Es gibt manche Gelegenheiten, bei denen sie Musiker nach Aorama einladen. Sie machen dann Musik mit Gitarren, Flöten verschiedenster Art und der Bassklarinette. Und als Begleitung dient der Rhythmus der Brandung.
Sie tanzen im Mondlicht und beim flackernden Feuer bis die ersten auf der Lichtung in ihre Schlafsäcke kriechen. Aber da gibt es noch keine geschlossenen Augen. Sondern es beginnen sich die weichen, dann wieder heftigen Töne der Singenden unvergesslich harmonisch zu vermischen mit dem Klang der Musikinstrumente. Es entsteht eine Bindung, mächtiger als eine starke Umarmung.
Manchmal steigen die beiden Freundinnen tiefer in das verborgene Tal, das etwas Magisches ausstrahlt. Aroha empfindet diese Aura manchmal so stark, dass sie nur mehr flüsternd zu sprechen wagt, und oft so wortkarg wird, das Kalina erstaunt und neugierig das entrückte Gesicht Arohas sieht. Aroha kommt es manchmal fast so vor, als würde sie in eine Kirche gehen, in der die mächtigen Kauri-Bäume die Säulen sind, die die Decke der Kirche, den blauen Himmel, tragen. Ihr Herz scheint dann hinaufzureichen bis zu den Wolken, zum Wind in den Baumwipfeln, zu den Vögeln, die ihren Freunden zurufen, zu den Möwen und Schwalben die ihre Kapriolen hoch über dem Meer machen. Kalina zeigt Aroha die Hummel, die aus dem moosbedeckten Erdloch heraus kriecht, die Ameisen, die Teile von Blättern über Hindernisse hinweg tragen, die schwarzen Käfer, die in der Sonne sitzen, als wollten sie noch schwärzer werden. Beide sammeln die blassgrünen Buschorchideen mit ihrem errötenden Inneren. Und immer hört Aroha die schwachen tiefkehlige Echos von Wind und Meer, als würden sie sie rufen und rufen ...
Nach einem solchen Tag nimmt Aroha ihren Anhänger, das Kapakapa, aus dem Versteck in der Schublade heraus. Sie tastet mit ihren Fingern über die glatte Oberfläche, bevor sie die Kette über den Kopf gleiten lässt. Am Anfang fühlt sie sich unsicher, fürchtet sich vor plötzlich auftauchenden Bildern. Aber als Tag um Tag vergeht, ohne dass das Kapakapa mit seinen Bildern aus der Vergangenheit aktiv wird, trägt sie ihn häufiger, aber immer unter ihrer Bluse, für andere unsichtbar, verborgen.
Schließlich kommt die Nacht, in der die Ereignisse Aroha unkontrolliert überraschen. Sie hat ihre Musikerfreunde zu einem Fest nach Aorama eingeladen. Als die Sonne untergeht, bemerkt Aroha, und nur sie bemerkt es, dass sich ihre Tierfreunde versammeln: Fantails, Tuis, die Graue Grasmücke und sogar junge Wachteln mit ihren Eltern. Am Himmel kreisen Schwalben aus der gesamten Umgebung als zusätzliche Gäste. Selbst die Bäume scheinen sich der Menschengruppe zuzuneigen.
Aroha spürt die Einheit ihrer menschlichen Freunde mit der Natur in einer unbekannten Schärfe. Das Festessen wird serviert: Auf kleinen Kerzen in Ständern erhitzen sie in kleinen Töpfchen würzige, schmackhafte Soßen, in die sie knusprige Brotstücke tauchen. In andern Gefäßen blubbert süße Schokolade, karamellisierter Zucker, und weiche Soßen mit Nusssplittern, die mit Biskuit und Keksen gegessen werden.
Dann nimmt die Zahl der Gäste zu. Auch Menschen aus ihrer Dorfvergangenheit und die Alten, die sie am Fluss in mancher Nacht als Kind besucht hat, scheinen sich zu ihnen zu gesellen.
Aroha wird sich ihres Kapakapas unter ihrer Bluse bewusst. Heute feiert die ganze Lichtung, das ganze Tal und alles was irgendwie damit zusammenhängt mit ihnen, bis hin zum Meer, zu den Büschen, den Farnen, den Gräsern.
Kalina spielt auf der Bassklarinette mit herzverbrennender Schönheit, manche Musikteile werden plötzlich mitgesungen.
Musik in Bewegung,
Bewegung in der Musik,
Gewebe von Melodien.
Töne,
Klar,
Verführerisch,
Sich ändernd,
Schneller werdend,
Nicht loslassend,
Verzaubernd.
Aroha singt und tanzt mit den anderen. Ihre Füße scheinen den Boden nicht zu berühren, ihr ICH ist nicht mehr in ihrem Körper, fliegend, schwebend, alles sehend. Wer wagt zu sagen, dass Wasser nicht zu Wein werden kann?
Am nächsten Tag kann Aroha nicht mehr sagen, wo die Wirklichkeit am Vorabend für sie aufhörte und sich zu Fantasien wandelte. Aber in ihrem Gedächtnis sind die Bilder des Vater Waldes, des ältesten Sohnes von Vater Himmel eingeätzt, wie er mächtig stand, noch mächtiger als die riesigen Kauri- Bäume, die er beschützt.
Es ist Aroha klar, dass ihr Zustand, ihre Erlebnisse, auf das Kapakapa zurückzuführen sind, dass von diesem ihr anderer ‚Bewusstseinszustand‘, das Aufblitzen von Bildern, Szenen und Einsichten, herrührt. Sie ist sich unsicher, wie weit die anderen Ähnliches spürten, ja überhaupt merkten, dass sie wie verzaubert war. Mit einem vagen Gefühl der Überraschung wird Aroha bewusst, dass sie weder das Kapakapa noch die ‚Kathedrale‘ in der sie es fand, bisher Kalina gezeigt oder ihr davon erzählt hat. Irgendwie schien nie der richtige Augenblick dafür gekommen.
In den nächsten Monaten arbeitet Kalina wie eine Besessene. Aroha bleibt gar nichts übrig als oft allein in das verborgene Tal zu gehen. Dadurch hat sie mehr Zeit, über das geheimnisvolle Kapakapa zu grübeln und wie sie dessen Geheimnissen auf die Spur kommen kann.
Sie unterhält sich einmal mit Kalina ausführlich über jene denkwürdige große, letzte Feier und ob ihr dabei nicht irgendetwas Außergewöhnliches oder Übernatürliches aufgefallen sei. Aber Kalina wird nach wiederholten Fragen ungeduldig. Als ihr Aroha ein bisschen von dem erzählt, was sie glaubt erlebt zu haben, zeigt sie sich ungläubig, skeptisch und, was Aroha mit Trauer feststellt und am Schlimmsten findet, schlichtweg desinteressiert.