Endlich der Ruhm

Wer hätte gedacht, dass das Schicksal eines Tages einen Faden von der Straße meines Berliner Exils bis zu dem kleinen Chambre de bonne unter dem Dach spannen würde, in der ich als Jugendliche, ganz der kontemplativen Schwerelosigkeit hingegeben, stundenlang auf meinem Bett dieselbe Vinylscheibe anhörte? Das Cover, an das ich mich erinnere, auch wenn ich nicht mehr weiß, was aus der Platte geworden ist, zeigte einen Wassertropfen, der mitten in eine ölige blaue Pfütze fällt. Damals wusste ich nicht, dass die elektronischen Ströme, die über diesen Nachmittagen schwebten, bereits dabei waren, mich in Richtung der Straße meines Erwachsenenlebens zu lenken.

Kürzlich surfte ich einen ganzen Abend lang ziellos im Internet. Als ich – aus lauter Neugier – nach dem Namen meiner Straße googelte, stieß ich auf einen französischsprachigen Blog, in dem empfohlen wurde, «hierherzupilgern» auf den Spuren einer elektronischen Gruppe, die einige Jahre in einer ehemaligen Bäckerei in der Nummer 7B ihre Studios eingerichtet hatte. Dass, wie der Blogger informiert, «die ersten Strahlen der kosmischen Musik» diesem nichtssagenden Block entsprungen sein sollen, konnte nur eine Ente sein.

Doch als ich weitersurfte, entdeckte ich, dass es sich um Tangerine Dream handelte. Ich dachte immer, das sei, wie Pink Floyd, eine englische Band. Und hatte nie versucht, mehr über die Identität dieser fast reglos an ihre riesigen Synthesizer gehefteten Silhouetten zu erfahren. Zusammen mit Frédérik alias Reinhard Mey ist Tangerine Dream meines Wissens das einzige deutsche musikalische Exportprodukt, das damals in Frankreich populär war.

Tangerine Dream bewohnte gemeinsam mit Jacques Brel, Maurice Béjart, Boris Vian, Monty Python, Greta Garbo und John F. Kennedy den Olymp meiner Jugend. Eine bunte Mischung an Göttern, die, wie mir im Nachhinein bewusst wurde, ideologisch völlig inkompatibel sind. So viele Jahre später zu entdecken, dass einer von ihnen in meiner Straße gewohnt hat, kam einer Offenbarung gleich. Also begab ich mich auf die Suche nach ihm.

Auf YouTube fand ich ein Video. Die Kamera vollzog einen Schwenk von einer Minute und 25 Sekunden durch meine Straße im November 1974. Nebelgrau, stumm, düster, ihre schwarzen Fassaden, als wären sie aus einem Steinkohleblock gehauen. An den Mauern klebt noch die Tristesse der Nachkriegszeit. Sie gleicht Ostberlin vor dem Mauerfall. Ich stelle mir den Geruch ihrer Kohleöfen vor, das fahle Licht ihrer Laternen bei einbrechender Dunkelheit. Am Gehsteigrand stehen nur wenige Autos, die aussehen wie Sammlerstücke. Die Kastanienbäume sind noch nicht gepflanzt. Die Straße mündet in die große Durchfahrtsstraße. Der Sozialwohnungsblock, der heute den Weg zu ihr versperrt, fehlt.

«Tangerine Dream, zurzeit das Aushängeschild der deutschen Rockmusik im Ausland», sagt eine Off-Stimme. «Die Schallplatten vom Orangenen Traum verkaufen sich seit zwei Jahren nach Millionen. In England stieg die Werbung für die Berliner Gruppe mit dem Slogan Tangerine Dream regiert ein!»

Dann tritt eine Bruderschaft junger bärtiger Männer in Erscheinung, die Haare lang und glatt, leicht fettig und durch einen Mittelscheitel getrennt. Zwei symmetrische Vorhänge, die zu beiden Seiten eines bleichen Gesichts herabfallen. Sie sitzen im Halbkreis, den Rücken gekrümmt, die Augen auf den Boden geheftet, hinter einem dichten Nebel von Zigarettenqualm in ihre Sessel gefläzt. Auf einem niedrigen Tisch Bierflaschen, ein überquellender Aschenbecher. «Das ist unser Problem – wir möchten ehrlich bleiben», konstatiert einer von ihnen mit monotoner Stimme. Tugendhaft erhebt er sich gegen die Industrie des Showbusiness: «Es ist so verdammt leicht, auf den musikalischen Strich geschickt zu werden. Die ganze Musikbranche ist ja ein Zuhältergewerbe. Wenn du dich prostituieren lässt, okay, dann ist das dein Bier.»

Weit davon, Freude, Stolz oder gar einen Funken Begeisterung auszulösen, scheint dieser durchschlagende Erfolg die Gruppe in eine tiefe Gewissenskrise gestürzt zu haben. «Wir wollen kein Superstargehabe!», rechtfertigt sich der eine. «Wir probieren, die Spontaneität zu wahren!», schwört der andere. Ihre Anlage hat eine halbe Million gekostet? «Wir sind teuer, aber es hat seine Berechtigung! Das heißt noch lange nicht, dass wir unbedingt elitär und etwas ganz Besonderes sein wollen!» Der Eine, der besonders finster dreinblickt, murmelt vor sich hin: «Was willst du eigentlich?» Er ist offensichtlich ganz und gar beherrscht von dieser verkrampften Betrachtung der eigenen Psyche. Er versuche, «bewusst zu leben», sagt er. Und dass der Mensch auf der Suche nach seiner «Verwirklichung» sei. Da sind sie wieder, all diese Wörter, mit denen sich die Deutschen in den siebziger und achtziger Jahren quälten. Ich verstehe nicht viel von dem, was da gesprochen wird, ich verstehe nur, dass das Leben eine Anhäufung unlösbarer Probleme ist. Dieses unentwegte Sinnieren über das menschliche Schicksal scheint ihnen wahre Pein zu bereiten. Sie gleichen diesen deutschen Jugendlichen in meiner Heimatstadt, die auf ihren Schulausflügen in kleinen kompakten Gruppen den Vorplatz des Straßburger Münsters überschwemmten. Ernst, ungewaschen, protestlerisch und kein bisschen sexy.

Ich muss gestehen, dass ich nicht die Kraft hatte, mir das Video bis zum Schluss anzusehen. Dabei nahm ich mehrere Anläufe. Ich war so enttäuscht. Den Göttern meiner Jugend fehlt es an Pepp. Jeder Satz scheint einer geistigen Anstrengung abgerungen zu sein. Nie ein Lächeln. Keine Regung der Begeisterung in der Stimme. Ich habe Lust, sie zu schütteln. Ihnen zuzurufen: «Hallo, das Leben ist schön! Freut euch! Ihr seid Stars! Sämtliche Mädchen liegen euch zu Füßen!»

Nur die einzige Frau, jung, dunkelhaarig, hübsch, allein unter Männern, gestattet sich ein kleines Glucksen, das beinahe einem Lachen gleicht. Und schnell wieder erstickt wird. Tangerine Dream, bierernste Weltverbesserer? Ich muss zugeben, dass ich ein wenig bedaure, nicht die Monty Pythons als Nachbarn zu haben …

 

Aber Jugendträume sind nun mal unverwüstlich, und so versuchte ich an die E-Mail-Adresse von Edgar Froese, dem Gründer der Band, heranzukommen. Ich nahm mein Herz in beide Hände und schrieb ihm. Edgar Froese lebt zwischen L.A. und Wien. Er hat über 120 Alben produziert, mit Salvador Dalí und Andy Warhol verkehrt. Er hat 64 Soundtracks für Filme in den USA und Europa komponiert, darunter drei mit Tom Cruise in der Hauptrolle. Tangerine Dream war als Vorgruppe von Jimi Hendrix aufgetreten. Sie wurde sieben Mal für den Grammy nominiert, spielte im Tiergarten, im Warschauer Eisstadion, im Bois de Boulogne, im Palais du Sport in Paris und in der Royal Albert Hall in London. Tangerine Dream füllte in den Vereinigten Staaten regelmäßig die Säle und spielte 1980 als erste westliche Band im Ostberliner Palast der Republik … In den siebziger Jahren nahmen Edgar Froese und seine Musiker sogar an zwei volksversöhnenden Missionen teil. Sie gaben Konzerte in den Kathedralen von Reims und Coventry. Was einen alten Engländer, vermutlich ein Veteran der Royal Air Force, zu der Bemerkung veranlasste: «They came to bomb the place. Today they come with synthesizers.» (Früher kamen sie, um Bomben abzuwerfen, heute kommen sie mit Synthesizern.)

Edgar Froese weilte inzwischen in anderen kosmischen Gefilden. Hatte er überhaupt noch Lust, sich an diese kleine, belanglose Straße seiner Anfänge zurückzuerinnern? Er ließ mich nicht lange zappeln. Wenige Tage nach meiner E-Mail flimmerten tiefgründige soziologische Betrachtungen über meinen Bildschirm: «1970 im Haus 7B und 1976 im Haus 7 eingezogen zu sein, bedeutet umständehalber, äußerst detaillierte Kenntnisse über soziale und kulturelle Entwicklungen zu besitzen. Ob Sie Ihre Recherchen sowohl im Mikro- als auch im Makro-Lebensbereich anlegen werden, ist mir natürlich nicht bekannt. In jedem Fall dürften Sie sicher schon einiges über dieses ‹zentrale Auge› im Mittelpunkt des Schöneberger Bürgertums mit kreativen Schlagschatten gesammelt haben.»

Edgar Froese war bereit, mich zu treffen. Ich war im siebten Himmel, aber auch etwas eingeschüchtert. Ich versuchte mir unser «Wiedersehen» auszumalen: wie mein Herz aussetzt, wenn ich ihm die Hand reiche, unser Glas Wein beim Italiener am Ende der Straße, die gemeinsame Besichtigung der Nummer 7.

Er war 1976 in eine Altbauwohnung des angrenzenden Gebäudes, der Nummer 7, umgezogen und hatte sein «administratives wie studiotechnisches Hauptquartier» im Erdgeschoss eingerichtet, wo sich in den zwanziger und dreißiger Jahren eine Bar namens «Tam Tam» befunden hatte, in der, wie Edgar Froese erzählt, die damalige Berliner Künstlerelite ein und aus ging. Eine Adresse für jene, die um vier Uhr morgens noch mal absacken wollten.

Ich war in heller Aufregung. Zuvor aber musste Edgar Froese noch in New York einen Soundtrack aufnehmen. Das werde nur ein paar Wochen dauern. Danach würden wir uns sehen. Er quälte mich. «Wir werden uns treffen, wo?» Wir waren keinen Schritt weiter, kein Ort und kein Termin standen fest. Und er unterzeichnete mit 007***.

Doch ich warte. So schnell gibt ein treues Groupie nicht auf.

 

Ich wartete mehrere Monate. Weihnachten kam eine elektronische Glückwunschkarte: «Merry Xmas & Happy Holiday and a prosperous New Year! Warmest regards from Tangerine Dream.» Die Musiker von Tangerine Dream sangen mit bunten Perücken auf dem Kopf ein Hardrock-Weihnachtslied.

Das Warten ging weiter. Ich war bereit, ins nächste Flugzeug nach Wien oder New York zu steigen oder auch nur die paar Schritte zurückzulegen, die mich von der Nummer 7 trennten. Die Vorfreude wuchs. Bis zu dem Tag, als mir seine Frau mitteilte, dass Edgar Froese, seit ein paar Tagen zurück in Wien, auf der Straße seiner ganzen Länge nach hingefallen ist: «Kieferbruch. Große OP. Krankenhaus. Treffen leider erstmal verschoben.» Unser Gespräch würde nicht «Face-to-Face» möglich sein, schreibt sie. Es müsste per E-Mail stattfinden.

So kurz vor dem Ziel zu straucheln … Ich sah meinen Gott stumm und verunstaltet vor mir, einen großen Verband um den blauen geschwollenen Kiefer geknüpft. Ohnmächtig sah ich ihn abdriften, außer Reichweite entschwinden. Wenn ich an der Nummer 7 vorbeiging, wurde mir ganz traurig ums Herz.

Edgar Froese nannte dieses fast zeitgleiche Hin und Her der Mails, die wir nun wechseln sollten, «Binärcodieren». Ich schickte eine lange Liste mit Fragen. «Hat diese Straße in Ihrem Leben eine besondere Wichtigkeit gehabt?» Die Antwort überflutete einige Tage später meinen Bildschirm. Edgar Froese hatte mir zum Trost im Anhang ein Foto mitgeschickt: In einer Wiener Gasse zeigt ein Mann fortgeschrittenen Alters in weißer Mähne, aber in seinem schwarzen Hemd und der weißen Leinenhose noch super cool, seiner jungen Frau mit dem Finger etwas in der Ferne. «An Straßen hängt man nicht – man verlässt sie, kommt wieder zu ihnen zurück oder geht einfach, um nicht mehr wiederzukehren. Straßen können sehr schwach ausgeprägte Markierungspunkte im Leben eines Menschen sein oder starke Eindrücke, Erinnerungen, ja Narben in der Seele hinterlassen. Es muss gesagt werden, dass eine Straße immer eine kurvenreiche oder lange Gerade ist, in der es Hunderte von Lebensmittelpunkten gibt. Schönheit, Hässlichkeit, Tragik und Drama sind oft Wand an Wand gebaut. Straßen sind Reißbrettentwürfe einer Planungselite, belebt werden sie von Menschen mit völlig unterschiedlichen Lebensentwürfen und Bewusstseinszuständen. Straßen waren vor Zeiten einmal unbewohntes Ackerland und werden es in fernen Zeiten wieder sein. Alles ist zyklisch. In meiner Erinnerung kenne ich jeden Bordstein in der Straße, die über 30 Jahre lang mein Rückkehrpunkt war, und doch habe ich außerhalb dieser Wahrnehmung keine besondere Beziehungsfähigkeit.»

Aber dann wurde er auf einmal ganz konkret. Er war am 1. Juli 1970 in den zweiten Stock des Eckhauses 7B in die Zweieinhalbzimmerwohnung im Neubau seiner Schwiegereltern eingezogen. Seine Frau war schwanger. Er war hierhergekommen, um «rückwärts» zu leben: «Da ich selbst an der Peripherie Berlins, im Rudower ländlichen Bereich aufgewachsen bin, zog es mich weder nach Schöneberg noch in diese Straße. 1970, als mental-soziales Kind der 68er-Bewegung, war mir die meist von Beamten bewohnte Straße ein Gräuel. Alle Vorurteile über spießige und konservative Verhaltensstrukturen schienen dort geboren und über viele Jahre kultiviert worden zu sein.»

Und so zog er über meine Straße her, mokierte sich über ihren Mief, ihre Enge. Nein, hier war der Wind der großen weiten Welt nicht zu spüren. Nein, hier fanden Freaks, Wehrdienstverweigerer, Dekadente und Outcasts aller Art, ewige Studenten, Denker, Kiffer, Künstler, Revoluzzer, Frauen- und Linksbewegte, Schwule und Lesben, mit ihren spießigen, konservativen Familien in den westdeutschen Provinzstädten verkrachte Töchter und Söhne keinen Zufluchtsort, um eine fragile Freiheit auszuleben. Meine Straße war eine kleinbürgerliche Enklave in diesem schrillen Westberlin. Edgar Froese, ihr Paradiesvogel, machte mit einem Schlag alle meine Illusionen zunichte:

«Die Bewegung in den Jahren 1968/69 fand nicht in unserer Straße statt. Die hatte mit der dort lebenden Bevölkerungsstruktur keinen Anteil an der sich entwickelnden Bewusstseinsveränderung in Berlin und den Metropolen der Welt. Die Bewohner dieser Straße in den Siebzigern bestand aus beamteten Menschen, die mit einem Schrebergartengemüt von einer abgesicherten Zukunft träumten. Die Jungen, die dort aufwuchsen, warteten auf das Alter ihrer Unabhängigkeit und gingen.»

Meine Straße war in zwei Lager gespalten. Die Nummer 7 skandierte, allein gegen alle, Ho-Ho-Ho-Chi-Minh, überall sonst kämpften die Kleinbürger um die Respektierung der Hausordnung. Meine Straße ging völlig an den «Mai-Ereignissen» und später dem Deutschen Herbst vorbei, die das ganze Land in Atem hielten. Edgar Froese machte sich bei der erstbesten Gelegenheit auf und davon. «Als 1980 die ersten Filmmusikangebote aus den USA auf dem Tisch lagen, haben wir an fast allen Orten der Welt gearbeitet und gelebt. Einen Heimatverlust, nicht in Berlin zu sein, haben wir nie gespürt.» Er schrieb mir auch, er besitze «den geistigen Reisepass eines Weltbürgers».

Eines Sonntagabends erzählte ich Edgar Froese, nachdem ich den ganzen Nachmittag durch meine Straße geschlendert war, von meiner Entdeckung: das Spiegel-Labyrinth im Entree der Nummer 7. Wenn man sich genau in die Achse zwischen den zwei Spiegeln zu beiden Seiten der Wand stellt, multipliziert sich sein eigenes Bild so ins Unendliche, dass einem schwindelig wird. «Passt perfekt zu Ihrer Musik!», schrieb ich. Die Antwort kam am selben Abend. Ich spürte, dass Edgar Froese beim Aushecken seinen Spaß hatte. Mich traf beinahe der Schlag:

«Jener Spiegel ist nicht interessant, weil er da hängt, sondern weil David Bowie, Brian Eno, Iggy Pop, George Moorse, Friedrich Gulda und viele andere Zeitgenossen dort hineingeschaut haben, um festzustellen, dass der Zeitzahn wieder faltentief an ihnen gearbeitet hat. Dann stiegen diese Exemplare einer zeitlosen Epoche in die zweite Etage und bekamen von uns eine warme Mahlzeit. Gastfreundschaft unter Gleichgesinnten.»

David Bowie in der Nummer 7! Es verschlug mir den Atem. Meine Straße verwandelte sich vor meinen Augen in einen Treffpunkt von Weltstars und Punkrockern. Nach meinem bisherigen Wissensstand hatte in meiner Straße keine Berühmtheit ihr Domizil aufgeschlagen. Der Psychoanalytiker Wilhelm Reich mit seiner Orgasmusforschung und der Operettenkomponist Walter Kollo mit seinen Evergreens waren ihre einzigen namhaften Trophäen. Während der eine – an dem einen Ende der Straße – die Gipfel der Sinnenlust erkundete, komponierte der Zweite – an ihrem anderen Ende – die Hymne unseres Viertels: Es war in Schöneberg im Monat Mai. Dabei ist das Bayerische Viertel ein wahrer Tummelplatz von Koryphäen. Ich war stets etwas neidisch auf meine Nachbarstraßen. Ich bin außerdem sicher, dass sie auf meine Straße herabsehen. Sich über sie lustig machen: Bei mir hat Gottfried Benn gelebt! Bei mir Gisèle Freund! Billy Wilder! Erich Fromm! Alfred Kerr! Albert Einstein! Und all die anderen … Einzig meine Straße war unfähig, ihre Fassaden mit Ehrentafeln zum Gedächtnis großer Persönlichkeiten zu schmücken. Die Physiker und Nobelpreisträger, die Dichter, Filmregisseure und Schauspieler schienen sich untereinander abgesprochen zu haben, einen großen Bogen um meine Straße zu schlagen. Und da hat David Bowie in der Nummer 7 gewohnt! David Bowie war mein Nachbar!

 

Er kommt im Sommer 1976 nach Berlin, um die Stadt 1978 wieder zu verlassen. Er bleibt nicht sehr lange. Er will aus dem Rampenlicht. Weg vom Koks. Berlin ist seine letzte Chance. Zweifellos findet er in meiner Straße diese Sanatoriumsatmosphäre, nach der er sich offenbar so sehr sehnte. Diese «verstörende, brüchige Berliner Energie», von der Bowie später sprechen wird, hat sie allerdings nicht zu bieten. Er kommt oft hierher. Und zwei Wochen wohnt er sogar in der Nummer 7 bei Edgar Froese und dessen erster Frau.

Eines Morgens im Jahr 1976 erhalten die Froeses einen Anruf von Bowies Assistentin, die sie fragt, ob sie David Bowie helfen könnten, in Berlin eine Wohnung zu finden: «Die Stadt habe eine magische Anziehungskraft auf ihn gehabt, und er würde gern einige Zeit in Berlin leben. Als Bowie mit Entourage in Berlin eintraf, war seine neue Wohnung erst zur Hälfte renoviert, also boten wir ihm ein Zimmer in unserer Wohnung an, das er auch temporär nutzte. Obwohl wir alles versuchten, keine Informationen nach außen dringen zu lassen, standen schon nach drei Tagen die üblichen Figuren mit ihren Teleobjektiven hinter geparkten Autos. Einige besonders Dreiste zahlten Bewohnern in der Straße Honorare, damit sie durch die Gardine unseren Hauseingang tagsüber beobachten konnten. Es blieb also keine andere Wahl, als mit Strickmütze und Schal nach Einbruch der Dunkelheit das Haus zu verlassen, um wenigstens Restaurants besuchen zu können oder andere Meetings wahrzunehmen. Nach weiteren zwei Wochen war seine Wohnung in der Hauptstraße 155 fertig renoviert, und alle zogen dort ein (unter anderem auch Iggy Pop). Immerhin dauerte Bowies Aufenthalt in Berlin fast zweieinhalb Jahre – eine erlebnisreiche Zeit mit vielen interessanten und inspirierenden Gesprächen auf beiden Seiten. Ich widme David ein ganzes Kapitel in meiner kommenden Autobiographie.»

Und damit war der Hahn der Vertraulichkeiten wieder zugedreht.

 

Meine Straße hat David Bowie, wenn ich das so sagen darf, das Leben gerettet. Vielleicht sollten wir daran denken, über der Eingangstür der Nummer 7 eine Gedenktafel anzubringen? Die Erinnerung an diese kurze Symbiose, die eine bescheidene Berliner Straße und eine der größten Rocklegenden miteinander eingegangenen sind, in Marmor eingravieren. Dieser Fetischismus, der darin besteht, auf der Vorderfront der Häuser den Namen seiner illustren Bewohner festzuhalten, ist noch absurder, wenn die Berühmtheiten, wie David Bowie, manchmal nur wenige Tage zwischen diesen ehrwürdigen Mauern verbracht haben.

Und doch hat er hier in der Nummer 7 wirklich geschlafen, hat er hier wirklich sein Glas Milch getrunken, seine Paprika gegessen, seine Gitanes geraucht, zwei Schritte von Christopher Isherwoods Haus seine Sehnsucht nach dem Berlin der Weimarer Republik ausgelebt, wie ein Hund unter der Todeserfahrung durch seinen Entzug gelitten und, wollen wir doch hoffen, ein paar Songs seiner Berliner Trilogie geschrieben. Seine Füße haben die Gehsteigplatten gestreift, die Treppenstufen. Seine Hand ist über das Geländer geglitten und ja, sein androgynes Gesicht reflektierte sich in den beiden zylindrischen Spiegeln im Entré bis ins Unendliche.

Warum nur fühlen wir uns durch die Nähe zu den Größen so sehr geehrt? Warum sind wir, die heutigen Mieter, so geschmeichelt durch die geisterhafte Anwesenheit unserer Vorgänger? Die Nummer 7 findet sich – der abblätternden Farbe der Fassade, den übelriechenden Mülleimern im Hinterhof und den Stromkabeln, die im Treppenhaus an den Wänden hängen, zum Trotz – geadelt. Und wir, das Fußvolk der Straße, sind aufgewertet. Und so stolz! Zwischen Bowie und uns – eine Seelenverwandtschaft.

Aber ein wenig traurig ist es schon, dass es weder Tangerine Dream noch David Bowie eingefallen ist, diese Straße ihrer Jugend, die ihnen so viel gegeben hat, mit einer Hommage zu ehren. Man stelle sich eine Hymne an unsere Straße vor … Penny Lane hat eine bekommen, der Broadway und die Champs-Élysées selbstredend, ganz zu schweigen von der Rue Pigalle, der Rue des Blancs Manteaux, Unter den Linden, Telegraph Road und noch so viele andere. Über hundert Songs gibt es, die mit ihrem Titel auf eine Straße, eine Avenue, einen Boulevard oder eine Lane anspielen. Nur unsere fehlt. Ich finde unsere Musiker wirklich undankbar.

 

Edgar Froese und David Bowie, merkte ich nach und nach, sind nicht die einzigen Berühmtheiten, die in meiner Straße für etwas Glamour gesorgt haben. Eine Stufe darunter, aber immerhin: Der Schauspieler Otto Sander und Romy Haag, die Geliebte und transsexuelle Muse von David Bowie, drehten 1979 in der Nummer 12 Plastikfieber, einen kleinen skurrilen Szenefilm, wohlgemerkt den ersten Videofilm auf deutschen Bildschirmen. Helmut Wietz, damals Nachwuchsregisseur, heute «Fossil aus dem TV-Geschäft», wie er sich selbst beschreibt, eröffnete mit unserer Straße die Reihe eines revolutionären TV-Programms. Plastikfieber erzählt den Aufstieg der Hauswartsfrau Clarissa (Romy Haag), Erbin eines Schrottplatzes, zum Fernsehstar. Otto Sander spielt Wilfried, Besitzer einer Imbissbude und ehemaliger Student der Bildhauerei, der seine Würstchen und Hähnchen mit Hormonen anreichert und als Schönmacher verkauft. Aus Clarissa will er die «Nachschöpfung der Venus von Milo» machen. Als Clarissa zu Beginn des Films in rosa Pantoffeln und mit Lockenwicklern auf dem Kopf die Tüllgardine ihrer Loge zurückschiebt, ist unsere Straße gut zu erkennen.

Und das ist noch nicht alles! Otto – der Film wurde vor der Apotheke in der Nummer 26 gedreht. Während der Dreharbeiten zog sich Otto Waalkes tagsüber in die Loge der Hauswartsfrau zurück. «Bei uns in der Küche hat er gesessen», sagt sie, als wäre er ihr erst gestern erschienen. «Hier wurde er geschminkt, und er hat meinen Kaffee getrunken.»

An der Fassade entlang wurden große Holztische aufgestellt. Da saß Otto und aß unter den faszinierten Augen der Kinder aus dem Viertel, die sich ans Vorgartenmäuerchen scharten, Erbsensuppe. Vor der Tür wurde eine Bushaltestelle errichtet, und meine Nachbarn wurden als Statisten engagiert. Da es sich um keine direkte Durchgangsstraße handelte, war der Verkehr hier sehr dünn, wie sich Edgar Froese erinnert: «Aufgrund der ruhigen Lage und neutralen Kulisse drehte man dort mindestens fünf bis sechs Mal im Jahr Filme oder TV-Serien, in denen Apotheken oder Apothekeneinbrüche eine Rolle spielten. ‹Oft haben wir mit den Gagen als Kulisse in einer Nacht mehr verdient als mit unserem Wochenumsatz›, wusste eine auch sonst sehr redselige Angestellte zu berichten.»

Die Hauswartsfrau lässt sich nicht lange bitten, das kleine Album mit den Erinnerungsfotos und dem hellblauen Plastikdeckel hervorzuholen. Man sieht darin Otto, mit Hut, langen dünnen gelben Haaren und hochgekrempelten Jeans, der die Hauswartsfrau, im blauen Kittel und mit Dauerwelle, um die Schultern fasst. Sie strahlt: «Ganz nett und freundlich war er.» Etwas später kam der Film im Fernsehen. Aber er war so geschnitten worden, dass unsere Straße nur einige winzige Minuten lang auftaucht.

 

Da ist eine doch beachtliche Schar von Berühmtheiten zusammengekommen, dachte ich: Edgar Froese, David Bowie, Iggy Pop, Romy Haag, Otto Sander, Otto Waalkes, Walter Kollo und Wilhelm Reich … Und dazu Lilli Ernsthaft, John Ron, Miriam Blumenreich, Liselotte Bickenbach, Ursula Krüger … und wir alle, die heutigen Bewohner, «all diese durch Zufall zusammengewürfelten Menschen», schrieb ich Edgar Froese, «die irgendwie, auch wenn es absurd klingt, doch alle zusammenpassen. Und jetzt bin ich ganz gerührt.»

Edgar Froese hatte die Erklärung für dieses unsichtbare Band parat, das uns alle miteinander zu verknüpfen scheint. «Es gibt keinen Zufall», sagte er. Er verwarf die Chaostheorie und die simple Evolutionstheorie von Darwin gleich mit: «Wenn Sie den Klebstoff für das suchen, das mit diesem Thema zusammenhängt, lesen Sie bitte alles über morphogenetische Felder – mal mit Wiki anfangen und sich dann weiter vorarbeiten. Unsere Straße hat ein solches Feld in bestimmter Qualität.»

Also machte ich mich auf, den morphogenetischen Weg durch meine Straße zu finden. Ich erfuhr, dass es einen Mechanismus gibt, der bewirkt, dass eine menschliche Gruppe, die sich bestimmte psychologische oder organische Verhaltenseigenschaften angeeignet hat, diese synchron, wie durch Telepathie, auf andere Mitglieder derselben Art überträgt. Dass die morphogenetischen Resonanzfelder nicht nur deren genetisch-biologische Pläne enthalten, sondern auch ihre psychische Natur. Unsere Gedanken, unsere Empfindungen, unsere Gefühle sind kollektiv beeinflusst. Der britische Biologe Rupert Sheldrake, Erforscher der Theorie der morphogenetischen Felder, berichtete von einer empirischen Beobachtung, die er an Tiergruppen derselben Art gemacht hat, vergleichbar mit uns Bewohnern der Straße: Die Affen auf einer japanischen Insel haben plötzlich völlig überraschend angefangen, die Süßkartoffeln vor dem Essen zu waschen, wie es die Affen auf einer anderen Insel taten, mit denen sie jedoch keinerlei physischen Kontakt hatten. Dies bewies, so Sheldrake, dass sich die Synchronizität von Verhalten auch innerhalb in sich geschlossener menschlicher Gruppen mit denselben Affinitäten einstellt.

Genau wie zwischen David Bowie, John Ron und mir.