Straßenklatsch

Kann es wirklich sein, dass in einer Straße nie etwas passiert ist? Oberflächlich betrachtet wirkt meine Straße ganz harmlos. Ihr Name taucht nur selten auf den «Vermischtes»-Seiten der diversen Berliner Zeitungen auf, die ich stundenlang durchkämmt habe. «In der Nacht vom 9. zum 10. Mai 1961 drangen unbekannte Täter in die Kaiser-Barbarossa-Apotheke ein. Nach bisherigen Ermittlungen wurde nur Bargeld entwendet», unterrichtet die Pharmazeutische Zeitung. Na toll! Das ist die einzige prickelnde Notiz, die ich über meine Straße gefunden habe. Aber das will nichts heißen. Wenn ich die Archivberichte, das Kiezgeflüster und die mehr oder weniger glaubwürdigen Legenden addiere, kommt eine beachtliche Summe flüchtiger kleiner Ereignisse zusammen, die ihr über die Jahre ein wahres Leben verschaffen.

 

Einer, der sehr nützlich ist für die Rekonstruktion einer Geschichte durch die Epochen hindurch, ist der Stänkerer vom Dienst. Dieser Mitbürger ist verärgert und will, dass die ganze Welt das weiß. Sich zu beklagen ist sein Lebensinhalt, ja seine große Leidenschaft, so offensichtlich ist das Vergnügen, mit dem er seine Mission verfolgt: seine Mitmenschen auf den rechten Pfad zurückzubringen. Hundekacke und -pisse auf dem Gehsteig, Mäuse und Kakerlaken in den Kellern, Feuchtigkeit und Risse in den Mauern, defekte Spülkästen und Gaslecks in den Badezimmern, nächtliche Ruhestörungen, heimliche Untermieter … Von 1904 bis in unsere Tage ist der Katalog wenig abwechslungsreich. Die Straßen scheinen unterschiedslos die gleichen Konflikte hervorzubringen. Sie verlaufen in festen Bahnen, sind unfähig, andere, vielleicht kribbelndere zu erzeugen. Die Reklamation wird von einem Zeitalter ans nächste weitergegeben, wie der Stab in einem Staffellauf.

Meist bläst der Stänkerer nicht allein in seiner Ecke Trübsal. Nein, er beklagt sich offiziell, oft und schriftlich. Nehmen wir nur mal Julius Poppelauer, mit seinem lächerlichen Namen, seinen Zornesfalten auf der Stirn, seinen steifen, höflichen Wendungen, seinem Bleistiftstrich, der auf den Briefen, die er Schlag auf Schlag an die Baupolizei sendet, tiefe Kratzspuren hinterlässt. Julius Poppelauer ist der Oberstänkerer meiner Straße, der hartnäckigste, derjenige, der aus dieser langen Dynastie am meisten hervorsticht.

Sein erstes Donnerwetter geht auf das Jahr 1930, mitten in die Wirtschaftskrise, zurück. Der Eigentümer seines Hauses, der Nummer 2, beschloss – vermutlich wegen der hohen Kohle-Kosten – die Zentralheizung stillzulegen und zu den Heizöfen zurückzukehren. In fast allen Gebäuden meiner Straße wurden die Heizkörper, die in sämtlichen Zimmern, in den Gemeinschaftsräumen und der Diele liefen, ausgemacht, und man installierte in der Stube, wo man sich am häufigsten aufhielt, einen individuellen Ofen. Wochenlang hüpften die beiden Bezirksschornsteinfegermeister Oswald Wabner und H. Flick wie junge Zicklein auf den Frühlingswiesen von einem Dach zum andern. Die Handwerker bauten neue Öfen ein. Es dauerte nicht lange, bis eine erste Funktionsstörung gemeldet wurde. Und da erschallte der erste Fanfarenstoß, Herr Dir. Julius Poppelauer blies für die erbosten Mieter zum Angriff: Rauchbelästigung! Lebensgefährliche Gase! Unerträgliche Gerüche! Unbrauchbare Schlafzimmer! Unerhörter Zustand!

 

Die Reklamationen erstrecken sich durch ein ganzes Jahrhundert. Die meisten sind – im Nachhinein – herrlich grotesk: 1917 fordert der Baupolizei-Präsident den Eigentümer der Nummer 8 auf, die Ratten zu eliminieren, und rät ihm, Phosphorlatwerge auf ein Lockmittel zu streichen, «am besten Fisch (Bückling, Hering) oder gebrannten Speck, da die Latwerge auf Brot von den Ratten erfahrungsgemäß nur dann gefressen wird, wenn keinerlei andere Nahrung mehr vorhanden ist». 1929 bittet ein Mieter aus der Nummer 3 seinen Wirt, in der Waschküche elektrisches Licht anstelle des gefährlichen Petroleumlichts anzubringen. 1930 moniert Ministerialrat Dr. Westphal aus der Nummer 5, ein hohes Tier, das im obersten Stockwerk wohnt, ein schadhaftes Dachwerk und Pilze im Mauerwerk. Im selben Gebäude wird nach dem Krieg von wiederholtem Brötchendiebstahl berichtet. Das Haus wird nachts nicht geschlossen und ist nicht unter Aufsicht! 1936 schläft der Sohn von Frau Kaufmann aus der Nummer 8, die ihre Wohnung zum großen Teil vermietet, in einer Dachkammer, die nicht als Wohnraum benutzt werden darf. «Da auch keine Toiletten auf dem Boden sind, sollen auch allerlei Unreinlichkeiten durch den Sohn der Frau Kaufmann und dessen Besucher vorkommen», hält der Denunziant fest.

Meine Straße hat gar ein paar handfeste Wutausbrüche zu verzeichnen. 1947 wird in der Nummer 5 ein Bauführer vom Tapezierer und Dekorateur im Erdgeschoss «schwer beschimpft und tätlich angegriffen». Der Kläger beantragt die «Höchststrafe». 1973 beklagt sich in meinem Haus der zu 90% schwerkriegsbeschädigte Alfred Konrad, der seit 12 Jahren mit einer gehbehinderten älteren Frau, einem querschnittsgelähmten Schwerkriegsbeschädigten und einem Mieter mit Herz- und Kreislaufbeschwerden auf demselben Stockwerk wohnt, dass der im Gebäude befindliche Fahrstuhl seit mehreren Wochen stillgelegt ist. In der Folge erfahre ich, dass Frau Konrad «viel Wasser im Körper hatte und völlig aufgedunsen ist».

Welches Vergnügen, als die Archivberichte ab den sechziger Jahren von den Erzählungen meiner Nachbarn ergänzt werden. Auf einmal wird das Drama, das das Ehepaar Konrad, in schlechter Verfassung und ohne Fahrstuhl, erlebt, ganz real.

 

Der Wasserschaden ist ein Klassiker im Leben einer Straße. Einer der spektakulärsten ereignete sich Anfang der siebziger Jahre in meinem Gebäude: Im vierten Stock lebte eine Oberstudienrätin in einer Wohnung mit schadhaften Rohrleitungen. Das Wasser durchtränkte die Decke des Dritten wie einen Schwamm und ergoss sich in den riesigen Bronzekronleuchter im Esszimmer des Zweiten. Der Bronzekronleuchter verwandelte sich in einen Springbrunnen. Zwei weitere Stockwerke wurden in Mitleidenschaft gezogen, und so lebte man ein Vierteljahr, die Heizung lief auf vollen Touren, wie im Tropenhaus, damit es trocknete.

Vor einiger Zeit erhitzte der Markisenkrieg einen Sommer lang die Gemüter. Ein nicht sehr farbenbewusster Wohnungsbesitzer ließ in seiner Loggia eine königsblaue Markise installieren. Sein Nachbar schäumte: «Dieses Haus sieht bald aus wie eine italienische Eisdiele! Das muss man sich mal ansehen! Gestreifte, einfarbige, blaue … Dabei haben wir uns auf der letzten Eigentümerversammlung auf eine zur Fassade passende Harmonie von Gelb und Orange geeinigt!»

Ich weiß nicht, ob die beiden Parteien heute noch miteinander sprechen.

 

Der Stänkerer braucht ständig neues Futter. Er liegt stets auf der Lauer. Da ist jener, der mir des Nachts inkognito die verwelkte Blume, die ich vom Balkon auf den Gehsteig geworfen habe (ja, absichtlich!), auf die Fußmatte gelegt hat. Ja, weil ich es lächerlich fand, mit den paar abbaubaren Blütenblättern zur Mülltonne zu marschieren. Man kann sich vorstellen, wie er vor sich hin brütete, gegen den schmutzigen Zustand der Straße und meine Unverschämtheit wetterte, sich über seinen anonymen kleinen Racheakt freute und zu seinem Mut beglückwünschte. Da ist jener, der das Kommen und Gehen bei den Mülltonnen ausspioniert und, da bin ich mir sicher, abends den Deckel hebt, um zu kontrollieren, ob die Mülltrennung auch ordentlich vonstatten gegangen ist.

Eine Straße hallt wider von diesen mickrigen Denunzierungen, haltlosen Verleumdungen, nachbarschaftlichen Streitigkeiten, Eifersüchteleien, Fehden zwischen Mietern, von Reklamationen jeder Art. Von diesen Tragödien um Kaugummis, die genau vor dem Eingang eines Hauses auf den Boden gespuckt werden, von diesen Dramen um Hundedreck im Vorgarten. Von diesen Drohungen, diesem «Wenn das nicht aufhört, rufe ich die Polizei!».

 

Weitere unumgängliche Figur in einer Straße: der Paria. Der Paria und der Stänkerer bilden ein unzertrennliches Paar und ergänzen sich perfekt. Man könnte meinen, der Paria wäre eigens erfunden worden, um die Galle des Stänkerers in Wallung zu bringen. Er muss seine Flaschen unbedingt sonntags zur Zeit der Mittagsruhe in den Container des Hinterhofs werfen, systematisch, eine nach der anderen, indem er sich Zeit nimmt und jedes Mal frohlockt, wenn sie krachend in Stücke geht. Seit Monaten lässt er seine Katze in die dunkle Ecke unter den Briefkästen neben dem Treppenaufgang pissen.

Ebenfalls gut geeignet, Wutausbrüche auszulösen: die Kinder, die nicht grüßen, über das Treppengeländer rutschen, im Flur Basketball spielen oder auf dem Gehsteig Skateboard fahren. Die Schlaflosen, die mitten in der Nacht im Fernsehen Wrestling sehen, die Wasserspülung betätigen und auf ihrem knarrenden Parkett auf und ab gehen, um die Zeit totzuschlagen. Das Rolling-Stones-Groupie, das an Sommernachmittagen die Fenster weit öffnet und die brüllenden Raubtiere aus dem ersten Stock entlässt. Die ganze Straße hämmert I can’t get no … Ich habe eine ganze Weile gebraucht, bis ich verstanden habe, dass die Mission der Rolling Stones darin bestand, das Gabelgeklapper und die Gespräche auf der Terrasse des italienischen Restaurants zu übertönen. Ein vertikaler Krieg zwischen der Mieterin im Ersten, die auf das Recht pocht, abends bei offenen Fenstern die Nachtkühle zu genießen, und dem Inhaber des Restaurants, der sich über seine rappelvolle Terrasse freut. Die Frühaufsteher werden am Ende des Abends regelmäßig von den Schreien der Duellanten aus dem Schlaf gerissen, die sich mit «Du alte Ziege, du!» – «Selber!» um den letzten Parkplatz am Gehsteigrand streiten. Unerträglich auch die Kettenraucher aus dem Zweiten, die bei weit offenen Fenstern die oberen Stockwerke verqualmen. Der hartnäckige Rauch dringt manchmal gar durch die Ritzen des Fußbodens. Die Geigenstunde eines widerspenstigen Kindes, eine wöchentliche Tortur für die ganze Straße. Der Kohl- und Fischgeruch, der das Treppenhaus beschlägt und bis auf den Gehsteig überschwappt. Und die Musiker. Das sind die Schlimmsten. Der Sohn, der die Akkorde auf seiner elektrischen Gitarre im Treppenhaus anschlägt, weil da die Akustik besser ist als im elterlichen Wohnzimmer. «Das Haus hat gebebt», erinnern sich die Nachbarn. Und als die Freundin des jungen Mannes mit ihrer weißen Ratte auf der Schulter auftauchte, wurde diese respektable Familie bezichtigt, in ihrer Wohnung Nagetiere zu züchten. Einer der Mieter drohte gar, den Kammerjäger zu holen.

 

Für eines der größten Highlights unter all diesen Geschichten aber sorgte die ehemalige Mieterin der Wohnung gegenüber der meinen. Man hat mir so viel über diese Frau erzählt, dass ich fast ein wenig enttäuscht bin, sie nicht mehr kennengelernt zu haben. «Was diese Frau uns Nerven gekostet hat!», sagt der heutige Besitzer. «Sie hat allein Probe getrunken. Einen Piccolo, ein Valium, immer abwechselnd.» Und wenn nachts der Fahrstuhl lief, dann wusste der Hauswart: «Ah, ah, sie ist wieder unterwegs!» Er stürzte sich aus seiner Loge, um die Nachbarin im Nachthemd abzufangen und wieder nach Hause zu bringen. Eines Tages drang von ihrer Küche Rauch in den Hinterhof hinaus. Es war der Fußballtrainer, der das Haus benachrichtigte: «Da kommt Qualm aus der Küche!» Der zu Hilfe gerufene Arzt entdeckte durch einen Schlitz in der Tür ihren leblosen Körper auf dem Läufer im Flur, neben ihr inmitten einer Riesenpfütze Alkohol die Zahnprothese. Die Feuerwehr wurde gerufen. «6 Wagen kamen. Was für ein Aufstand!» Sie traten die Tür ein und schleiften den Körper ins Treppenhaus hinaus. Sie lebte noch. «Wir haben uns dann zurückgezogen», sagt mein Nachbar. Später wurde die Unglückliche von einem Taxifahrer und dessen Freundin vom Strich abgezogen. «Am helllichten Tag haben sie die Teppiche runtergetragen. Sie guckten aus dem Fenster raus, weil das Auto zu voll war.» Die beiden Schlitzohren brachten, so wird erzählt, 700000 Mark nach Zürich. Die Kripo verlor ihre Spur.

Und groß war die Überraschung, als die Mieter der Nummer 12 eines Abends ihre Hauswartsfrau, in stiller Übereinkunft «die olle Greul» genannt, mit Perücke und hohen roten Lackstiefeln auf der Potsdamer Straße auf dem Strich entdeckten. Die «olle Greul», ein Name, der so gut zu der kleinen bösartigen Ziege passte, die im Treppenhaus einen «Fraßgestank» ausbreitete und an Wochenenden um sieben Uhr morgens das ganze Haus mit einem Mülldeckelkonzert beglückte.

 

Um all diese Geschichten zu finden, musste ich natürlich ein wenig bohren. Wir haben es hier mit einer Straße im Norden Europas zu tun. Das Leben kullert nicht, lärmend und hemmungslos, auf die Gehsteige hinaus wie in den südlichen Städten. Außerdem ist sie viel zu bürgerlich, als dass die Anwohner es wagen würden, ihre Liegestühle, Campingtische, Schachspiele, Rosé-Flaschen und ihre abendlichen Gespräche vor ihre Haustür zu bringen. Selbst im Sommer bei großer Hitze bleibt man zu Hause. Das Leben spielt sich im Innern ab. Meine Straße ist introvertiert, auch schamhaft. Keine öffentliche Bank, kein Café, um sich abends auf der Terrasse zusammenzufinden, nicht mal eine Bäckerei, wo man sich jeden Morgen trifft, wenn man das Brot holt. Nur selten bleibt man mit den Nachbarn zum Plaudern auf dem Gehsteig stehen. Die Leute aus dem Haus gegenüber kennt man gerade mal vom Sehen.

Nur wenn an Sommerabenden die Fenster zu den Innenhöfen weit offen stehen, um etwas Kühle hereinzulassen, bekommt man manchmal etwas von der Intimität der großen Wohnungen mit. Georg Haberland, der Erbauer meiner Straße, hatte 1904 eine edle Vorstellung von einem Hinterhof: «Es ist ein besonderes Gewicht auf die Gestaltung der Hofflächen gelegt worden. Die Parzellen sind derart eingeteilt worden, dass alle Freiflächen zusammenliegen und dadurch eine harmonische gärtnerische Gestaltung der Hofflächen möglich ist. So entstanden statt der üblichen gepflasterten, unansehnlichen Höfe im ganzen Bayerischen Viertel gärtnerisch ausgestaltete Höfe.» Die Hinterhöfe meiner Straße waren dieser erhabenen Mission nie gerecht geworden. Meine Nachbarn beschreiben in den dreißiger Jahren einen rein funktionalen Raum mit einer Stange zum Teppichklopfen. Nur am Sonnabend durfte geklopft werden. Die WGs waren die Ersten, die die Hinterhöfe in öffentliche Wohnzimmer unter freiem Himmel verwandelten.

Ich machte mich eines Morgens zu einem methodischen Spaziergang durch die Hinterhöfe meiner Straße auf. Die meisten haben eine völlig zweckmäßige Rolle: Abstellplatz für Fahrräder und Mülltonnen. Einzig in der Nummer 25 – der vorbildlichen Nummer 25, die sich bereits durch ihren Weihnachtsbaum auszeichnet! – hat man einen kollektiven Garten geschaffen mit Stühlen auf dem Gänseblümchenrasen. In der 26 haben die Mieter aus dem Erdgeschoss einen Dschungel sprießen lassen. Zwischen Mülltonnen und Kellerfenstern schießt dort ein Miniaturtropenwald ins Kraut. Sukkulenten, ein paar Sträucher, ein Kaninchenkäfig und sogar ein Plastikbecken, ein Armenpool, in dem bei großer Hitze einsam ein kleines Mädchen herumplanscht.

Wenn Sie sich einen ganzen Tag in den Hinterhof stellen, dringen Sie in die Intimsphäre einer Straße ein. An die hohen Hauswände, die als Resonanzkörper dienen, prallen Geschirrklappern, Gurgeln, undefinierbare Waschvorgänge, Auslösen von Toilettenspülungen, das Klappern von Besteck auf dem Porzellan, Staubsauger und andere Haushaltsgeräte, Fernsehsendungen und Liebesschreie, die aus den Betten aufsteigen. Ich habe sogar festgestellt, dass die Bewohner meiner Straße ihre täglichen Verrichtungen im Laufe der Jahre synchronisiert haben: Mehrere meiner Nachbarn putzen gleichzeitig die Zähne. Setzt oben einer die Wasserspülung in Gang, packt denjenigen von darunter ein ununterdrückbares Bedürfnis zum Urinieren. Manchmal wird man wider Willen zum Vertrauten. Wenn die hübsche Blonde aus dem Seitenflügel ihren Liebhaber, einen verheirateten Mann, empfängt, bebt man und leidet mit. Alle wissen Bescheid. Es dauert nicht lange, bis der Dialog in Gang kommt:

«Kehr doch zu deiner Frau zurück!»

«Nein, ich habe dir doch gesagt, dass ich dich liebe!»

«Dann verlasse sie!»

«Aber es ist nicht der richtige Zeitpunkt!»

«Dich interessieren doch nur meine Titten!»

«Nein, ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe dich!»

Eskalation. Schreie. Besenklopfen an die Decke des unteren Stockwerks, Fausthiebe gegen die Wände in der Wohnung nebenan. Ein Fenster öffnet sich. «Es reicht!» «Schnauze!» Eine Tür schlägt zu. Er geht. Sie jault wie ein Hund, der von seinem Herrchen verlassen worden ist. Ich sehe sie vor mir, in Embryonalstellung auf ihrem Bett zusammengerollt. Das Gesicht tränenüberströmt. Gegen Morgen schläft sie ein. Wenn der Rest der Straße erschöpft aufsteht. Drei Tage später: dasselbe Dekor. Dieselben Darsteller. Dieselbe Szene. Niemand hat je den Mut aufgebracht, die Polizei zu rufen. Stumm hören wir uns das Leid im Seitenflügel mit an.

Diese schmerzliche Liebestragödie hätte unter all dem Straßentratsch das Nonplusultra bedeutet, wäre da nicht das Bordell im Erdgeschoss der Nummer 26 gewesen. Ein Diamant im bescheidenen Schatzkästchen meiner Straße. Wenn sie davon anfangen, legen meine Nachbarn stets eine Pause ein. Kosten den Augenblick aus. Sie ziehen den vielsagenden französischen Ausdruck, der so viel erotische Raffinesse evoziert, dem zu kindlichen «Puff» oder dem schnöden «Absteige» vor. «Bordell» bringt die Sinne eher zum Träumen. Meine Nachbarn ergötzen sich, wenn sie sehen, wie sich mein Gesicht verzerrt, mein Mund weit aufgeht, meine Augen kugelrund werden: «Was! Ein Bordell in unserer Straße! Hier! Ach, neee!» Und doch hat dieses Etablissement tatsächlich in unserer so tugendhaften Straße existiert. Meine Nachbarn haben ein anzügliches Tremolo in der Stimme, als sie mir mit dem Stolz eines Filmregisseurs, der sein Casting enthüllt, die «Hauptakteure» vorstellen.

Es handelte sich zunächst nicht um ein eigentliches Bordell. Zwei, drei Nutten, «mehr war da nicht», plus die Chefin, die an Tagen, wo der Andrang groß war, mit aushalf. Sie lebte mit ihrem Mann und Zuhälter und einer riesigen Dogge (oder zwei deutschen Schäferhunden, die verschiedenen Versionen sind sich da nicht ganz einig) in zwei dunklen Räumen im Seitenflügel. Nachts prügelten sie sich oft und weckten den ganzen Häuserblock. Der Fernseher lief von morgens bis nachts auf Hochtouren, und der Alkohol floss in Strömen. Es wird erzählt, bei der Beerdigung des Zuhälters habe einer der Trauergäste eine Flasche Wodka ins Grab geworfen. Sie zersprang auf dem Sarg. «Ein Brauch in der Familie», so scheint es. Einige Wochen später war auch die Frau verschwunden, ohne eine Adresse zu hinterlassen: «In einer Nacht-und-Nebel-Aktion war sie auf und davon.»

Die Einrichtung annoncierte in der Zeitung, und es fehlte nicht an Kundschaft. Hin und wieder irrte sich ein kleiner, ganz verlegener Mann in großer Triebnot in der Etage und klingelte bei einer ehrenwerten Familienmutter im ersten Stock, die ihm die Tür vor der Nase zuschlug. Auch der Besuch des Klempners ist in den Annalen der Straße verzeichnet. Der unschuldige Handwerker wurde bestellt, um die Dusche zu reparieren. Also klingelte er an der Tür des Bordells. Die Chefin öffnete ihm: «Für wie viel wollen Sie? 50 oder 80 Mark?» «Ich wurde bestellt. Ich suche die Brause», antwortete ihr der Klempner. Manche Mieter des Hauses und sogar der Nachbarhäuser erwogen, eine Mietminderung wegen «Belästigung» zu fordern.

Dann kamen die Asiatinnen. Zierliche, stark geschminkte winzige Frauen, die aus dem Fenster in die Rabatten sprangen, wenn überraschend die Polizei aufkreuzte. Nur mit ihren kanariengelben Spitzenhöschen und einem durchsichtigen Nylon-Negligé bekleidet verschwanden sie wie aufgescheuchte Rehe hinter der Mülltonnenbatterie und machten sich durch das Nachbarhaus aus dem Staub. Es wird auch erzählt, dass die Kunden, mehrheitlich Stammgäste, halbnackt das Vestibül durchquerten, um beim Hauswart ein frisches Bier zu holen. Dieser nutzte seine strategische Lage zu einem rentablen und absolut illegalen kleinen Nachbarschaftsladen. Er verkaufte den Bordellkunden unter der Hand Biere und Spirituosen zu horrenden Preisen. Diese benötigten eine kleine Stärkung, bevor sie sich eine zweite Leibesübung asiatischer Art gönnten, ein kleines exotisches Extra, um danach wieder in ihre beigen Socken und ihre Tergalhose zu steigen, den Hosenschlitz zu verriegeln und pünktlich zum Abendbrot zu Hause einzutreffen. Es wird geraunt, der Hauswart habe sich keine Sorgen gemacht, weil die Beamten vom Rathaus und die Polizisten regelmäßig in der bekannten Einrichtung Station machten.

Sicher gaben sich meine Nachbarn entrüstet, als sie mir das Kapitel vom Bordell erzählten: ein Bordell! In unserer Straße! Welche Schande! Aber die Vibration in ihrer Stimme ist mir nicht entgangen, der Schmerz, den möglicherweise eine ungestillte Sehnsucht hinterlassen hat. Ein Bedauern vielleicht? Einfach zu dumm, dass sie nicht auch einmal, ein einziges Mal diese reizenden, sanften Rehlein in den gelben Tangas bestiegen haben, bevor sie, als die Arztpraxis und die äußerst tugendhafte Schwester Sylvia das Bordell vertrieben, für immer entschwunden sind. Heute klettern abends nur noch die Seufzer des Meditationskreises, der seine Atemübungen macht, das Treppenhaus empor.