Meuterei
Auf einmal ein Ereignis, ein echtes, großes. Auf einmal ist in meiner Straße richtig was los.
Der Vorhang hebt sich eines frühen Morgens. An der Fassade der Nummer 4 des Platzes hängen Jutebanderolen mit zornigen Forderungen in blutroter Tinte: «Kein Schöneberg für Bonzen!», «Gegen die Vernichtung bezahlbarer Wohnungen!», «Mieter vor Wildwest schützen!». Wir erfuhren an jenem Morgen, dass das Gebäude mit den 106 günstigen Sozialwohnungen beim Eingang des «Pennerparks» abgerissen werden sollte.
Dieser baufällige Klotz aus dem Jahr 1964 war ein so vertrautes Teil vom Patchwork meiner Straße, dass ich ihm nie große Beachtung geschenkt hatte. Nie habe ich dort jemanden aus- oder eingehen sehen. Manchmal ließ ein vor der Eingangstür stationierter Krankenwagen oder ein Polizeiauto die Dramen erahnen, die sich auf den Stockwerken abspielten. Mehrere Brände waren mit knapper Not verhindert worden. Und man erzählt, es habe eine verwesende Leiche gegeben, die man, als sich im Treppenhaus ein entsetzlicher Gestank auszubreiten begann, aus ihrer Matratze gegraben hat. Ein Nachbar hatte die Feuerwehr benachrichtigt. Niemandem war aufgefallen, dass der kleine Alte aus dem Zweiten seit Wochen nicht mehr zu sehen war. Die Straße machte ein ziemliches Aufhebens davon, malte sich die Einzelheiten aus, würzte noch etwas nach, pfefferte das Ganze, gab eine ausgehungerte Ratte, einen folternden Einbrecher dazu … Wochenlang wurde von nichts anderem gesprochen. Und noch heute lassen sich die Alten nicht lange bitten, um von Anfang an zu berichten, ohne das geringste Detail auszulassen, und gelegentlich eine weitere Episode hinzuzufügen.
Ein gruseliges Haus. Nach und nach verschwanden sämtliche Zeichen eines Innenlebens hinter den kleinen, düsteren Fenstern. Ich glaubte, dass das Gebäude geschlossen worden war. Wie sollte man es wagen, in einem solchen Wrack zu leben?
Der deutsche Bauriese Hochtief AG hatte das Terrain erworben und grünes Licht für sein Bauprojekt bekommen. Die Bezirksverordnetenversammlung, lebhaft unterstützt von einem wirtschaftsfreundlichen Baurat, dem es vor allem darum geht, «die Dinge zu bewegen», hatte dem Abbruch des Gebäudes und dem Bau eines riesigen Eigentumswohnungskomplexes von hohem Standing und einem gesalzenen Quadratmeterpreis zugestimmt, außerdem mit Tiefgarage – für die Anwohner, mehrheitlich militante Radfahrer, der endgültige Beweis für den moralischen Verfall, der bald das ganze Viertel erfassen würde. «Von der Schaffenskraft des Unternehmens zeugen viele bemerkenswerte Projekte auf der ganzen Welt», berichtet die Homepage des Konzerns. «Wir haben den Tempel von Abu Simbel versetzt, am Bosporus Europa und Asien mit einer Brücke verbunden, die Frankfurter Skyline mitgeprägt, die Weiten Australiens per Bahn und Straße durchmessen und den Tunnel unter dem Gotthard errichtet.» Und am Ende dieses grandiosen Katalogs fügt nun Hochtief die Nummer 4 unseres Platzes hinzu. Meine kleine Straße war in den Club der Global Player aufgenommen.
Es wurde von nichts anderem mehr gesprochen. Unserer Straße standen unsichere Zeiten bevor. Ihr plötzlicher Reichtum würde Einbrecher, Fahrrad- und Kinderwagendiebe anlocken! Die dicken Wagen der neuen Eigentümer würden abgefackelt werden. Nachts würden lautlose Gestalten, das Gesicht hinter einem schwarzen Strumpf versteckt, die Wände der «Bonzenzitadelle» mit menschlichen Exkrementen vollschmieren! Unser Platz würde zur Krawallhochburg des 1. Mai! Zur Zielscheibe von Anarchisten, Autonomen, Extremisten, Globalisierungsgegnern, Sprayern, Randalierern und Rowdys aller Kategorien! Sie würden kommen und die braven Bürger belästigen, das Viertel vandalisieren! Mit unserer friedlichen Existenz, geborgen in unserer Sackgasse, ist es dann vorbei.
In aller Eile wurde eine Bürgerinitiative ins Leben gerufen und zu einer Kundgebung auf den Stufen des Schöneberger Rathauses aufgerufen. Das Ganze glich eher einem kleinen Menschenauflauf als einer echten Demo. Ein Polizeiauto war, man kann nie wissen, für alle Fälle vor Ort geschickt worden. Ein Ordnungshüter überwachte das Geschehen, einen Becher Latte macchiato in der rechten, ein knisterndes Megafon in der linken Hand und auf den Lippen ein Feierabendgähnen. Auf den Stufen des Rathauses lösten sich mehrere Tribune ab. «Entschuldigung, dass ich auch was sage», begann ein abgelebtes Hippiemädchen. Sie wurde auf der Stelle aus dem Weg geräumt, noch bevor sie ihren Satz zu Ende gesprochen hatte. Es folgte eine junge Frau mit traurigen Augen, die ein Transparent, Stop violating my house!, mit dem Foto eines Eichhörnchens, einer Fledermaus und einem Spruch von Mahatma Gandhi schwenkte: «Je hilfloser ein Lebewesen ist, desto größer ist sein Anspruch auf menschlichen Schutz vor menschlicher Grausamkeit.» Sie berichtete uns, dass im anliegenden Park «über 29 alte gesunde Bäume» gefällt werden sollten, und brachte stammelnd, mit der Stimme eines erschreckten Schulmädchens, das seine auswendig gelernte Lektion aufsagt, die guten Argumente vor, die dies untersagten: «Die Bäume können CO₂-Emissionen stoppen und wirken positiv auf die menschliche Psyche!» Was auf unserem Platz geschah, rief sie in Erinnerung, laufe sämtlichen von der Regierung eingegangenen Verpflichtungen für den Klimaschutz zuwider. In unserem kleinen Rahmen verriet Deutschland die großen, auf der internationalen Szene gemachten Versprechen, genehmigte die Zerstörung eines Ökosystems. Zum Glück waren die Militanten der Partei Die Linke da, die auf sämtliche Barrikaden abonniert ist, um diese stümperhafte Veranstaltung in die Hand zu nehmen. Es war die flammendste Rede von allen. Ihr Repräsentant denunzierte das «Sozialelend» und den «Ausverkauf von ganz Berlin». Auch die Genossen von der DKP gönnten sich einen Kiez-Aufstand, eine Miniaturrevolution, ohne Blut und ohne Risiko. Von einer plötzlichen Aufwallung von Frühlingsgefühlen beflügelt, eilten sie mit einem Pamphlet von mehreren Seiten herbei. Ein seichter Text, der dieser Episode des Klassenkampfs einen ideologischen Rahmen verpassen sollte. Die Kapitalisten auf der einen, die Unterdrückten auf der anderen Seite. Die Genossen fuhren ihr ganzes Repertoire auf, denunzierten die «Vertreibung», den «Aufwertungswahnsinn», den «Anbruch sozialer Kälte», die «Entmietungsmachenschaften» besonders auf «unsere Migranten», «sodass beinahe eine rassistische Dimension erreicht wird, die auch dem internationalen Ansehen von Berlin-Schöneberg schaden dürfte!».
Meine Straße war der schleppenden Gentrifizierung ausgeliefert. Ein langes, zu englisches Wort, das viele Berliner eher stammeln als aussprechen, so viele Bedrohungen verstecken sich hinter dem vornehmen Begriff. Die Alten mit ihren kostengünstigen Mieten, die Arbeitslosen, Studenten, Künstler und alle armen Schlucker, denen die Nummer 4 ein Obdach gewährte, würden das Nachsehen haben. Um die soziale Durchmischung wäre es geschehen. Unsere Straße würde «klassenmäßig homogenisiert» werden. Die Armen würden an die Berliner Randbezirke verbannt und den Zugezogenen, diesen Neuankömmlingen Platz machen, die aus allen vier Ecken des Globus angerannt kamen: hohe Bundesbeamte, reiche Zahnärzte aus Düsseldorf und Anwälte aus München, Herrensöhnchen in der Bohemephase und schwäbische Werbetexter, die sich von vegetarischen Maultaschen und Müsli aus fairem Anbau ernähren, irische, spanische, dänische, sogar israelische Spekulanten und die Verwalter amerikanischer Pensionsfonds. Wer weiß, vielleicht würde sogar ein Hollywoodstar, ein Kollege von Brad Pitt und Angelina Jolie, die nicht weit von hier wohnten, einen Loft mit Dachgarten erstehen und mit seinen Paparazzi im Schlepptau bei uns einziehen. Unsere Straße als Sunset Boulevard. Diese Neuzuzügler waren die Verkörperung des menschenverachtenden Klassenfeinds, der es darauf abgesehen hat, seine Kröten in der hippesten Stadt Europas in vollem Immobilienboom zu parken. Er würde unsere Straße entstellen und in zwei Lager spalten: die netten, armen Opfer auf der einen, die bösen reichen Täter auf der anderen Seite.
Vor 25 Jahren hätte sich im alten West-Berlin niemals ein Käufer für ein solches Gebäude gefunden. Wem wäre, im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, eingefallen, seine Ersparnisse in den Stein einer Frontstadt mit so ungewissem Schicksal zu investieren? Einer armen Stadt, am Tropf der alten Bundesrepublik, ohne große Zukunft. Mit der Vereinigung und der Bestimmung Berlins als Hauptstadt des neuen Deutschlands haben sich sämtliche Ängste verflüchtigt. In diesen Zeiten der finanziellen Turbulenzen ist es keine schlechte Idee, das Geld in Stein anzulegen. Man sieht Immobilienscouts im Viertel herumstreichen, die nach Brachflächen und Kriegslücken suchen, die es zu füllen gibt. Die «abbruchreifen» Nachkriegsgebäude und ihre großzügigen, «bebauungsfähigen» Vorgärten sind besonders begehrt. Diese Heuschrecken, wie sie in meiner Straße genannt werden, wollen jeden Quadratmeter Terrain nutzbar machen.
Doch wer soll sich das leisten können?, empörte sich unsere Stadtteilzeitung. «Die verbliebenen (West-)Berliner, die in den schwierigen, skurrilen Zeiten des Kalten Kriegs ausharrten? Wohl kaum. Eher Menschen von anderswo, für die Berlin nun mal ‹in› und ‹trendy› ist. Menschen neuer Demographien, die unbedingt eine Zweit- (oder Dritt-)Wohnung, mitsamt Tiefgaragenparkplatz, im Herzen Europas benötigen. Menschen, die das Überschatten anderer als ihr (Erwerbs-)Recht ansehen. Menschen, die gerne – wenn auch aus bloßen Investitionsgründen – in einer Neuimmobilie die alten Axialitäten bewohnen werden.»
Mehrere Monate lang harrten elf Meuterer in ihren kleinen Wohnungen aus: Ein rothaariger Anwalt, der um die Straßenecke aufgewachsen ist, führte die Revolte an, «Zeigt den Baulobbyisten die Rote Karte!», assistiert von der jungen ökologischen Aktivistin Hannah mit den traurigen Augen, deren Petition an den Bundestag 2000 Unterschriften erreichte, ein Zimmermann, ein Polizeischüler griechischer Abstammung, ein türkischer Kassierer bei Woolworth, eine sehr alte, über neunzigjährige Dame, seit 30 Jahren Mieterin, die in eine Senioren-WG «verfrachtet» werden soll, wo «ihre Seele nie ankommen wird», ein Doktor der Physik, der vom Arbeitslosengeld lebt, eine Polin, Mitte 20, eine etwas problematische Frau, «die sich nicht richtig im Griff hat» und von Hartz IV und Alkohol lebt, ein Rentner … Sie alle weigerten sich, die Bastion zu verlassen. Sie legten Widerspruch ein und forderten, das sechzigjährige Gebäude solle «schick gemacht und revitalisiert» werden. Ich hatte Mühe, mir vorzustellen, wie man diese Bruchbude aufstylen sollte. Die Fassade wie in der Nummer 27 in einem kräftigen Ton neu streichen? Neue Balkone aus Stahl draufsetzen? Nein, hier schien der Kampf von vornherein verloren.
Bald stand vor dem Haus das Werbeschild «Schönste Lage. Wie gewohnt». Riesengroß, unübersehbar, nachts von Projektoren bestrahlt und mit seinen Betonfüßen gut im Boden verankert. Beim ersten Schnee klaubten Aufsässige den auf die Fahrbahn gestreuten Kies vom Boden und bewarfen das Schild damit, das einige Tage lang einem Gemälde von Pollock glich. Und dann setzte der Graffiti-Walzer ein. Jede Woche ein neuer Spruch. «Geist macht geil!» «Weg mit den Bonzen!» Und mehrmals das klassische, immer wieder passende «Fuck you!», das auf Englisch so viel prägnanter ist als auf Deutsch. Kaum war eins beseitigt, tauchte das nächste auf.
Die elf Aufständischen wurden hinausgeworfen. Das Gebäude wurde zwangsgeräumt. Es blieb nichts als ein paar lächerliche Anzeichen einer gelöschten Existenz. Eine graue Tüllgardine hinter einem Fenster im vierten Stock. Eine Lampiongirlande auf dem Balkon des sechsten. Ein vergilbtes Grasbüschel im Blumenkasten des dritten. Aus einigen Balkonen schossen Pflanzenstängel heraus, die von einem erstaunlichen Lebenswillen in diesem mit dem Tod ringenden Gebäude zeugten. Das zerrissene Foto einer rehäugigen orientalischen Braut mit Diadem und Schleier. Eine zwischen die Stäbe eines Geländers geklemmte leere Rotweinflasche. Glasscherben, ein kaputter Fensterladen, eine Wäscheleine, eine umgekippte Kloschüssel, eine lachsfarbene Küchentapete. Im Erdgeschoss an der Wand ein orangefarbenes Herz ohne Initialen oder Vornamen, ohne Ich liebe dich oder Für immer. Nichts als ein unglückliches kleines Herz, das bald zu schlagen aufhören würde. Am Zaun rund um das Haus Fetzen von Schnüren und Bändern, die von der schönen Zeit des Aufstandes zeugten, als noch alles möglich war. Einzig drei Sonnenblumen am Fuße des Gebäudes streckten siegessicher ihre Köpfe empor.
Der Vertriebsstart fand an einem Samstag statt. Hochtief sorgte für Musik und Verpflegung, stellte sein Projekt vor und gab das Startzeichen für den Verkauf von Apartments, Penthouses und Maisonettewohnungen für Best Ager, Familien, Singles und andere Aspiranten auf der Suche nach einer Adresse «mit viel Spielraum für die persönliche Lebensqualität». Es wird erzählt, dass große Limousinen ihre Runde um den Platz drehten. Dass an jenem Tag 25 Wohneinheiten reserviert wurden. Auf den Abbildungen entdeckten wir zum ersten Mal das Corpus Delicti, ein ganz banales, austauschbares Gebäude. Eine auf einen Hightech-Korpus aufgeklatschte altertümelnde Fassade. Hatte sich der Architekt nicht vom historischen Gebäude inspirieren lassen, das der Bauherr Carl Graf Anfang des letzten Jahrhunderts durch den Architekten Paul Wiesener erbauen ließ? Das einzige intakte Haus des Platzes aus der Zeit ist die ehemalige Chamisso-Schule, die Lilli Ernsthaft, Ilse Rothkugel, Hannah Kroner und ihre Freundin Susanne Wachsner einst besuchten, heute eine Grund- und Volkshochschule. Die anderen Gebäude sind nach dem Krieg entstanden. Sie stehen schräg zum Platz, zerstören die Harmonie und das Zusammenspiel der Symmetrien. Die neuen Investoren antworteten auf die seit dem Mauerfall wachsende Nostalgie für das alte Vorkriegsberlin. Sie versuchen alles auszulöschen, was nach 1939 in dieser Straße geschehen ist. Der Kasten, der von der Verwüstung zeugt, die unsere Straße erlebt hat, musste eliminiert werden. Und ich machte mir Sorgen: Würde sich meine Straße auch mit diesem Retrokitsch herausputzen?
Der Hochglanzprospekt rühmte einen «Kiez mit Charme» in einer «Metropole mit Herz». «Hier finden Sie Großstadtflair und Kleinstadtromantik, bunte Vielfalt, aufgeschlossene Menschen. Eine einzigartige Melange aus bürgerlichem Ambiente in gediegenen Wohnvierteln und quirligem Kiez …» Er beschrieb die «herrschaftlichen Häuser aus der Gründerzeit», die das Straßenbild bestimmten. Wir tauschten unter uns Nachbarn perplexe Blicke aus. Wir hatten Mühe, unsere Straße in diesem Werbegedicht wiederzuerkennen. Wo stößt denn hier «Geschichte auf Moderne»? Wo sind die «charmanten Cafés und Bistros, die zum Verweilen bei Espresso, Milchkaffee, Croissant einladen»? Geht es bei uns wirklich «freundlich und charmant zu»? Wo bloß weht dieser so raffinierte «Esprit»? Und vor allem, von welchem «reizvollen Platz», «zweifellos einer der stilprägenden Plätze in Schöneberg», ist da die Rede? Doch nicht etwa von unserer Verkehrsinsel mit ihrer Rotunde mit den verwilderten Rasenflächen und Hundehaufen? Der von Georg Haberland angelegte Schmuckplatz verdient seinen Namen schon lange nicht mehr. Diese Szene, auf der man sich, wie auf den italienischen Piazzette, abends zeigte, um vor der Fassadenpracht zu flanieren, ist heute eine Karambolage von sechs Straßen, ein Durchfahrtskarussell. Die Wagen brettern auf den Platz und kreisen um das Mittelrondell. Die Vorfahrtsfrage ist nicht einfach, und mehrmals täglich hört man die Schreie und Beschimpfungen eines Radfahrers, dem ein Autofahrer die Vorfahrt genommen hat. Unser Platz ist ein Anziehungspunkt von Stress und Konflikten. Alles andere als eine grüne Oase des Friedens, wo die Zeit sich verlangsamt, die Spannungen sich verflüchtigen.
Es ist im Übrigen nichts vorgesehen, damit man einen Moment der Rast einlegen könnte: keine Bank, kein gepflegtes Rasenstück, um sich auszustrecken. Der Rand des schönen Brunnens mit seinen Bronzefiguren ist viel zu unbequem. Seit 20 Jahren denken die Stadtplaner nach. Kein Geld. Kaum Ideen. Sicher, die städtischen Straßenkehrer sammeln noch immer die Papierfetzen ein, aber die Verwahrlosung geht weiter. Bei Regenwetter lassen die Hundehalter, die keine Lust haben, bis zum Volkspark zu gehen, ihre Hunde die Platanen begießen. Nachts streifen die Füchse umher.
Zu jener Zeit verschwindet von einem Tag auf den anderen eine Bank aus dem Pennerpark. In der Straße kursieren die verrücktesten Gerüchte. Meine Nachbarn fangen an zu fabulieren. Sie verdächtigen sogar Hochtief, einen nächtlichen Überfall veranstaltet zu haben, um vor der Ankunft der potenziellen Käufer das Revier der Säufer auszuheben. Liest man die Broschüre von Hochtief, glaubt man beinahe, unser «Pennerpark» würde sich in eine Miniaturversion des Jardin du Luxembourg verwandeln. Anstelle der beiden Holzhütten und der mickrigen Rutsche ein «liebevoll gestalteter Spielplatz mit einem Lern-und-Spiel-Pfad für Kinder». Und als ich inkognito anrufe und die beunruhigte Bürgersfrau spiele, verspricht mir der Makler eine «grüne Lunge» ohne diese «Ecken und Kanten, wo die Gruppierungen, die da nicht sein sollen, sich verstecken können zum Biertrinken und um sich private Grill-Feste zu liefern». «Die Käufer sind nur Privatleute! 95% deutsche Staatsbürger!», versichert er mir ohne Rücksicht auf meinen französischen Akzent. Die DKP schlägt sogar vor, den Park umzubenennen. Die Genossen holen tief aus einer alten Schublade ein schlagendes Argument hervor: «Angesichts der Tatsache, dass Hochtief im NS-Regime im großen Stil Zwangsarbeiter aus verschiedenen Konzentrationslagern ausgebeutet hat, müsste zur Wahrung der Ehre der jüdischen Gründerin der Sozialen Frauenschule der Park umbenannt werden, wenn diese Firma dort ihr zerstörerisches Bauprojekt beginnt. Die jüdische Berlinerin wurde 1937 von der Gestapo zur Emigration gezwungen.» Man könnte den Genossen noch etwas Wasser auf die Mühle gießen, indem man ihnen einflüstert, dass auch der Führerbunker in Berlin, die Wolfsschanze und der Berghof Konstruktionen der Hochtief AG sind, wie die Firma auf ihrer eigenen Homepage selbst bekennt.
Ist das Gebäude geräumt, sind die Fassaden ohne Fenster, beginnen die Abrissarbeiten. Rund ums Rondell werden Mulden und Lastwagen abgestellt. Das Haus wird bis in die Eingeweide durchgeschüttelt. Die Schlaghämmer nehmen ihre trotzige Arbeit in Angriff. Sie zerschlagen die Fliesen, zertrümmern die Wände, zerstören die Decken, reißen die Rohrleitungen und das Eisen heraus. Dann kommen die Bagger und mit ihnen die Kinder aus dem Kindergarten mit ihren Erzieherinnen, die offenen Mundes zusehen, wie die Scheren dieser riesigen Krabben vorsichtig ganze Fassadenstücke ergreifen. Die prähistorischen Monster aus einem Science-Fiction-Film legen das alte rebellische Haus nieder. Jeden Morgen um 8 Uhr 15 parkt ein grüner Landrover am Gehsteigrand. Vater, Mutter und zwei kleine Jungen kommen, um zu beobachten, wie die Arbeit vorangeht. Und jeden Morgen schreien die Kleinen, wenn ihre Eltern sie zwingen, in den Wagen zu steigen. Ich höre die sanfte Stimme der Mutter: «Aber ihr Süßen, wir kommen doch morgen wieder.» Am nächsten Morgen um Punkt 8 Uhr 15 drücken die beiden Jungs wieder die Gesichter ans Gitter. An der Brandmauer des Nachbarhauses der Nummer 4 kommt plötzlich ein mehrere Jahrzehnte altes Schild Bäckerei – Konditorei zum Vorschein. Auf die Bäume, die Balkone, die Autos in meiner Straße legt sich ein Staubfilm. Mein Nachbar, mit dem ich morgens oft die Fahrt im Aufzug zurücklege, fragt mich, was diese große weiße Wolke am Ende der Straße zu bedeuten habe. Er nimmt auf dem Weg zur Arbeit immer die Straße in der Gegenrichtung. Er war der einzige, der nichts mitbekommen hat.
Während der drei Wochen des Abrisses bildeten sich vor der Baustelle kleine schwatzende Grüppchen. Jeder hatte das Bedürfnis, seine Meinung kundzutun, seine Betroffenheit oder Besorgnis zum Ausdruck zu bringen. Verbindungen knüpften sich. Neue Sympathien entstanden. Gisa aus der Nummer 12 lud spontan zu einem Kaffee bei ihr ein. Monika schlug vor, die Fotos, die sie aufgenommen hat, zirkulieren zu lassen. Nie hat der «Pennerpark» einen solchen Andrang erlebt, und nie fühlte sich unsere Straße so sehr zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammengeschweißt. Die Passanten kommentierten den Abriss: «Wenn es wie beim Willy-Brandt-Flughafen zugeht, können Sie so bald nicht einziehen!», warf ein Zyniker den Arbeitern zu. «Wenn man bedenkt, wie lange man braucht, um so ein Gebäude zu bauen, und in ein paar Tagen liegt es in Trümmern. Eindrucksvoll! So stellt man sich Berlin nach dem Krieg vor!», wunderte sich ein Alter, der das eigenartige Gefühl eines Déjà-vu hatte. Die Nummer 4 glich auf den Fotos den Nachkriegsruinen. «Det sieht man nücht jeden Tag. Icke wollte och ein paar Fotos schießen.» Ein Fotograf stellte jeden Tag sein Stativ auf. Die Passanten verewigten den Moment mit ihrem Handy. Die Straßenkehrer gönnten sich eine vormittägliche Pause: «Sie kriejen een Eenfamilienhaus für den Preis! Aber bitte!»
Wer wird hier einziehen? Junge, gutverdienende Familien, die Bioläden, Sushi-Bars, Yogakurse und zweisprachige Kindergärten frequentieren. Jeder wirft wie bei einer Versteigerung einen Quadratmeterpreis in die Runde. 3000 Euro, schreit der eine. 4000, überbietet ihn der nächste. 5000! Unsere Straße wartete auf den Schlag mit dem Elfenbeinhammer des Auktionators.
Eines Tages sprach mich ein kleiner, in einen dicken Mantel gewickelter Pole an, der froh war, ein aufmerksames Ohr für die frohe Botschaft der Zeugen Jehovahs gefunden zu haben. Er schenkte mir ein Faltblatt auf Französisch: «Ist es das, was Gott für mich und die gesamte Menschheit vorgesehen hat?
Wo finde ich Hilfe, um meine Schwierigkeiten zu bewältigen?
Kann man hoffen, dass eines Tages der Friede herrscht auf Erden?»
Ich entdeckte in seinen Schriften ein paar Gebote, die das Gewissen etlicher Benutzer unseres «Pennerparks» aufrütteln könnten: «Weisen Sie zurück, was Jehova hasst: den Gebrauch von Tabak, Alkohol und selbst der sogenannten sanften Drogen.» Und wenn ein Passant turbulente Nächte vorhersah, weil unsere Straße dabei war, sich zum Epizentrum der Berliner Schwulenszene zu entwickeln, wurden die Sünden «der sexuellen Zügellosigkeit und die unzüchtigen Worte», die der kleine polnische Zeuge geißelt, plötzlich zu einer wahrhaft dantischen Bedrohung.
Ein einziger meiner Nachbarn, ein einflussreicher Mann, wagte es – eine Vertraulichkeit, die nur für mich allein bestimmt war –, sich zu freuen, dass das neue Gebäude endlich das Niveau unserer Straße heben würde. Er hatte vor, dem Bezirksamt einen Brief mit Vorschlägen zur Neugestaltung des Platzes zu schicken. Ein kleines Café neben dem Brunnen zum Beispiel … Und während er sich in Phantasien von Croissants und Milchkaffee nach seinem morgendlichen Jogging erging, beobachtete ich die schiefen Blicke der anderen, gab dem Ahnungslosen einen kleinen Klaps auf die Schulter und riet ihm, weniger laut zu sprechen, wenn er nicht gelyncht werden wolle.
Ich verbrachte Stunden damit, um den tief in meine Straße gerissenen Krater herumzustreifen. Bald war der ganze Platz von dicken rosaroten Röhren umrahmt. Plötzlich sah unser Schmuckplatz aus wie ein improvisiertes Centre Pompidou.
Wieder einmal ging eine Epoche zu Ende. Die Spuren des Krieges verschwanden. Hin und wieder überfiel mich eine dumpfe Traurigkeit. Ich dachte an jene, die weggezogen waren, an jene, die ans andere Ende der Welt geflüchtet waren, an all jene, die tot sind. Und ich fragte mich, ob ich wirklich das Recht hatte, mich dieser sanften Nostalgie zu überlassen und einem Gebäude nachzutrauern, das ich stets hässlich und unwürdig gefunden hatte. Ich verspürte eine Art Zärtlichkeit, eine absurde Anhänglichkeit für meine von der Geschichte gebeutelte Straße. Sie fand keinen Frieden. Wie würde sie in ein paar Jahrzehnten aussehen? Das Gerücht machte die Runde, den Häusern der 7A und der 7B stehe dasselbe Schicksal bevor. Die Vermesser haben bereits das Terrain abgesteckt, der Investor einen Bauantrag eingereicht.
In gewisser Weise schließt sich der Kreis. Meine Straße ist dabei, ihr ursprüngliches Standing wiederzuerlangen, als sie zu Beginn des Jahrhunderts noch eine exklusive Adresse war, in gehobener Wohnlage, wie die Makler heute sagen. Nach dem Mauerfall glaubte ich lange Zeit, sie würde nie der Normalisierung weichen. Ich sah sie als widerstandsfähig, die Stirn zeigend und die Faust hebend. Aber hatte ich dabei die Macht der Immobilienspekulation unterschätzt? Würde meine Straße nun kapitulieren? Was würde aus dem Mann im Unterhemd von zweifelhafter Sauberkeit werden, der den ganzen Winter über am Fenster steht, um die Baugrube auf dem Platz zu betrachten? Aus der ehemaligen Hauswartsfrau, die ihre Abende rauchend, den Oberkörper auf ein Kissen im Fenster ihrer Erdgeschossloge gelehnt, verbringt? Seit Jahrzehnten sieht sie dem Theater der Straße zu, sieht, wie sich neue Kulissen vorschieben, in unseren Häusern die Rollen umverteilen. Was wird aus den Pennern vom Park? Den Rentnerinnen aus einer anderen Zeit? Diese einfachen Leute, arm, aber sexy, machen sich in dem Katalog von House & Garden, an den uns die neuen Bauherren glauben lassen wollen, natürlich nicht sehr gut. Wird sich meine Straße herausputzen lassen? Vom hässlichen Entlein zum schönen Schwan werden? Statt kaputt zu sein, auf einmal schmuck werden? Statt rau pittoresk? Wird sie zu einer Szenestraße mit Möbel- und Trödelgeschäften, Musikclubs, Boutiquen, angesagten Kneipen?
Das zu glauben fällt mir schwer.