Das Dach der Welt

Glaubt man meinen Nachbarn, hätte man nach dem Krieg aus den Trümmern meiner Straße den Mount Everest errichten können. Sie beschreiben mir Kämme und Schluchten, Kulme und Kuppen, ein atemberaubendes himalayisches Relief, das sich an der Grenze zwischen zwei Berliner Bezirken über der Asphaltwüste erhob.

 

Ich habe den Insulaner bestiegen, wie die Berliner den künstlichen Hügel nennen – 1,5 Millionen Kubikmeter Trümmerschutt auf einem großen Brachgelände, vor dem «Zusammenbruch» ein Müllabladeplatz zwischen Lehmgruben, Flakstellungen und Sommerlauben –, zu dem die Trümmer der Gebäude aus meiner Straße unmittelbar nach dem Krieg aufgeschüttet wurden. Es war an einem Nachmittag im Februar, der letzte Schneeregen eines trüben Winters. Nur die Kuppe war zu sehen, die zwischen einer Schrebergartenkolonie und einem Friedhof aus einem dreispurigen Straßennetz hervorragte. Auf der Oberfläche einer ebenen Stadt nimmt schon die geringste Abweichung im Relief gigantische Proportionen an. Aber der Schein trügt: Der Insulaner, 75 Meter über dem Meeresspiegel, ist nicht aus einer tektonischen Bewegung oder einer eiszeitlichen Erosion hervorgegangen. Er ist ein Trompe-l’Œil. Ein allzu abrupter Vorsprung, um echt zu sein. Ein Fremdkörper auf dieser endlosen, spiegelglatten Ebene. Die Birken, Kastanienbäume, Brombeersträucher und Nadelhölzer sind Ende der 40er Jahre in aller Eile angepflanzt worden. Ein grüner Wandschirm, um die Erinnerungen an den Luftkrieg zu überdecken. Sie sind heute so hochgewachsen, dass man auf den herbstlichen Blätterfall warten muss, um in der Ferne den viereckigen Turm des Rathauses Schöneberg, seine im Wind flatternde Fahne auszumachen und irgendwo in der kompakten Masse der Gebäude den Verlauf meiner Straße zu erahnen. Vom Gipfel des Insulaners aus scheint die Stadt weit weg, in einem nebelverhangenen Tal.

 

1945 binden die Frauen meiner Straße Kopftuch und Schürze um und bilden eine Menschenkette, um den Schutt in die Loren zu schaufeln, die, von einer Dampflokomotive gezogen, über die Trümmerbahnstrecken durch ganz Schöneberg Richtung Insulaner rollen. Zum «Mont Klamott», wie man ihn zu jener Zeit nennt. Stundenlang kratzen die Frauen den alten Mörtel von den Abbruchziegeln, die auf anderen Baustellen zum Aufbau anderer Straßen wiederverwendet werden. Im trockenen Behördenjargon heißen sie «Hilfsarbeiterinnen im Baugewerbe». Die Berliner nennen sie etwas konkreter, vor allem aber zärtlicher Trümmerfrauen. Sie sind männerlos, tapfer, kräftig, packen mit ihren schwieligen Händen und ihrer rohen Kraft an, beklagen sich nie, zeigen keine Schwäche, stellen keine Fragen. Die Trümmerfrauen sind die wenig zimperlichen Matres dolorosae der Stunde null. Einer der Gründermythen des Nachkriegsdeutschlands. Resolut, verbissen, ja gar mit Lust schaffen sie zwölf Jahr Krieg und Diktatur fort. Bald gleicht meine Straße einer Steppe. Alles kahl. Alles glatt. Sie scheint alles vergessen zu haben.

Die Steine, die von ihrer gewaltsamen Geschichte zeugen, werden in aller Eile unter 125000 Kubikmeter Humus und Lehm begraben. 50 Zentner Wicken-, Lupinen- und Kleesamen werden gesät, um das Gelände zu befestigen und zu verhindern, dass die Vergangenheit beim ersten Sturzregen wieder zum Vorschein kommt. Stauden, Sträucher und Bäume konsolidieren die Amnesie. Fünf Jahre lang formen die Gärtner des Bezirks mit ihren Händen einen Berg nach Maß. «Aus dem Trümmerschutt des Zweiten Weltkrieges ist ein Hügel entstanden, der in seiner Form den Ausläufern der Endmoränen in der Berliner Landschaft angepasst ist», berichtet das Bau- und Wohnwesen des Bezirksstadtrats am 8. August 1951. «Die Bepflanzung ist so gewählt, dass nicht eine gartenartige Anlage entstehen soll, sondern eine Naturanlage mit Baumgruppen und Liegewiesen. Eine Rodelbahn von 400 m Länge soll der Berliner Jugend eine bequeme und gefahrlose Möglichkeit zur Ausübung des Wintersportes bieten.»

Der Insulaner ist, wie mir bald bewusst wurde, kein düsterer öffentlicher Schuttabladeplatz, keine Warze auf der seidigen Haut der Stadt, die es zu kaschieren gilt. Die Bewohner meiner Straße sind stolz auf ihn. Der Insulaner ist ihr Werk, aus den Steinen und Ziegeln ihrer Gebäude aufgebaut, er ist ihre Antwort auf die harten Schläge, die das Schicksal ihnen versetzt hat. Dass der Insulaner mehrere Jahre lang der höchste Berg von Berlin war, erfüllt sie mit einem kindlichen, aber auch, wie man eingestehen muss, etwas blinden Stolz. «Wenn jeder Bezirk», schreibt der Tagesspiegel am 25. Juni 1950 überschwänglich, «seinen Trümmerberg baut, kann der Magistrat endlich in einem zugkräftigen Reiseprospekt von der ‹Stadt der zwölf Hügel› sprechen und eine stadteigene Berliner Berg- und Talbahn bauen. So wurden vor nicht allzu langer Zeit die damals noch geplanten ‹Schutt-Müll-Hügel› ironisiert: Hygieniker sprachen sogar von ‹Ungezieferzentralen› und befürchteten chronische Leiden durch ‹graue Trümmerstaubwolken›.» Die Zeitung beschreibt die Hügelketten, die schwerbeladenen Lastwagen, die mühsam auf serpentinenartigen Wegen zur Spitze keuchen: «Oben weht eine frische Brise. Bei klarer Sicht bietet sich ein überraschendes Panorama. Über die Dächer von Berlin hinweg geht der Blick bis zur Havel. Ganz nah erscheint der Flughafen Tempelhof, und in Richtung Stadtmitte blinken und funkeln Türme und Kuppeln in der Junisonne. Mit einem Fernglas erkennt man sogar die Funktürme von Nauen.»

Deutlich schlägt mir aus diesen Zeilen die Gabe der Berliner entgegen, dem Schicksal die Stirn zu bieten und sich ganz unverfroren selbst zu feiern. Wie die buddhistischen Priester münzen sie die Krise in eine Chance um. Die Stadt ist nur noch ein Haufen Trümmer? Dann machen wir aus ihnen das Rom an der Spree und fügen gleich noch fünf zusätzliche Hügel hinzu, um die Überlegenheit über die Ewige Stadt auch gut zum Ausdruck zu bringen. Die Bombardements haben Hunderte von Straßen dem Erdboden gleichgemacht? Dank der Effizienz der Royal Air Force kann man heute das Dach der Welt besteigen und weit, weit in die unendliche Ferne blicken. «So wächst langsam Jras übern zweeten Weltkriech!», sagen auf einer Zeichnung zum Gedenken des zehnten Jahrestags des Insulaners zwei Männer mit Hut hoch auf einem begrünten Hügel zueinander.

 

1951 wurde in den Schulen des Bezirks ein Wettbewerb zur Findung eines Namens für den Trümmerberg ausgeschrieben. Die Zettel mit den Schülervorschlägen sprechen Bände über den Symbolgehalt, der einem Haufen Trümmer zugeschrieben wird. Da gibt es die pragmatischen Adepten nüchterner Tatsachen: «Schuttberg», «Steinberg», «Trümmerberg», «Ruinenberg», «Berg der tausend Steine», «Berg der fleißigen Hände» oder «Aufbau-Berg». Dann die Phantasielosen, die vorschlagen: «Berg der guten Aussicht» oder «Berliner Berg». Anderen schwebt eher etwas Idyllisches, Liebliches vor: «Blumenberg», «Grüne Kuppe», «Spatzenideal», und wieder andere plädieren gerührt für «Kleener Berliner» oder «Schöneberger Buckel». Manche lassen sich gar zum Größenwahn hinreißen: «Schöneberger Hochgebirge», «Berliner Zugspitze», «Trümmeralm», «Schöneberger Alpen», «Berliner Alpspitze». Die Klasse allerdings, die den «Schöneberger Olymp» ins Spiel brachte, ist meiner Meinung nach einer wahren Halluzination erlegen. So traurig es ist, aber die Befürworter von «Schöneberger Krümelchen» scheinen mir eine etwas realistischere Vision von der Geologie ihrer Stadt gehabt zu haben. Auffallend ist die hohe Zahl derer, die leiden oder Buße tun: «Elendsberg», «Leidensberg», «Berg der Müh und Not», «Berg des Vergessens», «Berg der schrecklichen Erinnerungen» und nicht zuletzt «Mahnberg», mit einem zum Himmel erhobenen Zeigefinger.

Am Tag der Einweihung, am 11. August 1951, empfängt das Berliner Tonkünstler-Orchester die Würdenträger mit dem Festlichen Einzug von Richard Strauss. Frau Bezirksbürgermeisterin Dr. Ella Barowsky tauft auf den Namen «Insulaner». Der Präsident des Abgeordnetenhauses, Dr. Otto Suhr, hält eine flammende Rede: «Dieser Berg ist ein Symbol für den Behauptungswillen der Berliner, der Berge zu versetzen vermag.» Der Regierende Bürgermeister Professor Doktor Ernst Reuter enthüllt einen Gedenkstein mit dem Epitaph: «‹Der Insulaner›. Geschaffen in den Jahren 1946 bis 1951 aus Trümmern des Zweiten Weltkrieges trotz Not und Blockade.» Zum Abschluss stimmt das Orchester das Lied «Es war in Schöneberg, im Monat Mai …» an, das Walter Kollo aus der Nummer 26 meiner Straße komponierte. Ich bin sicher, es handelt sich dabei um eine spezielle Hommage an meine Straße, um sich bei ihr für ihren substanziellen Beitrag erkenntlich zu zeigen. Schließlich verdankt der Insulaner ihr mehrere Meter seiner Höhe! «Im Anschluss daran unternahmen die beiden dem Gartenbauamt unterstehenden Parkwächter ihre ersten Kontrollgänge. Sie bezeichnen sich selbst als gute Geister des Berges, einer von ihnen ist ein ehemaliger Zauberkünstler», schließt Die neue Zeitung, womit sie den Trümmerhaufen zum Zauberberg macht.

 

An jenem Februarnachmittag 62 Jahre später hat der Insulaner, wie ich zugeben muss, einiges von seinem Glanz verloren. Der Mount Everest ist im Lauf der Zeit sogar – die Berliner mögen mir diese wenig einfühlsame Metapher verzeihen – zusammengesackt wie ein Käsesoufflé, wenn die Gäste sich verspäten. Auf meinem Spaziergang verließ ich den asphaltierten Weg, der zur Sternwarte auf dem Gipfel dieses mit seinen überquellenden Papierkörben, in ihren Plastiksäcken schwitzenden Hundehaufen, seinen ramponierten Bänken, seinen Graffiti, Liebespärchen, zwielichtigen Pennern und einsamen Joggern typisch berlinerischen Parks führt. Ich ging über Laub und die letzten Schneekrusten, durch Birken und Dornengestrüpp, wo der Boden locker ist und die Absätze sich leicht eindrücken. Manchmal meinte ich, unter meinen Füßen die Kante eines Ziegelsteins zu spüren, und drohte über eine Backsteinscherbe zu stolpern. Sind sie eines Tages bei starkem Regen wieder an die Oberfläche gekommen? Ich ging über die Ruinen meiner hier unter dem Moos vergrabenen Straße. Wenige Meter unter meinen Füßen die Traumscherben der Bauherren Max Moniac und Richard Barth. Ihre Backsteine, ihre Ziegel, ihr Mörtel, die Fliesen ihrer Entrés, die Keramikfliesen ihrer Badezimmer und der Terrazzo ihrer Küchen knirschten unter meinen Sohlen. Hier, im Leib des Berges, ruhten die Karyatiden und Putten der Fassaden. Ich hörte sie stöhnen.

Der Schadensplan des Bezirks Schöneberg von Groß-Berlin stellt im Oktober 1947 das Schadensinventar auf: Von den 30 Gebäuden meiner Straße sind nur acht mit «015% leichte Schäden» und somit als «bewohnbar» taxiert, drei mit «1650% mittlere Schäden» und also als «vielleicht wiederherstellbar», neunzehn mit «51100% schwere Schäden» oder «total beschädigt», bei denen der «Abbruch empfehlenswert» ist. Aber erst als ich im Archiv zur Geschichte von Tempelhof und Schöneberg zum ersten Mal den Leitz-Ordner öffnete, in dem die wenigen nach dem Krieg von meiner Straße aufgenommenen Fotos eingeordnet sind, ist mir das wahre Ausmaß der Katastrophe deutlich geworden.

Die Bilder sind von einer unerhörten Brutalität. Das ist keine Straße mehr, das ist eine Landschaft außerhalb dieser Welt, mit Trümmerbergen, aus denen wacklige Gerippe einzelner Häuser ragen. Mauerkanten stehen frei in der Luft. Von der Nummer 28 haben einzig zwei Fensterrahmen überlebt. Durch ein Wunder der Statik wirft ein intakter Kamin seinen schmalen Schatten auf die Trümmer des Hauses vor seinen Füßen. Da und dort zeugen auf einem Gebäudeabschnitt ohne Fassade eine Blümchentapete, ein Ofenrohr, ein zerbrochenes Waschbecken, der Rest eines Kachelofens von einer innerhalb von Sekunden vernichteten häuslichen Normalität. An den Fassaden Einschuss- und Brandlöcher. An den Mauern der Nummer 2 hat der abgelöste Putz dunkelgraue Wunden hinterlassen. Auf dem Gehsteig vor den Nummern 21 und 22 liegt ein Eisenknäuel. Vor der nicht mehr vorhandenen Nummer 30 steht noch die Litfaßsäule. Auf den Ruinen wachsen struppige Grasbüschel und Sträucher. Wie viele Leichen liegen noch darunter begraben? Inmitten dieses mineralischen Gerölls ein paar wacklige Gestalten. Ein Mann auf dem Fahrrad. Er trägt einen Anzug und einen Hut. Eine Frau betritt mit einer Obstkiste ein ausgeschlachtetes Haus. Vor einer Fassade ein sich umschlingendes Pärchen, das den Kopf hebt, mit dem Finger zeigt. Ich habe Mühe, diese Teile von zerfetzten Gebäuden zu identifizieren. Ich versuche sie Stück um Stück zusammenzusetzen, um meine Straße wiederherzustellen.

Die «stehende Ruine», wie man diese Häusergerippe nennt, ist kein starrer Haufen, sondern ein riesiger, lebender Körper, der auf seine Art am täglichen Leben meiner Straße teilnimmt. Ab und zu spuckt er ein noch brauchbares Objekt aus, eine wahre Kostbarkeit: eine Gabel, eine kaum angeschlagene Tasse. Gerd Böttcher, Inhaber des Abbruch- und Enttrümmerungsunternehmens, das für die Reinigung der Straße verantwortlich ist, mahnt seine Arbeiter: «Gegenstände sind ihren Eigentümern zu übergeben und, soweit diese nicht feststellbar sind, als Fundsachen zu behandeln und dem zuständigen Polizeirevier zu melden.» Wenn die Arbeiter Blindgänger, Munition oder Waffen finden, sind sie aufgefordert, die Arbeit sofort einzustellen, die Gefahrenstelle abzusperren und das nächste Polizeirevier zu benachrichtigen.

Die Ruinen der Grundstücke 8, 10 und 22 sind nicht eingezäunt. Bis Anfang der sechziger Jahre dienten sie als wilde Deponie für Haushaltsabfälle und als Abkürzung, um von einer Straße zur nächsten zu gelangen, «sodass sich mehrere deutlich erkennbare Pfade über diese Grundstücke ziehen», wie eine interne Notiz des Baupolizeiamts Schöneberg vermerkt. Die Kinder balancieren auf den über dem Schutt hängenden Eisenträgern. Bis in die vierte Etage reichen sie! Treppen gibt es keine mehr! Sie machen in den Kellern kleine Lagerfeuer, lassen auf dem Brachgelände ihre Drachen steigen. Ein Nachbar erzählte mir von dem Fund, den er mit seiner jugendlichen Bande in der ausgesprochen großzügigen Kellerruine der Nummer 10 machte: ein Riesenstapel alter Pornohefte. Üppige nackte Brüste in Weißbraun. Ein erotischer Schatz mitten im Trümmerhaufen!

Dieses anarchistische Leben in der Ruine nebenan verschafft der Katharina Tschiersch, Hochparterre Nummer 6A, ein Ziel in ihrem trostlosen Leben als geschiedene Rentnerin. Sie reicht beim Polizeirevier eine Klage nach der andern ein. Füllt Seite um Seite des linierten Schülerpapiers mit ihrer kleinen, bösen Handschrift. Jahrelang denunziert sie bei der Polizei die Knirpse, die auf dem Brachgelände unter ihrem Balkon Fußball spielen.

Ich sehe sie vor mir, eine grämliche, gehässige kleine Alte, die hinter ihren Tüllgardinen versteckt das Treiben der Straße ausspäht. Und dann auf einmal ein sadistisches Zusammenzucken, wenn ein Ball durch die Luft fliegt. Das Protokoll des Polizeibeamten gibt das Klima dieser strengen Epoche wieder: «Frau Tschiersch ist durch Rückgrat-, Hüft- und Beinerkrankungen teilweise gelähmt und dadurch besonders an ihre Wohnung gebunden. Durch ihre Krankheit ist Frau T. gegen jeglichen Lärm besonders empfindlich, zumal sie sich überwiegend allein überlassen ist. Die Entfernung von ihrem Balkon bis zum Anfang des Ruinenstückes beträgt etwa 20 bis 25 m. Auf Anordnung des Reviervorstehers wurde die Straße im Rahmen des Straßenaufsichtsdienstes so weit als möglich begangen und festgestelltes Fußballspielen durch die Beamten unterbunden. Nach mehreren Schreiben der T. wurde die Straße täglich in den Nachmittags- und Abendstunden begangen. In dieser Zeit wurden zweimal Kinder bzw. Jugendliche beim Fußballspielen mit einem kleinen Gummiball auf dem Grundstück angetroffen. Die Personalien der Betreffenden wurden festgestellt und die Erziehungsberechtigten auf den Revieren ermahnt.» Einige Tage später geht eine erneute Klage der Frau Tschiersch ein, diesmal über das Rollerfahren auf dem ausgehobenen Grundstück. Nach einem langen Hin und Her anerbietet sich schließlich Frau Günther, die Flurnachbarin der Frau Tschiersch, «das Revier fernmündlich zu benachrichtigen», wenn die Bewohner «sich in ihrer Ruhe beeinträchtigt fühlen». Die wilden Spielplätze werden eingezäunt.

 

Meine Straße gleicht einer Konstruktion aus einem Meccano-Baukasten von damals, die beim geringsten Windhauch in sich zusammenfällt. Das Baupolizeiamt Schöneberg befindet sich in ständigem Alarmzustand. In der Nummer 8: «Durch die Kriegsereignisse ist das Vorderhaus zerstört. So steht eine Ruine, die einzustürzen droht und die öffentliche Sicherheit gefährdet.» In der Nummer 4: «Eigentümer: nicht zu ermitteln! Ruine ausgebrannt. Muss gesprengt oder abgetragen werden! Einsturzgefahr! Das Grundstück soll für den Wiederaufbau abgeräumt werden.» Am 31. Mai 1949 fertigt der Architekt W. Rerenkothen einen Bericht über die Nummer 6 an: «Ausgeschlachtete Ruine. Ohne Dach durch Feuchtigkeit Einsturzgefahr. Vdhs. 1. Stock wohnt Mieter Hermann unter unglaublichen Verhältnissen!! Mieter muss ausziehen.» Ende des Jahres erhalten die Mieter des Hauses ein Einschreiben vom Baupolizeiamt Schöneberg: «Wir müssen Ihnen zu unserem Bedauern untersagen, Ihre Wohnung ab sofort noch als Aufenthaltsräume (als Wohn-, Schlaf-, Geschäfts- oder Arbeitsräume) zu benutzen oder benutzen zu lassen.» Durch das Mauerwerk ziehen sich Risse. Mürbe gewordene Fassadenteile stürzen auf die Straße. Mehrere Häuser haben kein Dach mehr. Es gibt gefährliche Brandmauern, Schornsteine, Dachaufbauten, Balkone und Erker. Die Balken sind durch den Schutt überlastet oder fangen an zu faulen. Durch die in feuchten Hinterhöfen lagernden Schuttmassen entsteht Schwammgefahr. Die Eigentümer versuchen zu reparieren und abzudichten. Aber es fehlt an Baumaterial. Überall werden Notdächer errichtet, Löcher gestopft.

Das Archiv der Baupolizei hält den Leidensweg des Hauses Nummer 6 fest, an dessen Stelle sich heute ein kleiner gelbfarbener Block mit vier Stockwerken befindet. In der Brandmauer gibt es einen zehn Meter langen Riss. Am 12. Mai 1954 erhält die Eigentümerin Frau Frieda Kottke den Abbruchschein Nº 182/54. Abbruch und Enttrümmerung des Gebäudes wird der Firma Ulrich Sperling anvertraut. Im August informiert Ulrich Sperling das Baupolizeiamt Schöneberg, dass sich auf der Baustelle ein tödlicher Unfall ereignet hat: «Am heutigen Tage hat sich gegen 8 Uhr früh ein Unfall zugetragen. Der Arbeiter Paul Schlag ist mit einem Balkon aus dem 3. Stockwerk abgestürzt und dabei lebensgefährlich verletzt worden. In der Zwischenzeit ist er gestorben. Die Kriminalpolizei hat sofort an Ort und Stelle alle Aussagen festgehalten und fotografische Aufnahmen gemacht.» Am nächsten Tag wird im Polizeibericht die Identität des Betroffenen bekanntgegeben: Paul Artur Schlag, geboren am 20. Mai 1908 in Leipzig, Elektromonteur, geschieden, katholisch, deutsch.

Einige Monate später, am 13. Januar 1955, beklagt sich Walter Schäfer, Eigentümer einer Großhandels-Agentur für Textilien, der in der Nummer 25 wohnt, beim Baupolizeiamt über die «endlos dauernden Enttrümmerungsarbeiten» in der Teilruine ihm gegenüber: «Das ganze Unternehmen verfolgte offensichtlich nur den Zweck, die mit großer Vorsicht heil geborgenen Steine für Handelszwecke fortzuschaffen. Alles andere blieb liegen, und Sie wollen sich bitte durch Augenschein überzeugen, dass der jetzt geschaffene Zustand einen Schandfleck darstellt. Der Wind treibt den Trümmerstaub in die Höhe und durch die verschlossenen Fenster meiner Wohnung.

Ich bin der Meinung, dass es nicht zulässig ist, ein Trümmergrundstück als Steinbruch zu betrachten, alles, was irgendwie einen Handelswert hat, auszuschlachten, und wenn dann die Sache nicht mehr lohnt, eine Trümmerstätte zurückzulassen, die schlimmer aussieht als im Jahre 1945 nach einem Bombenangriff. Dass bei diesen Arbeiten ein Mann tödlich verunglückte, ist bekannt. Dass die überbelasteten Decken und Kellergewölbe immer dann zusammenbrachen, wenn zufällig kein Arbeiter darauf stand, ist ein Glücksumstand.»

 

Genauso hatte sich Frau Rath als Kind im Religionsunterricht die Apokalypse vorgestellt: «Unsere schöne Straße wurde dem Erdboden gleichgemacht. Ich habe so lange geweint. Das sah aus! Ruine! Ruine! Die ganze Ecke, alles war weg. Alles kaputt. Asche und Schutt. Die 25 stand noch, aber der Seitenflügel war weg.» Frau Rath ist 96, als ich sie in ihrem Altersheim wenige Schritte von meiner Straße entfernt besuche. Ihre ehemaligen Flurnachbarn aus der Nummer 25 haben mich auf sie aufmerksam gemacht. Frau Rath kennt sämtliche Geschichten unserer Straße. Sie bezog während des Krieges die Nummer 25 und hat ihre Wohnung erst vor kurzem verlassen. Meine Nachbarn haben sie auf dem Markt getroffen. Es ging ihr prächtig. «Nutzen Sie es», sagten sie. «Mit 96 ist man Zeuge eines ganzen Jahrhunderts. Aber manchmal steigt der Kopf von einem Tag zum anderen aus, und flutsch! Es bleibt keine einzige Erinnerung.»

Ich spürte, dass Eile geboten war. Schwester Sylvia, die Sprechstundenhilfe des Arztes aus der Nummer 26, bestätigte mir: «Frau Rath! Eine ganz Liebe! Und glauben Sie mir, in ihrem Alter sind nicht alle so. Frau Rath hat den Kopf noch ganz beisammen, und ich bin sicher, sie würde sich über Besuch sehr freuen. Genau das fehlt allen unseren alten Patienten: jemand, der sich für sie und ihr Leben interessiert.» Also verlasse ich mich ganz auf Schwester Sylvia. Schwester Sylvia ist eine unersetzliche Spürnase bei meiner Jagd nach uralten Damen aus meiner Straße. Stets lächelnd, stets gutgelaunt, ist sie die lebende Verkörperung der Maximen aus dem Lebensfreude-Kalender, der im Empfang der Arztpraxis über ihrem Kopf hängt. Jedes Mal, wenn ich bei Schwester Sylvia war, hatte mein Leben wieder einen Sinn. Alles klar! Diesmal habe ich es wirklich begriffen! «Buche Fehler und Misserfolge auf das Konto Lebenserfahrung!», «Glück und Zufriedenheit kannst du nur in dir selbst finden!», «Suche die offenen Türen, statt auf die verschlossenen zu blicken!», «In jedem Übel steckt etwas Gutes, du musst es nur erkennen!» Dieses schlichte do it yourself ist ein wirksames Heilmittel gegen metaphysischen Schwindel jeder Art.

Schwester Sylvia kennt, da bin ich mir sicher, die bestgehüteten Geheimnisse meiner Straße. Nur schade, dass sie stumm ist wie ein Grab. Ich besuche sie regelmäßig. Dann leckt sie ihren Zeigefinger ab und blättert in dem hölzernen Karteikasten, in dem ihre Patienten in alphabetischer Reihenfolge auf Kärtchen festgehalten sind: «Mmm … schauen wir mal … Wen haben wir denn da … Nee, die Dame ist viel zu tüdelig … Upps, die da ist letzten Monat gestorben.» Flugs zieht sie die überflüssig gewordene Karte heraus. Schwester Sylvia sammelt gewaltige Naturphänomene wie andere Briefmarken. Sie wirft mit verblüffenden Lebensaltern nur so um sich: 95 Jahre! 97 Jahre! Ihre Trophäen sind die Hundertjährigen. Sie hat eine ganze Handvoll in petto. Aber Schwester Sylvia wahrt stets die Anonymität ihrer alten Patientinnen. Sie kontaktiert sie selbst und stellt ihnen die Fragen ganz behutsam. Ich höre, wie sie am Telefon die Stimme hebt: «Jawohl, eine Französin in Berlin. Sie möchte wissen, wie es damals war! Ja, DAMALS … WIE ES WAR.» Und wenn die Gefragten einverstanden sind, rückt sie ihre Telefonnummern heraus. Frau Rath ist sofort einverstanden. Wir verabreden uns.

Ich warte eine ganze Weile mit meinem Blumenstrauß in der Hand vor ihrer Tür. Der Florist hat mir empfohlen, lebhafte, fast zu grelle Farben zu wählen. «In diesem Alter rate ich von Hellrosa und Weiß ab. Sie sieht bestimmt nicht mehr sehr viel!» Eine große, stattliche, 1913 geborene Frau öffnet mir. Sofort fällt mir ihre kaum zerknitterte Haut auf. Ich mache ihr ein Kompliment. «Freiöl, Wasser, Seife. Keine Creme. Gar nichts!», erklärt sie, stolz, nie zu Schminke, Wangenrot, Lidschatten gegriffen zu haben, zu all diesen dekadenten Kunstgriffen, die in ihren Augen – wie ich wenigstens annehme – Zeichen einer zweifelhaften Tugend sind. Ihre einzige Koketterie: feine goldene Kreolen an den Ohren und ein blasslila Schimmer in den unter einem dünnen Haarnetz gebändigten Haaren. «Ich habe wunderschöne Haare gehabt. Kastanienbraun und dick. Haare und Füße, das muss in Ordnung sein.» Und dann entschuldigt sie sich. Weil ihr Bein seit einigen Tagen angeschwollen ist, trägt sie weder Strümpfe noch Schuhe, sondern Plastikclogs mit großen violetten Blumen. In ihren grotesken Schuhen wirkt sie wie Minnie Mouse. «Ich hätte nicht gedacht, dass ich so alt werde. Stellen Sie sich mal vor: zwei Kriege! Die Inflation! Die Massenarbeitslosigkeit! Und dann diese düsteren Nachkriegszeiten … Man denkt, es ist alles aussichtslos, aber es geht doch!» Heute hat Frau Rath keine Angst mehr vor dem Unkontrollierbaren. Sie trägt die Sicherheit an einem Band um den Hals. Einen Senioren-Alarm.

 

Frau Rath wird 1943 in die Wohnung im zweiten Stock der Nummer 25 eingewiesen. Das Gebäude, das sie zuvor in einer Nachbarstraße bewohnte, ist ausgebombt worden. Frau Rath und ihre beiden Kinder stehen auf der Straße. Sie müssen so schnell wie möglich untergebracht werden. «Da haben wir zwischen qualmenden Häusern gesessen, bis man uns diese Wohnung gegeben hat. Sie ist eben gerade frei geworden. Man hat sich gar nicht getraut, da reinzugehen in das Haus, da war alles aus Marmor. Der große Spiegel über dem Kamin in der Eingangshalle. Der wurde nach dem Krieg abmontiert. Der Teppich aus rotem Velours im Flur. Die waren alle reich hier. Die hatten sogar einen Portier!» In der Sprache der Fluggesellschaften würde man heute sagen, Frau Rath sei upgraded worden.

Sie hat gerade mal Zeit, ihre Koffer abzustellen, dann wird sie mit ihren Kindern aufs Land evakuiert. Als der Krieg vorbei ist, kehrt sie nach Berlin zurück. Aber sie kennt ihre Nachbarn nicht. «Wer damals hier gewohnt hatte, war nicht mehr da. In den meisten Wohnungen lebten Flüchtlinge, Leute von anderswo, oft mehrere Familien in einer Wohnung. Viele wurden zwangseingewiesen.» Frau Rath fragt sich, ob sie die einzige Überlebende der Straße sei. «Wir haben angefangen, alle Fenster mit Pappe zuzustopfen. Wir haben an unseren Schlafzimmermöbeln das Angebrannte abgekratzt. Ach nee … Das kann man sich nicht vorstellen. Gar nicht. Man musste durch, und es ging. Wir waren erleichtert, endlich zu Hause zu sein.»

«Zu Hause …» Frau Rath ist ein wenig verlegen über den Ausdruck, den sie gewählt hat. Sie korrigiert sich: «Zu Hause, wenn man das so sagen kann.» Als sie zum ersten Mal die Küche dieser Fremden betritt, war der Abendbrottisch nicht abgeräumt. Frau Rath erzählt von den übriggebliebenen Brotkrumen auf dem Tischtuch, von dem in den Tassen erkalteten Kaffee. Die Stühle waren in aller Eile zurückgeschoben worden. Alles wies auf einen überstürzten Weggang. Auf dem Kupferschild an der Wohnungstür ein Name: MAY. Das ist die einzige Information, die Frau Rath besitzt. Ein einfacher Name ohne Gesicht und ohne Geschichte. Die Mays sind gegangen, ohne eine Adresse zu hinterlassen und ohne ihren Haushalt mitzunehmen.

«Ich kannte die nicht. Eines Tages waren die Mays weg!» Wie die Kaninchen, die beim Zaubertrick verschwinden. Und hopp! Weg sind sie! Eine ganze Familie von einem großen Klappzylinder verschluckt. In meiner Straße wunderten sich nur wenige über diesen verblüffenden Zaubertrick. Weg, ein kurzes, knappes Wort, so imperativ, dass es keine Frage in seinem Gefolge duldet. Auf einmal ist es in der Wohnung des zweiten Stockwerks still geworden. Keine nachbarschaftlichen Geräusche mehr, die in einem Wohnhaus die Musik ausmachen: das knarrende Parkett im Stockwerk über einem, ein nächtlicher Hustenanfall, das fast unhörbare Surren einer Nähmaschine, das Rauschen der Wasserspülung und der Armaturen … «Ja», wiederholt Frau Rath, «sie waren einfach weg! Sie waren Juden. Man konnte sich was denken …» Jeder kann sich die Fortsetzung hinter den Auslassungspunkten dieses abgebrochenen Satzes selbst denken.

 

Aus dem Berliner Gedenkbuch erfährt man, dass die Wohnung, in der sich Frau Rath niederließ, von zwei Frauen bewohnt gewesen war, Helene und Charlotte May, Mutter und Tochter. Helene May, geboren 1864 in Gembitz, Posen, gehörte zum 54. «Alterstransport» vom 1. September 1942 Richtung Theresienstadt. Todesort Minsk. Charlotte May, geboren 1896 in Breslau, gehörte zum 29. Transport, der Berlin einige Monate später verließ, am 19. Februar 1943. Sie starb in Auschwitz. Neben den Namen der beiden Frauen die Bemerkung «verschollen».

Ich wollte im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in der Nähe von Potsdam die Vermögenserklärung der beiden Frauen einsehen. Auf einem bewaldeten Hügel hinter einer schier endlosen Reihe von Vororten, weit von meiner Straße entfernt, hoffte ich, etwas mehr über ihre Identität und vielleicht über ihr Leben zu erfahren. Auf dem Tisch, der mir im Lesesaal reserviert war, nur ein ganz dünner graublauer Schnellhefter, mit der Aufschrift «Helene May», geborene Lewin, verwitwet, ohne Beruf, Jüdin, seit dem 1. April 1937 Bewohnerin der Nummer 25. Kurz vor ihrer Deportation musste die alte Dame für die Vermögensverwertungsstelle des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg ein Formular mit der Liste ihres gesamten Vermögens (aktiv und passiv) im In- und Ausland ausfüllen: Bargeldbestand, Guthaben bei Geldinstituten, Wertpapiere, Inhalt eines eventuellen Panzerschließfachs, Grundstücke, Versicherungen, Anspruch auf Gehalt, Provisionen, Pensionen, Renten, Kautionen, Erbschaften oder Vermächtnisse, Nießbrauchrechte, Ansprüche aus Lizenzverträgen, Patent-, Urheber-, Marken- und Musterschutzrechte, sämtliche Schulden und Steuerrückstände, offene Strom- und Gasrechnungen, Wohnungsinventar und Kleidungsstücke (Anzahl und Wertangaben) von den Deckenlampen und Plumeaus bis zu den Uniformen, Smokings und Schlafanzügen der Herren und den Strumpfpaaren, der Wäsche und den Skistiefeln der Damen. Selbst die im Keller gelagerten Kartoffeln und Kohlen mussten in Kilogramm angegeben werden.

Helene May hat sämtliche Kategorien mit Tintenstift durchgestrichen. Ist der Strich wütend, müde oder einfach resigniert? Verängstigt ganz ohne Zweifel. Helene May besitzt nichts mehr. Es ist das letzte, am 24. August 1942 von ihrer Hand geschriebene Dokument, wenige Tage vor ihrer Deportation. Doch das Wort Deportation findet sich nie in den Unterlagen. Statt dessen Euphemismen: Helene Sara May ist «evakuiert», «abgeschoben» worden, oder sie ist «ausgewandert». Die zittrige Unterschrift unterhalb des Formulars, ein wenig verschwommen, weil das Papier die Tinte nicht gut absorbiert hat, ist das letzte Lebenszeichen und die letzte bürgerliche Handlung der Helene May. Danach ist sie nur noch eine Nummer: «Kennort Berlin A 500573».

Es war mir nicht wohl dabei, 71 Jahre später diesen Fragebogen zu lesen, der diese Frau, die einmal meine Nachbarin aus der Nummer 25 gewesen ist, auf ein Bündel von im bürokratischen Wahn erstarrten Informationen reduziert. Sechzehn Seiten für ein ganzes Leben. Darum war ich fast erleichtert, als die Archivarin mir mitteilte, dass die Akte ihrer Tochter Charlotte «Schimmelbefall aufweist und daher nicht vorgelegt werden kann». Sie wurde augenblicklich in einer Kiste versiegelt und in eine Restaurierwerkstatt geschickt. «Was Monate dauern könnte», wie mich ein gesprächiger Lagerverwalter informiert, den ich vor der Kaffeemaschine ausfrage. Ich habe sie aufgesucht, um ein wenig durchzuatmen. Er beschreibt mir einen schwarzen Pilz, der die Atemwege zerfrisst und die Lungen in einen Löcherschwamm verwandelt. Wir lachen etwas verlegen. «Wahrscheinlich sind die Unterlagen während des Krieges in einem feuchten Keller falsch gelagert worden. Man sieht den Schimmel jahrelang nicht, und plötzlich kommt er hoch, wenn die Bedingungen da sind.» Es war mir nicht gestattet, einen Blick auf die Unterlagen zu werfen, und ich hatte das seltsame Gefühl, dass Charlotte May sich schützt. Sie will diese obszöne Entblößung nicht. Sie hüllt sich in einen Schleier aus Schimmel. Sie verstummt. Ich bin froh darum.

Die einzige Information, die der Schnellhefter der Helene May hergibt, ist, dass Herr Rath am 20. April 1943 die Möbel der Mays kauft. «Ganz bestimmt unter Wert. Ein Schnäppchen», sagt mir die Archivarin. Trotzdem hatte Frau Rath den Eindruck, den Kürzeren gezogen zu haben, als sie es sich in diesen herrschaftlichen, aber sehr alten Möbeln gemütlich macht. «Bei mir war alles neu gewesen!» Die Raths hatten ihre Wohnung, kurz bevor sie ausgebombt wurden, von Grund auf renoviert.

Frau Rath wirft den Portiers der Straße vor, sich nach dem Weggang der Juden so schlecht benommen zu haben. «Sie haben sich alles unter den Nagel gerissen», sagt sie. «Sie hatten einen Schlüsselbund für die Wohnungen. Sobald die Lastwagen, die die Juden holten, um die Ecke bogen, stürzten sie sich in die leeren Wohnungen. Sie bedienten sich, bevor das Siegel angebracht wurde: die Teppiche, die Pelzmäntel, die feine Wäsche. Es blieben nur noch die Schränke. Die hätten sie nicht rausgekriegt. Sonst hätten sie sie auch rumgeschleppt. Eine unverhoffte Beute. Sie haben alles weiterverkauft. Und dann hieß es, es war die Gestapo. Nein, es waren die Portiers! Sie hatten sich schön eingerichtet. Nach dem Krieg hatten sie in ihrer Stube Perserteppiche übereinandergestapelt. Und wir hatten eine kleine kaputte Bude oben!» Nach dem Krieg trägt die Zeitungsfrau einen Nerzmantel, «während der Kristallnacht aus dem Schaufenster eines Geschäfts gestohlen», flüstert man, wenn sie vorbeigeht. Die Portiersfrauen tragen Astrachan und Otter. Die Mäntel rochen noch nach dem Moschusparfüm der Vorgängerin. In den Unterlagen der zahlreichen Restitutionsprozesse, die in den fünfziger Jahren von den Nachkommen jüdischer Mieter meiner Straße angestrengt wurden, wimmelt es von diesen Objekten, die genauso verschollen sind wie ihre Besitzer.

 

In den fünfziger Jahren ist meine Straße bedrückt, leise und ganz klein. Es sind traurige, graue, stumme Zeiten. So vieles ist verloren. So viele sind gestorben. Meine Straße gleicht einem Hof der Wunder, in dem unheimliche Wesen umherirren. «Dem einen fehlt ein Bein, dem andern ein Stück Kinn, ein Auge», zählt Frau Rath auf. Man nennt sie die Kriegsversehrten. Ihre Holzkrücken hämmern auf das Straßenpflaster. Ihre Stummel in den abgenähten Hosen sind in Gaze gewickelt, als wären sie einbalsamiert. Sie sind in genauso schlechter Verfassung wie die Gebäude. Bei ihrem Anblick kann man sich vor Augen führen, was sich an dieser so abstrakten Ostfront abgespielt hat. Noch sehr lange zierten Papierfetzen mit dem Namen und manchmal dem Foto eines vermissten Soldaten die Häuserruinen meiner Straße: «Wer kennt Wilhelm Strutz?», «Bruder vermisst!» Wenn man auf der Straße Nachbarn trifft, unterhält man sich nicht über das Wetter. Man zählt seine Toten. Frau Raths Lieblingsbruder ist in Stalingrad geblieben. «Geblieben», sagt sie … Als hätte er aus freiem Willen entschieden, nicht nach Hause zurückzukehren. In der Straße herrscht «Herrenknappheit». Frau Rath rechnet amüsiert: «Die Proportion war ungefähr ein Mann auf drei Frauen. Diese Herren hatten nur die Qual der Wahl. Sie können sich denken, dass sie es ausgenutzt haben!»

Meine Straße entfaltet eine ungeheure Energie, um wieder einen Anschein von Alltag herzustellen. «Not macht erfinderisch», sagt Frau Rath. Nach dem Krieg drehte sich alles darum, das Notwendigste für den Alltag zu organisieren: Kleidung, Baumaterial und vor allem Nahrungsmittel. In West-Berlin gab es Lebensmittelkarten für Eier und Milchpulver, getrocknete Kartoffeln, einen Klecks Margarine, Möhrenstücke. Die Versorgung war schlecht. Es brauchte Organisationstalent. Aus alten Kleidern wurden neue gemacht, und die Sachen sahen trotzdem schön aus. Aus dem Soldatenmantel der Wehrmacht … ein Wintermantel. Aus dem Verdunkelungsvorhang … eine schwarze Hose. Aus Stahlhelmen … Kochtöpfe. Aus Kartoffeln und Haferflocken … Torten. Und es gab nur Ersatzkaffee. Damals blieb kein Stückchen Papier auf der Straße liegen. Alles wurde verwertet. «Unsere Generation hat viel durchgemacht! Was hat man alles durchgemacht, Junge, Junge …»

«Durch» und «aus» heißen die Präfixe der Nachkriegszeit. Durchgemacht, durchgehalten, durchgekommen, durchgefroren … ausgebombt, ausgehungert sind die Verben, die die Gespräche meiner Straße rhythmisieren. Klagende Gespräche, voll von Opfergeist und Schmerz.

Die Kaiser-Barbarossa-Apotheke, deren Gebäude auf dem Platz vollständig zerstört wurde, zieht in die Nummer 26. Am 23. Januar 1952 beklagt sich der Apotheker Ludwig Guercke in einem Brief ans Finanzamt:

«Ich empfinde diese Zahlungsaufforderung als außergewöhnliche Härte und zwar aus dem Grunde, dass ich als Totalbombenbeschädigter alles Betriebsvermögen der Apotheke verloren habe. Außerdem am 28. April 1945 den Totalverlust meiner Wohnung zu verzeichnen habe.

Dass ich außerdem den Tod meines an der Front gefallenen Sohnes zu beklagen habe, möchte ich am Rande miterwähnen.

Die jetzige Apotheke befindet sich in einer Ruinengegend, und es ist daher unmöglich, aus den an und für sich geringen Umsätzen nebenher Verbindlichkeiten erfüllen zu können.

Das Finanzamt hat von diesen Tatbeständen Kenntnis und hält es für angebracht, die Steuerbeträge von mir zu fordern.»

Man wird nicht müde, von der Ankunft der Siegermächte zu erzählen. Zuerst die Russen. Armselig und verhungert waren sie über den Schutt hinunter in die Keller gekommen, wo sich seit drei Tagen ein kleines verängstigtes Völkchen verkrochen hatte. Man erzählte mir, eine Nachbarin habe am Eingang ihres Kellers eine rote Fahne aufgehängt. Sie hatte das Hakenkreuz aus ihrer Nazifahne geschnitten und die Teile wieder zusammengenäht. Der Bolschewik ist noch schlimmer als in der nazistischen Propaganda. Die Russen hacken die Bäume um, monopolisieren die Wasserpumpe vor der Nummer 3 und vergewaltigen die Frauen. «Sie haben genommen, was ihnen unter die Finger kam», sagt Frau Rath. «Wenn ich in den Fernsehnachrichten Russen in Uniform sehe, wird mir noch immer ein bisschen schlecht.»

Im Sommer 1945 tauchen an der Straßenecke die ersten amerikanischen Panzer auf. Die Amis sind satt, sauber, tragen neue Uniformen und blanke Stiefel. Sie bringen Weißbrot, das man mit Lebensmittelkarten erwerben kann. Meine Straße wird dem amerikanischen Sektor zugeteilt. In dem Klassement der Besatzungsmächte stehen die Russen ganz unten, die Franzosen gelten als mittelmäßig, die Engländer oft als sadistisch. Bei den Amis ist man sicher, anständig behandelt zu werden. Sie haben ein ordentliches Clubhaus neben der Post in der Hauptstraße. Hier tanzen sämtliche Mädchen mit den schönen Sergeants der US-Army Boogie. «Na sagen Sie mal!», empört sich Frau Rath, die nicht für ein Amiflittchen gehalten werden will. «Ich war verheiratet. Ich hatte den Haushalt. Ich konnte nicht tanzen gehen!» In ihren Augen haben die Amis einigen Verfall zu verantworten: «Bei uns war es sehr ordentlich vor dem Krieg. Es gab Schulkleidung und Sonntagskleidung. Heute rennen alle mit Jeans rum. Das haben wir von den Amis übernommen. Der Deutsche macht alles nach. Dabei sind wir eine Kulturnation!»

Wenn man genau auf das Timbre in der Stimme von Frau Rath achtet, bemerkt man einen Hauch Stolz, ja vielleicht gar eine Regung der Freude, dass man das alles «geschafft» hat. Frau Rath erinnert sich gerne an diese Jahre der Entbehrungen. Sie und ihr Mann haben mit nichts angefangen. Sie haben so viel durchmachen müssen. «Heute sollten sie sich eine Scheibe davon abschneiden! Wie schnell haben wir wieder aufgebaut!» Frau Rath kann es noch immer nicht fassen. «Wie wir gebaut haben, Junge, Junge. Alles war kaputt. Und Mitte der Fünfziger ist Deutschland wieder wirtschaftlich an der Spitze. Heute stehen wir besser als alle anderen da.»

 

Von ihrem Zimmerfenster im Altersheim aus beobachtet Frau Rath den Weihnachtsmarkt unten auf dem Platz. All diese unnützen Gegenstände, dieser lächerliche Klimbim, diese Pyramiden von Süßigkeiten. Diese ganze Überfülle. Sie gehört einer Generation an, die ihren Teller leer isst, die Reste verwertet und das Geschenkpapier glättet, um es nächstes Weihnachten wieder zu benutzen. «Heute wird alles so übertrieben. Meine Güte! Dauernd wird angeboten, angeboten. Alle verrückten Sachen werden verkauft. Ja. Ja. Die Kinder heute leben im Scharaffenland. Unserer Gesellschaft fehlt die Not als Antrieb. Die Not verändert alles. Sie macht erfinderisch. Damals waren die Menschen flexibler, geschmeidiger. Der Mensch ist heute so eingeengt.»