Totgeglaubte kehren zurück
1957 kehrt John Ron zum ersten Mal in unsere Straße zurück. 21 Jahre, nachdem er in einem Zug nach Venedig geflüchtet ist. Aber es kommt nicht in Frage, sich vom Zufall der Erinnerungen treiben zu lassen, in Emotionen zu schwelgen. Er ist mit einem ganz bestimmten Ziel gekommen: Er will mit einem spezialisierten Anwalt das administrative Vorgehen besprechen, um beim Entschädigungsamt Berlin eine Anmeldung von Geldansprüchen gegen das Deutsche Reich einzureichen, was möglich geworden ist durch «eine ehrenwerte Geste Konrad Adenauers, der mir eine finanzielle Kompensation für den Verlust meiner Eltern und den Abbruch meiner Bildung gewährte».
Es ist ein Blitzbesuch. Vierzehn Tage. Kein Tag mehr. John Ron mietet ein Zimmer bei einer «sehr angenehmen» Wirtin, die ihm am Morgen Kaffee kocht und Leberwurststullen schmiert. Man spricht über das Wetter, das für einen Juli recht unfreundlich ist. Über die Vergangenheit kein Wort. «Einmal abgesehen von den üblichen Klagen über die Bombardements und die von den Russen vergewaltigten Frauen. Die Deutschen hatten das gute Gewissen von Leuten, die wirklich gelitten haben», stellt John Ron fest. Er ist überzeugt, dass seine Vermieterin weiß, dass er Jude ist, «aber selbst das Wort Jude war tabu». Im Übrigen hätte er es unangebracht gefunden, ihr zu erzählen, was seiner Familie passiert ist.
Abends, wenn er im Bett liegt, kommen die Fragen hoch: Warum ist er eigentlich nach Deutschland zurückgekehrt? Um in einer Konditorei seinen liebenswürdigen alten Volksschullehrer zu treffen? Um diese christliche Freundin seiner Mutter zu besuchen, die ihm das Hochzeitskleid aus weißem und gelbem Satin von Irma Rothkugel übergibt und ihm mitteilt, dass der letzte Koffer mit Fotos und Briefen seiner Familie bei einem Bombenangriff verbrannt ist? Um sich von Kummer und Wut zermürben zu lassen? Wer ist noch am Leben? Was ist aus seinen Klassenkameraden geworden?
Er klopft an Türen. Er befragt Nachbarn. Seine Eltern, Onkel und Tanten sind nicht mehr da. Keiner fragt, was mit ihnen geschehen ist. «Man zeigte kein Interesse für das Schicksal meiner Eltern oder mein eigenes. Nicht einmal die ehemaligen Freunde wollten etwas wissen, nichts.» Die Konfrontation ist unerträglich.
Von der Straße seiner Kindheit «war nur noch ein Schild übrig, auf dem der Name einer Straße stand, die nicht mehr existierte. Es war ziemlich surrealistisch!» John Ron wagt es nicht, die Tür seines Hauses aufzustoßen. Er bleibt auf dem Gehsteig. Von dort entdeckt er das Emailschild von Leon Rothkugels Notariat, das noch immer am Vorgartenzaun festgemacht ist. «Ilse», schreibt er seiner Schwester nach Israel, «es war in vielem eine schmerzliche Rückreise in die Kindheit. Unser Haus existiert noch, aber alles fremde Menschen. Ich sprach mit einer Gruppe junger Studenten, um meine meist negativen Eindrücke von der älteren deutschen Generation zu berichtigen: Mir scheinen Anzeichen vorhanden zu sein, dass diese Jugend dem Leben nüchterner und weniger arrogant entgegentritt als ihre Eltern.»
«Spiel bloß nicht den Großherzigen!», hat ihm Ilse vor der Abreise ans Herz gelegt. John Ron muss Stapel von Antragsformularen «in dreifacher Ausfertigung» ausfüllen. Der Ton in der «Anleitung zur Ausfüllung der Formulare» macht einen sprachlos: «Nicht ordnungsgemäß ausgefüllte oder schlecht lesbare Anträge werden einstweilen zurückgestellt!», «Sehen Sie von Rückfragen und Monierungen ab!», «Absichtlich oder fahrlässig abgegebene falsche Angaben (auch hinsichtlich der Höhe Ihrer Forderungen) sind nicht nur strafbar, sondern haben auch die völlige Streichung Ihres Wiedergutmachungsanspruches zur Folge!». John Ron füllt das rosa Formular «Schaden am Leben» aus: «Alles war auf typisch deutsche Art geregelt, nach Kategorien gesondert. Der Verlust der Eltern entsprach nach einem ganz genauen Tarif einer gewissen Höhe an Deutscher Mark. Schon ein bisschen peinlich, auf diese Weise den Mord zu quantifizieren. Die Gehaltshöhe meines Vaters musste bewiesen, die Liste der Wohnungseinrichtungen und der verlorenen Schmuckstücke mit Werteinschätzung entsprechend dem damaligen Einkaufswert aufgestellt werden. Sämtliche Abläufe waren von unerhörter Brutalität. Noch heute weiß ich nicht, ob ich vor Zorn lachen oder heulen soll. Das Geld, das ich bekam, habe ich in England angelegt. Aber ich war schlecht beraten worden. Das Pfund ist so stark gesunken, dass ich fast alles verloren habe. Und Ilse musste ihres in die Gemeinschaftskasse des Kibbuz legen. Es war bitter für sie.»
John Ron ist erleichtert, als er wieder das Flugzeug in die Vereinigten Staaten besteigt. 1968 kehrt er noch einmal mit Ilse nach Berlin zurück. Sie wohnen privat in Charlottenburg, in einer wilhelminischen Pension mit sehr hohen Räumen, großen Betten und dicken Federdecken. Die deutsche Jugend organisiert Sit-ins und Go-ins, geht gegen den Vietnamkrieg auf die Straße und protestiert gegen die Springer-Presse und ihre Hetzkampagnen, die «alle Oppositionellen zu Freiwild» erklären. Der Studentenführer Rudi Dutschke ist soeben auf dem Kurfürstendamm bei einem Attentat lebensgefährlich verletzt worden, und der Berliner Tagesspiegel schreibt: «Die Stunde scheint gekommen, da das Wirtschaftswunderland, dieser trotz Wiedervereinigungsparolen saturierte Wohlfahrtstaat, in dem es sich so prächtig leben und demonstrieren lässt, diese gutbürgerliche Gesellschaft mit dem neuralgischen Außenposten Berlin die große innenpolitische Bewährungsprobe zu bestehen hat. Unwetter der Gewalt gehen über deutschen Städten nieder. Und es erhebt sich die bange Frage, ob wir diese Probe bestehen oder ob erneut deutsche Bereitschaft zum kompromisslosen politischen Hass die junge demokratische Gewöhnung an Toleranz und Freiheit des Andersdenkenden durchbricht.»
Vor allem aber verlangen die jungen Deutschen Rechenschaft von ihren Eltern: «Was habt ihr damals gemacht?» Auseinandersetzung, Aufarbeitung, Vergangenheitsbewältigung sind die Schlagwörter der damaligen Zeit. Ich weiß nicht, ob die Revolution 1968 auch meine Straße erschüttert hat, ob diese legendären Mahlzeiten, bei denen die Söhne ihre Väter angreifen, auch in ihren Wohnungen stattgefunden haben, ob die Ladenbesitzer die Langhaarigen aus den WGs auch hier mit gehässigen Blicken musterten. Dagegen weiß ich, dass das Schöneberger Echo die wahre Besorgnis der Bewohner meiner Straße in jenem Jahr zum Ausdruck bringt:
«ABC Barkredit. Einfach und schnell.
Für die moderne Küche
Für die neuen Möbel
Für den neuen Fernseher
Für die neuen Gardinen und Teppiche.»
«So darf es nicht weitergehen!
Immer noch nehmen die Verkehrsunfälle zu!
Und darum:
Vorsicht, Rücksicht und Nachsicht im Straßenverkehr!»
«Großzügige Spender gesucht! Immer wieder Klagen über zu wenige Parkbänke.»
«Nicht jeder kann ein Spitzensportler sein, Bowlen jedoch kann jeder!»
«Die teuerste Krankheit Zahnkaries nimmt unaufhaltsam zu!»
«Vorbeugen ist besser als Heilen! Tuberkulose-Impfschutz für Kinder des Einschuljahrgangs!»
Und die Werbung: «VW Automatic. Kein Kuppeln. Kein Schalten.» … «Beneidenswert schlank auf neue Art. Playtex Lycra Hüfthalter. Miederhöschen mit kurzem oder langem Bein» … «Dänemark, Norwegen, Schweden. Unsere große Fahrt nach Skandinavien mit modernsten Düsenflugzeugen und Pullmanbussen» … «Hausputz ohne Mühe. Wenn Sie gern den Teppich auf der Stange klopfen. Wenn Sie beim Bohnern gern auf Knien liegen. Wenn Sie gern Staub aufwirbeln, dann brauchen Sie weder Staubsauger noch Bohner. Aber mit Elektro Staubsauger und Bohner sparen Sie Ihre eigene Kraft und gewinnen Sie Zeit.»
Nur eine einzige, kurze Meldung in der vierteljährlich erscheinenden Zeitung, die ich für das Jahr 1968 konsultiert habe, erinnert daran, dass der Krieg seine Spuren hinterlassen hat: «Vom Tiefbauamt Schöneberg sollen in Kürze umfangreiche Straßenbauarbeiten in folgenden Straßenzügen durchgeführt werden … Um Unglücksfälle zu vermeiden, wird die Bevölkerung gebeten, das Bekanntsein vergrabener Munitionsreste oder Blindgänger aus der Kriegszeit zu melden.»
John Ron und seine Schwester spazieren durch Berlin. Ilse hat nie aufgehört, ihren Bruder Hans zu nennen. Und hier klingt dieser Vorname seltsam passend. «Ich musste noch einmal meine Füße auf dem Berliner Pflaster spüren! Da ist ein Teil von mir!», vertraut Ilse ihrem Bruder an, der erwidert: «Wenn du sagtest: ‹Ach Gott, wie schön es wäre, wieder in Berlin zu leben›, würde ich dich fragen: ‹Was ist mit dir? Ist dir schlecht? Brauchst du ein Aspirin?›» Gemeinsam wagen sie es. Sie klingeln an der Tür der ehemaligen Wohnung der Rothkugels. Eine Unbekannte öffnet. Sie stellen sich vor. Die Frau lädt sie zu einer Wohnungsbesichtigung ein. Alles ist verändert. Die Wohnung ist jetzt zweigeteilt. In den vorderen Räumen wohnen fünf oder sechs Mieter. Alle diese Namen auf dem Klingelschild! Eine Wohngemeinschaft. Nur die Küche ist noch da. Die Speisekammer, das Spülbecken, der große Abwaschtisch, die blauweißen Kacheln. Es riecht noch genauso wie 1933.
Es war sein letzter Besuch. John Ron ist nie mehr nach Berlin gekommen.
Lilli und Heinrich Ernsthaft kehren 1946 zum ersten Mal «per Taxe» in ihre alte Straße zurück. Die Nummer 3 ist eines der wenigen Gebäude, die noch stehen. Es befindet sich in erbärmlichem Zustand. Als der Eigentümer Oskar Lohmann aus der Kriegsgefangenschaft kommt, sorgt er rasch für das Nötigste: Mit spärlichen Mitteln werden ein Dach und eine Fassade zusammengeschustert, um das Haus vor der Witterung zu schützen. Die Wohnungen sollen wieder bewohnbar sein. Die Mieten sollen reinkommen.
Die schöne Wohnung wird wie das Leben der Ernsthafts in zwei Teile gespalten. Die Hinterhauswohnung ist bewohnt. In der Vorderhauswohnung sieht es desolat aus, aber sie ist immer noch unter dem Namen von Heinrich Ernsthaft gemeldet: «Der Parkettfußboden hatte sich in den Zimmerecken wie Rosenblätter aufgerollt, viele Möbel fehlten, aber zu unserem Glück waren die großen, schweren und zum Teil eingebauten Möbel stehen geblieben, weil niemand sie anheben und fortschaffen konnte. Wir waren überrascht, dass immerhin noch so viel übriggeblieben war, und da viele nicht einmal mehr ein Bett besaßen, erschien es nur verständlich, dass sie sich in einer anscheinend herrenlosen Wohnung mit den Dingen versorgten, die sie benötigten», kommentiert Lilli Ernsthaft.
Die Wohnung ist unbewohnbar. Die Ernsthafts bleiben in ihrem kleinen Zimmer im Schwesternheim des Jüdischen Krankenhauses. Aus dem stolzen Geschäftsmann ist ein «Opfer des Faschismus» geworden. Auf dem Foto seiner provisorischen Identitätskarte blickt einem eine unbeschreibliche Traurigkeit entgegen. Im Feld nationalité auf der französischen Carte d’identité de personnes déplaceés von Lilli Ernsthaft – das Jüdische Krankenhaus befindet sich im französischen Sektor – steht: «Indeterminée» (unbestimmt). Erst im Jahr 1950 nimmt sie wieder ihre österreichische Nationalität an. Harry wird Englisch- und Musiklehrer am Französischen Gymnasium und beginnt ein Studium an der Humboldt-Universität.
Nach dem Tod ihres Mannes am 21. April 1947 nimmt Lilli Ernsthaft die Renovierung der Wohnung in Angriff. Eine ausgebombte Familie ist darin eingewiesen worden. «Zu ihrer Ehre sei gesagt, dass sie nicht einzogen: Die beiden Frauen meinten, das gäbe nichts Gutes», bemerkt Lilli Ernsthaft.
In einem Brief vom 25. März 1943, der im Brandenburgischen Landeshauptarchiv erhalten ist und den nervösen Stempel «Eilt!» trägt, bittet die Reichstagsverwaltung den Oberfinanzpräsidenten Brandenburg – auf Empfehlung des Herrn Präsidenten des Großdeutschen Reichstags, Reichsmarschall Göring, der «wünscht, dass alles getan wird, dem ausgebombten Dr. Schneider den schweren Verlust sobald als möglich zu erleichtern» –, besondere Sorgfalt darauf zu verwenden, Dr. Richard Schneider, Regierungsrat beim Großdeutschen Reichstag, in einer «angemessenen freigemachten Judenwohnung» unterzubringen.
1948 informiert Dr. Richard Schneider Lilli Ernsthaft: «Die gesamte Einrichtung Ihrer Wohnung hatte die Firma Neugebauer, ein Möbelgeschäft, käuflich, aber nicht im Wege der Zwangsversteigerung erworben. Aus diesem einschlägigen Unternehmen habe ich einen Teil der Möbel ordnungsmäßig gekauft. Wie ich erfahren hatte, hatte vorher die Gestapo aus der Wohnung wohl die wertvollen, leicht beweglichen Gegenstände gestohlen. Als Ihr Haus im November 1943 ebenfalls durch Bombenangriff schwer betroffen und Ihre Wohnung durch Wasser stark beschädigt war, habe ich mit einem größeren Handwagen die leichter zu transportierenden Sachen sicherheitshalber in die Kellerräume des alten Reichstagsgebäude am Königsplatz schaffen lassen.» Dr. Schneider fügt eine Skizze von den Kellerräumen des Reichstags bei. «Wer die anderen Sachen gekauft hat, weiß ich nicht, jedenfalls waren, als meine Frau zum ersten Mal die Wohnung betrat, alle Schränke und Behälter leer. Meine Frau vermutet, dass der Inhaber der Firma Neugebauer die Sachen für seine Tochter, die sich damals verheiraten sollte, genommen hat.
Wir haben die von uns gekauften Sachen nicht benützt. Wir haben auch nicht die Absicht, sie zu benützen. Wir würden sie Ihnen gern insgesamt überlassen, und wir nehmen an, dass die Stelle, die Ihnen gegenüber zur Wiedergutmachung des Ihnen zugefügten materiellen Schadens verpflichtet ist, mir die Kaufsumme, die ich für die Sachen gezahlt habe, entrichten wird.»
«Wenn es dir mal schlechtgehen sollte, denk an die Prothese!» Lilli Ernsthaft hat diese Mahnung ihres Mannes nicht vergessen. Mit dem Erlös vom Verkauf der Zahnprothese aus Platin repariert sie das Parkett, und es bleibt sogar ein wenig Geld für zwei Sessel übrig. «Gute Freunde hatten Bettwäsche und Tischtücher, Kissen und Flügel aufbewahrt. Natürlich war es vorerst ein Provisorium, aber die meisten Menschen lebten zu jener Zeit in einem Provisorium.»
Wie konnte sie dahin zurückkehren, wo sie nur knapp der Deportation entkommen war, sie, deren Sohn sich zwei Jahre wie ein gehetztes Tier in einem Keller verkrochen hatte, deren Mutter in Theresienstadt ermordet worden ist? Keiner der Juden, die in den dreißiger Jahren aus meiner Straße emigrieren mussten, hat auch nur einen Augenblick in Erwägung gezogen, nach dem Krieg wieder in Deutschland zu leben. Lilli Ernsthaft ist die Einzige, die sich entschieden hat zu bleiben. Der neue Staat Israel verurteilt in den fünfziger Jahren die Juden, die weiterhin «auf der blutgetränkten Erde Deutschlands» leben, aufs Schärfste. Und Lilli Ernsthaft lässt sich wieder in derselben Straße, im selben Haus nieder. Was sollte aus dieser in Trümmer liegenden Straße werden? Welchen Platz wird eine überlebende Jüdin darin haben? Wie werden die Nachbarn reagieren, die ihr plötzlich auf der Straße begegnen? Werden Sie den Blick zu Boden senken? Oder sie im Gegenteil anstarren, als hätten sie einen Geist vor sich? «Die Wohnung war ihre Heimat, ihre Höhle, ihre Zuflucht», versucht ihre Nichte Elga eine Erklärung.
Der Antisemitismus hatte sich nicht in Luft aufgelöst. Die Straße war nicht mit dem Zauberstab auf einmal entnazifiziert worden. Wie konnte Lilli Ernsthaft wieder ihr Brot bei dieser selben Bäckerin kaufen, die ihr noch vor wenigen Jahren, als sie sich weigerte, sie zu bedienen, an den Kopf geworfen hat: «Ich bin juristisch im Recht!» Wie konnte sie zum Apotheker Ludwig Guercke in die Kaiser-Barbarossa-Apotheke zurückkehren, seit 1935 Parteigenosse, der am 12. Januar 1942 den Polizeipräsidenten aufforderte, ihm eine Wohnung in der Nähe seiner Apotheke zuzuteilen: «Vielleicht könnten Sie, Herr Polizeipräsident, durch Ausstellung einer Dringlichkeitsbescheinigung mir behilflich sein, mir zu einer von Herrn Generalbauinspektor Speer in dieser Gegend beschlagnahmten Judenwohnungen zu verhelfen. Ich bin im 60. Lebensjahre und arbeite ohne weiteres Fachpersonal nur mit meiner Frau in der Apotheke. Wegen der großen Entfernung von meiner Spandauer Wohnung kann ich auch mittags nicht nach Hause fahren und bin daher von früh 8 Uhr bis abends 8 Uhr im Dienst. Diese Arbeitszeit und die Ernährungsfrage stellen erhebliche Anforderungen an unsere Gesundheit. Heil Hitler!» Wie konnte Lilli Ernsthaft sich mit diesen selben Nachbarn, die einst aus ihren Fenstern am frühen Morgen dem Einsammeln von 13 Juden aus ihrem Gebäude zusahen, auf einen kleinen Schwatz auf dem Treppenabsatz einlassen?
Lilli Ernsthaft war eine lästige Zeugin. Man hütete sich, sie zu fragen, wie sie überlebt hatte. Und sie hütete sich, die Gespräche auf rutschiges Gelände zu bringen. Hatte sie vielleicht Angst, zu hören, was sie zu sagen hatten? Hoffte sie, wenn sie so tat, als sei nichts gewesen, wäre sie fähig, den dünnen Faden ihres früheren Lebens wieder aufzunehmen? Wovon man nicht spricht, das existiert schließlich nicht. Und vor allem: Was macht diese so lebenslustige, höfliche Frau mit ihrer Trauer, ihrer Angst, ihrem Groll, ihrem Zorn und vielleicht ihren Rachegedanken?
Sobald Lilli Ernsthaft in unsere Straße zurückgekehrt ist, steigt sie wieder auf das große Karussell der gesellschaftlichen Verpflichtungen auf. «Leider Gottes», schreibt sie wie nebenbei, «habe ich heute nur noch zwei jüdische Bekannte.» Das Ehepaar Kutschera kehrt 1945 aus Theresienstadt zurück. 1946 können sie den Betrieb im Café Wien wieder aufnehmen. Karl Kutschera versucht zu vergessen, dass er einer der ersten Unternehmer gewesen war, der in den Fokus des Stürmers geriet. Das Nürnberger NS-Wochenblatt hatte eine heftige Kampagne gegen das «Judeneldorado des Kurfürstendamms», den «Schmutzjuden» Kutschera lanciert. Er versucht zu vergessen, dass er 1937, um die Schließung seiner Einrichtung zu verhindern, gezwungen war, sie an zwei nichtjüdische Mitgesellschafter zu verpachten. Jeden Tag wird er von Schwindel ergriffen, wenn er an seine Kinder Karin und Gert denkt, die nicht aus dem KZ zurückgekommen sind. Er stirbt 1950 an Herzmuskelschwäche, ein gebrochener Mann. Seine Frau führt die Geschäfte bis Anfang der siebziger Jahre weiter.
Doch die Ernsthafts knüpfen auch wieder mit Freunden an, «die mit den Nazis sympathisiert und sich diskret verdrückt hatten». Gleich nach dem Krieg – sie wohnen noch im Jüdischen Krankenhaus – essen sie «mit unseren Freunden Fritz Aschinger und Kommerzienrat Lohnert im Restaurant». Worüber unterhalten sie sich an jenem Abend? Fritz Aschinger, der Trumpf im mondänen Kartenspiel der Lilli Ernsthaft, hatte sich so sehr kompromittiert … Er hatte, um sein am Rand des Bankrotts stehendes Imperium zu konsolidieren, von der Arisierung jüdischer Firmen profitiert und 1937 die OHG M. Kempinski zu einem Preis weit unter ihrem Wert übernommen. Hatte er nach 1933 Heinrich Ernsthaft und seine Gattin samstagabends weiterhin zu Kaviar und Crêpes Suzette eingeladen? Oder hatte er es vorgezogen, die Gehsteigseite zu wechseln, wenn er seinem ehemaligen Geschäftspartner zufällig auf der Straße begegnete?
Die großen Hotels und das Weinhaus Rheingold sind unter den Bomben eingestürzt. Am 8. Februar 1949 wurden die Unternehmen Aschinger, die sich im sowjetischen Sektor befanden, entschädigungslos enteignet und zum VEB-Nahrungsmittelwerk «Aktivist» umgetauft, ein Name ohne Genuss und Sinnlichkeit, der das Ende des Vergnügungstempels Aschinger einläutete. Im August 1949 nehmen sich Fritz Aschinger und seine Schwester Elisabeth in Berlin das Leben.
Im Mai 1949 reichen Lilli und Harry Ernsthaft bei den Wiedergutmachungsämtern von Berlin ihren Rückerstattungsantrag gegen das Deutsche Reich ein. Es beginnt eine endlose Prozedur, die Lilli Ernsthaft bis in die sechziger Jahre verfolgt. Sie hatte die ausufernde Korrespondenz aufbewahrt. Beim Tod von Tante Lilli stopfte ihre Nichte Elga die Leitz-Ordner in eine Reisetasche und verstaute sie im Keller zwischen den Weidenstühlen und den Bücherkisten. Als ich sie eines Nachmittags besuchte, übergab sie mir die völlig verstaubte Tasche. Beim Lesen dieser Briefbündel habe ich den jahrelangen Leidensweg von Lilli und Harry Ernsthaft verstanden, als sie versuchten, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen, und in die Nummer 3 zurückkehrten.
Als Erstes stellt Lilli Ernsthaft Stück für Stück, bis zum kleinsten Kaffeelöffel, das Inventar ihrer verlorenen Güter zusammen: «Sehr elegantes Silberhorn-Schlafzimmer, bestehend aus breitem Marmorwaschtisch, zwei Nachttischen, Frisiertoilette, zwei großen geschliffenen Spiegeln und einem großen dreiteiligen Spiegelschrank, der mit Herrenanzügen, Mänteln und Wäsche gefüllt war. Ein Damen-Ankleidezimmer mit einem 4 Meter breiten Schrank, voller Damenkleider, Mäntel, Hüte, Taschen, außerordentlich reichhaltige elegante Wäscheausstattung.» Sie beschreibt die Engel aus Meißner Porzellan in der Wohnzimmervitrine: «Einer, der Schokolade quirlt, und einer, der Flöte spielt.» Sie stellte eine Liste von Phantomobjekten auf, die in der leeren Wohnung herumspukten: das kostbare Hutschenreuther-Kaffee- und -Mokkaservice mit breitem Goldrand für 18 Personen, die 500 Bücher der Bibliothek, die wertvolle Noten- und Plattensammlung. Sie erwähnt sogar die zwei echten Rosshaarmatratzen ihres Schlafzimmers, sämtliche Stores und Gardinen, die Lebensmittel- und umfangreichen Seifenvorräte in der Speisekammer. Das arabische Zimmer beschäftigt die Behörden mehrere Jahre lang. Sie ist einfach verschwunden, diese kleine Verrücktheit aus Tausendundeiner Nacht mit ihrem «Baldachin aus Kelims, tuffartig gerafft und von zwei überkreuzten Waffen gehalten, übereinanderliegenden echten Perser-Teppichen, selbstgestrickten smyrnaartigen Kissen, kleinen Tischen aus Ebenholz mit eingelegten Silberstückchen, diversen Eseltaschen, einer echten Wasserpfeife, einem echten Samowar, zwei achteckigen Hockern aus Elfenbein mit Perlmutteinlagen und acht oder zehn wertvollen silbernen und tulasilbernen Zigarettenetuis mit Widmungen berühmter Sänger und Schauspieler wie Caruso, Giampietro, Massary … Geschenke an ihren Freund Heinrich Ernsthaft.»
Danach sammelt sie eidesstattliche Erklärungen. Klara Knospe, ledig, Rentnerin, 73 Jahre alt, 18 Jahre lang Wirtschafterin bei der Familie Ernsthaft, die ihre Beschäftigung 1933 beenden musste, versichert: «Es handelte sich um einen sehr gepflegten Haushalt.» Magdalene Lied, geschieden, 90 Jahre, ehemalige Klavierlehrerin von Harry, beschreibt: «Eine sehr gut eingerichtete Wohnung, die mit vielen Teppichen ausgelegt war. Es handelte sich bei der Möblierung zum Teil sogar um Stilmöbel.» Der deutsche Staat streicht mit dem Finger über die Möbel.
Harry fühlt sich durch diese administrativen Schikanen gedemütigt, diese Forderungen nach «näherer Begründung der Ansprüche», «Nachweis der ungerechtfertigten Entziehungen», «Absicherungsquittungen», «Bankauskünften». Er ist angewidert, wenn man von seiner Mutter verlangt: «Sie möchten ferner nachweisen, dass der Antragsteller zu den aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen verfolgten Personen gehört.» Er verträgt die Bettelbriefe nicht mehr, die sie zu schreiben gezwungen ist: «Mein Mann hatte einen Stoffmantel abliefern müssen, der innen ganz mit echtem Seal gefüttert war und auch einen Sealkragen hatte.» Und die Erklärung des Kürschnermeisters: «Der Minderungsabzug vom absoluten Neuwert bezieht sich auf die natürliche Veralterung des Fellmaterials.» Harry traut seinen Augen nicht, dass ihr Anwalt die Behörden noch 1955 daran erinnern muss: «Die Veräußerung von Möbeln jüdischer Eigentümer in der damaligen Zeit war kein regulärer Verkauf, und der damalige Wert war ein Vielfaches dessen, was bei einer Veräußerung und noch dazu bei einer Zwangsveräußerung erlöst wurde.»
Wie viele Male hat ein Trödler in den Wohnungen der Deportierten meiner Straße eine Versteigerung durchgeführt, bei der die Möbel zu Schleuderpreisen weggingen! Eine wahre Schnäppchenjagd für den Rest der Bevölkerung. Harry ist außer sich. Seine Eltern haben sich rupfen lassen wie Hühner, und nun müssen sie sich jahrelang krummlegen, um eine lächerliche Summe zu bekommen, weit unter dem Wert der Güter, die ihnen gestohlen wurden. Liest man diese Unterlagen, hat man den Eindruck, es handle sich um einen ganz gewöhnlichen Prozess. Nie schimmert eine moralische Verpflichtung, das Eingeständnis eines Fehlers durch. Der Staat versucht mit allen Mitteln, die finanziellen Entschädigungen herabzumindern.
Der Prozess, in dem sich Ernst Siemann und Lilli Ernsthaft in den fünfziger Jahren gegenüberstehen, ist ein Albtraum. Am 6. Juni 1938 erwarb Ernst Siemann, seit 25 Jahren einer der treuesten Angestellten der Firma Ernsthaft, sämtliche Geschäftsanteile von Heinrich Ernsthaft, ebenso wie das fünfstöckige Gebäude in der Trebbinerstraße, in dem sich das Unternehmen befand. Die Geschäfte mehrerer jüdischer Bewohner meiner Straße wurden so zugunsten von Nicht-Juden, häufig ehemaligen Angestellten, zu einem Preis unter dem Marktwert «arisiert». Der Briefwechsel, den die Witwe und der ehemalige Angestellte nach dem Krieg führen, gibt ein Bild davon, wie erbärmlich dieser Prozess war:
«Ich komme nicht darüber hinweg, dass Sie mir in den Rücken gefallen sind.» (Ernst Siemann, 27. Oktober 1949)
«Ich bedauere den polemischen Ton, den Sie mir gegenüber für angebracht halten … Ich hoffe sehr, dass sich im Rahmen der gesetzlichen Regelung eine beiderseits befriedigende Lösung wird finden lassen, und bitte Sie, sich bis dahin gedulden zu wollen.» (Lilli Ernsthaft, 8. November 1949)
«Sollte es zu Verhandlungen vor der Wiedergutmachungskammer kommen, so werde ich bezüglich des Firmenwertes vortragen, dass die Firma Ernsthaft & Co sich in der letzten Zeit vor der Arisierung durch Betrug und Nahrungsmittelfälschung über Wasser gehalten hat. Sie glaubten natürlich, dass ich über diese Sache den Mund halten würde? Wenn Sie sich Ihren guten Ruf und den Ihres Gatten erhalten wollen, müssen Sie wissen, wie Sie zu handeln haben.» (Ernst Siemann, 29. November 1949)
«Dass in den Jahren nach 1933 der Umsatz zurückging und dass Brauereien sich von Herrn Ernsthaft zurückziehen mussten, weil er Jude war, ist ja gerade in Erfolg der Nazi-Methoden eingetreten, und es wäre ja Sache des Herrn Siemann gewesen, nachdem er das Geschäft arisiert hatte, seine Tüchtigkeit zu beweisen und das Geschäft wieder auf den Stand zu bringen, den es früher gehabt hat. Wenn er glaubt, dass er mit Anwürfen gegenüber dem verstorbenen Herrn Ernsthaft seine Ehefrau dazu bewegen kann, nunmehr einen Vergleich in seinem Sinne abzuschließen, so hat er sich geirrt.» Der Vergleichsvorschlag von Siemann wird abgelehnt. «Frau Ernsthaft wird nach den Ausführungen des Herrn Siemann mit diesem in keiner Weise irgendwelche geschäftlichen Transaktionen vornehmen. Er hat das Tischtuch zwischen der früheren Firma Ernsthaft & Co und sich restlos zerschnitten. Die Restitution hat zu erfolgen.» (Anwalt der Lilli Ernsthaft, 8. März 1950)
«Bei einer Einstellung, wie sie Frau Ernsthaft an den Tag legt, braucht man sich nicht zu wundern, dass der Antisemitismus seinerzeit eine derartige Ausbreitung gefunden hat.» (Ernst Siemann, 28. Dezember 1951)
«Schließlich möchte ich vermerken, dass ich unter der Nazi-Herrschaft mehr gelitten habe als Herr und Frau Ernsthaft, denn was ich als Geschäftsleiter eines jüdischen Betriebs in den Jahren von 1933–1938 durchmachen musste, kann nur derjenige ermessen, welcher es am eigenen Leibe erfahren hat. Die ca. 15 Arbeiter des Geschäfts schikanierten mich, wo sie konnten, und bezeichneten mich hinter meinem Rücken als Judenknecht …» (Ernst Siemann, 14. Juni 1952)
1956 emigriert Harry nach New York, wohin ihm seine zukünftige Frau Rita, eine Schwesternhelferin im Jüdischen Krankenhaus Berlin, zwei Jahre zuvor vorangegangen ist. Die Entscheidung ihres Sohnes ist für Lilli Ernsthaft ein immenser Kummer. Amerika hat ihr den Sohn «abspenstig gemacht». Er wird nicht mehr in die Nummer 3 zum Mittagessen kommen. Er, der im neugegründeten Amerikahaus vor Hunderten von Zuhörern sehr beliebte musikalische Vorträge hält und eben zum Leiter der E-Musik beim Radiosender Rias ernannt worden ist … Da mag sie sich noch so zu trösten versuchen, indem sie die Erfolge ihres Sohnes in New York aufbauscht, seine Stellung als Buchverkäufer des renommierten Unternehmens Doubleday. Sie mag sich noch so darüber freuen, dass er die Karriereleiter hinaufsteigt und ein Büro benutzt, das einige Jahre später das der Jacqueline Kennedy sein wird. Sie mag es noch so genießen, wenn sie in New York ihre Schulfreundin Ruth Mittler sieht, «die in der vornehmsten Straße New Yorks, der Park Avenue, eine elegante Wohnung hatte und fünf andere Mädels aus unserer Klasse – nach fast vierzigjähriger Trennung und all dem, was wir durchgemacht hatten – zu einer bewegenden Wiedersehensfeier zu sich einlud». Dabei ist auch Else Meyer, ihre Nachbarin aus der Nummer 28, die als Bedienung in einem Restaurant arbeitet, sie, die in Berlin in Samt und Seide ging. Wenn sie danach ganz allein in ihrer großen Berliner Wohnung sitzt, ist Lilli Ernsthaft untröstlich. Ihr Sohn fehlt ihr. Aber ihm nachzugehen, das wäre ihr nie in den Sinn gekommen.
Harry stirbt am 28. April 1978 mit 53 Jahren in New York an Leukämie. Seine Mutter ist überzeugt, dass er sich den Tod in dem feuchten Keller geholt hat, in dem er sich verstecken musste. Die Trauerfeier findet in Forest Hills statt. Lilli bringt die Asche ihres Sohnes nach Berlin. Im Flugzeug presst diese ganz kleine Frau, aufrecht auf ihrem Sitz, vom Schmerz überwältigt, während der ganzen Reise ihre Handtasche mit der Urne ihres Sohnes an den Bauch. Harrys Asche wird im Familiengrab auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee beigesetzt. Während der Jahre der deutschen Teilung holt Sonya Rönnfeldt, die Tochter des einstigen Kinderfräuleins der Ernsthafts, Grete, Tante Lilli vor der Grenze mit ihrem Trabant ab, um sie nach Weißensee zu bringen. In der Nacht des Mauerfalls, als sich für die DDR-Bürger die Grenzen öffnen, stürzt sich Sonya in die Nummer 3. Tante Lilli ist ihre einzige Bekanntschaft drüben. Am 10. November 1989 spazieren die beiden Frauen gemeinsam über den Kurfürstendamm. Und als Tante Lilli ihr Bett am Ende ihres Lebens nicht mehr verlassen kann, kommt Sonya einmal pro Woche zu ihr, um sie zu baden.
Als ich Lilli Ernsthaft Mitte der neunziger Jahre besuchte, fragte ich mich, wie es kam, dass ihr Haus noch immer stand. Die Nummer 3 ist in diesem Straßenabschnitt das einzige Gebäude aus der Anfangszeit. Eine Überlebende, genau wie ihre Bewohnerin. «Die Nummer 3 ist einfach stehen geblieben», wundern wir beiden Nachbarinnen uns. «Ein Solitär», sagte Lilli Ernsthaft. Ich wagte ihr nicht zu widersprechen, aber von einem strahlenden Diamanten hatte die Nummer 3 nun wirklich nichts. Mit ihrer schwarzen, porösen Fassade glich sie eher einem Bimsstein. Der alte Fahrstuhl voller Dreck und Spinnweben war im Vorkriegszustand erstarrt.
Lilli Ernsthaft hat sich oft darüber beklagt. Ihr Haus sei das «schäbigste» der ganzen Straße. Eine Schande! Wenn man bedenkt, was es vor dem Krieg gewesen war! Ein nobles Haus! «Seit Jahren wurden uns Treppenläufer versprochen», schreibt sie dem Eigentümer 1958 empört, «stattdessen lassen Sie es zu, dass die sehr rührige Frau Bandekow uns Fetzen ehemaliger uralter Läuferreste, die sie in anderen Häusern erbettelt hat, vor die Treppenaufgänge legt. Die neuen Lampen und der Kasten des Stillen Portiers passen vielleicht in Häuser des Berliner Nordens oder auf die hinteren Aufgänge, nicht aber zu den Überresten eines einstmals gepflegten und wunderschönen Hauses, nämlich zu dem noch vorhandenen schönen Spiegel und den Marmorwänden.»
Lilli Ernsthaft legt ihre ganze Verachtung in dieses «des Berliner Nordens». Der Norden, das ist der Wedding, das Arbeiterquartier von Berlin, wohin diese Großbourgeoise aus dem eleganten Südwesten wohl nie einen Fuß gesetzt hätte, hätte sich das Jüdische Krankenhaus nicht dort befunden. Aber Oskar Lohmann, der Eigentümer, scheint auf keinen Fall einen Bankkredit aufnehmen zu wollen. Und eine Renovierung hätte sowieso den finanziellen Ruin bedeutet, da die in dieser Zeit des großen Wohnungsmangels geltende Mietpreisbindung ihm untersagte, die Preise wesentlich zu erhöhen. Ob renoviert oder nicht, die Einnahme blieb dieselbe.
Ich weiß nicht, ob Lilli Ernsthaft von dem langen Prozess wusste, dessen Gegenstand die Nummer 3 nach dem Krieg war und der auch die Investitionen in das Haus behinderte. Im Landesarchiv Berlin wird ein intensiver Briefwechsel darüber aufbewahrt. 1950 reichen die Erben eines einflussreichen jüdischen Bankiers einen Rückerstattungsanspruch ein. Vor ihrer Emigration Ende der dreißiger Jahre verkauften die Erben das Gebäude an Ida Lohmann und ihren Sohn, den Kaufmann Oskar Lohmann. Eine Zwangsversteigerung, wie es viele gab in meiner Straße. Die jüdischen Eigentümer waren gezwungen, zu einem Spottpreis zu verkaufen. Der Anwalt der Erbengemeinschaft klagt: «Das Rechtsgeschäft wurde durch Drohung und durch Zwang veranlasst! Es wäre ohne die Herrschaft des Nationalsozialismus nicht abgeschlossen worden!» Er verlangt eine Ausgleichszahlung. Der Anwalt von Oskar Lohmann weist dies zurück und behauptet, sein Mandant hätte einen angemessenen Kaufpreis bezahlt. In dem Duell, das sich die beiden Anwälte nun liefern, fallen ein paar Hiebe und Stiche, die das Klima der Epoche deutlich machen:
5. April 1951, der Rechtsanwalt von Oskar Lohmann: «Die Gegenseite mag zugestehen, dass das Vermögen der Erbengemeinschaft reines Spekulationsvermögen war, das zum wesentlichen Teil in der Inflation unter Ausnutzung der Notlage Deutscher erworben und das dann für Zwecke des jüdischen Bankhauses belastet, d.h. wirtschaftlich ausgenutzt wurde.» Am 4. Mai 1951 schlägt der Anwalt der Erbengemeinschaft wütend zurück: «Die Vorwürfe der Grundstückspekulation und der Ausnutzung der Notlage der Bevölkerung, die zu sehr an die Propaganda des überwundenen Nazi-Regimes erinnern, werden scharf zurückgewiesen.»
Es folgen ganze Pakete von Rechnungen und Gutachten zur Belegung der «erheblichen Bauarbeiten, die von Herrn Oskar Lohmann durchgeführt sind, um das Haus vor gänzlichem Verfall zu schützen. Es soll festgestellt werden, welche Wertsteigerung das Grundstück nº 3 erfahren hat.» Jahrelang stöbert Oskar Lohmann nach Rechnungen, fordert Belege von Bauunternehmen. Er stellt minutiöse Listen der Materialkosten auf: die Anzahl der Mauersteine, Kubikmeter Mörtel, Zement und Gips. Die Kilogramm Rohrnägel. Er berechnet selbst die Schuttabfuhr, vergisst nicht die Anzahl Tageswerke der Maurer, Zimmerer und Bauarbeiter. Er gesteht sogar, während der Berliner Blockade, wo es an allem fehlte, auf dem Schwarzmarkt märchenhafte Summen bezahlt zu haben, um sich Baustoff zu beschaffen.
Der heutige Besitzer des Hauses erinnert sich, dass sein Großvater ihm am Tisch vom Streit der beiden Anwälte erzählte. «Der Herr Lohmann brauchte nur einen einzigen Ring vom Finger zu ziehen, um das Haus kaufen zu können», klagte der Anwalt der Erbengemeinschaft, um in Erinnerung zu rufen, dass der Preis ein Bruchteil des Verkehrswerts war. «Mit einem Pappkoffer nach Berlin gekommen und ganze Straßenzüge gekauft!», erwiderte jener von Oskar Lohmann, der ohne jeden Skrupel das Gespenst des jüdischen Spekulanten heraufbeschwor, der von der Inflation profitierte, um sich die Taschen vollzustopfen. Mehr war aus dem Großvater nicht herauszuholen: «Er war nicht der Typus, der nach einem langen Abend und drei Flaschen Rotwein wie ein Wasserfall von der Vergangenheit erzählte. Er gab nur kurze biographische Fakten. Er war kein Nazi gewesen. Das Haus war ihm angeboten worden. ‹Warum soll ich das nicht machen?›, sagte er. Für meinen Großvater», sagt sein Enkel, «war das Haus eine nüchterne Kapitalanlage. Er hatte keine emotionale Bindung daran. Das musste laufen, halbwegs vernünftige Mieten einbringen, der Rest war ihm egal. In den letzten 15 Jahren seines Lebens ist er nicht mehr in dem Haus gewesen.»
Lilli Ernsthaft wird die verspätete Renovierung nicht mehr erleben. Sie stirbt vorher. 2009 verschwindet die Fassade der Nummer 3 unter einer grünen, über ein Gerüst gespannten Plane. Mehrere Wochen lang igelt sich das Haus ein, isoliert sich von der übrigen Straße. Geht in Quarantäne. Die Nummer 3 streift ihre alte Haut ab. Der Enkel, ein Nachkriegsdeutscher, entschied sich für eine «anspruchsvolle Fassade, nicht einfach glätten und Farbe drauf». Im Stil von 1904 zu renovieren, war allerdings kein Thema: «Die alte Fassade war mir zu trutzig, zu klobig, wilhelminisch schwer. Diese angedeuteten Säulen waren mir zu pompös, zu demonstrativ. Da hat sich das große, starke, unbesiegbare Deutschland dargestellt. Nein, nein, ich wollte …», und er hebt die Arme begeistert in die Luft wie ein großer Vogel die Flügel, wenn er zum Abflug ansetzt, «… etwas Leichtes, Verspieltes, mit sehr vielen ganz klaren Jugendstil-Anklängen darin. Manche Stuckleisten sind industriell aus Styropor vorgefertigt, aber alle floralen Elemente hat ein polnischer Stuckateur mit der freien Hand aus Mörtel gemacht. Optisch sind sie nicht zu unterscheiden. Wenn ein Passant heute vorbeigeht, könnte er glauben, das sei die originale Fassade. «Er hat», sagt er, «eine Historisierung nach reiner Phantasie» angestrebt, «nicht nach historischem Vorbild.»