Nachspiel

Eigentlich war der Raum freundlich. Er wirkte nicht wie das Zimmer einer Klinik. Eher wie ein Wohnzimmer. Blumen, Bilder, saubere Tischdecken. Die Möbel waren geschmackvoll, skandinavische Fichte. Der ganze Raum strahlte eine große Freundlichkeit aus. In einer angrenzenden Kammer stand das komfortable Bett. Kramer hatte es noch nicht gemacht, seit er an diesem Morgen darin aufgewacht war. Wenn er seinen Hals so weit wie möglich nach rechts drehte, konnte er einen Zipfel der Bettdecke sehen, die auf dem wellenförmig gemusterten Teppichboden lag. Die Fenster der kleinen Wohnung gingen nicht auf den Hof einer Anstalt. Draußen lag scheinbar eine Obstbaumwiese im Sommer. Wenn man die Fenster öffnete, konnte man die Vögel zwitschern hören. Man konnte nicht hinausklettern (Kramer hatte es versucht), aber das änderte nichts an der schönen Aussicht.

»Verstehen Sie?«, sagte Frau Dr. Lorenz. Durch die entspiegelte und verzerrungsfreie Trennscheibe konnte er sie gut sehen. Sie saß auf einem sachlichen Stuhl in der Beobachtungskammer und sah ihn mit freundlichem Interesse an. Wirkte jünger als bei ihrer letzten Begegnung. Kramer hätte sie jetzt auf Mitte vierzig geschätzt. Das war keine Arbeitskleidung, was sie trug: rostrote, elegante Schuhe, einen knielangen grauen Rock und ein weißes, sportliches Hemd, dessen zwei oberste Knöpfe geöffnet waren. Ihr Make-up war perfekt, ihre Ausstrahlung umwerfend. Zu seinem eigenen Ekel bemerkte er, dass er sie begehrte. Sie quälen mich mit dieser Softwarepuppe. Es ist das Spiel. Meine Lust gehört zum Spiel. Polyplay.

»Sie müssen verstehen, dass Sie ein schweres Trauma hinter sich haben. Die vertrauteste Person in Ihrem Leben hat Sie belogen. Jahrelang. Systematisch. Sie sind von heute auf morgen obdach- und arbeitslos geworden. Sie haben quasi alles verloren, was Ihr Leben ausmacht. Das ist ein Schock, den keiner ohne Blessuren übersteht. Deswegen geht es für Sie jetzt vor allem um Ruhe und Ausgleich. Um Entspannung, soweit das eben möglich ist. Ihr Aufenthalt bei uns soll Ihnen die Möglichkeit geben, sich auszuruhen.

Während Sie zur Ruhe kommen, werden wir mit Ihrer Dienststelle sprechen. Wir werden mit Ihrer Frau sprechen. Wir werden sehen, was möglich ist, damit Sie zum richtigen Zeitpunkt Ihre ganz persönlichen Probleme in einem Zusammenhang angehen können, der Sie nicht überfordert. Damit das Leben weitergeht. Wir verstehen uns hier als eine Art … Puffer, der zwischen Sie und die Realität eingeschaltet wird, um Ihren psychischen Stress zu mildern.« Sie lächelte. »Wir haben Sie in der Pension Aurora mit einer schweren Alkohol- und Barbituratvergiftung aufgegriffen, aber ich bin mir sicher, dass Sie hauptsächlich an einem traumatischen Belastungssyndrom leiden und nicht an einer stofflichen Abhängigkeit. Verstehen Sie?«

Ich bin Software, dachte er. Das hier ist Polyplay. Das Spiel geht weiter. Alles, was ich sage oder tue, wird diese Softwarepuppe als Beweis für meine Verrücktheit interpretieren. Ich bin kein Mann. Sie ist keine Frau. Sie ist nicht einmal eine der … wie hieß das auf dem Administratorenniveau? »Emergenzen«? Einer der Götter dort hatte ihn eine »Emergenz« genannt. Er hatte es laut und deutlich gehört, und auch das war Absicht gewesen. Frau Dr. Lorenz ist eine Softwarestatistin, die nicht überzeugt werden kann. Alles, was du sagst oder tust, fällt bei ihr in ein vorgeprägtes Muster. Sie lebt weniger als du.

Kramer nickte.

»Gut«, sagte sie und lächelte das Lächeln einer Ärztin, die schon jede Art von Wahnsinn gesehen hat. »Dann werde ich Sie jetzt alleine lassen.« Sie ging hinaus. Ihre aufreizend schönen, leicht gebräunten und durchtrainierten Beine waren die Beine einer jüngeren Frau. Als sie die Tür der Beobachtungskammer hinter sich schloss, verwandelte sich die Trennscheibe in eine ganz normale, tapezierte Zimmerwand.

 

Der Kies knirschte unter seinen Schuhen. Kramer ging nicht wirklich gern im Park der Anstalt spazieren, weil er dabei immer an den Todesgarten von Dr. Schwernik denken musste, aber seit er sein Zimmer verlassen durfte, nutzte er diese Möglichkeit manchmal doch.

»Kommissar! Kommissarchen!«

Kramer sah auf. Den Mann, der freudig erregt auf ihn zukam, erkannte er sofort: Heribert Konz. Penner-Harry.

»Na, wenn dit keene Überraschung is! Wat mahrn Sie denn hier? Sind Se uff Besuch?«

Kramer dachte: Softwarepuppe? Emergenz? Polyplay-Gott? Das hatte keinen Zweck. Mitspielen. Darum ging es.

»Nee, Harry. Kleine Auszeit.«

Harrys Trinkeraugen weiteten sich vor Überraschung. »Kleene Auszeit? Dit is ja 'n Ding! Da sind wa ja sozusahrn Nachbarn. Oder Kollejen!« Harry fand diese Idee so köstlich, er musste losprusten. »Kollejen!«

Kramer hatte genug von dieser kleinen Einlage, er ging um Harry herum und lief weiter.

»Kommissarchen! Nu warten Se doch mal!« Harry pflanzte sich vor ihm auf, er war immer noch sehr gut gelaunt. Kramer musste stehen bleiben, um nicht in ihn hineinzurennen. »Wat ick Sie noch frahrn wollte. Hamse denn den Scheißkerl jeschnappt? Den, der den Michael umjebracht hat?« Kramer schob Harry zur Seite. »Sicher doch, Harry. Immer. Fall gelöst.« »Dit is klasse, Kommissar!«, rief Harry ihm hinterher. »Respekt!« Kramer winkte mit der rechten Hand, ohne sich noch einmal umzudrehen.

 

Die Wolke sah exakt wie ein Fisch aus. Mit Schwanz, Schuppen, Flossen, Augen, Maul, komplett. Es war kein Fisch der Neuzeit. Er glich eher den Versteinerungen, die Kramer einmal bei einem Besuch im Paläontologischen Museum in der Invalidenstraße gesehen hatte. Während sich der gigantische Wolkenfisch um seine Längsachse drehte, öffnete er sein Maul. Die Zähne waren furchterregend. Kramer schloss die Augen, weil er an die eine, kleine, unbewegliche Wolke auf dem Administratorenniveau denken musste. Als er sie wieder öffnete: kein Fisch mehr. Nur eine lang gezogene Wolke unter anderen lang gezogenen Wolken. Der Himmel zog sich zu. Es würde regnen.

Kramer wunderte sich nicht allzu sehr. In der zerfaserten Version der Realität, die er bewohnte (oder sollte er sagen, auf dem Aktivitätsniveau, auf dem er sich aufhielt?), passierten ständig die seltsamsten Sachen. Gestern hatte sich ein Glas beim Aufgießen des Tees nicht von unten, sondern von oben gefüllt: Das heiße Wasser hatte zuerst nur eine dünne Schicht am Rand des Glases gebildet, war dann immer tiefer gesunken, um schließlich den Boden zu erreichen. Kramer hatte vorsichtig noch ein wenig Wasser nachgeschüttet, und das Glas war tatsächlich übergelaufen. Der Tee hatte geschmeckt wie immer. Mit Verwunderung bemerkte er, dass er diesen Nonsens zu genießen begann.

»Was machst du denn für Sachen«, sagte Pasulke, der neben ihm herging, über diesen unverdächtigen Kiesweg. »Erst der ganze Hassel mit Anette. Dann fliegst du aus der Inspektion. Dann Charité. Junge, Junge.«

Kramer war erleichtert. Er dachte schon, Pasulke wolle ihn nach dem Wolkenfisch fragen. Dabei suchte er nur einen Einstieg in das Gespräch.

»Ich hab was für dich, das haut dich um«, sagte er. Dann hielt er inne, und sah Kramer zweifelnd an: Einen Kranken wollte er nicht umhauen. Kramer lächelte und dachte: Wenn du wüsstest. Er strahlte dabei offenbar so viel Selbstsicherheit aus, dass Pasulke fortfuhr.

»Wir haben ein Geständnis in der Abusch-Sache. Vorgestern kreuzt doch der lang verschwundene Vater von dem Jungen bei einem Revier in Charlottenburg auf und sagt, er war's. Natürlich dachten wir zuerst, alles Banane, der hat ein Rad ab. Und dann bringt er Fakten, die kann nur der Täter wissen. Sieht so aus, als ob er Recht hat. Das wär dann das.«

Kramer lachte leise. Sie dachten wirklich an alles. Humor hatten sie ja, das musste man ihnen lassen. Auch wenn es ein absolut perverser Humor war. Er musste es Pasulke sagen. Er musste es ihm einfach sagen, obwohl er wusste, was das für Konsequenzen haben würde. Kramer blieb stehen und packte Pasulke an den Schultern. Der ließ es überrascht geschehen.

»Jochen. Du bist Software. Ich bin Software. Michael Abusch war Software. Nicht sein so genannter Vater hat ihn getötet, sondern ich war es. Ich habe Michael Abusch ermordet, wenn Software Software ermorden kann. Was du hier siehst, alles um dich herum, ist nicht wirklich. Wir sind Teile eines gigantischen Computerspiels. Polyplay. Es heißt Polyplay. Du bist eine Figur darin, ich bin eine Figur darin. Wir sind Software.«

Pasulke streifte Kramers Hände erschrocken ab. Er trat einen Schritt zurück. In seinen Augen stand ein Gemisch aus Angst, Abscheu und Mitleid.

»Rüdiger«, sagte er, »was erzählst du denn da?«

Kramer lachte. »Keine Sorge, Jochen, ich bin verrückt. Bekloppte dürfen so was.«

Pasulke sah ihn zweifelnd an, aber weil er keine Anstalten machte, gewalttätig zu werden, folgte er Kramer, als der den Spaziergang fortsetzte. Auf dem Weg zurück zur Klinik sprachen sie kein Wort. Aber als sich Pasulke verabschiedete, umarmte er Kramer. Beim Lösen der Umarmung hatte er feuchte Augen.

»Mensch, Rüdiger«, sagte er.

»Operation Neescherfett«, antwortete Kramer. Pasulke lachte laut los.

Eure Puppen sind so echt, dachte Kramer, als er wieder in seinem Zimmer war. Ihr macht mich noch wahnsinnig.

 

Dumm war er gewesen! Strohdumm! Was für eine gigantische Dummheit, Pasulke mit der Wahrheit zu konfrontieren! Pasulke hatte natürlich nichts Besseres gewusst, als sofort mit Frau Dr. Lorenz zu telefonieren und ihr von dem Gespräch im Park zu erzählen. Daraufhin hatte Dr. Lorenz ihm seine Erlaubnis zum Verlassen des Zimmers entzogen.

»Wir müssen sicher gehen«, hatte sie ihm in strengem Tonfall erklärt, »dass Sie eine akzeptable Verankerung in der Wirklichkeit erreicht haben. Es tut mir Leid, aber was ich von Herrn Pasulke zu hören bekommen habe, lässt mich an einen schweren Rückfall glauben. Ich habe unter diesen Umständen keine Wahl. Die Ausgangserlaubnis für den Park ist bis auf weiteres ausgesetzt.«

Die resolute Frau Dr. Lorenz war gegangen. Diesmal keine schönen Beine – nur der sachliche, gestärkte Kittel der ärztlichen Stationsleitung. Er musste endlich die Regeln begreifen. Wenn er Fehler machte, wurde er zurückgestuft. Erst wenn er die Softwarepuppe »Dr. Lorenz« davon überzeugt hatte, dass er gesund war, konnte er die Klinik verlassen, und erst dann würde die Handlung wirklich weitergehen. Das war ein Spiel, keine Psychiatrie! Hier wurde er nicht »behandelt«, hier wurde er geprüft. Kramer wollte mitspielen, er musste es. Denn wenn er, als das Softwarekonstrukt, das er war, nirgendwo anders leben konnte als auf einem der Aktivitätsniveaus von Polyplay, dann wollte er zumindest im Rahmen des Spiels frei sein. Er wollte vor allem leben. Das Leben nach der Klinik würde schwer genug werden, ohne Arbeit, ohne Wohnung. Das Leben in einer DDR, die es in Wirklichkeit nicht mehr gab. Die es so nie gegeben hatte.

 

Aber das war immer noch der wattierten Hölle vorzuziehen, in der er sich jetzt aufhielt. Alles, nur das nicht: eine weinende Anette, die ihm gegenüber in der Beobachtungskammer saß und so tat, als wisse sie von nichts. Sie bedeckte ihr Gesicht mit ihren eleganten Händen, die Fingernägel waren frisch lackiert, dunkelrot.

»Bitte«, schluchzte sie, »ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht.« Sie nahm die Hände vom Gesicht. Ihre Augen waren völlig verweint. »Ich habe dich verlassen, ohne zu wissen, wie viel du mir bedeutest. Frank liebt mich nicht wirklich, das habe ich erst jetzt begriffen. Ich war so kalt und herzlos zu dir in dieser schrecklichen Pension.« Sie schluckte.

Wie echt das alles aussah! Vor kurzem noch war sie ihm als die Göttin gegenübergetreten, herrisch und arrogant, und Kramer war felsenfest davon überzeugt, dass dieser Auftritt ihrem wahren Gesicht am nächsten kam – dem wahren Gesicht einer Person, die Kramer nie wirklich kennen lernen würde, weil er ein Programm und sie ein echter Mensch war. Wenn auch ein bis über alle Maßen kranker und verrückter Mensch. Viele Gefühle machten sich den Platz in Kramers Seele streitig. Er spürte nicht nur Hass und Verachtung für den Schatten hinter »Anette« und »Athene«, sondern auch Mitleid. Wie krank musste man sein, um ein guter Polyplay-Spieler zu werden, einer der Götter? Blitzartig ging ihm auf, dass das menschliche Substrat von »Anette« und »Athene« auch hinter »Majorin Schindler« gesteckt hatte. Es war derselbe Geschmack von Manipulation, Kälte und Perversion. Es waren dieselben Tricks.

»Komm zu mir zurück. Bitte!« Ihre Augen waren tränenverschleiert.

Kramer wollte aufbegehren. Er wollte Anette anschreien. Du Dreckstück! Ich weiß, wer du bist! Du bist nicht Anette! Du bist Athene! Ich kenne dich! Spar dir die Tränen! Du verlogene … Hure! Aber seine Vorwürfe wären völlig unsinnig gewesen. Der Schatten hinter Anette-Athene ließ sich von moralischen Erwägungen nicht beeindrucken. Und ein Ausbruch wie dieser hätte nur neue Strafmaßnahmen von Dr. Lorenz nach sich gezogen. Er musste klug sein. Er musste mitspielen.

»Ich …«, begann er zögernd, seinen Ekel niederkämpfend, »ich bin noch nicht ganz gesund. Die Therapie hier ist gut, aber es wird noch eine Weile dauern, bis ich entlassen werde. Ich … mache Fortschritte. Aber es ist noch nicht so weit. Du musst dich noch ein wenig gedulden.«

Es war fast zu viel. Ein Schritt weiter in dieser grausamen Parodie, und sein ganzer Hass und seine ganze Verzweiflung wären aus ihm herausgebrochen. Deswegen schwieg er einfach.

Anette nickte. Sie wischte sich lächelnd die Tränen ab. Ihr Make-up war ruiniert. Sie blies einen Kuss durch die Trennscheibe, eine Geste, die Kramer vor Schmerz die Augen schließen ließ.

Bevor sie sich zum Gehen wandte, riss er sich noch einmal zusammen und sagte: »Ich komme bald zurück.«

Er meinte es wirklich ernst.