uhr am letzten Freitag?»
«Liegt in dieser Sache etwas gegen mich vor?»
«Noch nicht.»
«Dann fragen Sie mich, wenn Sie mit dem Haftbefehl wiederkommen.»
«Sie sind jetzt reif für die Sicherungsverwahrung, nicht?»
Nur mit Mühe konnte Haggard sein aufbrausendes Temperament zügeln.
«Einen der Männer haben Sie beinahe umgebracht. Ich halte jede Wette, daß Sie diesmal nicht unter zehn Jahren davonkommen.»
«Ach, ist jemand verletzt worden?»
«Sie haben einen Posten so brutal zusammengeschlagen, daß er noch immer bewußtlos im Krankenhaus liegt.»
«Ja, ja, das Leben ist hart.»
«Sie werden es bald am eigenen Leib spüren, wie hart es ist, Haggard.»
«Warum kommen Sie ausgerechnet zu mir und jammern mir die Ohren voll. Der Mann war doch nicht gezwungen, sich diese hübsche blaue Uniform anzuziehen und den tapferen Wächter zu spielen.»
«Er tat seine Pflicht.»
«Wenn es seine Pflicht ist, dann darf er sich doch nicht beschweren, wenn ihm jemand ein bißchen weh tut.»
«Ein bißchen weh tut? Es besteht die Gefahr, daß er nie mehr das Bewußtsein erlangt. Er wird im Bett liegen als ein lebender Leichnam. Nennen Sie das ein bißchen weh tun? Haben Sie an seine Frau und an seine Kinder gedacht? Was soll aus denen werden?»
«Ah, verheiratet ist er auch? Das freut mich für ihn. Es macht das Leben so angenehm mit Frau und Familie, stimmt’s?» Haggard lächelte und zeigte seine ebenmäßigen, weißen Zähne. Nun hatte er die Bullen endlich aus der Fassung gebracht. Immer konnte man sie zum Kochen bringen mit so einer Sache. Sie hatten tiefes Mitgefühl mit ihresgleichen.
«Seine Frau ist verzweifelt», sagte Miller. Seine Stimme klang rauh vor unterdrückter Wut.
«Frauen lassen sich wirklich zu oft gehen.»
«Wo waren Sie Freitag vormittag?» fragte Glaze scharf.
«Letzten Freitag? Letzten Freitag?»
«Nun los, Mann, wo waren Sie?»
«Ah, ich weiß. Ich war im Bett mit Florence. Sie ist ausgezeichnet im Bett.»
Glaze zögerte, dann drehte er sich unvermittelt um und ging zur Tür. Miller folgte ihm schweigend.
«Oh, Sie gehen schon?» rief Haggard spöttisch. «Lebt wohl, meine Herzblättchen.»
«Au revoir, falls Sie wissen, was das heißt.»
Noch lange, nachdem sich die Tür geschlossen hatte, stand Haggard unbeweglich da. Wer hatte gesungen: Soapy Brown? Er würde es ihm zeigen, dem falschen Hund. Oder Denton? Denton war der Typ dafür. Er hätte beinahe alles vermasselt, als er zu schlapp war, den Posten zu erledigen. Denton nannte sich selbst einen gebildeten Mann, das waren die Richtigen. Vielleicht Grant? Nein, Ringo kam nicht in Frage. Doch irgend jemand hatte gesungen, denn die Sache war zu gut gemacht, als daß die Bullen von allein daraufgekommen wären.
Leston, der Fahrer des Geldtransporters, wurde am Samstag morgen aus dem Krankenhaus entlassen. Er hatte acht Fäden in seinem Skalp und ein ungeheuerliches Kopfweh. Er hatte in der Nacht kaum geschlafen, und am Sonntag war in seinem Befinden nicht die geringste Besserung eingetreten. So war es ihm nicht zu verübeln, daß er Craig und den ihn begleitenden Polizisten mit den bitteren Vorwürfen empfing, warum sie den Überfall nicht verhindert hätten. Seine Frau war am Rande der Verzweiflung, aus der Sorge um ihn und wegen seiner schlechten Laune. Sie ging und kochte Tee.
Craig zeigte Leston mehrere Fotografien. «Wir wären dankbar, wenn Sie sich die Bilder einmal in aller Ruhe ansähen. Vielleicht erkennen Sie jemanden.»
«Ist das möglich?»
«Das kann man nicht sagen.»
«Ich meine, ist das Foto dabei von dem Mann, der als Polizist verkleidet war?»
«Diese Frage kann ich nicht beantworten.»
Der Polizist, der schon lange bei der Polizei war, wunderte sich im stillen, wie schwer sich Craig seine Aufgabe machte.
Leston sah die Bilder durch. Ein rasender Schmerz brandete durch seinen Kopf, er stöhnte und schloß die Augen.
Nach einer Weile war Leston wieder in der Lage, die Augen zu öffnen. Er besah sich genau die Bilder. Jeder Mann war zweimal aufgenommen, einmal im Profil und einmal von vorn. «Keiner der Burschen hier war es. Wie ich schon sagte, der Kerl hatte einen Schnauzbart.»
«Versuchen Sie doch mal, sich alle diese Männer mit einem Bart vorzustellen», sagte Craig geduldig.
Leston sah ihn verwirrt an, zum erstenmal kam ihm der Gedanke, daß der Bart falsch war. Er nahm sich die Fotos noch einmal vor. Gegen Ende hielt er inne, hob eins hoch, schloß die Augen halb und betrachtete es lange. «Der hier könnte es sein.»
Craig nahm ihm das Bild ab. Es war Haggard.
«Ist das der richtige Kerl?» fragte Leston eifrig.
«Sie sind der einzige, der das sagen kann.»
«Aber ist das der Kerl, den Sie im Verdacht haben?»
Craig antwortete nicht. Er reichte andere Bilder aus einem zweiten Umschlag und sagte: «Versuchen Sie es mal mit diesem hier.»
Wieder deutete Leston auf ein Foto von Haggard. Es war vor drei Jahren aufgenommen. Aber wieder war Leston nicht hundertprozentig sicher. Craig dachte bitter, daß dieser Zeuge einem Kreuzverhör nie standhalten könnte.
Eine Viertelstunde später fuhr Craig nach Frindhurst zurück. Miller erwartete ihn im R.C.S.-Büro.
«Glück gehabt?» fragte er.
Craig setzte sich auf die Tischkante und zuckte mit den Achseln. «Leston identifizierte Haggards Foto, doch leider war er sich nicht ganz sicher. Damit haben wir kein Glück vor Gericht.»
Miller kippte den Stuhl so weit nach hinten, daß er die Füße auf den Tisch legen konnte. «Wir wissen, daß es Haggard war. Nur wie, zum Teufel, können wir es beweisen mit diesen schwachen Indizien? Ich hätte große Lust, die Richter zu packen und ihnen die Indizien in den Hals zu stopfen.»
«Warum denn das?»
«Warum? Ich werde es dir sagen. Die Richter sind immer auf der Seite der Verbrecher, das kannst du mir nicht ausreden. Wieviel schwere Jungens hat man nach kurzer Zeit wieder frech herumstolzieren sehen, nur weil die Richter sich um das Beweismaterial kümmerten und nicht um die Wahrheit.»
«Du kennst doch den Spruch: Lieber zehn Schuldige in Freiheit als ein Unschuldiger im Gefängnis.»
«Das ist zum Kotzen! Und wenn wir nun kein besseres Beweismaterial finden? Was ist dann? Ich werde es dir sagen. Einer der Posten zum Krüppel geschlagen, dreißigtausend Pfund im Eimer, und Haggard läuft herum und lebt wie ein Lord. Du solltest mal seine Wohnung sehen. Luxuriös, sag’ ich dir. Und das erreichen die Verbrecher heute alles nur, weil die Gesetze so morsch sind. Jawohl, morsch!»
«Man kann doch kein Urteil auf bloßen Verdacht hin fällen», erwiderte Craig müde. «Habt ihr wenigstens etwas Brauchbares aus Haggard herausbekommen?»
Miller nahm sich eine Zigarette und warf auch Craig eine zu. «Wir sind beide mit dem Schädel gegen die Wand gelaufen. Haggard stand bloß lässig da und machte sich über McQueen lustig. Ich kann diese Mentalität nicht begreifen. Ich kann da einfach nicht mit. Männer wie Haggard sind Berufsverbrecher aus freiem Willen, und nichts auf der Erde kann sie ändern. Das Gefängnis betrachten sie als Berufsrisiko. Und wenn sie drei Jahre sitzen müssen und ein Jahr frei sind, in dem sie Geld wie Heu haben, dann ist das ganze O.K. für sie. Das kann ich noch verstehen. Aber diese unwahrscheinlich dickfällige Mißachtung gegen jedermann. Da hört es bei mir auf. Es macht Haggard überhaupt nichts aus, daß McQueen sein Leben lang nur noch dahinvegetiert, daß seine Familie die Hölle durchmachen wird. Das berührt ihn überhaupt nicht. Wenn ich ein Gauner wäre, ich würde klauen, was mir unter die Finger kommt. Und ich würde mir da kein Gewissen draus machen, denn die meisten Sachen sind versichert. Aber ich könnte doch niemals einen Menschen so völlig zusammenschlagen. Ich habe mir Gedanken gemacht, was ist, wenn mich mal jemand so zusammenhaut. Wie wird die Missus dann leben, und wo nimmt sie das Geld her, um die Kinder aufzuziehen? Haggard ist kein Mensch, nicht wie du und ich. Nur der Tod kann ihm da das Handwerk legen.»
Craig wußte, daß nichts, was immer er auch sagte, Miller überzeugen konnte.
«Wir müssen diesen Schweinehund kriegen», sagte Miller.