Frau Soller zieht aus

So stelle ich mir den surrealen Zusammenprall vor, der Ende der siebziger Jahre, davon bin ich fest überzeugt, auf dem Gehsteig meiner Straße stattgefunden hat: Am frühen Abend verlässt Frau Soller ihr Haus, überquert die Straße, um auf dem anderen Gehsteig die U-Bahn-Station zu erreichen. Auf der Höhe der Nummer 7 kollidiert sie um ein Haar mit David Bowie, der gerade das Haus betreten will. Ihre Schultern streifen sich. Er geht einen Schritt zur Seite, murmelt «Sorry», vielleicht sogar «’tschuldigung». Er beugt den Oberkörper vor und gibt Frau Soller mit einer ausholenden Handbewegung den Weg frei. Sie blickt diesen spindeldürren Zwitter – schwarzer Ledermantel, Borsalino –, der aus der Dämmerung herausgeschossen kam, für den Bruchteil einer Sekunde an. Sie erkennt ihn nicht. Beide setzen ihren Weg fort.

 

Bärbel Soller und David Bowie? Eine kaufmännische Angestellte der Abteilung Damenoberbekleidung (kurz DOB) im KaDeWe und ein Rockstar? Jedenfalls zwei Schicksale, die sich eigentlich nie hätten kreuzen sollen. Doch das Wahrscheinlichkeitsgesetz pfeift auf die Kompatibilität von Milieus. Es ist die Magie der Nachbarschaften, die solch flüchtige Begegnungen zweier Menschen, die nichts miteinander verbindet, zuwege bringt. Das einzige Gras, das Frau Soller je in der Hand gehalten hat, ist das Unkraut aus den Petunienkästen auf ihrem Balkon. Und bei nervösen Unruhezuständen zieht Frau Soller die Passionsblumenkrauttabletten dem Kokain bei weitem vor, mit Sicherheit aber Rex Gildo dem Thin White Duke.

 

Vor zwei Jahren ist Frau Soller aus der Wohnung im ersten Stock meines Hauses ausgezogen, in der sie seit jeher gelebt hat. So zumindest kam es mir vor, waren doch das Rascheln der Kreppsohlen auf dem Linoleum – dem alten Marmor in der Eingangshalle nachempfunden –, ihr schallendes «Guten Morgen!», der Fußabtreter «Willkommen» vor der Tür, der Geruch ihrer drei Katzen im Treppenhaus und ihr an die Regenrinne angeschlossenes Fahrrad nicht aus dem Haus wegzudenken. Bei ihrem Auszug hat sie eine Leere hinterlassen, die unsere kleine Gemeinschaft, plötzlich um eines ihrer Hauptglieder amputiert, schlecht zu füllen imstande ist. Ich muss mich zusammenreißen, um in den neuen Besitzern im ersten Stock, die abgesehen davon äußerst nette Menschen sind, nicht unverschämte Eindringlinge zu sehen. Manchmal schrecke ich zusammen, wenn sich bei meinem Vorbeigehen ihre Tür öffnet. Und den Blick auf eine pastellfarbene, helle und ganz neue Wohnung freigibt. Da ist nicht mehr dieser dunkle, braun tapezierte Flur, da sind nicht mehr die Katzen, die einen empfingen, wenn man bei Frau Soller klingelte.

Frau Soller kehrt regelmäßig zu einem Besuch zurück. Dann stellt sie ihr Fahrrad, als wäre alles beim Alten, an seinem gewohnten Platz ab, drückt zweimal fröhlich auf die Hupe, betritt dank des Schlüssels an dem orangefarbenen Band, den sie behalten hat, den Fahrstuhl und klappert nacheinander sämtliche Stockwerke ab. Als Erstes klingelt sie zweimal bei der ehemaligen Hauswartsfrau im Erdgeschoss. «Brigitte» kennt den Lockruf. Zweimal: Das ist Bärbel! Die beiden Frauen tauschen ihre alten Ausgaben der Freizeit Revue und Funkuhr und halten in der verrauchten Stube ein Schwätzchen. Dann steigt Frau Soller ein Stockwerk nach dem andern hinauf. Sie hängt ein Plastiktütchen mit hausgemachter Marmelade (Holunderblüten- oder Blutorangengelee, je nach Jahreszeit) an die Türklinke im zweiten, verweilt ein bisschen auf dem Treppenabsatz des dritten, wo sie sich zu den Themen Krankheiten und Kinder auf den neuesten Stand bringt, und kommt mit einem Käffchen bei der Gattin des Steuerberaters, Dachgeschoss links, zum Abschluss. Die gegenseitige Sympathie stammt aus der Zeit, als die Gattin des Steuerberaters sich bei einem Sturz vom Fahrrad den Fuß brach und wochenlang reglos im Sessel sitzen musste. Frau Soller anerbot sich, für sie einzukaufen. Seit sie voneinander getrennt sind, vergessen die beiden Frauen nie, sich gegenseitig zum Geburtstag zu gratulieren. Eine Karte, ein Blumenstrauß und sogar ein frischer, selbstgebackener Kuchen.

Manchmal dehnt Frau Soller ihren Besuch so lange aus, dass sie abends auf der Treppe den redefreudigen Friseur trifft, der auf dem Weg nach oben ist, ins Dachgeschoss rechts. «Ach, liebste Frau Soller! Sie! Hier! Heute! Was für eine nette Überraschung!» Die beiden umarmen sich auf den Stufen, und ich höre ihr dröhnendes Gelächter. Frau Soller ist in seinem äußerst schicken, in einer Seitenstraße zum Ku’damm gelegenen Salon eine bevorzugte Kundin. Als Dank, dass sie während zahlreicher Sommer die dreißig Bonsais auf seiner Terrasse mit klarem Wasser und zärtlichen Worten versorgt hat, offeriert ihr der Friseur lebenslang Haarschnitt, Strähnen und einen großen Cappuccino. Sie braucht nur anzurufen und in seinem Salon einen Termin zu vereinbaren, um, wie die Homepage verspricht, eine Frisur zu bekommen, die in vollendeter Harmonie mit ihrer Persönlichkeit steht. Frau Soller fällt es gar nicht leicht, diese berührende nachbarschaftliche Geste zu akzeptieren. Sie verpasst es nie, für die Angestellten einen Streuselkuchen mit Äpfeln aus ihrem Schrebergarten unterhalb des Insulaners und Marmelade für den Friseur mitzubringen, diesen «Süßschnabel, der morgens nicht auf seine Marmelade verzichten kann».

 

Frau Soller war unsere gute Fee. Sie sah, seit sie 1973 ins Haus eingezogen ist, sämtliche Mieter kommen und gehen und später, als Anfang der neunziger Jahre ein Teil der Wohnungen verkauft wurde, die neuen Eigentümer aufkreuzen. Die Mauer war gefallen, Deutschland war vereint, und Berlin befand sich auf dem Weg der Normalisierung, entwickelte sich zu einem sicheren Standort, um in Stein zu investieren. Es war vorbei mit dieser Insel und ihrer ungewissen Zukunft, eingezäunt und subventioniert, für die «Marktgesetz» ein Fremdwort war. Jetzt werden, so hoffte man, die Immobilienpreise endlich steigen. Die Zuzügler aus «West-Deutschland», wie die Leute meiner Straße die Deutschen vom «Festland» München oder Frankfurt und die Regierungsbeamten aus Bonn nannten, wollten ihr Geld in die noch immer billigen Immobilien der neuen Hauptstadt, der baldigen Metropole anlegen, die es nun mit London, Paris und New York aufnehmen kann. Auch wenn der Immobilienboom ein wenig auf sich warten lässt, beginnt sich doch die soziale Zusammensetzung mancher Häuser in meiner Straße zu diesem Zeitpunkt wieder einmal aufzumischen. Mieter mit bescheidenem Einkommen, oft Rentner oder alleinerziehende Mütter, werden nach und nach durch besser gestellte Eigentümer verdrängt, die stärker von ihren beruflichen Beschäftigungen, ihren sozialen Verpflichtungen, ihren Kindern, ihren Freunden, ihren Geschäfts- und Vergnügungsreisen in Anspruch genommen sind und vielleicht weniger erpicht darauf, Bindungen mit den Flurnachbarn anzuknüpfen.

Wenn einer von uns in den Ferien war, goss Frau Soller, die die Schlüssel sämtlicher Hausbewohner besaß, die Pflanzen, leerte die Briefkästen, fütterte die Katzen, Kanarienvögel, Goldfische und Wüstenmäuse. Als Frankie, die Wüstenmaus der Kinder vom Dritten, die Leiche seines jahrelangen Käfiggefährten Johnnie auffraß, weinte Frau Soller aufrichtige Tränen. Zu ihrer großen Erleichterung hat dieser grässliche kannibalische Akt nicht in den Ferien stattgefunden, als die beiden Tierchen ihrer Obhut anvertraut waren. Von ihrem Balkon herab überwachte sie die Fahrräder, Autos und das Treiben auf dem Gehsteig. Manchmal, wenn man abends nach Hause kam, lächelte sie einem hinter ihren Blumenkästen zu, und dann fühlte man sich von einem sanften Kokon eingehüllt. Ja, Frau Soller war da, man war angekommen, und die Welt war in Ordnung.

Frau Soller war immer da. Treu auf ihrem Posten. Auf sie war Verlass. Sie fuhr nie in Urlaub. Einmal jährlich eine Dampferfahrt auf der Havel mit ihren ehemaligen Kolleginnen vom KaDeWe und gelegentlich eine Tagestour mit dem Bus in den Spreewald. Sie hatte sich so lange um alle gekümmert, dass sich Frau Soller schließlich ein wenig verantwortlich fühlte für das allgemeine Wohlergehen. «Ich bin nun mal, wie ich bin. Wenn man sich nicht mal mehr unter Nachbarn behilflich sein kann …», verkündete sie, wenn man sie rügte, weil sie an einem Sonntagmorgen schon wieder die Zeitung und den noch warmen Kuchen in einer Tupperware vor die Tür gelegt hatte. Sandkuchen, Schneeflöckchen, Weihnachtsplätzchen, «alles selbstgemacht!». Frau Soller war in aller Frühe aufgestanden, um zu backen. Sie wagte nicht zu klingeln. Sie wollte auf keinen Fall stören. Bloß eine kleine Freude bereiten.

Seit Frau Soller nicht mehr da ist, ist in meiner Straße nicht mehr wirklich Weihnachten. An den Fenstern der neuen Nachbarn kleben Filz- und Strohsterne von untadeligem Geschmack, die wahrscheinlich direkt aus dem Katalog von Manufactum stammen. Nein, das ist nicht mehr dasselbe. Jedes Jahr am 1. Dezember, einen Monat nach Allerheiligen, fing bei einbrechender Dunkelheit über dem Minikühlschrank auf ihrem Balkon eine Girlande vergnügter Plastikweihnachtsmänner mit Glühbirnchen im Bauch zu blinken an. An. Aus. An. Aus. Times Square im ersten Stock über dem Fahrradabstellplatz. Als Frau Soller noch arbeitete, rief sie um vier Uhr, wenn sie Feierabend hatte, aus dem KaDeWe ihren Mann an: «Mach bitte die Leuchter an, bin gleich da!» Kurt Soller gehorchte. Er setzte auf dem Balkon die Lichterkette und den Stern in Betrieb, der zwischen den Tannen und Stechpalmen am Ende eines Stiels steckte, und nacheinander die neun Pyramiden, in jedem Fenster eine. Und wenn Frau Soller um die Straßenecke bog, sah sie ihre Wohnung schon von weitem funkeln wie den Stern der Hirten über dem Himmel von Bethlehem.

Es wird erzählt, dass Frau Soller, die Mieterin war, den Kreis der Eigentümer mehrmals um die Erlaubnis bat, im Advent die Eingangshalle des Hauses schmücken zu dürfen. Sie fand die tabakfarbenen Marmorwände so streng. Kein einziger Stern oder Engel. Frau Soller konnte es sich nicht verkneifen, ihr Gesicht an die Glastür eines Nachbarhauses zu pressen. Mit einer Prise Neid und leichter Wehmut betrachtete sie den prachtvollen Weihnachtsbaum, den die Hausgemeinschaft wie jedes Jahr im weißmarmornen Entré aufgestellt hatte. Die Nachbarn taten sich zusammen. Einer ging den Baum kaufen. Dann wurde er zu dritt oder viert geschmückt. Frau Soller argwöhnte gar, dass sich an jenem Abend das ganze Haus bei einem von ihnen zu einem Glas Glühwein zusammenfand, um auf die Gemeinschaft ihrer so zusammengeschweißten Runde anzustoßen. Dieser große Gemeinsinn vor den Feiertagen löste ihre rückhaltlose Bewunderung aus. Ich habe ihr noch nicht zu erzählen gewagt, dass die Strohsterne unserer musterhaften Nachbarn letztes Jahr gestohlen wurden.

Und in ihrem eigenen Haus keine Spur davon. Da halfen sämtliche Rezepte für eine gute Nachbarschaft nichts, die Frau Soller so großzügig verteilte: «Lieber zweimal Guten Tag sagen, wenn man jemanden im Treppenhaus trifft. Um sicher zu sein, dass es auch ankommt. Wie man in den Wald reinschallt, so schallt es wieder raus. Wenn der eine freundlich ist, ist der andere es auch.» Keiner von uns kam auf die Idee, vor Weihnachten eine Runde Sekt zu spendieren. Ich weiß sehr wohl, dass unser Jeder-für-sich sie traurig machte. Frau Soller hat im Übrigen stets abgestritten, dass sie es war, die vor vier oder fünf Jahren die beiden kleinen Weihnachtsmänner von niederschmetterndem Kitsch auf den schwarzen Marmorkamin in der Eingangshalle gestellt hatte. Wenn die Fliesen unter den Schritten vibrierten, wiegten sie mit dümmlichem Lächeln und grünen Augen den Kopf hin und her. Dieser so harmlose Verstoß gegen die Hausordnung löste eine lebhafte Polemik aus. Den ganzen Advent lang wurden im Treppenhaus Verdächtigungen ausgetauscht. Einigen platzte schier der Kragen. Wer konnte es wagen! Es wurde sogar eine – erfolglose – Untersuchung eingeleitet, die eines Tatort-Kommissars würdig gewesen wäre. Die Weihnachtsmänner überlebten jedenfalls nicht länger als zwei Tage. Am dritten Morgen waren sie weg. Und niemand hat je erfahren, wer sie da hingestellt hatte noch was aus ihnen geworden ist. An der Wand über dem Kamin gibt es nur noch die beiden mythologischen Bronzefiguren, die sich traurig umarmen. Vielleicht um sie zu trösten, erlaubte der Friseur Frau Soller und ihrem Mann seither zu Silvester, das Feuerwerk über Berlin von seiner Dachterrasse aus zu sehen. In jener Nacht geriet Frau Soller vor dem riesigen Weihnachtsbaum des Friseurs in Ekstase: «Von unten bis zur Decke und sooo schön geschmückt. Herrlich!»

 

Seit einigen Jahren steigen die Immobilienpreise in Berlin. Die alten Bewohner, die weiterhin geringfügige Mieten bezahlen, stehen der Spekulation im Weg. Die Eigentümergesellschaft des Hauses will verkaufen. Also hat sie Frau Soller und ihrem Mann angeboten, ihre alte Wohnung gegen ein nigelnagelneues EG-Zweizimmerapartment in einem anderen Viertel zu tauschen. «Es war unsere letzte Chance», rechtfertigt sich Frau Soller. Und wenn sie sich damit brüstet, nur zwei Straßen von Daniel Barenboim entfernt zu wohnen, dann ganz bestimmt, um sich selbst zu beweisen, dass sie keinen schlechten Tausch gemacht hat.

Eigenartigerweise entfaltete unser kleiner Zirkel erst wenige Wochen vor Frau Sollers Auszug einen Ansatz von Gemeinschaftssinn. Die Fassade unseres Gebäudes war frisch gestrichen worden, und eben hatte man die Gerüste und Planen, hinter denen wir einen ganzen Sommer lang erstickten, entfernt. Wir atmeten auf. Die Eigentümerversammlung befand, das müsse gefeiert werden. Also traf man sich zum ersten Mal in einem Saal beim Italiener der Straße, das Schild «Geschlossene Gesellschaft» an der Tür. Frau Soller, an einem großen Tisch, war im siebten Himmel. Sie betrachtete uns gerührt wie eine Henne, die es endlich geschafft hat, sämtliche Küken unter ihren Fittichen zu versammeln. Alle waren gekommen: die Seherin aus dem Dritten, die, wie mir einige unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatten, in ihrer Eigenschaft als Lebensberaterin bereits mehrmals von Hausbewohnern konsultiert wurde, um Eheprobleme, Depressionen und weitere seelische Verstimmtheiten zu bewältigen. Ihr Mann war «Reisender» im Ruhestand. Diese poetische Beschreibung, die ich im Telefonbuch der sechziger Jahre gefunden habe, meint nicht etwa einen Flaneur mit Spazierstock, der die Wege der Welt abschreitet, sondern den Chefvertreter einer illustren Firma amerikanischer Kosmetikprodukte, «an der Spitze von zwölf Assistentinnen, eine hübscher als die andere», wie seine Frau nie zu betonen vergaß. Auch der pensionierte Fußballtrainer aus dem Vierten war mit von der Partie, den man jeden Morgen, sommers wie winters, im Trainingsanzug und mit Wollmütze antrifft, wenn er, die blauen Augen blutunterlaufen, das rote Gesicht voller Schweißperlen, mit einer Tüte Schrippen in der Hand von seinem Jogging im «Pennerpark» zurückkehrt. Er schiebt für die Jungs aus dem Haus, die ihn vergöttern, jede Woche einen Stapel Kicker in den Briefkasten. Seine Frau, mit ihren indischen Tuniken und den langen bunten Seidenschals der letzte Hippie der Straße, kehrt, wenn ich sie auf dem Fahrradparkplatz treffe, stets von einer langen spirituellen Reise in Gebiete auf dem Globus zurück, deren Karma dem unserer so materialistischen Straße unendlich überlegen ist. Sie bricht am frühen Morgen auf, vor ihrem Mann und vor allem vor den Jungs unserer Straße, um auf dem Bolzplatz im «Pennerpark» ihre langsam kreisenden Tai-Chi-Bewegungen auszuführen, die sie «so wunderbar erden», wie sie lobt. Des Weiteren ein Professor und Diplomat, der sich großer Achtung erfreut, weil er sich in den hohen Staatssphären bewegt und jeden Morgen von einem Dienst-Mercedes mit Fahrer vor dem Haus erwartet wird. Und eine ganze Schar Neuer, die sich nacheinander vorstellen. An einem Extratisch nah am Buffet die Kinder. Nur Jungen.

Die Harmonie dieses gelungenen Abends wäre beinahe durch eine kleine Rivalität getrübt worden: Wer hat am längsten in unserem Haus gewohnt? Die unangefochtenen Sieger waren der Reisende und die Seherin, die 1960 angekommen sind, gefolgt von Frau Soller, 1973, ihr dicht auf den Fersen die ehemalige Hauswartsfrau, die nur wenige Wochen nach ihr eintrudelte. Danach brüstete sich jeder mit den historischen Ereignissen, denen er in Berlin persönlich beigewohnt hat: Blockade, Luftbrücke, Einweihung der Philharmonie, Volksaufstand vom 17. Juni in der DDR, Bau der Mauer, Schikanen an den Grenzposten und vor allem mit dem Ereignis, zu dem alle ihren Part beizutragen hatten: dem spektakulären Fall der Mauer in der Nacht vom 9. November 1989, in der sich ein paar knatternde Trabants bis in unsere Straße verirrten …

Erst sehr viel später vertraute Frau Soller mir an, dass sie auch dabei gewesen war, als sich Kennedy 1963 unter dem Balkon des Rathauses Schöneberg als Berliner outete. Die Firma hatte sie zum Winken freigestellt. Ganz klein in der riesigen Menschenmenge verguckte sich Bärbel Soller in diesen so smarten und so easygoing Mister President. Und nur wenige Monate später, im November, klopfte sie mitten in der Nacht an die Tür ihrer Zimmerwirtin: Kennedy war ermordet worden. Frau Soller und ich teilen bis heute eine naive Liebe zu John F. Kennedy.

Der Reisende hielt als selbsternannter Conférencier unserer Tafelrunde eine schöne Rede. Wir applaudierten aus Leibeskräften, hoben unsere Gläser auf die Gesundheit unseres Hauses, wünschten unserer Straße ein langes Leben. Der Friseur ist der Extrovertierteste von uns allen. Vor dem Nachtisch erhob er sich und schlug der versammelten Gesellschaft den kollektiven Übergang zum «Du» vor. «Was unsere Schicksalsgemeinschaft noch mehr zusammenschmieden wird», erklärt er gerührt, den Tränen nahe. Unnötig hinzuzufügen, dass seine Initiative auf unterschiedliches Echo stieß. Manche versteiften sich auf ihren Stühlen. Andere taten so, als hätten sie nichts gehört, und stocherten auf ihren Tellern herum. Einzig ein kleiner, bereits beschwipster Kreis setzte mit Leichtigkeit über diese Grenze zur Intimität. Man ging sehr spät auseinander. Man versprach sich, das Ganze bald zu wiederholen. Spätestens Weihnachten.

 

Der Auszug von Frau Soller steht unmittelbar bevor. Seit vielen Wochen räumt sie auf, sortiert, leert ihre «verwohnte» Wohnung. Dieses schöne, ins Französische unübersetzbare Adjektiv beschreibt den Zustand der Erschöpfung einer Wohnung, die seit 38 Jahren von denselben Personen bewohnt wurde, sehr treffend: müde, ein bisschen außer Atem wie am Ende eines langen Lebens. Frau Soller verschenkt ihre Vorhänge und Bücher. Die Diakonie holt ein paar Möbel ab. «Ach, Frau Soller, alles bleibt an dir hängen!», murrt sie mit sich selbst. Ihr Mann ist viel zu krank, um ihr tatkräftig zur Seite zu stehen. Zwischen zwei Kartons gönnt sie sich eine kleine Pause und kommt zu mir hoch, um mir bei einem Kaffee ihr Leben zu erzählen.

Frau Soller ist eine wahre Schöneberger Pflanze, die sozusagen meiner Straße entsprossen ist. 1940 in der Entbindungsstation des kleinen Kinderkrankenhauses gleich um die Ecke geboren und im Mai desselben Jahres in der Kirche am Ende unserer Straße getauft, lebte sie mit ihren Eltern und vier Geschwistern in einer Nebenstraße, «da wo jetzt Getränke Hoffmann steht. Das Haus ist neu.» Und sie erinnert sich, als wäre es gestern gewesen, an den Tag, an dem sie in unserer Straße ankam. Es war im Dezember 1972. In Berlin tobte ein wahnsinniger Sturm. Es wurde eine Warnung herausgegeben: Man sollte das Haus nicht verlassen. An diesem Tag rief die Eigentümerin unseres Gebäudes, eine Bekannte der Sollers, bei ihr an: «Ich habe eine Wohnung für Sie!» Der Mann im ersten Stock war gestorben. «Es kam auf uns zu, und wir haben zugegriffen. Es gab damals große Wohnungsnot in Berlin.»

Die Sollers ziehen am 8. Februar 1973 ein. Ihre Wohnung hat nichts mehr von der Beletage, der nobelsten, in der zu Beginn des Jahrhunderts der Bauherr residierte. Sie ist hinter dem Berliner Zimmer entzweigeschnitten worden. Frau Soller versteckt diesen Stummel hinter einem dicken Samtvorhang. Hier bringt sie ihren Krempel unter. Die meisten Wohnungen meiner Straße sind Anfang der dreißiger Jahre auf diese Weise verstümmelt worden. In den Zeiten der Krise und der Inflation kann sich niemand mehr erlauben, sich so fürstlich in sieben Zimmern einzurichten. Die Eigentümer unterteilen sie in Wohnungen mit einem, zwei oder drei Zimmern. Die Grundrisse fallen dabei manchmal etwas unglücklich aus. Man fügt, wo es gerade geht, ein winziges Badezimmer, eine Küche ein, im Flur oder im Mädchenzimmer, das nicht mehr gebraucht wird, da niemand mehr Personal hat.

In Frau Sollers neuer Straße geht es entspannt zu. Viele Frauen holen ihre Schrippen beim Bäcker im Morgenmantel, Lockenwickler in den Haaren. «Einfach so runter.» Vorbei die Zeit, wo die Hausdamen im Berliner Zimmer 24 Gäste empfingen. Die neuen Mieter wissen nicht so recht, was man mit so einem gigantischen Raum zum Hinterhof mit nur einem Fenster anfangen soll. In meinem Berliner Zimmer lebten damals ein Elektriker, seine blutjunge Frau Edith und ihr Baby. Küche und Badezimmer im «Schwanz», wie man die drei Zimmer im Seitenflügel heute nennt, teilten sie mit dem Baron Luitpold von Barkow, «einem Halbwilden im karierten Mantel». Er nennt seine junge Mitbewohnerin «gnädige Frau», und es hätte nicht viel gefehlt, er hätte ihr die Hand geküsst, wenn er ihr morgens auf dem Weg zur Toilette im Schlafanzug begegnete. Ich erinnere mich auch, gehört zu haben, dass mein Berliner Zimmer irgendwann eine elektrische Eisenbahn von 2,50 auf 1,25 Meter beherbergt hat.

Die Wohnungen meiner Straße haben ebenfalls an Höhe eingebüßt. Wer hat noch Lust, mit Deckenhöhen von 3,60 Metern zu leben, die unmöglich zu beheizen sind? Die Leisten und Rosetten verschwinden unter heruntergezogenen Decken. Wer hat noch Zeit, sich einmal wöchentlich das Kreuz zu verrenken, um den Fußboden zu bohnern? Die alten Parketts werden versiegelt oder mit Teppichen bedeckt, um die Pflege zu erleichtern, und der Terrazzo der Küchen bekommt einen Linoleumbelag. Die Schiebetüren bleiben geschlossen. Die Wohnung verliert ihre Großzügigkeit.

Und es ist Schluss mit den Wohnungen, die genauso überfrachtet sind wie die Fassaden. Zu der Zeit, als die Sollers in unsere Straße ziehen, finden in Berlin die ersten Sperrmüllaktionen statt. Die Stadtreinigung holt umsonst die Gegenstände ab, die die Bevölkerung loswerden will. Als die Bewohner meiner Straße eines sommerlichen Morgens die Vorhänge aufziehen, sieht der Gehsteig aus, als wäre er mit überproportionierten Maulwurfshügeln gespickt. Vor jedem Haus ein Haufen. Man trennt sich von alten Staubfängern, von Möbeln, die aufwendig zu putzen und viel zu schwer sind, um von der Stelle gerückt zu werden, und darüber hinaus Zeuge einer Epoche, die schließlich nur Unglück gebracht hat. Neues muss her, Leichtes, Plastik, Formica. Anstelle der Brokat-Ohrensessel mit Wildlederimitationen setzt man auf tapezierte Sofas und lose, mit Dralonvelours überzogene Sitze. Anstelle der schweren Rosshaarmatratzen auf Bandscheiben- und Federkernmatratzen. Auf Anbauwände aus Teak, pflegeleichte Nylon- oder Kräuselvelours-Teppichfliesen. Auf modernen Komfort: «Die Vorstellung von der dunklen, feuchten Altbauwohnung, wo die Toilette sich im Treppenhaus befindet und das Bad ein Wunschtraum ist, soll der Vergangenheit angehören. Nach nur drei Stunden kann es einem so gut gehen wie nach einem Urlaub am See», verspricht im Schöneberger Echo 1973 die Reklame für den Schnelleinbau eines winzig kleinen Fertigbades. Vertikos und Sofas mit Umbau, Nachtschränkchen, goldverschnörkelte Bilderrahmen, Gardinenstangen, alte Armaturen, alte Kleider, ganze Kücheneinrichtungen aus den zwanziger Jahren, Stehlampen mit Trotteln am Schirm, alte ledergebundene Bücher – all das wurde nachts diskret auf den Gehsteig gestellt. Es ist ein wahres Volksfest. Den ganzen Tag flanieren Leute vorbei und durchwühlen den Trödel. Manche tragen die begehrten Möbel auf einer Schubkarre fort. Andere cruisen im Auto die Straße entlang und füllen ihren Kofferraum. Für die WGs der Straße ein Geschenk des Himmels: Ist dieser Biedermeierschrank erst knallrot angestrichen, kann man darin wunderbar die Pullover verstauen. Keinerlei Respekt für das schöne alte Kirschholz. Der größte Fund in meiner Straße: ein intarsiertes Biedermeier-Nähkästchen.

 

Als Frau Soller in meine Straße zieht, kommt der Briefträger noch zweimal täglich, morgens und mittags. Jeder Hauswart fühlt sich persönlich verantwortlich für die Sauberkeit seines Gehsteigabschnitts und die Sicherheit der Passanten. Bei der ersten Schneeflocke hört man ihn am frühen Morgen schaufeln und streuen. Die Mieter wischen abwechslungsweise einmal wöchentlich das Treppenhaus, eine lästige Pflicht, die inzwischen an eine externe Firma abgegeben worden ist. Es gibt noch eine Drogistin, die sich fühlt wie eine Apothekerin, und eine Apothekerin, die sich fühlt wie eine Ärztin. Es gibt noch einen Seifenladen und ein Haushaltswarengeschäft, die gemeinsam mit ihren überholten Bezeichnungen eingegangen sind, und das kleine Kino beim Parkeingang, das ich so gerne kennengelernt hätte. Im ersten Stock der Nummer 5 befindet sich die Pension Clausius mit ihren sechs verqualmten Fremdenzimmern und einer Genehmigung für Bierausschank. Die Bewohner meiner Straße bringen dort bei Familienfeiern ihre westdeutschen Verwandten unter. Eine einfache Pension, «sauber und ordentlich», geführt von einer Kriegerwitwe, die ständig von einem bellenden Spitz umwedelt wird. Es wimmelt in der Straße von diesen alleinstehenden, ängstlichen Frauen, die ein Zimmer vermieten, vollgestellt von alten Möbeln mit Häkeldeckchen, in dem für Herren Damenbesuchsverbot gilt. Nach dem Tod von Frau Clausius wird die Pension in Wohnungen umgewandelt.

Das kleine Lebensmittelgeschäft hält sich bis Anfang der Achtziger. Die Bewohner lassen ihre Einkäufe vom Lehrjungen hochbringen. Er kriegt sein Trinkgeld, und man lässt in einem dicken Buch anschreiben. Später wird im Laden bezahlt. Jedes Kind bekommt einen Keks in einer riesigen Tüte. Die Eigentümerin Christa Liedtke hatte in den siebziger Jahren übrigens einige Scherereien. Marta Schreiner, Inhaberin des Tabakladens im selben Gebäude, beklagte sich, dass der Lebensmittelladen den Vorgartenplatz als Verkaufsfläche benutzte. Christa Liedtke verteidigte sich: «Seit mehr als 25 Jahren, solange es das Geschäft gibt, hat jeder Inhaber die Ware vor dem Laden ausgestellt. Jedes Obst-und-Gemüse-Geschäft in Berlin, wie Sie wissen, macht es so, weil die frische Ware für den Kunden ersichtlich wird und so schnell verkauft ist vor dem Schlechtwerden.»

Frau Kubeths Annahmestelle für Wäsche zum Mangeln, von der mir John Ron in Berkeley erzählte, scheint seit ewigen Zeiten zu bestehen. Am Tag, als der Baron von Barkow sich in den Kopf setzte, seine Hemden selbst zu bügeln, ging er zu Frau Kubeth hinunter, stellte sich hinter den Bügeltisch und sah genau zu, wie sie es machte. Die Hausfrauen der Straße zeigten ihm einen Vogel.

Frau Soller beschreibt den schwindelerregenden Wechselreigen der Geschäfte, die in unserer Straße entstehen und vergehen: Der Zeitungs- und Zigarettenladen wird durch die Installateurwerkstatt Dittmann, später ein Bordell, ersetzt. Die Drogerie weicht einem Mischwarengeschäft. Der Schuster wird von Tapeten Schulz vertrieben, dieser durch ein Dentallabor, das inzwischen zum Steuerbüro mutiert ist. Der Kolonialwarenladen wird erst zum Edeka Supermarkt, dann zum Laden für Autoersatzteile, jetzt ist dort ein Restaurant. Im Hinterraum der Druckerei Beyer neben dem U-Bahn-Ausgang, wo sich heute das Geschäft für Wintersport befindet, ordnete einst ein Setzer die Bleibuchstaben und druckte die Kirchenzeitungen. Frau Beyer war Artistin, genauer Fängerin am Trapez. Dieses ungewöhnliche Paar hat im ersten Stock über der Druckerei gelebt. Daneben gab es den Kirchenbuchladen Schmoller, einen kleinen Milchladen und die «Mansarde», ein Freaklokal, das die Kripo irgendwann schloss, weil zu viel gekifft wurde. Onkel Willi, ein Schachspieler vor dem Herrn, lockte seine Spielpartner in eine Ecke seines Lokals. Er gewann immer. Die Mansarde beherbergt heute den Schülerladen. Der Copyshop hat das Farbenhaus Neugebauer, Handel für Farbe und Tapeten, vor die Tür gesetzt. Auch der berühmte Schraubenschmidt, Paradies für Heimwerker, ist eingegangen. Die Frau des Taxifahrers aus der Nummer 17 war jahrelang Chefsekretärin bei Schraubenschmidt. Und schließlich übergab vor wenigen Jahren erst das Antiquariat seine Räume einem Küchen-Vertreter in der Nummer 12. Im vorderen Ladenteil gab es Bücher zu einer Mark das Stück. Weiter hinten Porzellanpuppen und silberne Etuis für handverlesene Kunden. Am Tag des Solds parkten die Amis ihre Kombischlitten vor der Tür und beluden den Kofferraum mit riesigen Westminster-Gong-Uhren. Danach statteten sie dem Bordell auf dem Viktoria-Luise-Platz einen Besuch ab. Im italienischen Eiscafé daneben überwachten die Mütter meiner Straße mit einem Auge ihre Kinder und mit dem anderen das Kommen und Gehen der GIs beim Puffeingang: «Einer ausgestiegen, der nächste in den Wagen. Rein und raus. Am laufenden Band.»

Frau Soller beschreibt mir eine Straße, die seit langem nicht mehr existiert. Jeder kannte jeden. Ab zehn Uhr morgens wurde ein Pawlow’sches «Mahlzeit!» getauscht. Man ging auf Beerdigungen. Man erzählte, was aus der Tochter geworden ist. Frau Soller stellte eine bittere Bilanz auf: «Die Leute sind heute viel mehr zurückgezogen. Die Freundlichkeit ist auf der Strecke geblieben …»

Ich weiß nicht, ob ich die Aufeinanderfolge der diversen Geschäfte meiner Straße im Laufe der Jahre korrekt wiedergegeben habe. Bestimmt habe ich einige verwechselt, andere vergessen. Unwichtig, das Ergebnis ist immer dasselbe. Alle diese kleinen Einzelhändler sind verschwunden, einer nach dem andern. Neben dem Mäuseloch fristete ein Asia Markt einige Monate lang eine unsichere Existenz. Mit seinen mageren Konserven- und Flaschenregalen, einigen traurigen Blumen in Zellophanpapier ein trostloser Ort. Aber der Asia Markt hatte eine pädagogische Mission. Er erlaubte es den Kindern unserer Straße – zum allerersten Mal –, ganz allein, ohne die Straße zu überqueren, etwas einkaufen zu gehen, um dann, unter dem wachsamen Blick ihrer am Fenster stehenden Mütter triumphierend, eine Tüte haltbarer Milch schwenkend, die man nicht wirklich benötigte, zurückzukehren. Der Asia Markt wurde für ein Vierteljahr von einem Teppichhändler abgelöst, der ihn in ein Lager verwandelte. Und dann war Schluss.

Die Straße ist nach und nach verkümmert. Ich will auf keinen Fall einer verlorengegangenen und folglich besseren Epoche nachtrauern. Nicht einer sentimentalen und letztendlich ungerechten Schwärmerei verfallen. «Damals war alles besser …» Aber meine Straße hat an Charme eingebüßt, und wenn man am Morgen seine Schrippen kaufen will, muss man entweder aufs Rad steigen, um eine passable Bäckerei zu finden, oder sich mit den industriellen Brötchen einer Berliner Bäckereikette an der Straßenecke zufriedengeben.

 

38 Jahre hat Frau Soller im KaDeWe gearbeitet. Im Kaufhaus des Westens, ihr großer Lebensstolz. Im achten Stock, wo sich die «Abteilung Auszeichnung» für die DOB befindet. Hier wird die von den Fabrikanten gelieferte Ware für den Verkauf präpariert: Wareneingang kontrollieren, Lieferscheine bearbeiten, Etiketts drucken und Preise befestigen. 1998 – vier Jahre zuvor war der Hertie-Konzern, zu dem das KaDeWe gehört, von der Karstadt AG übernommen worden – ist Frau Soller entlassen worden, zwei Jahre vor der Rente, mit einer «Pipifax-Abfindung». Ihr größtes Bedauern. Sie hätte so gern ihr vierzigjähriges Jubiläum gefeiert. «Na ja, hat nicht sein sollen …» Sie erinnert sich noch gut an ihr zehnjähriges Jubiläum. «Ich bekam 600 DM, und das hat für den Führerschein gereicht.» Und erst recht an ihr fünfundzwanzigjähriges. «Ich bekam 1200 DM und ein kaltes Buffet. Die Kollegen blieben nicht sehr lange und tranken nur Orangensaft, weil der Verkauf weiterging.» Der Personalchef hielt eine Ansprache und legte Frau Soller, die in ihrem marineblauen Kostüm, ihrer weißen Strumpfhose und ihrer Spitzenkragenbluse ganz eingeschüchtert war, einen Blumenstrauß, größer als sie selbst, und eine schöne Ehrenurkunde in die Arme. «Frau Bärbel Soller, in besonderer Anerkennung treuer und bewährter Pflichterfüllung.»

 

Während der Jahre der Mauer, habe ich den Eindruck, hört Berlin nicht auf zu feiern. Es betäubt sich. Meine Nachbarn genießen diese Zeit des Wachstums nach der Tristesse der fünfziger Jahre und versuchen zu vergessen, wie beengt sie auf dieser winzigen exterritorialen, von beiden Blöcken des Kalten Krieges begehrten Parzelle leben. Mein Haus vibriert. Feste, Empfänge, Geburtstage, Fasching folgen aufeinander. Die Fotoalben der Sollers zeigen ein Leben, das einer einzigen Überraschungsparty gleicht. Ihre Hochzeit: Bärbel und Kurt Soller vermählen sich standesamtlich im Rathaus Schöneberg, wie alle Bewohner meiner Straße von vor dem Krieg bis heute. Dieselben Fotos auf denselben Stufen. Nur die Paare wechseln. Lilli und Heinrich Ernsthaft 1922, Klara und Herbert Fiegel 1929, Liselotte und Wilhelm Wagner 1942, Bärbel und Kurt Soller am 1. Juli 1966. Vorher Regen. Nachher Regen. Am Hochzeitstag Prachtwetter. Die religiöse Feier findet in der kleinen Schöneberger Dorfkirche in der Hauptstraße statt, in der, einige Jahre später, David Bowie leben wird. Die Kirche ist «von oben bis unten mit Rosen geschmückt». Immerhin an jenem Tag kann Frau Soller ihre Talente ungehindert zur Entfaltung bringen. Die Frischvermählten kommen in der Kutsche angefahren, der Kutscher in Gehrock und mit Zylinder, von zwei Apfelschimmeln gezogen wie in den Prinzessinnengeschichten. Herr Soller, ein schöner, schlanker und distinguierter Mann. Und Frau Soller, die sich ganz zart und errötend hinter einem Bouquet aus Spitzen und weißem Musselin versteckt.

Das Fest findet im «Schwarzen Ferkel» gegenüber der U-Bahn auf dem Nollendorfplatz statt, wo sich heute eine Pizzeria befindet. Im Album mit dem Titel «Unsere Hochzeit» lange Tische mit den Gästen, an den getäfelten Wänden Gemälde mit Jagdszenen. Es gibt Bier in Humpen und Rotwein. Bärbel und Kurt Soller tauschen einen züchtigen Kuss auf die Wange. Und dann gerät beim Blättern auf einmal alles ins Schwanken. Ein Akkordeonspieler hat sich unter die Gäste gemischt. Ein dicker, jovialer Herr packt die Braut am Arm und zieht sie auf die Tanzfläche. Das Hochzeitsfest schlägt in ein Bacchanal um. Die Neuvermählten gehen händchenhaltend, eine Nachtmütze auf dem Kopf, unter einem Spitzenbaldachin vorbei. Sie werden gedrückt und umarmt. Man schreit, applaudiert, singt aus voller Kehle, die Augen ekstatisch geschlossen. Die Frauen sind außer Rand und Band. Unter ihren Achseln Haarbüschel, ihre Knöchel in den spitzen Pumps sind geschwollen, die Beehive-Frisuren fallen trotz dicker Lackschicht in sich zusammen. Frau Sollers Strapsgürtel fliegt an die Decke. Die Hochzeitsgesellschaft schunkelt in einer wilden Polonaise um die Tische. Zwei korpulente Alte verkeilen sich einigermaßen erfolgreich zu einem traditionellen Walzer. Und inmitten dieser stürmischen Woge sitzt die Großmutter im schwarzen, knöchellangen Kleid an ihrem Platz. Ich fürchte, dass sie im nächsten Augenblick umkippt und völlig betäubt zwischen die Tänzer auf den Boden plumpst. Doch sie klammert sich mit verängstigten Augen an ihren Stuhl, das Kinn vorspringend, weil die Zähne fehlen, um die Form zusammenzuhalten. Sie ist eine dieser sagenhaften Alten, die in den siebziger Jahren noch Teil der Besetzung aller Familien waren und heute nicht mehr existieren.

Die Liebe zum Feiern zieht sich durch sämtliche Alben der Sollers. Faschingstischrunden mit Papiermanschetten um den Hals, Spitzenhauben und Canotier. Frau Soller, quietschfidel, zwischen ihren Freunden auf einer Holzrutsche eingeklemmt. Es war im Sportpalast, fünf Minuten von meiner Straße, in dem Saal, in dem Joseph Goebbels 1943 seine berühmte Rede über den «Totalen Krieg» hielt. Bis zu seinem Abriss im Jahr 1973 diente er als Veranstaltungshalle «mit buntem Programm», empfing die Wiener Eisrevue, das Sechstagerennen, die Prager Marionetten, das Bockbierfest und im Publikum die Sollers. Die Spielabende in der Wohnung. Frau Soller spielt im Minirock Schubkarren. Eine Freundin hält ihr die Beine, während sie auf den Ellbogen robbt. Mehrere Frauen sitzen im Schneidersitz auf dem Boden. Man kann ihre weißen Höschen sehen. Kurt Soller und seine Freunde, auf die Sesselgarnitur gepfercht, applaudieren. Flamenco, Kasatschok, Sirtaki, Rumba, Twist und French Cancan … Bei den Sollers und beim Reisenden wird getanzt bis zum Umfallen. Weil die Balken durchgängig sind, zittern Decken und Fußböden. Manchmal hämmert der Nachbar vom unteren Stock an die Tür. «Bei uns tickt die Lampe in der Suppe!» «Wir sind eben tanzfreudig!», antworten die Nachtschwärmer und verlegen die Tanzpiste in den Flur. Selbst im KaDeWe wird an jedem Geburtstag gefeiert. Die Regale mit den sorgfältig gefalteten Blusen und Strickjacken werden abgeräumt. Die Lebensmittelabteilung schickt per Rohrpost Brötchen von Lenôtre, Katenschinken und Tilsiter Käse. «Der Tilsiter riecht kräftig. Schmeckt aber gut. Und dann hat man rasch im Stehen gefrühstückt und wieder geackert.»

38 Jahre in derselben Straße. Es zerreißt ihr das Herz, diese Wohnung und mit ihr die Erinnerungen eines ganzen Lebens zu verlassen. Die Goldfische im Aquarium. Der 1966 bei Möbel Missling gekaufte Palisanderschrank mit seiner von einem grünlichen Neonlicht beleuchteten Nische, seinem Nippes, den Fotos der Enkel und den paar Büchern zu historischen Themen. Wie eine Festung, schwarz und gelb gemasert, nimmt er mit seinen drei Metern Länge die ganze Wand in Beschlag. Fünf Möbelpacker wurden herangezogen, um ihn aus dem Gebäude zu reißen wie einen tief verwurzelten Weisheitszahn aus einem Kiefer. Die Nierentische, je kleiner, umso nutzloser. Die Dreifaltigkeits-Garnitur, die in jedes anständige deutsche Wohnzimmer gehört: ein von zwei Sesseln umrahmtes bauchiges Sofa, der terracottafarbene Stoff von den Katzenkrallen gerillt. «Die vierte Garnitur in 45 Jahren! Kann sein, dass sie schon ein bisschen abgenutzt ist», entschuldigt sich Frau Soller. Die Sputniklampe im Wohnzimmer, Ende der sechziger Jahre im KaDeWe erstanden, bei der sich je nach Schaltermodus, den man wählt, 12 oder 24 Kristallkugeln erleuchten. Sie passt aber leider nicht in die neue Wohnung. «Zu wuchtig und zu niedrig gehangen.» Frau Soller versucht vergebens, sie loszuwerden. Die Küchenzeile mit ihren integrierten, pastellfarbenen Möbeln und Schiebetürschränken. Der mit einem Wachstuch bedeckte Formica-Tisch, auf dem Frau Soller gebacken hat.

 

Eines Morgens, wenige Tage vor dem Umzug der Sollers, als bereits die Maler den Ort usurpiert hatten, um vor dem Einzug der neuen Mieter die Generalrenovierung in Angriff zu nehmen, klingelte Frau Soller an meiner Tür Sturm. «Ich hab was für Sie! Eine Entdeckung! Kommen Sie schnell runter!» Die Maler hatten im Schlafzimmer der Sollers die Blümchentapete heruntergerissen, und unter einer früheren lindengrünen Schicht kamen die Seiten der Deutschen Allgemeinen Zeitung zum Vorschein, die 1941 zur Isolierung angebracht wurden. «Ein Jahr vorher bin ich geboren», erklärt Frau Soller ganz außer Atem, indem sie diese archäologische Trouvaille auf einer persönlichen Zeitleiste zu situieren versucht. Und so stieg ich mit mehreren riesigen Fetzen grobkörnigen Papiers in der Hand wieder in meine Wohnung hinauf, während mich die Nachbarn mit besorgtem Blick musterten. Sie wagten nicht zu fragen, was ich mit diesem Naziblatt vorhatte.

Die Mieter, auf deren Spur Frau Soller an jenem Morgen rein zufällig gestoßen war, haben ihre Wohnung im Juni 1941 renoviert. Am 4. Juni stirbt Kaiser Wilhelm II. in seinem niederländischen Exil, und am 22. Juni überfällt die Wehrmacht unter dem Decknamen «Unternehmen Barbarossa» die Sowjetunion. An jenem Tag erlebt meine Straße einen ganz gewöhnlichen Tag und ist noch völlig ahnungslos. Auf der Zeitung klebten vertrocknete Kleisterklümpchen, aber einzelne Brocken des Artikels ließen sich trotzdem entziffern. Der Leitartikel unternimmt eine gehässige Analyse der englischen Kriegsführung. Das Oberkommando der Wehrmacht teilt mit, dass britische Flugzeuge abgeschossen worden sind, «eine schwarze Woche für die RAF». Und vor diesem surrealen Hintergrund geht der Alltag weiter, während die deutschen Einsatzgruppen in Zusammenarbeit mit der Wehrmacht die systematische Ermordung der jüdischen Bevölkerung, der KP-Funktionäre, der Sinti und Roma und der Kriegsgefangenen auf sowjetischem Boden vorantreiben. Werbung für Sommerkleider, Staubmäntel und Verdauungsdragées, Immobilienanzeigen mit Tauschmöglichkeiten und Angebote von möblierten Zimmern. Versteigerungen. Am 24. Juni berichtet die Zeitung über «den ersten Tag im Osten» und publiziert Todesanzeigen. Daneben Stellenangebote, im Wesentlichen für weibliche Berufe. Kindergärtnerin, Anwaltsgehilfe, Wirtschafterin, Tagesmädchen, gewandte Telefonistin, Stenotypistinnen. Börsen- und Valutakurse werden angegeben, und obwohl Deutschland gegen einen großen Teil Europas im Krieg ist, bietet die Sprachenschule des Dr. Heil «eine Schnellmethode zum Selbststudium für Englisch, Französisch, Italienisch» an. Am 25. Juni meldet das Oberkommando der Wehrmacht, dass «große Erfolge im Osten zu erwarten» sind, und berichtet über «Luftangriffe auf Liverpool».

Reihenweise Ritterkreuzträger, Sturmbannführer und Fallschirmjäger wachten jahrelang in Habachtstellung über den Schlaf der Sollers, die keine Ahnung hatten von dieser martialischen Anwesenheit in der Intimität ihres Schlafzimmers.

In meinem Arbeitszimmer auf dem Bauch liegend betrachte ich die auf dem Parkett verstreuten staubigen Papierinseln. Der Nationalsozialismus scheint den Gebäuden meiner Straße unter die Haut gegangen zu sein. Nein, das war nicht als Metapher gemeint, sondern als ein sehr reales Phänomen, das ich an den Wänden der Soller-Wohnung beobachtete. Dieses Jahr 1941, das seit 70 Jahren am Gips klebte. Diese einzelnen, übereinanderliegenden Papierschichten. Diese Überlagerung von Geschichten und Epochen. Ein Leben hat das nächste abgelöst. Die Mieter folgten aufeinander. Und ab und zu taucht plötzlich ein Relikt der Vergangenheit wieder auf.

 

Und dann trug der Umzugslaster Frau Soller, ihren Mann, ihre Katzen und ihren Palisanderschrank auf und davon. Von ihrer Existenz blieben nur wenige Spuren zurück. Der helle Abdruck einiger Bilderrahmen auf der Tapete. Eine Haarnadel, in einer Fußbodenleiste eingeklemmt. Ein tief im Schrank vergessener Aluminiumlöffel. Ein paar Spinnweben an den Decken, Wollmäuse, die über den nackten Fußboden rollten, Brandflecken auf dem Linoleum. Ein in der Luft baumelndes Stromkabel, ein Haken im Badezimmer, ein paar brüchige Blumentöpfe auf einem Regal, ein Stapel alter Zeitungen in einer Ecke, die Küchenvorhänge mit den kleinen Fischen drauf, die hinter den Badezimmerspiegel gesteckte Karte aus Mallorca, der Fettfleck an der Decke über dem Kochherd, ein völlig zusammengeschrumpelter Schwamm im Spülbecken. Und die mit Schmetterlingen bestickte Vergissmeinnichtkrone aus blauem Stoff, die noch mehrere Wochen an der Wohnungstür hing. Bevor die Nachfolger sie abrissen, die beiden Teile der Wohnung wieder wie vor dem Krieg zusammenführten und mit ihren Design-Möbeln und ihrer ultramodernen Küche einzogen. Sie haben es sogar geschafft, ich habe keine Ahnung wie, mit dem Katzengeruch fertigzuwerden, der Frau Sollers Weggang um mehrere Monate überlebte. An jenem Tag ist das Berlin der Sollers endgültig aus unserer Straße verschwunden.