18. KAPITEL

Ich blinzelte, meine Sicht war leicht verschwommen, und Johnnys Hand lag auf meiner Schulter.

„Emm“, sagte er leise. „Du musst mir glauben, wenn ich dir sage, dass es mir leidtut.“

„Was tut dir leid?“, frage ich dümmlich. Ich habe irgendetwas Wichtiges verpasst. Als ich seine Hand anschaue, zieht er sie fort.

Er hält einen Moment inne, bevor er mir antwortet. „Du warst … wieder weg?“

Mein Kinn hob sich ein wenig. „Keine große Sache.“

„Natürlich ist das eine große Sache.“ Doch bevor er mehr sagen konnte, klingelte sein Handy.

Er griff danach, und während er den Anruf annahm, nutzte ich die Chance, aufzustehen. Er bedeutete mir, zu warten, doch das tat ich nicht. Ich schnappte mir meinen Mantel und meine Tasche und eilte vom Tisch, ohne mein Geschirr wegzubringen. Sollte er sich doch darum kümmern. Ich musste hier raus.

Ich nahm den langen Weg nach Hause. Die kalte Luft fühlte sich auf meinem erhitzten Gesicht gut an, obwohl ich, als ich endlich zu Hause ankam, meine Nase nicht mehr fühlte. Oder meine Zehen. Der Himmel war noch dunkler geworden, eine dicke, geschlossene Wolkendecke. Bald würde es schneien.

Mein Telefon klingelte in dem Augenblick, in dem ich meinen Hausflur betrat. Unbekannte Nummer. „Wer ist da?“

„Meldest du dich immer so?“

„Nur wenn du dran bist. Woher hast du überhaupt meine Nummer?“, fauchte ich.

Er lachte und ignorierte meine Frage. Ich hasste es, dass er meiner Wut etwas Lustiges abgewinnen konnte. „Ich weiß, ich habe dich bisher noch nie angerufen.“

„Vielleicht hättest du es auch dieses Mal sein lassen sollen.“

„Emm, es tut mir leid. Ich musste mit dir reden.“

Ich ballte meine Hände zu Fäusten, eine nach der anderen, die Blutzirkulation anzuregen. „Warum?“

„Du weißt, warum.“

„Nein.“ Ich füllte den Kessel mit Wasser, überlegte erst, mir einen Tee zu machen, entschied mich dann aber für Kakao. Dann fiel mir das letzte Mal ein, als ich heißen Kakao gemacht hatte, und ich entschied mich noch mal um.

„Was an dem Abend vor Kurzem passiert ist … Das war falsch.“

„Verdammt richtig, was du gemacht hast, war falsch.“ Ich stellte den Herd an, und langsam war mir warm genug, dass ich den Mantel ausziehen konnte.

„Es tut mir leid“, sagte Johnny. „Ich hätte es nicht so weit kommen lassen dürfen.“

„Nein, du solltest dir viel mehr Gedanken darüber machen, dass du danach einfach so hier rausmarschiert bist, als wäre ich irgendeine billige Nutte.“

Johnny schwieg ein paar Sekunden. „Das Gefühl wollte ich dir nicht vermitteln, Emmaline.“

Es war das erste Mal, dass er meinen vollen Namen benutzte, dabei war ich nicht einmal sicher, ob ich ihm den je verraten hatte. Ich stellte den Herd ab und goss mir eine Tasse Teewasser ein.

„Tja, das hast du aber“, sagte ich nur.

Sein Seufzen kitzelte mir durch die Telefonleitung in den Ohren. „Es tut mir leid.“

„Mach es wieder gut.“

Manchmal kann man aus dem Schweigen eines Menschen eine Menge herauslesen, doch dieses Mal gelang es mir nicht. Lächelte er wieder? Runzelte er die Stirn, sodass sich diese steile Falte zwischen den Brauen bildete, die ich mit meinem Daumen wegstreichen wollte? Oder schaute er das Telefon mit diesem abwägenden Blick an, den er mir schon ein paarmal geschenkt hatte?“

„Wie?“

„Für den Anfang könntest du mich zum Essen einladen.“ Meine Kühnheit überraschte mich selber, und doch spürte ich, dass es zwischen uns schon immer genauso hatte sein sollen. „Ich mag italienisches Essen.“

„Okay, für den Anfang ein Abendessen. Und dann?“

„Lass uns erst einmal damit anfangen. Mal sehen, ob es ausreicht, mich zu besänftigen.“

Dieses Mal hörte ich sein Lächeln so deutlich, als wenn ich es sehen könnte. „Um wie viel Uhr soll ich dich abholen?“

„Morgen Abend um halb acht.“

„Sei bereit“, sagte Johnny.

„Du bist derjenige, der bereit sein sollte“, erwiderte ich. „Bereit, mich davon zu überzeugen, dass du kein Arschloch bist.“

Ich hörte sein leises Lachen. „Ich werde tun, was ich kann.“

„Bis morgen, Johnny.“ Ich legte auf, bevor er etwas erwidern konnte.

Er stand mit einem Strauß Blumen in der Hand vor meiner Tür. Das war einer der Unterschiede, ob man mit einem Mann oder einem Jungen ausging. Das hier versprach, ein echtes Date zu werden, nicht nur ein Aufriss. Nicht Bier und Chickenwings in einer Bar, auf deren Flachbildfernsehern Sport lief und alle naslang irgendwelche Kumpel an den Tisch kamen, um mich nicht sonderlich verstohlen zu mustern. Das hier war etwas Besonderes.

„Du siehst hübsch aus.“ Johnny reichte mir das Bukett aus Lilien und Gänseblümchen, zwei Blumen, die ich niemals in einem Strauß vereint hätte.

Ich steckte meine Nase hinein. „Danke. Die sind auch hübsch. Ich stelle sie nur schnell ins Wasser, dann können wir los.“

Er trat ein. Ich bedeutete ihm, mit in die Küche zu kommen, wo er zögernd im Türrahmen stehen blieb. Ich unterdrückte ein Lächeln und schnitt die Blumen an, bevor ich sie in eine gläserne Vase stellte. Als ich mich umdrehte, ertappte ich ihn dabei, wie er den Hocker betrachtete, auf dem er bei seinem letzten Besuch gesessen hatte.

„Bereit?“, fragte ich.

Mir wurde ganz schwindelig, als er mich anschaute.

„Ich glaube nicht“, sagte er. „Aber ich denke, ich führe dich trotzdem aus.“

Und das tat er. In ein wundervolles Restaurant, das zwanzig Minuten mit dem Auto entfernt lag und von dem ich schon viel gehört, das ich aber noch nie besucht hatte. Er öffnete mir alle Türen und zog mir am Tisch sogar den Stuhl hervor. Es war die perfekte First-Class-Behandlung, und ich genoss sie, als wäre sie der Hauptgang und nicht die köstliche Lasagne, die der Kellner uns empfahl.

Ich hätte nicht gedacht, dass die Unterhaltung fließen würde. Johnny hatte sich bisher nicht als großer Redner hervorgetan – zumindest nicht in der Gegenwart. Doch als er nun mir gegenüber am Tisch saß, stellte sich heraus, dass er zu vielen Themen etwas zu sagen hatte, und ich ließ mich auf seiner wundervollen Stimme dahintreiben.

„Du bist so schweigsam.“ Er trank einen Schluck von dem ausgezeichneten Rotwein, den zu probieren er mich überzeugt hatte.

„Ich höre gerne zu.“ Ich nippte ebenfalls an meinem Wein und ließ ihn eine Weile über meine Zunge rollen, bevor ich ihn herunterschluckte.

„Wie schmeckt der Wein?“

„Wunderbar. Ich mag eigentlich keinen Rotwein, aber der hier ist wirklich gut.“ Ich nahm noch einen Schluck und brach mir dann ein Stück von dem dicken, italienischen Brot ab, um es in das würzige Olivenöl zu tauchen. „Sprich weiter.“

Er kam meinem Wunsch nicht gleich nach, sondern musterte mich über den Tisch hinweg. Wir hatten sogar Kerzen. Deren goldener Schimmer malte ihm Strähnen in die Haare und spiegelte sich in seinen Augen. Das erinnerte mich an die erste Episode, in der ich ihn im Sonnenlicht hatte stehen sehen.

„Was?“, fragte er.

„Du“, sagte ich. „Du bist so …“ „Alt?“

„Pst. Du bist nicht alt. Ich wollte sagen, so … schön.“

Johnny lehnte sich in seinem Stuhl zurück, den Kopf ein wenig geneigt, die Andeutung eines Lächelns in den Mundwinkeln. Ich kannte den Blick. Ich hatte ihn schon auf vielen Fotos und in seinen Filmen gesehen. Und bei dem Johnny in meinem Kopf.

„Ich bin alt“, sagte er. Sein Handy klingelte. „Tut mir leid.“

Ich beschäftigte mich damit, mein Brot in das Olivenöl und die restliche Soße meiner Lasagne zu dippen, zu kauen und zu schlucken. Ich kostete den Geschmack von Öl und Knoblauch und dachte, dass ich ein paar Pfefferminzbonbons oder Kaugummis hätte mitnehmen sollen. Ich wollte seine Unterhaltung nicht belauschen, kam aber nicht umhin.

„Honey, hör mir zu … Nein. Ja, natürlich werde ich da sein. Das wollte ich um nichts in der Welt verpassen.“ Johnny runzelte die Stirn. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich es letztes Mal nicht geschafft habe, weil ich … Ich weiß, dass er das tut. Hör zu, hat sich der Kleine beschwert? Denn ich habe erst vor ein paar Abenden mit ihm gesprochen und ihn gefragt, ob er damit einverstanden ist, wenn ich ihn ein anderes Mal nehme. Er hat Ja gesagt … Ja, ich weiß, er fühlt sich verpflichtet, aber ich habe nichts in der Richtung zu ihm gesagt … Honey … Ich weiß … Ja. Ich werde da sein. Versprochen. Hab ich dir gegenüber jemals ein Versprechen gebrochen?“

Eine Pause. Noch mehr Stirnrunzeln. Ich nippte an dem Wein, um den Knoblauchgeschmack herunterzuspülen. Johnny rieb sich mit dem Daumen über die Nasenwurzel.

„Innerhalb der letzten zwei Jahre?“ Pause. „Ja, ich dachte auch … Nun dräng du mich auch nicht, okay … Ja. Tut mir auch leid … Ich weiß … Wir sprechen später.“

Er legte auf und steckte das Telefon in die Manteltasche zurück. Dann schaute er mich an und seufzte. „Sorry.“

Ich tupfte mir den Mund mit der Serviette ab. „Kein Problem.“

Johnny lachte. Ich mochte den Klang seines Lachens. „Du siehst mich so komisch an.“

„Weißt du nicht, dass es unhöflich ist, während einer Verabredung den Anruf einer anderen Frau anzunehmen?“ Ich wusste nicht, woher mein forsches Auftreten auf einmal kam. Ich hatte nur den Mund geöffnet, und da war es herausgerutscht.

„Eine andere … Aaah.“ Johnny nickte lächelnd. „Ach ja, du hast mich mit ihr im Mocha gesehen.“

Ich leckte mir über die Lippen und schmeckte Knoblauch und Öl. Johnnys Augen glänzten im Kerzenlicht. Er betrachtete meinen Mund.

„Und?“, sagte ich. „Macht es das weniger unhöflich?“

„Es gefällt dir, es mir schwer zu machen, oder?“

Ich lächelte und schwieg.

„Sie ist meine Tochter“, erklärte er schließlich. „Kim.“

Bilder eines Kleinkinds, das nach vollen Windeln und Spucke roch, schossen mir durch den Kopf. „Aber sie ist …“

Natürlich war sie kein Baby mehr. Ich hatte irgendwo etwas über seine Frau und sein Kind gelesen. Das erklärte, wieso sie in meinen Episoden auftauchten. Ich hatte nur nie das verschwommene Bild eines Kleinkinds mit der Frau aus dem Coffeeshop in Verbindung gebracht.

„Ich weiß“, sagte Johnny, obwohl er unmöglich wissen konnte, was ich hatte sagen wollen. „Vielleicht verstehst du nun, wieso ich so ein … unhöfliches Arschloch war.“

Tat ich nicht, und das musste er meinem Gesicht deutlich angesehen haben.

„Es liegt am Altersunterschied.“ Er sprach leise und beugte sich vor.

„Das schon wieder …“ Das war genau das, was meine Mom gesagt hatte. Ich verdrehte genervt die Augen. „Viele Männer haben wesentlich jüngere Frauen.“

„Jünger als mein Kind?“ Er schüttelte reumütig den Kopf. „Kimmy ist mindestens ein paar Jahre älter als du. Und ich sag dir eins, Emm: Ich bin gerade erst seit ein paar Jahren wieder Teil ihres Lebens. Ich weiß, sie würde ausflippen, wenn ich eine Freundin mit nach Hause brächte, die ihre jüngere Schwester sein könnte.“

Das ergab so viel Sinn – für jemand anderen. Nicht für uns, aber ich wusste nicht, wie ich das begründen sollte. „Lass mich dir eine Frage stellen. Ist sie verheiratet?“

„Ja. Sie hat ein Kind und so. Ich bin Opa.“ Johnnys Grinsen ließ sein gesamtes Gesicht strahlen. „Ein tolles Kind noch dazu. Er ist jetzt sechs.“

„Hast du ihr gesagt, wen sie heiraten soll? Oder irgendwelche Kommentare über das Alter ihres Ehemannes abgegeben?“

Er schaute mir direkt in die Augen. „Ich werde dich nicht anlügen. Du findest, ich bin ein Arschloch? Nun, meine Tochter findet das auch. Und ihr habt beide Grund dafür, so von mir zu denken.“

Ich bereute, dass er sich jetzt meinetwegen schlecht fühlte, obwohl ich es immer noch irgendwie blöd fand, dass er einfach so aus meiner Küche marschiert war. Ich sagte jedoch nichts, sondern ließ ihn weiterreden.

„Ihre Mom und ich haben uns vor ihrer Geburt getrennt. Wir waren beide jung und dachten, zu heiraten wäre ein großer Spaß. Als Sandy schwanger wurde, wollte ich eine Familie mit ihr gründen, aber …“ Er zuckte mit den Schultern. „Es ist beinahe unmöglich, mit Sandy zusammenzuleben. Und ich habe mit diesen ganzen Leuten zusammengearbeitet, den ganzen Frauen …“

„Du musst mir das nicht in allen Einzelheiten erzählen“, sagte ich. „Ich habe die Filme gesehen.“

Er wirkte nicht beschämt, sondern neigte nur den Kopf ein wenig, um mich eindringlich zu betrachten. „Dann weißt du es ja.“

„Das ist schon lange her“, merkte ich an. „Meinst du wirklich, dass mir das heute noch etwas ausmachen würde?“

„Die Frauen? Nein. Aber die Tatsache, dass ich nicht Teil des Lebens meiner Tochter war, wie sie es verdient hätte? Die Tatsache, dass ich sie ihrer Mutter überlassen habe, obwohl ich wusste, dass sie bei ihr nie ein stabiles Zuhause haben würde?“ Johnny schüttelte erneut den Kopf. „Nein, Emm, das ist etwas, das nicht besser wird, weil es lange her ist oder weil ich jung und dumm war. Ich bin diesem Kind etwas schuldig, und jetzt gebe ich mein Bestes, es wiedergutzumachen.“

„Das ist genau das, was dich nicht zu einem Arschloch macht.“

Er lächelte. „Das soll keine Entschuldigung sein. Aber es ist der Grund, warum ich mich dir gegenüber an dem Tag so verhalten habe. Und warum ich versuche, dir aus dem Weg zu gehen.“

Ich streckte meinen Arm aus und nahm seine Hand. Er zog sie nicht weg. Ich drehte sie mit der Handfläche nach oben und zog mit meinen Fingerspitzen die Linien nach, als wenn ich ihm die Zukunft vorhersagen wollte – was ich nicht konnte, weil ich nur zurück, aber nicht nach vorne reisen konnte. „Wie kommt es dann, dass du jetzt mit mir hier bist?“

Johnny schloss seine Finger um meine und hielt meine Hand fest. „Weil … egal wo ich hinging, warst du immer schon da.“

„Das klingt ja so, als hätte ich dich verfolgt.“ Meine Worte waren nur ein heiseres Flüstern.

Seine Augen strahlten. Mit dem Daumen strich er über meinen Handrücken. Ich spürte die Berührung am ganzen Körper. „Nein, du hast mich nicht verfolgt. Es war nur unmöglich, dir zu entkommen.“

„Und das wolltest du? Mir entkommen?“ Das schmerzte weniger, als es sollte, weil die Glut in seinen Augen ein Gegengewicht zu seinen Worten bildete.

„Ja.“

„Warum, Johnny? Warum wolltest du mir entkommen?“ „Weil du mir Angst gemacht hast.“

Ich drückte seine Hand. „Ich bin gar nicht so schrecklich. Wirklich nicht, versprochen. Herrisch vielleicht …“

„Definitiv herrisch.“ Er erwiderte den Druck.

„Ich bin nur … Ich kann es dir nicht erklären“, gestand ich ihm leise.

Das Murmeln der Gespräche und das Klappern von Besteck auf Tellern um uns herum erinnerte mich daran, dass wir nicht alleine waren, und doch sah ich nichts außer Johnnys Gesicht. Wir hielten Händchen wie Liebende, obwohl wir das eigentlich nicht waren, aber auch irgendwie nicht nicht waren.

„Du hast einfach was an dir. Ich weiß, das haben dir bestimmt schon viele Frauen gesagt, aber …“

„Hunderte.“

Ich drückte seine Hand fester. „Hey!“

Er lachte, und ich löste meinen Griff. Wir verschränkten unsere Finger miteinander. Es war ein wenig seltsam, meinen Arm auf diese Weise über den Tisch zu strecken, aber ich wollte ihn nicht loslassen. Nicht jetzt, wo ich ihn endlich festhielt.

„Aber keine war wie du, Emm“, sagte Johnny. „Keine war wie du.“