13
Craig erschien bei den Millers, als diese gerade ihr Abendessen beendeten. Sie ließen ihn merken, wie sehr sie sich über seinen Besuch freuten.
«Nun?» fragte Miller. «Hast du Erfolg gehabt?»
Craig schüttelte den Kopf.
Die Hoffnung verschwand aus Millers Augen und machte einer tiefen Niedergeschlagenheit Platz. Violet blickte zur Seite, damit die anderen ihr Gesicht nicht sehen konnten.
«Überhaupt gar nichts?»
«Ich habe nichts herausbringen können. Dann fand der Chefinspektor heraus, was ich getrieben habe, beorderte mich zu sich und führte einen Tanz mit mir auf.»
Violet Miller sagte erregt: «Albert hat es nicht getan!» Als ob die ständige Wiederholung einen Sinn hätte.
Miller schob seinen Teller zurück. «Jetzt sind die Kinder dran», sagte er müde.
«Wie meinst du das?»
«Die Kinder sind neu hier und haben es sowieso schwer, und nun wird der Fall in allen Zeitungen breitgetreten. Jetzt fallen die anderen über sie her. Gestern kam Ronald mit etlichen Beulen nach Hause. Es war nicht die übliche Rauferei. Drei haben ihn sich vorgenommen und gesagt, sein Vater sei ein Schuft. Und als er alles erklären wollte, sind die drei auf ihn losgegangen und haben ihn verprügelt. Wenigstens etwas hat er dabei gelernt: Gewalt geht vor Recht.»
«Du darfst den Kampf nicht aufgeben», sagte seine Frau.
«Kampf? Wie soll ich denn kämpfen? Ich sitze fest. Ich kenne die Wahrheit, doch niemand ist an ihr interessiert.» Miller ließ sich schwer in seinen Stuhl zurückfallen.
Craig trat von einem Fuß auf den anderen.
«Setzen Sie sich doch, John», sagte Violet. «Möchten Sie ein Bier?»
«Nein, danke.»
«Bitte, trinken Sie doch eins.»
Er wollte wieder ablehnen, doch er merkte, wieviel ihr daran lag.
Nach einer Stunde ging er. Ausdrücklich hatte er ihnen versichert, daß die Ortspolizei Himmel und Hölle in Bewegung setzte, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Er hatte nicht den Mut gehabt, die Wahrheit zu sagen.
Er ging die Straße entlang und hatte das Gefühl, als wate er durch tiefen Morast. Im Augenblick bestand überhaupt keine Hoffnung, daß Dustys Unschuld bewiesen werden könnte. Mein Gott, was würde das für Folgen haben. Er würde eine harte Strafe bekommen und an die so sehnsüchtig erwartete Pension war nicht zu denken, nur weil die Welt glaubte, er hätte Richter und Henker gespielt. Das durfte man doch nicht zulassen. Doch er sah keine Möglichkeit, das Unheil abzuwenden. Haggard war zweifelsohne ein asozialer und mieser Bursche. Er war der gerechten Strafe entgangen, weil er wider besseres Wissen Miller unterschob, ein Lügner und Meineidiger zu sein. Wenn es eine Gerechtigkeit auf Erden gab, dann konnte er damit nicht durchkommen.
Craig zündete sich eine Zigarette an. Gute Gefühle, dachte er bitter, sind eine schöne Sache, doch sie sind wie Alkohol, wenn sie verfliegen, bleibt nur eine tiefe Depression zurück. Haggard mußte überführt werden. Doch womit, wo und wie?
Er sah Haggard in seinem luxuriösen Appartement sitzen, verdorben bis ins Mark. McQueen lag im Krankenhaus und war nur noch klinisch am Leben, und Dusty Miller sah schon seine ganze Zukunft ruiniert.
Plötzlich setzte sich ein Gedanke in seinem Kopf fest. Wie wäre es, wenn er zu Haggard ginge und ihn dazu brächte, die Wahrheit zu sagen? Nach englischem Recht konnte er nach seinem Freispruch wegen des Überfalls auf den Geldtransport nicht mehr belangt werden. Vielleicht hatte er doch noch eine Spur von Anstand in sich. Sein Verstand sagte ihm, daß es nutzlos sei, sich vor Haggard zu demütigen, und er ging noch einmal mit sich zu Rate. Demütigung oder nicht, er mußte den Versuch wagen.
Er holte den alten Humber aus der Polizeigarage und fuhr zu Haggards Wohnung. Er klopfte, und Florence öffnete ihm. Sie trug ein schlichtes bedrucktes Baumwollkleid, das sie jung machte und noch unschuldiger wirken ließ.
«Was wollen Sie?» fragte sie schrill.
«Ein Wort mit Haggard reden.»
«Wer ist da?» rief Haggard aus dem Wohnzimmer.
«Polente», antwortete Florence und sah an Craig vorbei, als ob sein bloßer Anblick sie ekelte.
Haggard trat in die Diele. Das seidene Hemd war oben offen, und die Flanellhosen hatten messerscharfe Bügelfalten.
«Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?» fragte Craig.
Haggard war überrascht von dem höflichen Ton der Frage. «Worum handelt es sich?»
«Ich möchte Sie nur etwas fragen.»
«Was denn?»
Craig zögerte, er suchte nach den rechten Worten. «Es ist wegen Miller», sagte er dann endlich.
«Jaaa?»
«Er ist vom Dienst dispensiert und kommt wahrscheinlich vor Gericht wegen Meineids.»
«So?» Haggard zerbrach sich den Kopf, was diese sanften Worte bezwecken sollten.
«Würden Sie – würden Sie vielleicht jetzt die Wahrheit sagen?»
«Die Wahrheit?»
Jetzt wurde Craig eifrig. «Man hat Sie wegen des Raubüberfalls nicht überführen können, es macht Ihnen also doch nichts aus, was nun passiert. Ein zweites Mal kann man Sie deswegen nicht vor Gericht bringen. Wenn Sie jetzt zugeben, daß der Handschuh Ihnen gehört, schadet es Ihnen gar nichts und würde Miller retten.»
«Ihn retten?»
«Ja, ihn retten, verurteilt und aus dem Polizeidienst ausgeschlossen zu werden.»
«Sie kommen hierher, um mich zu bitten, einen Bullen aus der Scheiße zu ziehen?»
«Er ist verheiratet, Haggard. Er hat eine wunderbare Frau und zwei Kinder. Sie sind gerade in dem Alter, wo so eine Sache sie fürs Leben ruinieren kann.»
«Jetzt halten Sie mal die Luft an, und sagen Sie das noch einmal. Sie sind hierhergekommen, um für ihn zu bitten?»
«Ich bitte Sie, die Wahrheit zu sagen. Bitte, tun Sie es für seine Familie.»
«Seine Familie?»
«Sie werden es nicht bereuen.»
«Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Knien Sie nieder und bitten Sie recht schön.»
«Ich – ich soll niederknien?» wiederholte Craig verständnislos.
Als er Craigs Gesicht sah, konnte sich Haggard nicht länger beherrschen und brach in schallendes Gelächter aus. Sekundenlang konnte er kein Wort sprechen, dann sagte er zwischen immer neuen Lachstößen: «Ein Bulle! Flo, hast du so was schon gesehen? Hast du das gehört? Ein Bulle, der mich bittet, nett zu sein.»
«Seine Frau …», begann Craig verzweifelt.
Haggard hörte plötzlich zu lachen auf. «Sie spinnen wohl komplett. Ich soll einem Bullen helfen? Ich würde keinen Finger krümmen, um so einen aus der Scheiße zu ziehen. Und dasselbe gilt für seine Frau. Wenn sie blöd genug ist, einen von der Polente zu heiraten, so ist das ihr Begräbnis. Man hat sie nicht an den Altar geschleift, also weiß sie, was los ist. Sie hat geschworen, ihm beizustehen in guten wie in schlechten Tagen, bis daß der Tod sie scheidet, und all den Quatsch. Nun soll sie man das kleine bißchen Unglück mit ihm tragen, nicht?»
«Aber …»
«Jetzt werde ich Ihnen mal was sagen. Seit dieser Gerichtsverhandlung lache ich mich fortgesetzt krank. Wenn ich daran denke – mich lassen sie ’raus, und dem Bullen machen sie Ärger. Manchmal schüttelt es mich richtig vor Lachen. Stimmt es nicht, Flo?»
«Ja», sagte sie.
«Es passiert einem nicht alle Tage, daß man so sehr lachen kann. Nun seien Sie doch mal ein bißchen fröhlich, und lachen Sie mit. Traurigkeit führt zu nichts, sie schlägt sich aufs Gemüt. Steht nicht schon in der Bibel: Eßt und trinkt und seid fröhlich, denn morgen werdet ihr nimmer sein?»
«Wollen Sie denn nicht verstehen?» drängte Craig.
«Oder war es Dickens, der das geschrieben hat?»
«Wie zum Teufel soll ich das wissen?» rief Craig verzweifelt.
«Jetzt zerstört er auch noch meinen Glauben an die Polente. Man hat mir beigebracht, daß die Bullen klug sind, viel klüger als wir kleinen Gauner. Und er sagt, er weiß nicht, wer das geschrieben hat. Was würde Ihr Polizeichef dazu sagen?»
Craig wandte sich um und ging zur Tür.
«Gehen Sie schon? Das tut mir aber leid. Ich dachte, Sie leisten mir noch ein bißchen Gesellschaft und schwatzen mit mir, wie es zum Beispiel meinem Freund Miller geht, den ich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen habe. Erzählen Sie mir doch von seiner lieben Frau und den süßen Kinderchen. Ich liebe Kinder. Es gibt nichts, was ich nicht für sie tun würde. Ich bin direkt verrückt nach Kindern.»
Craig hatte die Tür erreicht und schlug sie hinter sich zu. Er hörte noch im Flur, wie Haggard von neuem in ein brüllendes Gelächter ausbrach.
Craig fuhr mit dem Lift hinab. Er hatte die Demütigung ausgekostet bis zur Neige. Seit wann fühlten Menschen wie Haggard Mitleid? Seit wann kümmerten sich Menschen wie Haggard um die Tragödien, die sie mit ihren Verbrechen auslösten? Haggard war es völlig gleichgültig, wie es McQueen ging, warum sollte ihn das Leid eines Mannes berühren, der ja nur einer Lüge beschuldigt war. Und das einer Frau, die Qualen um den Mann litt, oder gar der Kinder, die von ihren Mitschülern gequält wurden? Oder die Not einer Familie, die auseinandergerissen wurde? Sorgen um solche Dinge? Das war wirklich lustig.
Nachdem Craig gegangen war, lief Haggard ruhelos auf und ab. Er hatte Lust, irgend etwas zu unternehmen, doch er wußte nicht was. Eine Sauferei mit Grant? Er hatte keine Lust, Grant zu sehen.
«Was hast du denn bloß?» fragte Florence.
Er sah zu ihr hinüber. Sie lag auf dem Sofa, der Morgenrock stand offen und gab ihre Beine frei. Es waren hübsche Beine. Sie hatte auch einen hübschen Körper. Wenn man es recht bedachte, war sie ein ganz passables Weib, das die Antwort auf eine Menge Fragen geben konnte. Doch so begehrenswert sie auch war, im Augenblick hatte er keinen Appetit auf sie.
«Was hast du denn?» wiederholte sie ihre Frage.
«Halt die Klappe.»
«Was rennst du fortgesetzt hier im Zimmer ’rum?»
Er ging zum Sofa, zog sie brutal an den Haaren und lachte, als sie versuchte, seine Hand mit ihren Fingernägeln zu erreichen. Und plötzlich wußte er, was er wollte: eine andere Frau. Als er sie so liegen sah, wußte er auf einmal ganz genau, daß er eine andere wollte. «Ich gehe aus», sagte er und ließ sie los.
Sie rieb sich die schmerzende Kopfhaut. «Wohin gehen wir?»
«Du gehst nirgendwohin.»
«Warum kann ich nicht mitkommen?» Sie setzte sich auf und zog ärgerlich ihren Morgenrock zusammen. «Du gehst zu einer anderen!» schrie sie.
«Das hat aber lange gedauert, bis du das gemerkt hast.»
Sie beschimpfte ihn mit all den obszönen Namen, die ihr einfielen, und das waren eine ganze Menge. Er schlug sie ins Gesicht, und sie weinte.
«Was hast du gegen mich?» schluchzte sie.
«Du bist ganz in Ordnung, wenn ein Bursche einen Drink braucht, weil er am Verdursten ist. Doch ich brauche Champagner.»
«Wenn du gehst, bleibe ich auch nicht hier, das schwöre ich.»
«Die Welt steht jedermann offen.»
Er ging ins Schlafzimmer und zog sich den anthrazitfarbenen Anzug an, in dem er so distinguiert aussah. Wenn man in «The Smoke» ging, mußte man vornehm wirken.
Sie folgte ihm und setzte sich auf das Bett. Er sah sie an. Auf ihre Weise war sie wirklich schön, das Unschuldige an ihr machte sie begehrenswert. Die meisten Huren wurden alt schon vor den Jahren, aber sie konnte noch immer frisch aussehen wie die Unschuld vom Lande.
«Was wünschst du dir dann?» fragte sie.
«Frieden vor deinen ewigen Quengeleien.»
«Aber sie kann dir doch nicht mehr bieten als ich.»
«Sie ist stumm. Wir verständigen uns nur durch Zeichen. Es ist so friedlich.» Er lächelte und erzählte ihr, was sie zusammen machten.
Sie sprang vom Bett auf und stürzte sich auf ihn wie eine Furie, ihre Nägel zuckten nach seinem Gesicht. Doch er warf sie auf das Bett zurück, meinte höhnisch, er würde ihr eine Postkarte schicken, und ging.
Sie lag schweratmend auf dem Bett, ihr Gesicht schmerzte von der heftigen Ohrfeige, mit der er sie aufs Bett geworfen hatte. Sie verachtete sich, daß sie sich so von ihm behandeln ließ, daß sie ihn amüsierte mit ihrer ewigen Demut und Selbsterniedrigung und daß sie gar nichts dagegen tun konnte. Die Leute fanden es lustig, wenn eine Dirne sich verliebte. Liebe? Und sie lächelten spöttisch. Aber auch sie konnten sich verlieben wie die jungfräuliche Tochter eines Duke. Nur einen Haken hatte die Sache. Normalerweise verliebte sich eine Hure in einen Mann, der sie brauchte. Die feinen Leute nannten ihn Zuhälter. Die meisten Verbrecher verachteten diese Louis, doch Haggard behandelte sie genau wie ein solcher. Sie gab ihm doch alles. Sie gab nicht nur ihren Körper, sie gab sich selbst, und er verachtete beides.
Sie setzte sich auf und griff nach einer Zigarette auf dem Nachttisch. Seit 1958 das Straßengesetz das Geschäft in London verdorben hatte, konnte sich der lokale Strich blendend entwickeln. Und eine erstklassige Nutte wie sie konnte ein recht luxuriöses Leben führen. Warum ging sie nicht weg von Haggard, zurück auf ihren Strich? Sie hatte Ersparnisse, ihr Bankkonto war vierstellig. Der Bankbeamte wußte, wieviel sie verdiente, und er war sehr nett zu ihr. Er hatte ihr geraten, das Geld anzulegen und arbeiten zu lassen, doch sie wollte es gerne zur Hand haben; wenn sie mal tausend Pfund brauchte, sollte es gleich ausgezahlt werden.
Warum verließ sie Haggard nicht? Warum ließ sie sich Demütigung über Demütigung gefallen und erniedrigte sich auch noch durch diese alberne Eifersucht?
Was für eine Frau suchte er eigentlich? Vielleicht eine Farbige? Eine ganze Reihe Männer schätzte das.
Sie stellte sich eine große Negerin vor, mit lachendem Gesicht und dicken Lippen, schlank, mit aufreizendem Gang. Er trat zu ihr, legte die Hand auf ihren Busen …
Sie schrie auf. Sie hätte sich am liebsten umgebracht, um diese Qual zu beenden, aber sie wußte, daß sie nicht den Mut dazu hatte. Sie liebte ihn. Er konnte sie zu Tode prügeln, und sie würde ihn noch immer lieben. Sie drückte die Zigarette aus und ging ins Wohnzimmer. Vom Fenster aus konnte sie über die Dächer schauen bis auf das Meer im Hintergrund. Das Mondlicht schimmerte wie Silber auf den Wellen, die sich leise kräuselten. Sie wandte sich ab und ging zu der kleinen Hausbar, dort füllte sie ein großes Glas mit Gin und Cognac. Er würde nicht vor morgen mittag nach Hause kommen, und sie wollte sich betrinken. Der Rausch würde ihre Eifersucht einschläfern.