1. KAPITEL

Orangen.

Der Duft von Orangen stieg mir in die Nase. Ich legte eine Hand auf die Lehne des Stuhls, der mir am nächsten stand, und ließ meinen Blick auf der Suche nach einem Obstkorb über den Tresen gleiten. Nach irgendetwas, das den Geruch erklärte, der in diesem Coffeeshop so fehl am Platz war wie ein Weihnachtsmannkostüm am Strand. Ich konnte jedoch nichts entdecken und atmete tief ein. Schon vor langer Zeit hatte ich gelernt, dass es sinnlos war, den Atem anzuhalten.

Es ist leichter, wenn ich einfach weiteratme … es hinter mich bringe …

Der Geruch verschwand schnell wieder. Ein paar Sekunden lang konnte ich ihn noch wahrnehmen, dann wurde er von dem starken Duft von Kaffee und Gebäck verdrängt. Ich hatte an einer Stuhllehne Halt gesucht, aber ich brauchte die Stütze nicht mehr. Bevor ich den Stuhl losließ, sah ich mich kurz um und ging dann die wenigen Schritte bis zur Ecke des Tresens, wo ich Sahne und Zucker in meinen Kaffee gab.

Meine letzte Episode war schon lange her.

Episoden, so nannte ich die Blackouts, die mich seit Kindertagen ganz plötzlich und unerklärlich überfielen. Oft waren sie begleitet von Halluzinationen, kleinen Traumsequenzen, die mir in dem Moment jedoch meistens vollkommen real erschienen. Die letzte Episode vor zwei Jahren war auch nur sehr oberflächlich gewesen, aber die Tatsache, dass diese hier kaum mehr als einen Wimpernschlag gedauert hatte, beruhigte mich nicht. Es hatte Zeiten in meinem Leben gegeben, in denen die Episoden mich schnell und oft übermannt und vollkommen handlungsunfähig gemacht hatten. Es wäre zu viel verlangt, zu hoffen, sie würden ganz verschwinden. Aber auf keinen Fall wollte ich diese Zeiten noch einmal erleben.

„Hey, Süße! Hallo!“, rief Jen aus der Nische direkt neben der Eingangstür. Sie winkte. „Hier bin ich!“

Ich winkte zurück und schnappte mir einen Löffel zum Umrühren, bevor ich mir einen Weg durch die Stühle und Tische suchte und mich Jen gegenüber setzte. „Hey.“

„Oh, was hast du da?“ Jen beugte sich vor, um in meinen Becher zu schauen, als wenn sie dadurch sehen könnte, was ich bestellt habe. Sie schnupperte. „Swiss Chocolate?“

„Nah dran. Chocolate Delight.“ Das war eines der beiden Tagesangebote des Coffeeshops. „Mit einem Schuss Vanillesirup.“

Jen schnalzte anerkennend mit der Zunge. „Mhhm, klingt lecker. Mal sehen, was ich heute nehme. Ach ja, was hast du zu essen?“

„Einen Blaubeermuffin. Eigentlich wollte ich den Schoko-Cupcake nehmen, aber dann dachte ich, das ist vielleicht etwas zu viel des Guten.“ Ich zeigte ihr meinen Teller mit dem Muffin.

„Zu viel Schokolade meinst du? Das gibt es gar nicht. Bin gleich wieder da.“

Ich rührte in meinem Kaffee, um den Sirup, den Zucker und die Sahne zu verteilen, nippte daran und genoss die extreme Süße, die nur wenige Menschen mochten. Jen hatte recht: Ich hätte den Cupcake nehmen sollen.

Jen hatte den falschen Moment gewählt, um sich in die Schlange einzureihen. Die Kunden standen in Viererreihen bis zur Eingangstür. Sie warf mir einen genervten Blick zu und zuckte dabei mit den Schultern. Ich konnte nur mitfühlend lächeln.

Bei meiner Ankunft war der Coffeeshop noch ziemlich leer gewesen, weil sich viele Gäste erst einmal einen Tisch gesucht hatten, bevor sie sich anstellten. Ich winkte Carlos zu, der in einer Ecke saß, aber er hatte seinen Laptop vor sich, trug Kopfhörer und reagierte nicht. Carlos arbeitete an einem Roman. Er saß jeden Morgen von zehn bis elf Uhr hier im Mocha, bevor er sich zu seiner Arbeit aufmachte. An Samstagen wie heute blieb er auch gerne einmal länger.

Lisa, deren Rucksack zum Bersten mit Büchern vollgestopft war, setzte sich ein paar Tische entfernt von mir hin und winkte mir zur Begrüßung kurz zu, während Jen mir mit hektischen Bewegungen zu verstehen gab, dass ich sie ignorieren solle. Lisa verdiente sich ihr Jurastudium mit dem Verkauf von Spicefully Tasty-Produkten. Mir machte es nichts aus, dass sie ab und zu versuchte, uns etwas zu verkaufen, aber Jen konnte sie auf den Tod nicht ausstehen. Heute schien Lisa jedoch beschäftigt zu sein. Sie konzentrierte sich ganz darauf, ihre Bücher und einen Block herauszuholen, und spielte bereits nervös mit ihrem Kuli, während sie noch den Mantel auszog.

Wir waren die Stammkunden des Mocha. Es war fast wie eine Art Club. Wir trafen uns morgens vor der Arbeit, abends auf dem Weg nach Hause und an den Wochenenden. Dieser Coffeeshop war mit das Beste daran, in diesem Viertel zu wohnen, und obwohl ich erst seit wenigen Monaten hier lebte, liebte ich es jetzt schon.

Als Jen endlich zu unserem Tisch zurückkehrte, in der Hand einen großen Becher mit einem Getränk, das sowohl nach Minze als auch nach Schokolade roch, und in der anderen einen Teller mit einem saftigen Brownie, hatte sich die Schlange an der Kasse aufgelöst, und es war ein wenig Ruhe eingekehrt. Die Kunden, die öfter herkamen, hatten ihre üblichen Plätze eingenommen, und diejenigen, die nur etwas zum Mitnehmen haben wollten, waren mit ihren Pappbechern schon wieder verschwunden. Das Mocha war jetzt gut gefüllt. In der Luft lag das Summen der Unterhaltung und das Klackern der Laptoptastaturen der Leute, die sich das kostenlose WLAN zunutze machten. Mir gefiel die Geräuschkulisse. Sie machte mir bewusst, dass ich da war. In diesem Moment. In diesem Augenblick, bei vollem Bewusstsein.

„Hat sie heute gar nicht versucht, dir irgendeinen Schmelzkäse oder so zu verkaufen? Vielleicht hat sie den Wink verstanden.“ Jen reichte mir eine Gabel, und auch wenn ich widerstehen wollte, konnte ich nicht anders, als ein Stück von ihrem Brownie zu probieren.

„Ich mag die Sachen von Spicefully Tasty eigentlich ganz gerne“, sagte ich.

„Pffffft!“ Jen lachte. „Hör auf.“

„Nein, wirklich“, beharrte ich. „Sie sind teuer, aber praktisch. Wenn ich jemals wirklich kochen würde, wäre es noch besser.“

„Wem sagst du das. So viel Geld für ein paar Gewürze, die ich mir für zwei Dollar im Laden kaufen und selber zusammenmixen kann. Nicht dass ich das tun würde“, fügte Jen an. „Aber ich könnte.“

„Vielleicht nächsten Monat.“ Ich nippte an meinem sich schnell abkühlenden Kaffee und genoss das reichhaltige, weiche Gefühl der Sahne auf meiner Zunge. „Nachdem ich ein paar Rechnungen bezahlt habe.“

„Du hast Wichtigeres zu tun … oh. Sehr schön. Endlich.“ Jen senkte ihre Stimme beinahe zu einem Flüstern.

Ich wandte den Kopf, um zu sehen, wohin sie schaute. Ich erhaschte einen Blick auf einen langen schwarzen Mantel und einen rotschwarz gestreiften Schal. Der Mann, der beides trug, hatte eine dicke Zeitung unter dem Arm klemmen, was in den Zeiten von Smartphones und Internet ein so seltener Anblick war, dass ich zweimal hinschauen musste. Er sprach mit dem Mädchen an der Kasse, die ihn zu kennen schien, und nahm dann seinen leeren Becher mit zu dem langen Tresen, auf dem die Kaffeekannen zur Selbstbedienung standen.

Im Profil war er einfach hinreißend. Sandblondes, ein wenig zerzaustes Haar, eine scharf geschnittene Nase, die sein Gesicht aber nicht zu sehr dominierte. Kleine Fältchen in den Winkeln seiner Augen, die ich nicht sehen konnte, von denen ich aber vermutete, dass sie blau waren. Sein Mund – die Lippen konzentriert geschürzt, während er sich Kaffee einschenkte und Milch und Zucker dazugab – war gerade voll genug, um verführerisch zu sein.

„Wer ist das?“, fragte ich.

„Süße!“, hauchte sie heiser. „Du weißt nicht, wer das ist?“

„Würde ich dann fragen?“

Der Mann in dem schwarzen Mantel ging so nah an uns vorbei, dass ich seinen Duft wahrnehmen konnte.

Orangen.

Ich schloss meine Augen gegen die zweite Welle des Geruchs. Der Geschmack des Kaffees auf meiner Zunge war so stark, dass er eigentlich alles andere hätte übertönen müssen, doch das tat er nicht. Ich hätte Kaffee und Schokolade riechen müssen, doch ich roch Orangen. Wieder einmal. Ich beugte den Kopf und drückte meine Fingerspitzen auf den magischen Punkt zwischen meinen Augen, der hervorragend gegen Kopfschmerzen half, aber bei einer Episode leider überhaupt nichts bewirkte.

Doch als ich meine Augen wieder öffnete, wirbelten keine Farben am Rand meines Sichtfelds herum, und der Duft von Orangen wurde schwächer, je weiter der Mann sich entfernte. Ich schaute zu, wie er sich an einen Platz am anderen Ende des Coffeeshops setzte. Er klappte die Zeitung auf, breitete sie auf dem kleinen Tisch aus, stellte seinen Kaffeebecher ab und zog den Mantel aus.

„Alles in Ordnung mit dir?“ Jen beugte sich in mein Blickfeld vor. „Ich weiß, er ist verdammt heiß, aber mein Gott, Emm, du sahst aus, als wenn du gleich ohnmächtig werden würdest.“

„PMS“, sagte ich. „Manchmal wird mir um diese Zeit des Monats ein wenig schwindelig.“

Jen runzelte die Stirn. „Das ist nicht schön.“

„Wem sagst du das.“ Ich grinste, um ihr zu zeigen, dass alles wieder gut war, und zum Glück war es das auch. Kein noch so kleines Zeichen eines erneuten Anfalls, wie er mich vorhin erwischt hatte. Ich roch Orangen, weil der Mann nach ihnen duftete und nicht wegen irgendwelcher falsch geschalteter Nervenzellen in meinem Gehirn. „Wie auch immer. Wer ist er?“

„Das ist Johnny Dellasandro.“

Meine Miene musste meine vollkommene Unkenntnis verraten haben, denn Jen lachte.

Müll? Das Horror-Kloster? Haut? Komm schon, das sagt dir gar nichts?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Oh Süße, wo bist du nur gewesen? Hattest du in deiner Kindheit kein Kabelfernsehen?“

„Natürlich hatte ich das.“

„Johnny Dellasandro hat in all diesen Filmen mitgespielt. Sie liefen oft im Nachtprogramm. Also wirklich, die Filme gehörten zu jeder guten Pyjamaparty dazu.“

Meine Mom hatte sich stets zu viele Sorgen um mich gemacht, als dass sie mich irgendwo hätte übernachten lassen. Ich durfte immer bis zu meiner üblichen Bettgehzeit auf die Partys, dann kam sie und holte mich ab. Allerdings hatte ich einige Pyjamapartys bei uns zu Hause veranstaltet. „An die Sendung erinnere ich mich. Aber das ist ja schon Ewigkeiten her.“

„Leere Räume?“

Das klang ein wenig bekannter, aber auch nicht wirklich. Ich zuckte mit den Schultern und schaute wieder zu dem Mann. „Hab ich noch nie gehört.“

Jen seufzte und schaute über ihre Schulter hinweg zu ihm. Dann beugte sie sich vor, senkte die Stimme und bedeutete mir, näherzukommen. „Johnny Dellasandro, der Künstler? Er hat diese Porträtserie erstellt, die in den Achtzigern weltberühmt wurde. Leere Räume. So ein bisschen die Mona Lisa der Warhol-Ära.“

Mein Verständnis von Kunst reichte vielleicht gerade mal aus, um ein Bild von Warhol zu erkennen, wenn es neben einem van Gogh oder einem Dalí hing. Aber sicher war ich mir da nicht … „Warhol? Der Typ mit den Suppendosen? Marilyn Monroe?“

„Ja, das ist er. Dellasandros Arbeit war nicht ganz so kitschig, dafür ein wenig mehr Mainstream. Leere Räume war sein Durchbruch.“

„Du sprichst in der Vergangenheitsform. Ist er kein Künstler mehr?“

Sie beugte sich noch ein Stück weiter vor, und ich tat es ihr gleich. „Nun, er hat eine Galerie in der Front Street: The Tin Angel. Kennst du die?“

„Ich bin schon mal daran vorbeigegangen, ja, aber nie drin gewesen.“

„Das ist seine Galerie. Er arbeitet immer noch selber, stellt aber auch viele lokale Künstler aus.“ Sie deutete auf die Wände des Mocha, an denen ebenfalls Bilder von ortsansässigen Künstlern hingen. Einige davon waren von ihr. „Das, was er in seiner Galerie zeigt, ist wesentlich besser als das hier. Ab und zu hat er sogar mal einen großen Namen darunter. Aber eigentlich geht er es sehr ruhig, sehr unprätentiös an. Zumindest hier in der Gegend. Woraus man ihm kaum einen Vorwurf machen kann.“

„Hm.“ Ich musterte ihn. Er blätterte die Seiten der Zeitung so langsam um, als würde er wirklich jedes einzelne Wort lesen. „Ich frage mich, wie das wohl ist.“

„Was?“

„Berühmt zu sein und dann … nicht mehr.“

„Er ist immer noch berühmt. Nur auf andere Art. Ich kann nicht glauben, dass du nie von ihm gehört hast. Er wohnt übrigens in dem Backsteingebäude unten an der Straße.“

Ich riss meinen Blick von Johnny Dellasandros Rücken los und schaute meine Freundin an. „Welches meinst du?“

„Welches meine ich wohl.“ Jen verdrehte die Augen. „Das hübsche.“

„Was? Wirklich? Wow.“ Ich schaute ihn erneut an. Ich hatte eines der Backsteinhäuser an der Second Street gekauft. Meins war jedoch vom vorherigen Besitzer nur teilweise renoviert worden, und ich würde noch eine Menge Arbeit hineinstecken müssen. Das Haus, von dem Jen sprach, war wunderschön. Das Mauerwerk war perfekt restauriert worden, die neuen Regenrinnen aus Messing blitzten in der Sonne, und akkurat geschnittene Hecken umgaben den parkähnlich angelegten Garten.

„Ihr seid praktisch Nachbarn. Ich kann nicht glauben, dass du ihn nicht kennst.“

„Ich weiß ja kaum, wer er ist“, erwiderte ich, obwohl mir der Titel Leere Räume jetzt, wo ich ein wenig darüber nachgedacht hatte, irgendwie doch bekannt vorkam. „Ich bin mir nicht sicher, dass der Makler ihn als Verkaufsargument erwähnt hat.“

Jen lachte. „Vermutlich nicht, weil er ziemlich zurückgezogen lebt. Er kommt öfter hierher, obwohl ich ihn jetzt schon länger nicht mehr gesehen habe. Aber er spricht mit niemandem und bleibt gerne für sich.“

Ich trank meinen Kaffee aus und überlegte, mir einen kostenlosen Nachschlag zu gönnen. Dann würde ich direkt an ihm vorbeigehen müssen und könnte endlich einmal sein Gesicht sehen. Jen schien meine Gedanken zu lesen.

„Er ist einen zweiten Blick wert“, sagte sie. „Gott weiß, alle Frauen hier haben schamlos die fadenscheinigsten Ausreden bemüht, um immer wieder an seinem Tisch vorbeizugehen. Genau wie Carlos. Ich glaube sogar, Carlos ist der Einzige, mit dem er je gesprochen hat.“

Ich lachte. „Wirklich? Wieso? Steht er auf Männer?“

„Wer, Carlos?“

Ich war mir ziemlich sicher, dass Carlos hetero war, so wie er jeder Frau auf den Hintern starrte, wenn er sich unbeobachtet fühlte. „Nein, Dellasandro.“

„Ach, Süße!“, seufzte Jen.

Ich mochte es, wenn sie mich so nannte. Als wenn wir schon lange Freundinnen wären und nicht erst seit ein paar Monaten. Es war schwer gewesen, hierher nach Harrisburg zu ziehen. Neuer Job, neue Wohnung, neues Leben – die Vergangenheit lag vermeintlich hinter mir, und doch konnte ich sie nie ganz vergessen. Jen war einer der ersten Menschen, den ich hier kennengelernt hatte. Und zwar genau hier, im Mocha. Sofort hatte sich zwischen uns eine tiefe Freundschaft entwickelt.

„Ja?“ Ich musterte ihn erneut.

Dellasandro befeuchtete die Spitze seines Zeigefingers, bevor er die Zeitungsseite umblätterte. Das hätte nicht so sexy sein dürfen, wie es mir in diesem Moment vorkam. Jens Aufregung schien auf meinen Eindruck von ihm abzufärben, anders konnte ich mir die Faszination nicht erklären, die er auf mich ausübte. Ich hatte ja bisher nur sein Profil gesehen und starrte ihm seit einer Viertelstunde auf den Rücken.

„Wir müssen uns mal zusammen seine Filme anschauen. Dann wirst du schon sehen, was ich meine. Johnny Dellasandro ist … eine Legende.“

„So eine große Legende kann er nicht sein, sonst würde ich ihn ja kennen.“

„Okay“, gab Jen zu. „In gewissen Kreisen ist er eine Legende. Bei den künstlerischen Typen.“

„Ich schätze, ich bin nicht künstlerisch genug.“ Ich lachte und nahm ihr ihren Kommentar nicht übel. Ein paarmal war ich in New York im Metropolitan Museum of Modern Arts gewesen, aber ich gehörte eindeutig nicht zur Zielgruppe.

„Das ist eine Schande. Wirklich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Johnny-Dellasandro-Filme mich für normale Männer versaut haben.“

„Das ist nicht gerade ein Kompliment“, sagte ich. „Und außerdem bezweifle ich, dass es überhaupt so etwas gibt wie einen normalen Mann.“

Jen lachte und brach mit ihrer Gabel ein weiteres Stück von ihrem Brownie ab, wobei sie kurz einen Blick über die Schulter warf. Sie wedelte mit der Gabel herum. „Komm heute Abend zu mir. Ich habe die komplette DVD-Kollektion und zusätzlich einige seiner früheren Filme. Und was ich nicht habe, laden wir uns aus dem Internet herunter.“

„Oh, wie modern!“

Sie grinste und steckte sich den Happen Brownie in den Mund. „Süße, ich werde dich in eine verdammt coole Welt einführen.“

„Und er wohnt gleich hier um die Ecke?“

„Oh ja. Ist das nicht super?“ Jen schaute noch einmal über ihre Schulter.

Falls Dellasandro auch nur ahnte, dass wir ihn mit prüfenden Blicken musterten, so zeigte er es nicht. Er schien niemanden um sich herum wahrzunehmen, las seelenruhig seine Zeitung und trank seinen Kaffee. Langsam blätterte er Seite für Seite um und nutzte manchmal seinen Zeigefinger, um die Zeilen entlangzufahren.

„Ich war mir nicht sicher, dass er es ist, weißt du? Doch eines Morgens kam ich hier rein, und er stand direkt vor mir … Johnny Dellasandro.“ Jen stieß einen glücklichen, vollkommen verknallten Seufzer aus. „Süße, ich bin hier beinahe auf einer Welle meiner eigenen Körpersäfte hinausgesurft.“

Ich hatte gerade einen Schluck getrunken, als sie das sagte, und fing an zu lachen. Eine Sekunde später erstickte ich beinahe, als der Kaffee in meiner Luftröhre anstatt in meinem Magen landete. Keuchend, hustend, mit tränenden Augen hielt ich mir die Hand vor Mund und Nase, aber es war unmöglich, keinen Laut von mir zu geben.

Jen lachte ebenfalls. „Hände hoch! Du musst die Hände hochnehmen, dann hört der Husten auf.“

Meine Mutter hatte das auch immer gesagt. Ich schaffte es, eine Hand ein Stück zu heben, und der Husten wurde schwächer. Ich erntete ein paar neugierige Blicke von anderen Gästen, aber Gott sei Dank keinen von Dellasandro. „Nächstes Mal warne mich bitte vor, bevor du so etwas sagst.“

Sie blinzelte unschuldig. „Bevor ich was sage? Welle meiner eigenen Körperflüssigkeiten?“

Ich lachte wieder, dieses Mal jedoch, ohne zu ersticken. „Ja, genau das.“

„Vertrau mir. Nachdem du seine Filme gesehen hast, verstehst du, was ich meine.“

„Okay, gut. Du hast mich überzeugt. Und ich habe heute Abend auch peinlicherweise noch keine Pläne.“

„Hey, wenn man ein Loser ist, nur weil man an einem Samstagabend nicht ausgeht, dann bin ich auch einer. Wir können gemeinsam Loser sein, Eiscreme essen und über alte Softcore-Kunstfilme in Ekstase geraten.“

„Softcore?“ Ich schaute an ihr vorbei zu Dellasandro, der am Ende seiner Zeitung angekommen war.

„Warte nur ab“, sagte Jen. „Freie Sicht auf alles, Baby.“

„Oh wow. Kein Wunder, dass er mit niemandem sprechen will. Wenn ich dafür berühmt wäre, auf der großen Leinwand meinen Zauberstab geschwungen zu haben, würde ich auch wollen, dass keiner Notiz von mir nimmt.“

Nun war es an Jen, laut zu lachen. Es drehten sich mehr Köpfe um als bei mir, aber Dellasandros war immer noch nicht dabei. Sie fuhr mit dem Finger durch die Schokolade auf ihrem Teller und leckte sie ab.

„Ich glaube nicht, dass es daran liegt. Also ich meine, er protzt nicht damit oder so, aber er schämt sich auch nicht dafür. Wieso sollte er auch. Er hat Kunst produziert.“ Sie meinte es ernst. „Ehrlich. Er und seine Freunde waren als die Enklave bekannt. Man sagt, sie hätten die Art und Weise verändert, wie die Öffentlichkeit Kunst wahrnimmt. Sie haben Kunstfilme gedreht, die in normalen Kinos gelaufen sind. Kinos für Erwachsene, aber trotzdem.“

„Wow.“ Ich hatte keine Ahnung von Kunst, aber was Jen sagte, klang beeindruckend.

Und ich musste zugeben, dass Dellasandro etwas an sich hatte. Vielleicht waren es der lange Mantel und der Schal. Ich stehe auf Männer, die wissen, wie man sich so anzieht, als würden sie keinen großen Wert darauf legen, und dabei unglaublich gut aussehen. Vielleicht war es auch sein Duft nach Orangen, als er an mir vorbeigegangen war. Ein Geruch, den ich normalerweise nicht mochte – ehrlich gesagt, hasste ich ihn sogar, weil er meist eine Episode ankündigte. Vielleicht waren es auch die Nachwirkungen der Halluzination selber, so kurz sie auch gewesen war. Mir ging es danach oft so, dass die Wirklichkeit mir eine Weile lang leuchtender erschien, irgendwie detaillierter als sonst. Es war seltsam, aber selbst wenn die Episode von Halluzinationen begleitet wurde, war aus ihr aufzutauchen oft das intensivere Erlebnis. So eine schlimme Attacke hatte ich seit langer Zeit nicht einmal mehr ansatzweise gehabt, aber mein aktuelles Gefühl war dem sehr ähnlich.

„Emm?“

Erschrocken merkte ich, dass Jen mit mir sprach. Und ich hatte nicht einmal eine Episode als Entschuldigung für meine Unaufmerksamkeit. „Tut mir leid.“

„Also heute Abend bei mir. Ich mache Margaritas, und wir können uns eine Pizza bestellen.“ Sie hielt inne und wirkte ein wenig beunruhigt. „Das klingt irgendwie armselig, oder?“

„Weißt du, was armselig ist? Sich zurechtzumachen und von einer Bar zur anderen zu ziehen, um sich von irgendeinem Typen in einem gestreiften Hemd, der stark nach billigem Aftershave riecht, anmachen zu lassen.“

„Du hast recht. Gestreifte Hemden sind so 2006.“

Wir lachten. Ich war schon ein paarmal mit Jen durch die Bars der Stadt gezogen. Gestreifte Hemden waren immer noch sehr beliebt, vor allem bei jungen Verbindungsstudenten, die Jello-Shots – Wackelpudding mit Wodka – von spärlich bekleideten Promoterinnen kauften, weil sie hofften, die Mädchen würden sie dann für harte Typen halten …

Jen schaute auf die Uhr. „Mist. Ich muss los. Ich treffe mich heute mit meinem Bruder. Wir wollen mit unserer Grandma zusammen Lebensmittel für sie kaufen. Sie ist zweiundachtzig und sieht nicht mehr gut genug, um selber zu fahren. Wenn wir uns nicht um sie kümmern, treibt sie unsere Mutter in den Wahnsinn.“

Ich grinste. „Viel Spaß.“

„Ich liebe sie, aber sie ist echt anstrengend. Deshalb muss mein Bruder mitkommen. Ich sehe dich heute Abend bei mir. So gegen sieben? Es sind eine Menge Filme, da sollten wir nicht zu spät anfangen.“

Ich konnte mir nicht vorstellen, mehr als einen oder zwei der Filme sehen zu wollen, aber ich nickte trotzdem. „Okay. Ich bringe Nachtisch und was zum Knabbern mit.“

„Super. Bis dann.“ Jen stand auf und beugte sich noch einmal vor. „Los, jetzt trau dich endlich, dir nachzuschenken. Schnell, bevor er geht.“

Dellasandro hatte seine Zeitung bereits zusammengefaltet und stand gerade auf. Er zog seinen Mantel an. Ich konnte sein Gesicht immer noch nicht sehen.

„Ich würde dir empfehlen, unauffällig noch ein kleines Weilchen zu warten und direkt hinter ihm hinauszugehen, damit er dir die Tür aufhalten muss“, sagte ich.

„Guter Plan“, meinte Jen. „Zu blöd, dass ich nicht länger warten kann. Ich muss los. Mach du es doch.“

Wir lachten beide, dann ging Jen. Ich schaute ihr hinterher. Dann wanderte mein Blick zu Dellasandro, der gerade seinen leeren Becher zum Tresen zurückbrachte. Mit der Zeitung unter den Arm geklemmt ging er schnurstracks auf die Toiletten im hinteren Bereich des Coffeeshops zu. Das war ein guter Augenblick, um mir Kaffee zu holen, zumal ich dafür bezahlt hatte, aber ich war nicht wirklich in der Stimmung für noch mehr Koffein. Ich hatte keine Pläne – der Tag erstreckte sich vor mir, und nichts drängte mich, das Mocha zu verlassen, und doch hatte ich vergessen, mir etwas zu lesen mitzubringen oder meinen Laptop, um ein wenig im Internet zu surfen. Es gab für mich keinen Grund zu bleiben. Im Gegenteil, mich erwartete ein ganzes Haus voll unausgepackter Umzugskisten. Vermutlich hatte ich auch eine Nachricht von meiner Mutter auf dem Anrufbeantworter …

Ich brachte meine Tasse zum Tresen und ließ meinen Blick lustvoll über die Gebäckauslage schweifen. Ich würde zu Hause einfach ein paar Brownies backen. Selbst gemacht schmeckte immer besser, auch wenn die Brownies im Mocha eine extra dicke Toffeeglasur hatten, von der ich keine Ahnung hatte, wie man sie machte. Trotz des Blaubeermuffins knurrte mein Magen. Kein gutes Zeichen.

„Darf es noch etwas sein?“ Das war Joy, eine der am kürzesten angebundenen Personen, die ich je getroffen hatte. Sie machte ihrem Namen definitiv keine Ehre.

„Nein danke.“ Ich rückte den Riemen meiner Tasche auf meiner Schulter zurecht und dachte, dass es besser wäre, nach Hause zu gehen und mir ein Sandwich zu machen, bevor ich vollkommen unterzuckerte. Hunger zu haben machte mich nicht nur unleidlich, sondern es begünstigte auch das Entstehen einer Episode. Nachdem ich heute Morgen schon eine durchgestanden hatte, wollte ich nichts tun, was eine weitere Attacke begünstigte. Koffein und Zucker halfen, sie in Schach zu halten, aber ein leerer Magen machte den Effekt wieder zunichte.

Dellasandro erreichte die Tür des Mochas nur Sekunden nach mir. Ich drückte die Glastür auf, was die Glöckchen zum Klingeln brachte, und spürte ihn hinter mir. Ich drehte mich um, eine Hand immer noch an der Tür, damit sie nicht wieder zufiel, und da war er. Schwarzer Mantel. Gestreifter Schal. Blondes Haar.

Seinen Augen waren nicht blau.

Sie waren von einem tiefen, grünlich schimmernden Braun. Sein Gesicht war perfekt, trotz der feinen Fältchen um seine Augen und dem Hauch von Silber, den ich an seinen Schläfen entdeckte. Ich hätte ihn auf Ende dreißig geschätzt, ein paar Jahre älter als ich, aber wenn er seine große Zeit in den Siebzigern gehabt hatte, musste er älter sein. Doch ich hätte es ihm nicht angesehen, nicht einmal jetzt, wo ich es wusste. Sein Gesicht war wunderschön.

Johnny Dellasandros Gesicht war Kunst …

Und ich ließ die Tür direkt hineinfallen.

„Meine Güte“, sagte er und trat einen Schritt zurück.

Seine Stimme – New York pur.

Die Tür schloss sich zwischen uns. Die Sonne spiegelte sich in dem Glas, verbarg ihn im Inneren des Coffeeshops. Ich konnte sein Gesicht nicht mehr sehen, aber ich konnte mir denken, dass er wütend auf mich war.

Ich zog in dem Moment am Türgriff, als er von innen drückte. Der plötzliche Schwung ließ mich ein paar Schritte rückwärts stolpern. „Oh, wow, ich … es tut mir leid.“

Er schaute mich nicht einmal an, sondern ging mit einem unterdrückten Fluch kopfschüttelnd an mir vorbei. Die Kante seiner zusammengefalteten Zeitung schlug gegen meinen Arm. Dellasandro achtete nicht darauf. Der Saum seines Mantels flatterte in einer plötzlichen Windbö, und ich keuchte auf, atmete tief ein, noch tiefer.

Der Duft von Orangen.

„Mom, wirklich, es geht mir gut.“ Ich musste ihr das nicht sagen, weil sie sich dann weniger Sorgen machen würde, sondern weil sie sich definitiv noch mehr aufregte, wenn ich es nicht sagte. „Großes Ehrenwort. Alles ist gut.“

„Ich wünschte, du wärst nicht so weit weggezogen.“ Die Stimme meiner Mutter am anderen Ende der Leitung klang gereizt. Das war normal. Erst wenn sie anfing, ängstlich zu klingen, musste ich mir Sorgen machen.

„Vierzig Minuten sind überhaupt nicht weit weg. So wohne ich näher an meiner Arbeit, und außerdem habe ich ein tolles Haus.“

„In der Stadt!“

„Oh, Mom.“ Ich musste lachen, auch wenn ich wusste, dass das ihre Stimmung nicht verbessern würde. „Harrisburg ist nur theoretisch eine Stadt.“

„Und dann noch mitten im Zentrum. Ich habe in den Nachrichten gehört, dass es nur wenige Straßen von dir entfernt eine Schießerei gegeben hat.“

„Ach ja? Und in Lebanon hat es letzte Woche einen Mord mit anschließendem Selbstmord gegeben. Wie weit ist das noch mal von dir entfernt?“

Meine Mom seufzte. „Emm. Sei bitte ernst.“

„Ich bin ernst, Mom. Ich bin einunddreißig Jahre alt. Es war an der Zeit für mich, diesen Schritt zu gehen.“

Sie seufzte. „Ich schätze, du hast recht. Du kannst nicht immer mein Baby sein.“

„Ich bin schon seit ziemlich langer Zeit nicht mehr dein Baby.“

„Ich würde mich nur wohler fühlen, wenn du nicht alleine wärst. Es war besser, als du und Tony …“

„Mom“, unterbrach ich sie genervt. „Tony und ich haben aus vielen guten Gründen Schluss gemacht, okay? Hör bitte auf, ihn andauernd wieder zum Thema zu machen. Du hast ihn nicht mal sonderlich gemocht.“

„Nur weil ich fand, dass er sich nicht gut genug um dich gekümmert hat.“

Damit hatte sie tatsächlich recht gehabt. Nicht dass ich so viel Fürsorge benötigte, wie sie glaubte. Aber ich wollte nicht mit ihr über meinen Exfreund sprechen. Nicht jetzt … und eigentlich niemals.

„Wie geht es Dad?“, fragte ich stattdessen, damit sie über den anderen Menschen in ihrem Leben sprechen konnte, über den sie sich auch mehr Sorgen machte, als nötig war.

„Oh, du kennst doch deinen Dad. Ich sage ihm immer, er soll zum Arzt gehen und sich gründlich durchchecken lassen, aber er tut es einfach nicht. Er ist jetzt neunundfünfzig, weißt du.“

„Du tust gerade so, als wäre das uralt.“

„Zumindest ist es nicht jung“, erwiderte meine Mom.

Ich lachte und klemmte das Telefon zwischen Schulter und Ohr ein, während ich eine der großen Umzugskisten öffnete, die ich in einem der ungenutzten Zimmer untergestellt hatte. Ich war dabei, Bücher auszupacken. Ich wollte aus diesem Raum meine Bibliothek machen und hatte alle meine Bücherregale aufgestellt und abgestaubt. Jetzt musste ich sie nur noch füllen. Das war eine Aufgabe, von der ich wusste, dass ich froh wäre, wenn ich sie erledigt hatte, und doch schob ich es seit Monaten vor mir her.

„Was tust du?“, wollte meine Mom wissen.

„Bücher auspacken.“

„Oh, sei vorsichtig, Emm. Du weißt, das kann Staub aufwirbeln.“

„Ich habe kein Asthma, Mom.“ Ich legte die Lage Zeitungspapier beiseite, die auf den Büchern gelegen hatte. Ich hatte die Bücher nicht so eingepackt, wie sie nachher auf dem Regal stehen sollten, sondern so, wie sie am besten in die Kiste passten. Dieser Karton hier sah aus, als wenn er hauptsächlich Coffeetable-Books enthielt, die ich günstig erworben oder geschenkt bekommen hatte. Bücher, die ich immer schon mal hatte anschauen wollen, aber dann doch nie dazu kam.

„Nein. Aber du weißt, dass du vorsichtig sein musst.“

„Mom, komm schon. Es reicht.“ Langsam wurde ich wütend.

Meine Mom war schon immer eine Glucke gewesen. Mit sechs Jahren bin ich auf dem Spielplatz der Schule vom Klettergerüst gefallen. Das war noch zu einer Zeit, in der die Schulen keinen Mulch oder ein anderes weiches Material zur Polsterung des harten Bodens auslegten. Andere Kinder brachen sich bei so etwas einen Arm oder ein Bein. Ich brach mir den Kopf.

Beinahe eine Woche lang lag ich im Koma – die Ärzte waren sich nicht einig, ob ein Gehirnödem oder eine Gehirnschwellung dafür verantwortlich war. Meine Eltern standen kurz davor, einer experimentellen Operation am offenen Hirn zuzustimmen, als ich meine Augen öffnete, mich aufsetzte und nach einem Eis verlangte.

Die gestörte Koordinationsfähigkeit, die die Ärzte vorhergesagt hatten, trat genauso wenig ein wie der Verlust von Gefühlen in einer oder mehreren Extremitäten. Ich litt auch nicht unter Gedächtnisverlust oder erkennbaren Gehirnschäden. Wenn überhaupt hatte ich eher das Problem, etwas vergessen zu können, aber nicht, mich zu erinnern. Es gab keine langfristigen Nachwirkungen – zumindest keine körperlichen. Und an die Episoden gewöhnte ich mich sehr schnell.

Meine Eltern dachten, sie hätten mich beinahe verloren, und nichts, was ich ihnen über diese Zeit in der Dunkelheit erzählte, konnte sie von etwas anderem überzeugen. Es hatte nicht einmal ansatzweise die Gefahr bestanden, dass ich sterbe. Doch alle meine damaligen Versuche, meiner Mutter das zu erklären, damit sie sich wieder ein wenig entspannte, waren fruchtlos. Sie weigerte sich, mir zuzuhören. Ich schätze, ich konnte ihr keinen Vorwurf daraus machen. Ich hatte keine Ahnung, wie es war, ein Kind zu lieben, geschweige denn, zu fürchten, es zu verlieren.

„Es tut mir leid“, sagte sie.

Das Gute war, dass meine Mutter wusste, wenn sie zu weit ging. Sie hatte ihr Bestes gegeben, damit ich nicht zu einem ängstlichen Kind heranwuchs, selbst wenn sie dazu ihre Fingernägel bis auf die Nagelhaut abkauen musste und weit vor ihrem vierzigsten Geburtstag graue Haare bekommen hatte. Sie erlaubte mir, alles zu tun, was für meine Unabhängigkeit wichtig war, obwohl sie jede Sekunde davon hasste.

„Du könntest ab und zu herkommen, weißt du. Es ist wirklich nicht so weit. Wir könnten zusammen Mittagessen gehen oder so. Nur du und ich. Ein Mädelstag.“

„Ja, klar. Das könnten wir machen.“ Sie klang schon ein wenig fröhlicher.

Ich glaubte allerdings nicht, dass sie meine Einladung wirklich annehmen würde. Meine Mom mochte es nicht, alleine lange Strecken mit dem Auto zu fahren. Wenn sie käme, würde sie meinen Dad mitbringen. Was nicht heißen soll, dass ich meinen Dad nicht mochte oder ihn nicht sehen wollte. Auf manche Weise kam ich sogar besser mit ihm klar, weil er seine Ängste für sich behielt. Aber mit ihm zusammen wäre es kein Mädelstag, und außerdem wurde er immer schnell unruhig, wenn der Besuch seiner Meinung nach zu lange dauerte und er lieber zu Hause in seinem gemütlichen Sessel vor dem Fernseher säße. Ich habe bis heute kein Kabelfernsehen.

„Ich habe ihn vor ein paar Tagen gesehen, Emm.“

Ich erstarrte in der Bewegung, ein großformatiges Buch über Kathedralen in der Hand. Ich würde die Regalbretter neu anordnen müssen, wenn ich dieses Buch hochkant hineinstellen wollte. Es war dazu gemacht, auf dem Couchtisch zu liegen, gesehen zu werden. Ich blätterte durch die Seiten, überlegte, ob ich es wieder verkaufen sollte. „Wen?“

„Tony“, sagte meine Mom ungeduldig. „Um Himmels willen, Mom!“

„Er sah gut aus. Und er hat nach dir gefragt.“ „Das glaub ich gerne“, sagte ich ironisch.

„Ich hatte das Gefühl, er wollte wissen, ob … ob du dich mit jemandem triffst.“

Ich unterbrach das Auspacken für einen Moment, in der Hand ein weiteres schweres Buch. Ein Flohmarktfund. Ich konnte Schnäppchen einfach nicht widerstehen. Und Bücherschnäppchen schon gar nicht. Selbst wenn es um Themen ging, die mich nicht im Geringsten interessierten. Ich dachte immer, dass ich die schönsten Bilder heraustrennen und rahmen lassen könnte, um sie in meiner Wohnung aufzuhängen. Was der ultimative Beweis dafür war, dass ich wirklich über keinerlei Kunstverständnis verfügte.

„Wie kommt er auf die Idee?“

„Ich weiß es nicht, Emm.“ Pause. „Und, hast du jemanden?“

Ich wollte gerade Nein sagen, da blitze vor meinem inneren Auge das Bild eines schwarzen Mantels und eines gestreiften Schals auf. Der Boden unter mir neigte sich ein wenig. Ich umfasste den Telefonhörer fester. Das Buch war plötzlich zu schwer für meine verschwitzte Hand. Ich ließ es fallen.

„Emm?“

„Alles gut, Mom. Ich habe nur gerade ein Buch fallen lassen.“

Keine wirbelnden Farben, kein Zitrusgeruch, der in meinen Nasenhöhlen brannte. Mein Magen zog sich ein wenig zusammen, aber das konnte von dem italienischen Essen kommen, dass ich vorhin zu mir genommen hatte. Es war schon ein bisschen zu lang im Kühlschrank gewesen.

„Das wäre gar nicht schlecht. Also wenn du jemanden kennengelernt hättest. Ich finde, es ist an der Zeit.“

„Ja, ich werde jeden Mann, den ich treffe, wissen lassen, dass meine Mom meint, ich solle kein Single mehr sein. Das ist bestimmt ein guter Weg, um eine Verabredung zu bekommen.“

„Sarkasmus ist kein attraktiver Wesenszug, Emm.“

Ich lachte. „Mom, ich muss jetzt Schluss machen, okay? Ich will noch diese Kisten auspacken und Wäsche waschen, bevor ich heute Abend zu meiner Freundin Jen gehe.“

„Oh? Du hast eine Freundin?“

Ich liebte meine Mutter. Wirklich. Aber manchmal hätte ich sie erwürgen können.

„Ja, Mutter. Ich habe eine echte Freundin.“

Sie lachte und klang mit einem Mal viel besser als zu Anfang unseres Gesprächs. Das war doch wenigstens etwas. „Gut. Ich bin froh, dass du deine Zeit mit einer Freundin verbringst, anstatt alleine zu Hause zu sitzen. Ich … ich mache mir nur Sorgen um dich, Honey. Das ist alles.“

„Ich weiß. Und ich weiß, dass du nie damit aufhören wirst.“

Wir verabschiedeten uns, indem wir einander sagten, dass wir uns liebten. Ich hatte Freunde, die ihren Eltern nicht sagten, dass sie sie liebten, die diese Worte nach Beendigung der Grundschule nie mehr in den Mund genommen hatten. Ich war froh, dass ich dem nie entwachsen war und dass meine Mutter darauf bestand. Ich wusste, das lag an ihrer Angst, wenn sie es nicht sagte, hätte sie vielleicht die letzte Chance versäumt, ihrem Kind zu sagen, dass sie es liebte. Mir gefiel das.

Das zu Boden gefallene Buch, Cinema Americana, war irgendwo in der Mitte aufgeschlagen, die Bindung so weit aufgebrochen, dass ich einen unglücklichen Seufzer ausstieß. Ich beugte mich hinunter, um es aufzuheben, und stockte. Das Kapitel, das aufgeschlagen war, trug die Überschrift: „Kunstfilme der Siebziger“, darunter erblickte ich das großformatige, hochglänzende Schwarz-Weiß-Porträt eines wahnsinnig schönen Mannes.

Johnny Dellasandro.