5. Das Höhlensystem
Am nächsten Tag sitzen Aroha, Kevin und Jeannie bei einem Kaffee in der Universität zusammen und unterhalten sich leise.
»Was hast du gestern gemeint, als du von Stimmen erzähltest, die du in der Nähe des Wasserfalls gehört hast?«, fragt Jeannie.
»Nicht in der Nähe des Wasserfalls. Die Stimmen kamen aus dem Wasserfall. Nicht in Worten, die ich verstehen konnte, aber doch deutlich Worte oder zusammengesetzte Silben.«
»Wenn das stimmt, wie erklärst du dir
dann, dass wir anderen nichts hören konnten außer dem Rauschen des
Wasserfalls?«, fragt Kevin.
»Vielleicht muss ich euch in ein Geheimnis einweihen, von dem ich bisher niemandem erzählt habe«, antwortet Aroha nach einer nachdenklichen Pause.
»Du machst uns neugierig. Wir versprechen dir hoch und heilig es nicht weiter zu erzählen. Worum geht es denn?
»Bei meinem ersten Besuch des verborgenen Tals fand ich dieses hier«. Langsam zieht Aroha das Kapakapa über ihren Kopf aus der Bluse und gibt es Jeannie.
»Das ist schön!«, ruft diese aus, »Wo hast du das gefunden?«
»Ganz in der Nähe der ‚Kathedrale‘, als ich mich das erste Mal genauer umsah.«
»Aber wieso hat das etwas damit zu tun, was beim Wasserfall geschah?«
Aroha sagt langsam: »Also das ist so. Seit dem Tag, als ich diese Schnitzerei - ich nenne sie Kapakapa - fand, habe ich viele unerklärliche Dinge erlebt. Als ich z. B. das Kapakapa das erste Mal in der ‚Kathedrale‘ in der Hand hielt, erschienen mir auf einmal Gesichter, Geschichten und Worte aus meiner Kindheit, die ich seit meiner Kindergartenzeit vollständig vergessen hatte.«
Aroha macht eine Pause, weil es ihr schwer fällt zu erklären, was das Kapakapa auslöst.
»Das heißt, du glaubst das Kapakapa hat so was wie ein latentes visuelles Gedächtnis?«, versucht Jeannie mehr zu verstehen.
»Nein, es ist mehr, es sind auch andere Sinnesorgane involviert. Und dann scheint das Kapakapa manchmal eine Verbindung zwischen mir und der Natur, aber auch unbelebten Dingen oder verstorbenen Personen herzustellen. Das Problem ist, ich verstehe selber ja nicht, was da eigentlich vor sich geht.«
Aroha streckt die Hand aus und nimmt das Kapakapa von Jeannie zurück, die die Schnitzerei sorgfältig angesehen und befühlt hat.
»Ich nenne es ‚mein Kapakapa‘«, versucht Aroha weiter zu erklären. »Letztes Wochenende als ich es hielt, ‚hörte‘ ich die Stimme des Windes, der durch die Bäume strich und der mich rief, mit euch in das verborgene Tal hinunter zu steigen.«
Sie sieht die beiden fest an und spricht dann stockend weiter: »Und jetzt gerade fühle ich Mutter Erde, die mich ruft und die mir sagt, ich soll wieder ins verborgene Tal kommen und sie dort in einer tiefen Höhle, zu der sie mich führen wird, besuchen.«
»Ich weiß wirklich nicht, was das bedeutet und was wir jetzt unternehmen sollen«, sagt Kevin, »tatsächlich kommt mir vor, dass die Situation jetzt noch komplizierter geworden ist als sie es schon war und das Kapakapa die Erlebnisse nicht erklärt. Wir haben jetzt drei Geheimnisse zu lösen. Woher kommt das Kapakapa, was kann es und wie weit kann es dich oder auch andere beeinflussen. Eines weiß ich aber mit Sicherheit. Ich möchte unbedingt in das verborgene Tal zurück, um es möglichst genau zu erforschen.«
»Das würde ich auch gerne«, sagt Aroha.
»Soll ich dann schauen, ob die anderen am nächsten Wochenende frei haben und sie mitkommen wollen?«
»Das wäre nett.«
Am Abend erzählt Jeannie ihrem Freund Mike von den Erlebnissen Arohas, ohne aber das Kapakapa zu erwähnen. Mike ist mehr als skeptisch. Aber schlussendlich meint er: »Wenn du so stark an das glaubst, dann werde ich das auch tun. Ich werde Ian vom Höhlenforscherverein fragen, ob er nicht mitkommen will. Es gibt wohl kaum eine Höhle im Umkreis von hundert Kilometer die Ian nicht kennt. Und wenn wir wirklich in eine Höhle müssen, wäre es gut, einen Experten dabei zu haben.«
»Danke dir. Danke für alles. Ich weiß nicht, warum ich Aroha diese ungewöhnliche Geschichte so implizit glaube, aber ich tue es.« Und nur damit sie besonders sicher sind, beschließt Jeannie, ein paar extra Taschenlampen in ihren Rucksack einzupacken.
Am nächsten Freitag hat Kalina eine Komposition fertig zu schreiben und kann nicht mitkommen. Dadurch sind sie wieder zu fünft, weil diesmal Ian, der Höhlenforscher, mitkommt.
Dieses Mal geht es nicht um eine Wanderung um
fit zu werden, sondern um eine sorgfältige Erkundung einer Höhle.
Sie fahren daher bis zur Karekare Cattle Road, von wo es nur wenige
Minuten bis zur Lichtung Aorama sind. Natürlich verbringen sie die
halbe Nacht damit, Ian und sich selbst zu überzeugen, dass sie vor
einer Woche hier und im verlorenen Tal wirklich Ungewöhnliches
erlebten.
Trotz der verschiedenen Schattierungen von Unglauben sind doch alle so neugierig, dass sie mit dem ersten Licht aufstehen. Nach einem kurzen, schweigsamen Frühstück packen sie das Nötigste zusammen, lassen Schlafsäcke, Kochgeschirr usw. auf der Lichtung zurück und steigen in das Tal hinunter. Sie kommen rasch voran, erreichen die ‚Kathedrale‘, die auch auf Ian ihre Wirkung nicht verfehlt.
»Gut, wo gehen wir heute weiter?«, fragt Mike schließlich Aroha. »Wieder talabwärts durch die jungen Kauribäume hindurch, oder was meinst du?«
Aroha dreht sich mehrmals schweigend um, während sie die anderen abwartend ansehen, Ian mit einem ungläubigen Lächeln. Sie weiß: Ich muss die Richtung vorgeben, und ich kann das nicht, wenn mir das Kapakapa nicht hilft.
Mutter Erde schweigt, Aroha hört nur das Rauschen des Windes, aber keine Botschaft.
Auf einmal sieht sie, in Richtung Norden, wie sich zwei Nikau- Palmen stärker bewegen als es der Wind rechtfertigt, so als würden sie ihr zuwinken. Aroha zögert nur einen Augenblick. Dann geht sie zwischen den Nikau- Palmen hindurch. Kevin, Ian, Jeannie und Mike folgen ihr.
Wie am letzten Wochenende ändert sich plötzlich das Licht etwas, und dort, wo ein kleiner Bach fließt, wird es auffällig hell.
»Was ist das nur«, stößt Kevin hervor, »das ist nicht derselbe Bach, den wir letztes Wochenende verfolgt haben. Zwei Bäche, die unabhängig von einander durch dieses enge Tal fließen?«
»Eines ist sicher. Hier sind keine Fußspuren von uns und die wären deutlich zu sehen«, kommentiert Mike.
»Und dann ist da noch etwas, die Pflanzen schauen hier anders aus, irgendwie gedrungener und kleinwüchsiger«, bemerkt Jeannie.
Es ist eine sehr nachdenkliche Gruppe, die dem ‚neuen‘ Bach abwärts folgt. Sie gehen etwa eine Stunde. Da bleibt plötzlich Mike, der führt, so abrupt stehen, dass Aroha fast in ihn hineinläuft.
Der Bach verschwindet direkt vor ihnen in einem Schacht, der fast senkrecht in den Felsen hinunterführt.
»Ich kann‘s einfach nicht glauben!«, ruft Ian.
Mike dreht sich zu Aroha um und sieht sie sprachlos an. Jeannies erste Gedanken sind ganz ungeordnet und verwirrt: ‚Wie werde ich den anderen erklären können, dass ich einige extra Taschenlampen mitgenommen habe?‘... denn so richtig erwartet hatte niemand, eine Höhle zu entdecken!
»Ich glaube wir sollten jetzt zuerst einmal eine kleine Pause machen und etwas essen«, meint Aroha.
So sitzen sie, kauen schweigend und nachdenklich. Jeannie ist die erste, die sagt, was einige denken: »Und wie werden wir da hineinkommen?«
»Ihr wollt wirklich hineingehen, hinuntersteigen?«, fragt Aroha.
»Natürlich«, antwortet Ian, »wenn es nicht
die Chance gegeben hätte eine neue Höhle zu entdecken wäre ich kaum
mitgekommen.«
Ian öffnet seinen Rucksack und nimmt eine Anzahl Karbidlampen heraus: »Kein guter Höhlenforscher ist je ohne solche unterwegs«, erklärt er, als er die erstaunten Blicke sieht.
Ohne Kommentar nimmt Kevin ein Seil aus seinem Rucksack, gibt ein Ende Ian und das andere Mike. Er befestigt das Seil um seine Mitte, nicht weit von Mike entfernt.
»Ich steige als erster ein«, sagt Ian, »und schaut bitte genau zu, was und wie ich es mache.«
Er befestigt eine Karbidlampe mit einem Stirnband am Kopf und setzt sich einen Helm auf. »Wie haben nicht genug Helme. Jeder der keinen hat, eine dicke Wollmütze aufsetzen und besonders Acht geben. Man verletzt sich an niedrigen Stellen sehr leicht am Kopf.«
Nun steigt er vorsichtig in die enge, am oberen Ende fast vertikal verlaufende Höhle, mit stark gespreizten Beinen sich an gegenüberliegenden Wänden abstützend, den kleinen Bach vor seinem Körper. Zentimeter um Zentimeter steigt er so vorsichtig hinunter, während Mike ihn sichert und Kevin Mike. Nach einigen Metern erreicht Ian einigermaßen waagrecht verlaufenden Boden. Jetzt steigt Aroha ähnlich hinunter.
Als Jeannie an der Reihe ist zögert sie. »Was ist, wenn ich ausrutsche und mit meinem Gewicht Mike und Kevin herunterreiße?«, fragt sie zögernd.
Ian lacht. »Nun, das wäre kein großes Problem. Du würdest gründlich nass werden, weil du im Bach landen würdest, aber das werden wir früher oder später sowieso alle werden. Und geschehen kann dir nichts, dafür fällt das Wasser hier nicht tief genug hinunter.«
Schließlich stehen alle dicht gedrängt am Boden der Höhle. Von oben sehen sie noch Tageslicht, aber der Bach verschwindet vor ihnen im Dunkeln und lässt nur ein schmales Felsband trocken. Auf diesem kriechen sie auf allen Vieren (es ist nicht genügend Raum um aufrecht zu gehen) weiter: Aroha denkt unwillkürlich an die Krabben, deren Bewegungen sie so oft am Strand mit Amüsement beobachtet hat!
Nach einer halben Ewigkeit... so kommt es allen vor, die vorher noch nie länger in einer Höhle waren... wird es bequemer und sie können aufstehen: sie befinden sich plötzlich in einer großen Höhle mit Steinformationen, mit Tropfsteinen aller Art, die vermutlich noch nie ein Mensch berührt hat, vielleicht noch nie ein menschliches Auge gesehen hat! Grosse Stalaktiten hängen von der Decke, einige trocken, an anderen tropft noch Wasser und wird in Jahrtausenden die Steine weiter verlängern. Aus dem Boden wachsen Stalagmiten, einige dünn und nadelförmig, andere als massive Blöcke mit Mustern, die an die Oberfläche von Hirnkorallen erinnern.
[19] Der Moa (Moastrauße, Dinornithiformes), ausgestorbene Vogelordnung mit rund 20 Arten auf Neuseeland, seit dem oberen Miozän belegt; sehr große, im Stand bis etwa 3,5m hohe, flugunfähige, straußenähnliche Laufvögel, die in offenen Baum- und Buschlandschaften, daneben auch in lichten Wäldern lebten, vor allem Pflanzen fraßen und Eier von über 2 kg Gewicht legten; von den Maori ausgerottet (wahrscheinlich Ende des 17. Jahrhunderts). Seit längerem wird darüber spekuliert, ob Moas in unzugänglichen Gebieten Neuseelands doch noch existieren könnten. (c) Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG,
Aroha merkt, wie das Kapakapa aktiver wird. Die Fantasie schlägt mit ihr Purzelbäume. Wo immer sie hinschaut... und nur dorthin wirft ja die am Kopf befestigte Karbidlampe ihren Schein... kommt ihr vor, als sähe sie unglaubliche, versteinerte Lebewesen: Riesen, Zwerge, verkrüppelte Gnome, Tiere, von denen oft nur ein Teil des Körpers aus dem Felsen herausragt. Alles in der Zeit eingefroren wie durch einen Zauberspruch.
Als sie weitergehen wird der Gang, in dem der Bach fließt, enger und niedriger. Sie waten im Bachbett, inzwischen bis auf die Haut nass, oft nur einige Zentimeter Luft über ihren Köpfen. An einer Stelle wird es so eng, dass sie die Köpfe nach hinten neigen müssen, damit die Nasenlöcher zum Atmen noch aus dem Wasser ragen: wenn nicht Ian ohne zu zögern voranginge und sie immer wieder antreibt, sie hätten schon lange aufgegeben. Schließlich wird der Tunnel wieder größer, aber der Lärm eines großen Wasserfalls wird immer stärker. Es ist nicht klar, wie sie hier weitergehen können, und ob sie das sollen. Aroha merkt, dass die Höhle sie nicht mehr »ruft«, als hätte sie die Stelle erreicht, die sie entdecken sollte.
Mehr
als eine Stunde sitzen Aroha, Jeannie und Mike fast im Dunkeln (sie
lassen immer nur eine Karbidlampe auf kleiner Flamme brennen um
Brennstoff zu sparen) währen ihre Führer, Ian und Kevin versuchen,
eine Route zu finden. Sie sprechen leise
miteinander.
»Habt ihr von dem Archäologen gehört, der kürzlich in einer Höhle nicht weit von hier ein intaktes Ei eines Moa19 entdeckte?«, fragt Mike.
»Du machst einen Witz!«, ruft Jeannie erstaunt.
»Nein, absolut nicht. Es lag im Schlamm in einer tiefen Höhle. Man vermutet, dass der Moa am Höhleneingang nistete und ein Hochwasser das Nest mit den Eiern wegschwemmte, eines davon nicht zerbrach und im Schlamm konserviert wurde.«
»Glaubst du, dass man DNA finden wird, die es erlauben würde, einen Moa zu klonen?«, fragt Aroha.
Die anderen lachen: »Aroha, du liest zu viele Zukunftsromane und siehst zu viele Filme wie Jurassic Park.«
Aber plötzlich ‚sieht‘ Aroha:
Große Moas, die durch mannshohe Grasfelder laufen. Junge Moas, mit weit offenem Schnabel, weich gebetet in massiv gewobene Grasnester. Und Greifvögel, die in der Höhe kreisen und die jungen Moas als potentielle Beute sehen, wenn die Eltern sich zu weit entfernen.
Dann ändert sich auf einmal das Bild: Sie ‚sieht‘ die Höhle fast wie sie wirklich ist und ‚hört‘, als würde ihr jemand aus uralten Zeiten zurufen:
Vergiss diese Stelle nicht. Du wirst sie vielleicht noch brauchen, aber wenn, dann erst Jahre nachdem du die zweite Hälfte des Kapakapa, wie du den ‚Mindcaller‘ fälschlich nennst, gefunden haben wirst.
»Schläfst du?« Mit dieser Frage bringt Mike Aroha wieder in die Wirklichkeit zurück. Sie schüttelt den Kopf. Sie hört das Rauschen des Wassers, sie wundert sich über das Gesehene und gerade Gehörte und über das Gefühl der vollkommenen Zufriedenheit und Ruhe, mit dem sie hier sitzt, wer weiß wie viele Meter unter der Erde, wahrscheinlich nur mit der Alternative den beschwerlichen Weg zurück zu gehen. Und doch: Irgendwas, das aus dem Kapakapa strömt, bewirkt, dass sie ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit ihren Freunden empfindet und merkt, dass sich dieses auf Mike und Jeannie überträgt ... und vielleicht auch auf Kevin und Ian, die noch immer einen Weg nach unten suchen.
Sie ergreift fast dankbar das Kapakapa und drückt es fest, und auch dieses Mal, wie immer, wenn sie es tut (oder ist es nur wenn sie die weißen Punkte auf der Schnitzerei berührt?), wird das Kapakapa besonders aktiv. Die Höhle wird zu einem lebendigen Museum der alten Geschichte. Sie merkt nicht mehr die Freunde neben sich. Die Felsformationen auf der gegenüberliegenden Seite der Höhle springen auf sie zu, der Spalt wird zum riesigen zahnbesetzten Maul des Taniwha, jenes mythischen Ungeheuers. Die Eisenoxyd- Ablagerungen verwandeln sich zu Blut. Sie spürt die Urgewalt des Tanemahuta, des Gottes des Waldes und des Lichtes, wie er Rangi, den Vater Himmel, von Papa, der Mutter Erde wegschleudert und damit Licht auf die Erde bringt in den Tagen ihrer Erschaffung. Sie spürt die für immer verbleibenden Spannungen, die dadurch zwischen Vater Himmel und Mutter Erde entstehen. Dann spürt sie plötzlich, wie ihre Vorfahren um sie herumstehen, um sie, die kleine, nicht weiße, nicht dunkle, sondern ockerfarbene Frau. Und dann ‚sieht‘ sie mit Schaudern:
Hineuitepo, die ‚Frau der Nacht‘, die Todesgöttin der Maori, die Hüterin derer, die die Welt der Lebenden verlassen haben und wie sie mit einem traurigen Blick Aroha ansieht und in der Ferne verschwindet.
Erschüttert lässt Aroha das Kapakapa ruckartig aus.
Jeannie merkt dies und erkundigt sich besorgt: »Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«
»Nein, Jeannie, danke, dass du fragst, ich hatte nur einen unangenehmen Tagtraum.«
Natürlich weiß Aroha, dass es mehr war und sie ist erschüttert. Über die seltsame Prognose, dass dieser Ort einmal eine große Bedeutung für sie haben könnte, aber noch mehr über das Bild der Todesgöttin. Zu sehr war sie als Kind in einem Marae aufgewachsen, um nicht zu wissen, dass man das Erscheinen der ‚Frau der Nacht‘ immer mit dem bevorstehenden Tod eines geliebten Menschen in Zusammenhang bringt.
Um so größer ist ihre Erleichterung, als sie sieht, dass Kevin und Ian unversehrt zurück kommen. Sie hat das Bedürfnis, auf Kevin zu zulaufen, ihn zu umarmen und zu küssen, Schmutz oder nicht Schmutz. Nur der Lack der zivilisierten Verbildung hält sie zurück, ihre Gefühle zu zeigen.
Ian und Kevin kommen mit guten Nachrichten. Sie haben einen Ausgang nach unten gefunden, keinen bequemen, aber besser als zurück zu gehen! Sie verlassen das Bachbett, steigen in einen steil ansteigenden, dann flachen aber engen Gang. An einigen Stellen müssen sie den Rucksack vor sich schieben, sich seitlich drehen, den Kopf auf den Boden drücken, einen Boden, der aus rotem und gelben klebrigem Lehm besteht, der die Haare verfilzt, die Bekleidung unkenntlich und kein Stück Haut mehr als solches erkennbar sein lässt. Nach langer Kriecherei, und als sie wieder auf den Bach stoßen, lacht Ian.
»Ich hoffe, euch macht das Erkunden von Höhlen auch so viel Spaß wie mir«. Die anderen sind nicht so sicher, auch als sie seinem Beispiel folgen, ihre Rucksäcke fallen lassen und sich in den Bach stürzen, um sich vom Ärgsten zu reinigen.
Aber als sie weitergehen, der Bach sich in einer großen Grotte zu einem unterirdischen See weitet und sie über sich Myriaden von weißen Punkten sehen, wird ihnen wieder klar, was Ian meint. Höhlen bieten ein solches »Kontrastprogramm« von Schönheiten, von Unannehmlichkeiten, von kleineren oder größeren Gefahren oder Überraschungen, dass man einfach mehr lebt, als im Einheitsbrei eines normalen Lebens. Die weißen Punkte an der Decke, ja an allen Wänden, sind neuseeländische Glühwürmchen. Sie sind hier überall, auf den großen Flächen, in den kleinen Spalten, strömen ein ruhiges, schattenloses Leuchten aus. Dieses Leuchten begleitet sie minutenlang zusammen mit dem Tropfen aus unzähligen Ritzen in der Decke der Grotte als sie langsam weiter gehen. Aroha ist die letzte in der Gruppe. Sie fühlt noch einmal, wie Mutter Erde ihr durch das Kapakapa sagt, sie möge das, was sie hier sieht, als ein zeitloses Geschenk an alle Menschen sehen. Und als sich Aroha das letzte Mal umdreht, erscheinen ihr die Glühwürmchen zuerst wie Sterne am Himmel, dann wie Kometen und schließlich wie Meteoriten, die in einer Lichterpracht explodieren wie bei einem Feuerwerk. Sie kann es kaum glauben, dass die Freunde das nicht merken. Sie wird es ihnen weder glaubhaft machen noch beschreiben können.
Zum wiederholten Mal wird es Aroha klar, wie
beschränkt die Sprache ist, wie viel wir erleben können und wie
wenig wir davon weitergeben können, wenn die andere Person noch
nichts Ähnliches erlebt hat. Dazu bedarf es nicht so ausgefallener
Phänomene wie Glühwürmchen. Natürlich gibt es die immer wieder
zitierten Bespiele dafür, dass man Blinden wohl kaum die Farbe
»Rot«, Tauben nicht die Schönheit einer Fuge von Bach erläutern
kann. Aber es geht ja viel weiter. Kann man wirklich einem Amazonas
Indianer beschreiben, was eine mehrtägige Schitour bedeutet? Einem
Neuseeländer, was das Leben in einer Oase in der Sahara mit sich
bringt? Ja noch viel einfachere und subtilere Beispiele belegen,
wie unzureichend die Sprache ist. Wie kann man das erhebende Gefühl
eines gelungenen Jonglieraktes erklären, den Geschmack von Zimt
oder von Gurkensalat, den Geruch von brennendem Holz ...
Die
normale Sprache, oder gar eine Kodifizierung wie die Schrift,
reichen in keiner Weise aus, auch nur ganz einfache Erlebnisse zu
erläutern, wenn den anderen Menschen diese Erfahrungen fehlen. Wie
soll ihr das dann bei den Erfahrungen mit dem Kapakapa gelingen,
die jenseits aller ihr bekannten Gefühlsempfindungen
liegen?
Aroha ruft in der Stadt Kalina an, um ihr alles zu erzählen und kann es nicht erwarten, Kalina wenigstens den Eingang zur Höhle zu zeigen. Kalina reagiert etwas zurückhaltend.
Anders ist es bei Ian, Ken und Mike. Mitten in der Woche lassen sie ihre Studien einfach liegen und stehen und fahren nochmals zum verborgenen Tal. Sie sind enttäuscht, dass sie nichts Besonderes finden. Auch Aroha ist überrascht. Allen ist noch nicht bewusst, oder sie wollen dies nicht zur Kenntnis nehmen, dass ohne Aroha mit dem Kapakapa nichts Besonderes erwartet werden kann!
Für Aroha ist es nicht leicht, über ihre Gefühle und Erfahrungen mit den anderen zu reden. Kaum spricht sie davon, merkt sie, dass die anderen ihre Berichte zum Teil als lebhafte Fantasien abtun. Auch Kalina ist keine Ausnahme. Nur mit Jeannie kann sie wirklich offen reden.
»Aroha, erzähl mir doch einmal genauer, was du in der Höhle erlebt hast. Ich erinnere mich, dass du einmal zusammengezuckt bist und dann nur gesagt hast, du hast einen schlechten Tagtraum gehabt. Aber ich bin sehr sicher, dass es mehr war.«
»Ja, du hast natürlich recht. Es war kein Traum. Es waren wieder Bilder, die mir das Kapakapa zeigte«, beginnt Aroha, »zuerst war auf einmal die Höhle wie in Blut getaucht...«.
Da unterbricht Jeannie: »Das ist ja irrsinnig. Ich habe das auch einen Moment erlebt, war kurz erschrocken, habe es aber einfach als Sinnestäuschung abgetan ...; also kann es sein, dass dein Kapakapa manchmal auf Personen, die dir nahe stehen, ausstrahlt?«
Aroha nickt nachdenklich. »Ich bin nicht sicher, aber ich habe mir das auch schon überlegt. Erinnere dich an unseren ersten Ausflug ins verlorene Tal: Nicht nur ich sah gewisse Änderungen in den Farben, in der Art der Landschaft, sondern auch ihr... mit Ausnahme von Kalina die diesen Phänomenen sehr skeptisch gegenüber steht. Ich denke es ist so, dass das, was ich durch das Kapakapa erlebe in einer geschwächten Form an manche Menschen weitergegeben wird.«
[20] Nach den Legenden der Maori war Maui, der Sonnengott, am Meer als er einen riesigen Fisch an seiner Angel hatte. Er zog diesen riesigen Fisch an die Oberfläche: Es waren die Inseln Neuseeland.
»Aber hast du sonst noch etwas in der Höhle gesehen?«, lässt Jeannie nicht locker.
»Es war unglaublich. Ich habe Szene nach Szene aus den Maori Mythen gesehen und ich bin sicher, dass ich von einigen nie vorher gehört habe ... und auf einmal erlebte ich sie mit einer unglaublichen Intensität: vor allem eine Mischung von Schöpfungsgeschichten über Erde und Himmel. Ich erlebte die riesigen Muskeln Tanemahutas, des Gottes des Waldes und des Lichtes, wie er Vater Himmel von Mutter Erde wegriss und ihn in den Himmel schleuderte, ich sah die Tränen in den Augen Urus, des verloren Sohns der so getrennten Götter, wie er um seine Eltern weinte. Und ich kann den Ausdruck in den Augen des Fisches nicht vergessen - du weißt schon, der Fisch Neuseeland - wie Maui20 ihn aus dem Meer zog. Aber am meisten erschreckte mich, dass ich die Todesgöttin, die ‚Frau der Nacht‘, so deutlich sah: Man sagt ja immer, dass das nichts Gutes bedeutet.«
»Und die Todesgöttin hat dich so erschreckt ?«
»Ja«, meint Aroha, »aber es ging nicht um mich, sie bedrohte nicht mich, sie sah mich eher mild, traurig, mitleidig an, als sei ein mir nahe stehender Mensch in Gefahr. Fast habe ich das Gefühl, ich sollte das Ganze als Warnung auffassen, nur weiß ich nicht, auf wen sich das alles bezog. Vielleicht wurde mir das alles auch nur gezeigt, um mir klar zu machen, dass ich in den letzten zwölf Jahren den Teil in mir, der Maori ist, der Maorikultur ist, zu sehr vernachlässigt habe, dass ich meine kulturelle Identität zur Hälfte ausgesperrt habe. Vielleicht erklärt das auch, warum ich mir als Teenager manchmal erschütternd einsam vorgekommen bin, wie es wohl auch meiner Maori Mutter gegangen sein mag, als sie einen Engländer heiratete und dann Lehrerin in einer ganz und gar europäischen Umgebung wurde. Und vielleicht ist das auch der Grund, warum zu Hause nie Maori gesprochen wurde, mir meine Mutter, im Gegensatz zu meiner Großmutter, die ich aber ab einem Alter von fünf Jahren nie mehr gesehen habe, auch nie viel über Geschichte und Mythen der Maori erzählte.«
Aroha ist sich bewusst, dass sie selten ihr Herz so ausgeschüttet hat wie jetzt vor Jeannie. Aber diese hat ruhig und aufmerksam zugehört.
»Wie ist das noch einmal? Du hast fünf Jahre ganz im Marae deiner Großmutter gelebt, wurdest dann von deinen Eltern abgeholt, und hast weder deine Großmutter, von der du mir so liebevoll erzählt hast, noch deine anderen Verwandten dort je wieder gesehen?«
»So ist es«, sagt Aroha.
»Aroha, ist dir denn nie bewusst geworden, dass das sehr ungewöhnlich ist? Dass deine Eltern offenbar jeden Kontakt mit der Großmutter und der Maorikultur und was sie für dich bedeuten, verhindern wollten? Dein Vater ist gestorben, hast du mir einmal erzählt. Glaubst du nicht, dass du deine Großmutter und deine Verwandten besuchen solltest?«, sagt Jeannie verwundert.
Aroha schaut Jeannie lange an. »Du bist eine gute Freundin und hast wahrscheinlich recht.«
So trennen sich die Freunde an diesem Tag: Sie haben das Rätsel des Kapakapa nicht gelöst, sie wissen auch nicht, dass eine solche Lösung erst später, viel später gelingen wird, aber doch gehen sie auseinander in einer fast unerklärbar freudigen Stimmung.
Bei der ersten Möglichkeit fährt Aroha mit Kalina wieder zum verborgenen Tal und zur ‚Kathedrale‘. Aber trotz des Kapakapa fühlt Aroha diesmal nichts Besonderes, und zu ihrer Überraschung finden sie auch nicht den Weg zur Höhle.
»Du bist einfach eine unheilbare Romantikerin«, meint Kalina, »und dichtest dir eine Welt zusammen aus Mythen und Legenden und Vorfällen, die es zum Großteil nur in deinem Kopf gibt.«
Aroha reagiert traurig. Ihre Freundin, der sie soviel verdankt, was Musik, Tanz und Lebensfreude anbelangt, und die sie nach wie vor so verehrt, scheint ihr nicht zu glauben: »Du denkst ich erfinde das alles nur? Aber die anderen sind sich auch sicher, dass es hier ungewöhnliche Vorkommnisse gibt oder gegeben hat.«
»Vielleicht. Aber es gibt sicher irgendeine logische Erklärung dafür, die nichts mit den Mythen aus alten Zeiten zu tun hat«, erklärt Kalina mit Bestimmtheit.