2. Kapakapa - Der Anhänger
Wenn man am wilden Karekare-Strand steht, mit
dem Rücken zu den hoch heranrollenden Wellen des Meeres und mit den
Augen den Bach den steilen Hang hinauf verfolgt, wo er im Himmel zu
verschwinden scheint, und wenn man ganz genau weiß, wo man suchen
muss, dann ist es möglich, dass man gerade noch einige hohe Bäume
ausmacht. Sie stehen am Beginn eines verborgenen Tals.
Das Tal ist auf keiner Karte eingezeichnet und schwer zu finden. Es ist in dichtem, undurchdringlichem Wald versteckt. Die Stimmung, die das Tal ausstrahlt, wechselt so rasch wie das Wetter in diesem Teil Neuseelands. Von tiefblauem, subtropischem Himmel zu wild sich türmenden Wolkenbergen, zu sturzbachartigen Regenmassen oder anhaltendem Sprühregen, der Nebelfetzen durch die engen Täler treibt.
An einem Tag zu Beginn des Frühlings steht eine junge Frau, Aroha, alleine auf einer Lichtung in der Nähe des oberen Endes des Tales. Nach Westen hin kann sie einen mit Manuka-Büschen bewachsenen Hang sehen, der zum Meer hin steil abfällt. Nach Osten hin verbergen Hügel und Wald den Blick nach Auckland, wo sie jetzt lebt und das von hier eine Autostunde entfernt liegt. Aber es ist nach Süden hin, wo der Weg abrupt abbricht, hinein in das verborgene Tal, das auf Aroha eine fast magische Anziehungskraft ausübt und in das sie hinuntersteigt.
In ihrer Wanderhose, einem dünnen Anorak und mit einem kleinen Rucksack kämpft sie sich durch die dichten Manuka- Büsche, zwischen denen scharfes Gras wächst. Bei einer Steilstufe des Weges rutscht Aroha auf dem feuchten Boden aus und versucht vergeblich, sich an kleinen Zweigen und Wurzeln fest zu halten. Erst nach einigen Metern, nicht weit von jener Stelle entfernt, wo der Bach entspringt, der durch das Tal fließt, kommt sie wieder auf die Beine.
Es ist still. Aroha hört weder das Zwitschern von Vögeln, noch die Geräusche des Meeres, die durch die Hänge des Tales und den Wald abgeschirmt werden. Sie schließt tief atmend ihre Augen. Die uralten Puriri Bäume mit ihren flechtenüberzogenen Ästen und den roten Beeren scheinen seit Beginn der Zeit hier zu stehen und sahen zu, wie sich tätowierte Maori Krieger wilde Kämpfe lieferten.
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Langsam und vorsichtig folgt Aroha dem Bach abwärts, an kleinen Wasserfällen vorbei, manchmal im Bach oder am Bachrand, dann wieder etwas höher auf einer moosbewachsenen Böschung, die der Bach wie eine perfekte Skulptur unterhöhlt hat. Nicht immer ist das Fortkommen einfach; sie muss sich häufig den Weg über umgestürzte Bäume und durch Schlingpflanzen hindurch kämpfen, mehr als einmal wünscht sie, sie könne sich wie Tarzan von Baum zu Baum schwingen.
Schließlich hält sie. Sie watet durch das Wasser, setzt sich auf einen großen Stein und verzehrt ihr Mittagsessen, während sie Wellen und Wirbel beobachtet, die die Strömung unter und um den Felsen erzeugt. Die beiden Teile des Baches scheinen ihr wie die zwei widersprüchlichen Einflüsse in ihrem eigenen Leben: Maori und Pakeha1.
Die ersten fünf Jahre ihres Lebens verbrachte sie im Marae, einem kleinen Maori Dorf ganz im Norden von Neuseeland. Sie hörte glücklich den Geschichten der Großmutter zu, der weisen Kepa, wie man sie nannte, und wo Aroha jedes Mal gehofft hatte, die Geschichten würden nie aufhören. Die weise Kepa war der Matriarch der Familie, sie führte und leitete diese sanft aber auch fest. Sie bestand darauf, die alten Traditionen nicht aufzugeben und versuchte, das auch bei den Mitgliedern der Großfamilie durchzusetzen. Aroha wurde, der Maori Tradition entsprechend, im Alter von wenigen Monaten von ihrer Großmutter adoptiert. Arohas Mutter und ihr englischer Vater hatten große Schwierigkeiten Arbeit zu finden, die ihnen Zeit für die Betreuung des Kindes gelassen hätte; und ihre Großmutter wollte andererseits unbedingt, dass Aroha in einer Maori Umgebung aufwuchs.
Die weise Kepa verlangte, dass alle Maori sprachen, wenn die Zeit des Geschichtenerzählens kam, aber dass sie Englisch reden konnten, wenn sich die Familienmitglieder zu anderen Zeitpunkten unterhielten, etwa während die Frauen Flachs zu Körben, Taschen oder Wandteppichen woben. Beim Spielen mit anderen Kindern aber war die Trennung der Sprachen nie so genau gewesen.
Mit einem Gefühl der Unruhe denkt Aroha an das neue Leben, das für sie mit dem Beginn des ersten Universitätsjahres in wenigen Wochen beginnen wird.
[1] Eine etwas abfällige Bezeichnung der Maoris für die europäischen Zuwanderer.
Sie setzt die Erforschung des Tales fort. Gleichzeitig ist sie nur halb bei der Sache. Immer wieder geht ihr durch den Kopf, ob das Biologiestudium sie so faszinieren wird, wie sie das hofft. Und wird sie Freunde finden?
Sie folgt dem Bach eine weitere Stunde. Das Fortkommen wird immer schwieriger. Schließlich scheint es kein Weiterkommen mehr zu geben. Der Bach ist tief und reißend geworden, rechts ein steiler Felsen, am rechten Bachrand undurchdringliche Büsche und große Baumstämme, die den Weg versperren. Auf Händen und Knien kriechend gelingt es ihr, sich unter einer großen Baumwurzel durchzudrängen, während sie Spinnwebenfäden, kleine Wurzeln und andere Hindernisse Zentimeter um Zentimeter aus dem Weg räumen muss. Irgend etwas treibt sie weiter.
Dann wird es wieder leichter; sie kann aufstehen, schüttelt sich Staub und Blätter aus Haaren und Kleidung und hält verblüfft inne. Sie steht in einer anderen Welt, wie in einem Raum aus einer anderen Zeit: Farnbäume2 und Neuseelandpalmen3 bilden ein natürliches Dach, durch das die zylindrischen Stämme von riesigen Kauribäumen4 himmelwärts wachsen. Am Boden sind die Wurzeln mit Flechten und Moos wie mit einem weichen Teppich überwachsen, aus denen da und dort die Buschorchideen Neuseelands ihre Blüten strecken.
Sie steht an einem Platz, den die Zeit vergessen hat. Hier, in diesem verborgenen Tal, hat sie einen Ort gefunden, der ehrwürdig, alt und offenbar seit Jahrzehnten nicht mehr von einem Menschen besucht worden ist. Die ‚Kathedrale‘ tauft Aroha den Ort ohne darüber wirklich nachzudenken.
An einem Ende dieses von der Natur geschaffenen Raumes ist ein alter Kauribaum umgestürzt, hat mit seinem Wurzelwerk Teile der Bachböschung mitgerissen und liegt nun quer über dem Wasser. Aroha geht näher an den umgestürzten Baum heran: ‚Ob wohl die großen Regenfälle der letzten Wochen den Boden so aufgeweicht haben, dass dieser schöne Waldriese umstürzte?‘, überlegt sie sich, während sie die mächtigen Wurzeln betrachtet, an denen noch große Brocken glänzenden Lehms zu sehen sind. Der Lehm ist glatt, mit blauen Streifen, ohne Verunreinigungen, so wie ihn die Maoris in einem Marae für das Brennen von Gefäßen verwenden.
[2] Farnbäume und Varianten wie die »Cabbage Trees« und die Nikau-Palme bestimmen das Bild des niedrigen Waldes in den Waitakeres, jenes zerklüfteten Mittelgebirgsgebietes nahe Auckland in dem der größte Teil dieses Romans handelt.
[3] Auch unter Nikau-Palme bekannt.
[4] Neben den verschiedenen Varianten von Farnbäumen ist der Kauribaum wohl der typischte aller neuseeländischer Bäume. Er wird so alt und groß wie die roten Zedern in Kalifornien und zeichnet sich durch sein knotenloses Holz (die Äste sitzen sehr hoch) und seinen zylindrischen Stamm (der sich also nach oben hin kaum verjüngt!) aus, was diese Bäume durch Aushöhlung zum Bau von Einbäumen und Booten prädestiniert.
Im Lehm glitzert etwas, das wie eine Glasscherbe aussieht. Aroha ist entsetzt: ‚Abfall, hier an dieser Stelle? Undenkbar!‘ Sie kniet nieder, beachtet nicht wie Hose und Hände anfangen, sich immer weniger von der Farbe des Lehms zu unterscheiden. Um zu dem glitzernden Stück zu kommen, muss Aroha unter einigen der abgerissenen Wurzeln durch, bekommt Erde in die Haare und ins Gesicht, rutscht mehrmals gefährlich tief zum Bach hinunter, kämpft sich wieder hoch, bis sie endlich das, was wie eine Scherbe aussieht, in der Hand hält. Sie entfernt so viel Lehm von dem Ding wie möglich und hält es dann in die Höhe, wo ein Lichtstrahl die Baumdecke durchbricht. Was sie in der Hand hält, hat die Gestalt eines Fischhakens.
‚Es ist eine Art Schnitzerei. Die Form ist typisch für Kunstwerke aus der ganz frühen Zeit... dieses scheint eines zu sein, die Form ist schön. Und vielleicht habe ich etwas Altes, ganz Altes, gefunden‘.
Aroha wäscht die Schnitzerei sorgfältig. Dann sucht sie sich einen bequemen Baumstamm, wo sie sich hinsetzen kann und betrachtet das schöne gefundene Stück. Von ihrem Vater, einem Naturwissenschaftler, weiß sie, dass es aus Obsidian5 sein muss, einem schwarzen, fast glasähnlichen Stein vulkanischen Ursprungs. Sie verfolgt die Ränder vorsichtig mit einem Finger. Eine Seite hat eine eigenwillige geometrische Form, auf der Rückseite ist ein Muster von grauen Punkten sichtbar. Aroha merkt, dass sie aufgeregt wird. ‚Was ist los mit mir? Werde jetzt nicht verrückt‘, sagte sie sich selbst ‚du hast eine zu lebhafte Einbildung.‘
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[5] Obsidian wird auch »Feuerkiesel« genannt.
Aroha kann noch nicht wissen, dass sie einen ‚Mindcaller‘ gefunden hat, genauer gesagt, die Hälfte eines ‚Mindcallers‘. Aber selbst wenn sie es wüsste, noch könnte sie zu diesem Zeitpunkt mit dem Begriff nichts anfangen. Dennoch, Aroha weiß, ohne zu wissen warum sie es weiß, von Legenden über Lebewesen in grauer Vorzeit, die manchen Zauber in Schnitzereien aus Obsidian eingewoben haben.
Aroha bewundert die glatten und schönen Formen der Schnitzerei, die nur an einer Stelle kantig sind, weil hier offenbar ein Stück fehlt. Sie fragt sich, wer ihr mehr über ihren Fund erzählen könnte.
Sie schließt die Augen und zuckt zusammen. Sie »sieht« plötzlich die Spur eines Lächelns, ohne aber ein Gesicht ausmachen zu können. Verwirrt öffnet sie die Augen. Das gerade Erlebte war so eigentümlich, dass sie es nicht fassen kann. Wie kann sie mit geschlossen Augen etwas »sehen«? Zögernd schließt sie nochmals die Augen. Da ist es wieder, diesmal noch intensiver!
Schwarze Augen. Mit einer Andeutung von Sehnsucht.
Augen, die sie zu rufen scheinen!
Noch nie hat Aroha etwas in ihrer Vorstellung mit solcher Klarheit und Schärfe gesehen. Aber was sie noch mehr verblüfft, ist, dass sie, ohne ein Gesicht »gesehen« zu haben, doch sofort weiß, wem das Lächeln und die Augen gehören: ihrer Großmutter, der weisen Kepa! Wie ist das möglich, nachdem sie das Dorf und ihre Großmutter schon seit vielen Jahren nicht mehr besucht hat?
Aroha sitzt lange stumm da und blickt immer wieder die Schnitzerei an. Seit vielen Jahren zum ersten Mal denkt sie fast wie in einem Gebet an Ranginui (Vater Himmel) und Papatuanuku (Mutter Erde). Klarer und deutlicher als je zuvor kann sie manche Maori-Mythen empfinden und verstehen, dass es die Liebe war, die Himmel und Erde erschuf. Maori-Worte und Maori-Namen, die und deren Bedeutung sie seit langem vergessen hat, fluten ungebeten in ihren Kopf, nicht als Eindringlinge sondern als alte Freunde, die ihr etwas zurufen wollen, das sie noch nicht verstehen kann.
‚Was ist mit mir geschehen?‘ ‚Ist es dieser Ort, diese ‚Kathedrale‘, oder ist es diese Schnitzerei die ich gefunden habe?‘
Schließlich macht sie sich doch auf den Rückweg. Zerkratzt und verschmutzt aber erfüllt von einer neuen Lebendigkeit erreicht sie den Ausgangspunkt. Nach der stummen Dunkelheit des alten Waldes funkelt es hier im Sonnenschein. Auf der ersten großen Lichtung hört sie Grillen und sieht Bienen zwischen den wilden Frühlingsblumen: blauen Enzian, gelben Löwenzahn, Gänseblümchen, großen, rot blühenden Klee. Gräser und Flachs biegen und tanzen im Wind, erzeugen ein sich immer wieder verschiebendes Muster, das an die sich ständig ändernden Wolken am Himmel erinnert. Tuis6 und Graue Grasmücken7 singen ihre Lieder, das Echo der am Strand sich brechenden Wellen dringt herauf, ein tiefes, ungleichmäßiges Rauschen, wie das Atmen eines Riesen. Über dem Meer und über ihr kreisen Möwen und Schwalben ohne Ende. All das war hier vorher auch gewesen, aber es stürmt jetzt auf sie ein, als hätte sie vorher halb geschlafen, und als wäre sie erst jetzt wirklich erwacht und lebendig. Sie setze sich so, dass sie sich mit ihrem Rücken gegen einen großen Pohutukawa8 Baum lehnen kann, zerpflückt eine Flachspflanze in Einzelfäden, aus denen sie eine Schnur flicht. Diese befestigt sie vorsichtig an die Schnitzerei und kann nun den »Fischhaken« als Anhänger um den Hals tragen.
Als sie kurz die Augen schließt, raunt eine Stimme ihr zu: ‚Ja, trage nur dieses Kapakapa‘, und Aroha weiß, dass dies das Maori Wort für Halskette oder Anhänger ist. Plötzlich »sieht« sie blau-grüne Augen. Augen, die glänzen und strahlen, wie auf einer neuen Schnitzerei. Aber dann ändert sich das Bild und sie »sieht«:
Den kleinen Bach der am Fuße eines großen Baumes vorbei in eine verzauberte Wildnis führt, wo sich Clematis und andere Schlingpflanzen bis zu den Gipfeln der Bäume hochwinden, wodurch natürliche, wasserdichte Höhlen entstanden sind. Treffplätze für sie als Kinder ...
Ja, das war, wo sie mit anderen Kindern in der Jugend spielte, oft mit verteilten Rollen als verschiedene Maori Stämme, die gegenseitige Überfälle planten!
Beim Geschichtenerzählen im Dorf hatte Zauberei immer eine große Rolle gespielt. Vielleicht kommt es dadurch für Aroha nicht völlig überraschend, als sie plötzlich Silberne Feen die am Mond tanzen als nächstes Bild »sieht«. Und dann »sieht« sie sich plötzlich selbst als kleines Mädchen, mit braunen, gelockten Haaren und grünen Augen, um Mitternacht noch unterwegs:
[6] Typischer neuseeländischer Vogel: schwarzes Federkleid, weiße Federn im Halsbereich, sehr spezifischer Gesang.
[7] Der neuseeländische »Grey Warbler«
[8] Dieser zu Weihnachten wunderschöne rot- blühende Baum ist das Weihnachtsgeschenk der Natur an die Neuseeländer
Beim alten Karaka Baum vorbei, durch das kleine Tor
vorbei an der roten Schnitzerei eines Kriegers, so schnell es geht
auf Zehenspitzen
klopfendes Herz
am alten Haus vorbei
über den Zaun
in den Schatten der Farnbäume
beim Fluss - wo die Alten leben9!
Aroha muss sich von den Bildern losreißen. Sie zwingt sich, ihre Augen zu öffnen ... und ist zurück in der Realität.
Solche Kindheitserinnerungen- wieso wird sie jetzt mit ihnen konfrontiert? Sie weiß, man hat ihr immer wieder erzählt, dass sie über eine übertriebene Phantasie verfügt. Aber, und das macht sie mehr als ein bisschen besorgt, selbst als Kind hat sie mit ihrem »inneren Auge« nie und nimmer Geschehnisse mit der Deutlichkeit gesehen, mit der das jetzt geschehen war, deutlich, klar und doch in einer einzigartigen, unerklärbaren Weise. Was sie gerade erlebt hat, ist nicht vergleichbar mit der Beobachtung eines Filmes. Vieles, was sie ‚sah‘, waren nicht ‚vollständige‘ Bilder oder Szenen. Aroha weiß nicht, wie man das Erlebnis am besten beschreiben kann. Am ehesten noch mit Phrasen wie: ‚etwas, das ganz verschieden ist vom Sehen und vom Hören. Etwas, das über normales Denken und Empfinden weit hinausgeht.‘
Zurück in der Stadt muss Aroha immer wieder an die neuen Erlebnisse denken. Sie will mehr über ihren Anhänger in Erfahrung bringen und sucht stundenlang im Internet. Aber das einzige was sie findet ist ein Wörterbucheintrag der bestätigt, was sie ohnehin weiß, dass das Maori Wort ‚Kapakapa‘ die Übersetzung für einen Halsschmuck in Kettenform ist. Es ist das erste Mal, dass sie Trauer darüber empfindet, viele Maori Worte seit ihrer Kindheit vergessen zu haben. Als Ausgleich beschließt sie, ihren Anhänger in Zukunft für sich nur mehr Kapakapa zu nennen.
[9] Maoris werden immer so begraben, dass ihre Gräber zu einer Wasserfläche schauen, damit die Seelen der Toten in der Nacht zum Wasser gehen können.
Aber sie zeigt ihr Kapakapa niemanden.
Aroha kehrt an vielen Sonntagnachmittagen zum verborgenen Tal zurück, auch um dem Gefühl der Einsamkeit, das sie oft in der Stadt empfindet durch ihre Welt hier, in die sie immer wieder gerne eintaucht, zu entgehen. Sie liebt es auf der Lichtung oberhalb des Tales auf dem Bauch zu liegen und nach Westen auf das Meer hinauszusehen. Sie kann die hereinrollenden Brecher lange beobachten, das allmähliche Anwachsen der Flut oder das Zurückweichen des Wassers, das hunderte Vögel jedes Mal kreischend begrüßen, weil sie im nassen Sand und in verbleibenden Wassertümpeln kleine Meerestiere und unvorsichtige Fischchen als willkommene Nahrung finden.
Das fallweise Auftauchen von Menschen am weit unten liegenden Strand betrachtet Aroha als Störung: Sie zieht es vor, sich mit ihren eigenen Gestalten zu umgeben und beginnt, alles Lebendige um sie herum als liebe Freunde zu betrachten: den alten schläfrigen Großvater Rimu10-Baum, der sich gelassen am Rande der Lichtung sonnt und sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt, die jungen Kowhai11 Bäume, auf denen meist zwei Tuis sitzen, die sie regelmäßig mit ihrem Gesang begrüßen, mit einem Gesang der nie gleich klingt und die gelben Schmetterlinge, die ihr wie goldene Feen vorkommen, die von den Wiesenblumen kosten. Sie liebt die Waldtauben, die liebevoll ihr Nest in einem alten Karaka-Baum bauen und auch andere Vögel, wie die Grauen Grasmücken, die sich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang über das Tal hinweg ununterbrochen melodisch zurufen. Einmal, Aroha ist fast sicher, sieht sie auch einen Takahe12 !
Zu ihren besten Freunden gehören aber zwei Fantails13, jene kleinen Vögel, die oft kilometerweit mit Menschen mitfliegen um winzige Insekten zu fressen, die die Menschen durch ihre Bewegung aufstöbern. So hat Aroha auf ihren Spaziergängen immer zwei kleine Freunde, die mitfliegen. Und nach einigen Wochen ist sich Aroha sicher, dass es immer dieselben sind.
[10] Rimu ist ein Baum aus hellem, harten Holz, der große knorrige Äste entwickelt, die den Eindruck von Alter noch verstärken.
[11] Kowhai Bäume sind schlanke, zart gewachsene Bäume mit hängenden gelben Blüten, die von den Tuis auch als Nahrung verwendet werden.
[12] Der Takahe ist ein Vogel, der wie der Kiwi nicht fliegen kann. Er hat einen hellroten Schnabel und ist (weil er seine Eier am Boden legt, wo sie durch kleine Säugetiere wie Marder oder Ratten gefährdet sind) vom Aussterben bedroht.
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Aber Aroha beschäftigt sich auch mit Pflanzen, Büschen und Beeren, denkt an das Wissen, das ihr ihre Großmutter vermittelte. Sie erinnert sich beispielsweise an die orange-roten Beeren des Karaka Baumes, die man wochenlang wässern muss, bevor sie ihr Gift verlieren oder an spezielle Disteln, deren Boden man essen14 kann.
An klaren Abenden sitzt Aroha oft an
jener Seite der Lichtung, von der aus man das Meer am besten
beobachten kann. Sie wartet dann gespannt, ob es wieder zum »grünen
Leuchten« über dem Meer kommen wird. Obwohl sie die physikalischen
Gesetze kennt, die dieses Phänomen auslösen, ist sie immer wieder
davon überrascht und fühlt sich glücklich, wenn sie es erlebt. Die
Tatsache, dass die Reflexion der Lichtstrahlen von der Dichte der
Luft abhängt, entzaubert den Vorgang in keiner Weise. In den
letzten Augenblicken, in denen die Sonne im Meer zu versinken
scheint, verfärbt sie sich manchmal von Rot zu Orange, zu Gelb und
dann ganz plötzlich - und nur für
einen Augenblick - in intensives, strahlendes Hellgrün. Dann
verschwindet sie und es wird dunkel und ruhig.
An manchen Abenden zündet Aroha ein Feuer in der Mitte der Lichtung an und schläft im Freien in einem Schlafsack. In den klaren Nächten, in denen sie weg von den Lichtern der Stadt liegt, werden auch die Sterne zu ihren Freunden. Sie kann viele benennen: die Zeigersterne, die auf das Kreuz des Südens hinweisen, Orion, Leo, Pegasus, Andromeda ...
[13] Der englische Ausdruck »Fantail« passt besser als der deutsche »Pfauentaube«, weil diese winzige Taubenart einen fächerähnlichen Schwanz hat.
[14] Eine Variante des in Österreich bekannten »Jägerbrotes«, eine in den Kalkalpen gängige Distelart, hat eine ca. ein mm dicke »Bodenschicht«, die man als fast vollwertigen Brotersatz verwenden kann.
Selten trägt sie ihren Anhänger. Noch immer ist sie unschlüssig, was er bedeutet und wie sie sich weiter verhalten soll. Aroha versteht auch nicht, warum er manchmal Bilder liefert, wenn sie die Augen schließt und manchmal nicht. Sporadisch und unvorhersehbar produziert er Eindrücke, oft aber bleibt er passiv. Aber selbst wenn sie ihn trägt, nimmt sie ihn vor dem Einschlafen immer ab. Sie hat Bedenken, den Anhänger zu tragen, die Augen zu schließen und durch den Schlaf die Kontrolle über das Öffnen ihrer Augen zu verlieren.
Eines Abends, als sie auf der Lichtung liegt und im Begriff ist, vor ihrem verglimmenden Feuer einzuschlafen, vergisst sie, das Kapakapa abzunehmen. Sie beginnt zu dösen. Plötzlich lodert das Feuer vor ihr hoch auf. Sie merkt erst nach einer Schrecksekunde, dass es der Anhänger ist, der ihr die Bilder liefert:
Ihr Vater wirft große Holzprügel ins Feuer, so dass die Funken hoch stieben und alle vor der Hitze zurückweichen. Es ist Guy Fawkes Nacht und es wird nicht nur ein großes Feuer geben, sondern auch ein Feuerwerk, das der Vater für die Familie und die Nachbarn vorführt.
Das Bild schwankt ein bisschen. Die Geschichte geht einige Tage früher weiter:
Der Vater ist über diverse Pulver im Chemiezimmer der Schule gebeugt und stellt Feuerwerkskörper her. Nur er darf das, als Direktor der Schule und als Naturwissenschaftler. Er füllt mit einem Lächeln das Pulver in Blechdosen und legt Zündschnüre hinein.
Wieder schwankt das Bild, und es ist wieder
Guy Fawkes Nacht, so als könnte sich der Anhänger nicht
entscheiden, was er zeigen soll.
Die Blechdosen werden gerade aufgestellt und die Zündschnüre angezündet. Feuer von Purpurrot bis Emeraldgrün, von Kobaltblau bis Magnesiumweiß schießen hoch ...
Das Bild wird unscharf, stabilisiert sich wieder, springt zu einer Szene die Aroha nicht sehen will:
Der Vater, der an
Krebs stirbt, der Vater, der bis zum Ende vergeblich dagegen
ankämpft.
Aroha zwingt sich ihre Augen zu öffnen. Der »Spuk« ist weg. Ein kühler Wind bläst über die Lichtung, das Feuer glimmt noch einmal auf. Aroha nimmt entschlossen den Anhänger ab. Sie versteht, was dieser tut, noch weniger als zuvor: Bisher zeigte er immer nur emotional positive Ereignisse und Bilder, warum dann heute die Szenen mit ihrem todkranken Vater, an die sie sich nicht erinnern will?
Es ist an diesem Abend, an dem sie noch lange wach liegt, als es Aroha endgültig klar wird, dass sie anders ist als andere. Sie ist nicht besonders an Männern interessiert, obwohl das die meisten 17-jährigen Frauen oder Mädchen offenbar als das Wichtigste ansehen. Sie empfindet umgekehrt den Unterricht an der Universität als Vergnügen, auch in den von vielen gehassten Fächern wie etwa Mathematik. Und sie hat einen Anhänger, den sie nicht versteht, der aber wohl irgendwie zu ihr gehört und ihr Leben mit ihrer Vergangenheit verbindet.
Vorsichtig nimmt sie das Kapakapa in ihre Hand, schließt die Augen und »sieht« ein Bild aus alten Zeiten:
Tawhirimatea (der Wind) stürmt und singt in dem Baumspitzen neben dem alten Haus in dem Dorf ihrer Großmutter.
Tränen stürzen Aroha aus den Augen, denn sie erinnert sich sehr gut an diesen Tag der großen Zurückweisung, wo sie das erste Mal erleben musste, was es heißt, nirgendwo hin zu gehören. Sie denkt: ‚Warum bin ich nicht braun oder weiß, warum bin ich dazwischen?‘ Aber sie beschließt an diesem Abend, das Beste aus dem zu machen, was sie ist. Sie wird wie eine Weiße studieren und erfolgreich sein. Und sie wird den Wurzeln ihrer Mutter nachgehen und wird das Wesen der Flüsse, der Berge, der Täler, der Seen, der Menschen und des Lebens finden. Und sie ist sicher, die Alten werden ihre eines Tages helfen können, das Rätsel des Kapakapas zu entschlüsseln.