Kopfweh

Zuerst fiel Kramer auf, dass kaum Blut zu sehen war. Er hatte eine Riesensauerei erwartet, aber bis auf ein paar kleine Tropfen und Schlieren auf dem abgewetzten Linoleumboden war da nichts. Er stand im Hinterzimmer des Jugendclubs, die Mütze in der Hand, und suchte nach Blut, nach dem Offensichtlichen, nach den Spuren des Ereignisses, aber die Ausbeute war mager. In seiner Zeit als Polizist hatte er schon einige Tatorte gesehen und über die Jahre eine bestimmte Haltung dazu entwickelt: Je schlimmer es aussah, desto leichter würde seine Arbeit sein. Jemand, der bei der Ermordung eines Menschen eine Riesensauerei anrichtete, war leichter zu erwischen, denn er hatte sich nicht unter Kontrolle. Mit Leuten, die sich beherrschen konnten, war es schon schwieriger. Dieser Tatort hier gefiel Kramer auf den ersten Blick schon überhaupt nicht. Viel zu sauber.

Jemand hatte die Leiche mit einem geblümten Wachstischtuch bedeckt. Einige Leute standen um sie herum, als seien sie dazu verpflichtet. Im Gegenlicht des einzigen Fensters erkannte er Pasulke, einen Vopo, der nach ABV aussah, und einen SMH-Arzt. Am geöffneten Fenster selbst lungerten zwei Typen in Weiß herum, die ebenfalls nach SMH aussahen. Auf dem Boden stand eine Tragbahre. Kramer hatte den Barkas vor der Tür stehen sehen. Sie rauchten. Niemand brauchte sie noch, aber sie trauten sich nicht einfach wegzugehen, genauso wenig wie der Arzt, ihr Vorgesetzter.

Er wollte gerade auf die Gruppe zutreten, da zwitscherte plötzlich eine der Computerspielkonsolen wie ein Vogel. Oder war es ein Flipperautomat? Kramer drehte sich um. Eine der Konsolen. Er konnte einige bunte Männchen erkennen, die über den Bildschirm hüpften und rannten. Am Münzeinwurf die typischen Kratzspuren der Spieler, denen der Automat die Münzen wieder in die Hand gespuckt hatte. Über dem Gerät hing ein Plakat: Ein gut gelaunter Jugendlicher im FDJ-Hemd präsentierte dem Betrachter einen bunten Blumenstrauß. Darunter die Parole: »FDJ-Initiative Berlin 2000«. Daneben stand ziemlich groß in die Wand geritzt: »Solanaceae Tau«. Hörte sich an wie der Name einer der südamerikanischen Bands, die jetzt so populär waren. Als Kramer auf die Gruppe um die Leiche zuging, dachte er: Typisch. Das Einzige, was man hier in diesem Laden von der FDJ-Initiative mitkriegt, ist ein Plakat. Arbeiterviertel eben.

»Kippen weg«, sagte er beiläufig zu den Rauchern von der Schnellen Medizinischen Nothilfe. Sie warfen sie widerwillig aus dem Fenster.

»Wagner, ABV hier«, sagte der Vopo. »Die Leiche ist vor einer Stunde entdeckt worden, vom Hausmeister.«

Hinter ihm lehnte ein gelbes Männlein in einer grau-blauen Hausmeisterjacke an der Wand. Es versuchte krampfhaft, an dem Wachstischtuch vorbeizublicken.

»Danke, Herr Wagner«, sagte Kramer. »Sie können jetzt gehen.«

Wagner salutierte und lief zur Tür. Mit der Klinke in der Hand sagte er noch: »Wenn Sie mich brauchen …«

»Selbstverständlich. Wir rufen Sie an«, antwortete Kramer dem fleißigen Abschnittsbevollmächtigten. Er sah den Arzt an: der schwieg. Pasulke war ebenfalls still. Kramer spürte: Alle wussten, was jetzt kommen würde. Er kniete sich hin und hob die Wachsdecke an. Das war allerdings schlimm. Das war sogar ziemlich schlimm. Oberhalb des Halsansatzes war alles zermatscht. Der Kopf war zu einer Fleisch-, Blut- und Knochenpampe zerdrückt worden. Es sah aus, als habe man das Opfer rücklings auf die Straße gelegt und wäre mit einem Laster über den Kopf gefahren. Selbst hier erstaunlich wenig Blut. Allerdings klebten einige Batzen Fleischpampe an der Unterseite des Wachstuchs, das Kramer in der Hand hielt. Es gab ein Übelkeit erregendes, feucht schmatzendes Geräusch, als er die Decke fallen ließ, etwa so, als lasse man aus geringer Höhe einen feuchten Putzlappen zu Boden gleiten. Kramer stand auf. Gegen seinen Willen wischte er die rechte Hand an seiner Jacke ab. Pasulke war grün im Gesicht, der Arzt blickte verlegen zur Seite.

»Sie können jetzt auch gehen«, sagte Kramer.

Der Arzt nickte, winkte den SMH-Helfern, und die drei verschwanden. Die leere Tragbahre nahmen sie mit.

Kramer ging zu dem Hausmeister, der offensichtlich völlig mit den Nerven runter war. Wahrscheinlich stand er sogar unter Schock. Kramer wusste nicht, was er tun konnte, um ihn zu beruhigen. Er wusste auch nicht, ob es Sinn hatte, ihn jetzt auszufragen. Aber das war nun einmal seine Pflicht.

»Furchtbar«, sagte er leise.

»Ja … furchtbar …«, murmelte der Hausmeister vor sich hin. »Der Michael … hab ihn gefunden …«

»Sie wissen, wer das ist?«

»Kann nur der Michael sein … hab ihn schon paarmal hier erwischt … hat sich manchmal über Nacht einschließen lassen … ganz verrückt nach dem Spiel …«

»Michael? Wissen Sie den Nachnamen?«

»Michael … Michael … Abusch. Hab ihm mal die Ohren lang gezogen und vom ABV nach Hause bringen lassen.«

»Haben Sie sonst noch jemanden gesehen? Können Sie uns irgendwas sagen, was uns weiterhilft?«

Der Hausmeister riss ruckartig den Kopf herum. Sein Gesicht war gelb-grün, in seinen Augen stand die nackte Angst.

»Herr, Herr … Kommissar! Wenn Sie glauben, dass ich was damit zu tun habe … das stimmt nicht! Ich bin hier der Hausmeister!« Jetzt schrie er fast. »Der Michael hat mich genervt, aber ich bring doch keenen um, nur weil er mich nervt! Ick hab hier heut Morjen uffjemacht, und da isser da jelegen! Det müssn Se mir gloobn! Ick bin keen Mörder!«

Kramer fühlte sich peinlich berührt. Er sah schnell zu Pasulke hinüber, und Pasulke verdrehte die Augen, als wolle er sagen: Was machst du denn da! Der Hausmeister sagte ein paarmal sehr laut, dass er kein Mörder sei.

»He«, warf Kramer ein, »he, he, he. Das ist in Ordnung. Das glaube ich Ihnen. Ist in Ordnung. Gehen Sie nach Hause. Ruhen Sie sich aus. Alles in Ordnung.«

Na wunderbar. Zu seinen Füßen lag ein Junge mit einem zermatschten Kopf, und er tröstete den Mann, der dieses Bild als Erster hatte ertragen müssen, mit der Behauptung, alles sei in Ordnung.

Der Hausmeister sah ihn noch ein paar Sekunden lang wild an, als wisse er nicht genau, wer von ihnen beiden irre war. Dann hob er seine Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus. Es war ein dünnes und kraftloses Weinen, in Kramers Ohren klang es ungeübt, um nicht zu sagen impotent, und er hasste sich dafür, dass sein Kriminalistenohr nach einem falschen Ton suchte, der ihm die Anstrengung des Schauspielers verraten hätte. Aber da war kein falscher Ton. Da war nur Erbärmlichkeit, Verwirrung und Schock. Kramer konnte es nicht ertragen. Er fasste den Hausmeister um die Schultern und schob ihn zur Tür. Der Mann ließ sich willenlos führen.

»Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?«, fragte Kramer.

»Wohn – wohn um die – Ecke«, brachte der Hausmeister mühsam hervor.

»Gehen Sie«, sagte Kramer. »Gehen Sie nach Hause.«

Der Hausmeister gehorchte. Man konnte ihn noch eine Weile schniefen hören. Pasulke und Kramer blieben allein zurück. Sie standen neben dem Toten wie bestellt und nicht abgeholt.

»Meisterleistung«, sagte Pasulke. »Eins A Verhör.«

»Hör schon auf.« Mehr fiel Kramer nicht ein.

Im Grunde hatte Pasulke ja Recht.

 

Die Spurensicherung kam und tanzte ihr Spurensicherungsballett. Kramer wollte gerade mit Pasulke verschwinden, als Akkermann auftauchte. Akkermann vom K5. Eigentlich war das K5 seinerzeit gegründet worden, um Fälle wie diesen hier aufzuklären, Fälle schwerer Gewaltkriminalität, wie es sie in der DDR gar nicht geben sollte. Mit der Zeit war das K5 aber immer politischer geworden und hatte sich schließlich in den verlängerten Arm der Stasi bei der Kriminalpolizei verwandelt. In Erinnerung an ihre ursprüngliche Aufgabe versuchten die Beamten des K5, sich immer bei Fällen schwerer Gewaltkriminalität einzumischen, und schnüffelten nach Begleitumständen von »gesellschaftlicher Relevanz« oder nach einem »politischen Hintergrund«, die es ihnen erlaubten, den Fall an sich zu ziehen; Kramer hatte schon öfter erleben müssen, wie ihnen das auch gelungen war. Seit sich das politische Klima verändert hatte, mussten sie um das Existenzrecht ihres Vereins bangen, und das machte sie oft noch ungenießbarer.

Das alles war an sich schon unangenehm, aber Kramer hasste Akkermann auch aus persönlichen Gründen. Sie waren im Laufe der Jahre einige Male aneinander geraten, und Kramer hatte Akkermann als durchtriebenen, intriganten und intelligenten Gegner fürchten gelernt. Wenn er mit sich selbst ehrlich war, dann hing seine Abneigung auch damit zusammen, dass Akkermann ein sehr gut aussehender Mann war und Männlichkeit abstrahlte wie ein Ölradiator warme Luft. Kramer zog es meistens vor, in dieser Frage nicht ehrlich mit sich selbst zu sein, andernfalls konnte es geschehen, dass ihm die Erinnerung hochkam, wie Akkermann einmal sogar mit Anette geflirtet hatte, während einer Feier zum 1. Juli auf dem Polizeipräsidium. Anette war offensichtlich nicht völlig abgeneigt gewesen.

Kramer hatte geglaubt, mit dem weinenden Hausmeister den absoluten Tiefpunkt des Tages überwunden zu haben, aber das Auftauchen Akkermanns setzte in dieser Hinsicht neue Maßstäbe. Akkermann trug Uniform, wie üblich. Wie Kramer war er Oberleutnant, sah aber aus wie ein NVA-Generalmajor auf Empfang beim Staatsratsvorsitzenden. Wie üblich. Er trat forsch an die Leiche heran (die Leute von der Spurensicherung machten ihm wie selbstverständlich Platz), betrachtete sie kurz und sagte: »Ach du Scheiße.« Dann drehte er sich zu Kramer um und grinste ihn an, als habe er einen besonders intelligenten Witz gemacht. Nein, dachte Kramer, ich muss mich nicht daran erinnern, wie er Anette angemacht hat, um ihn zu hassen. Er ist einfach ein Arschloch.

»Wollen Sie denn hier?«, fragte er so unfreundlich wie möglich.

Akkermanns Grinsen fiel in sich zusammen. »Ermitteln, was denn sonst«, antwortete er im selben Tonfall.

»Na, dann ermitteln Sie mal schön«, gab Kramer zurück und nickte Pasulke zu. Sie gingen.

Auf der Fahrt in die Warschauer Straße herrschte dicke Luft zwischen Pasulke und Kramer. Kramer merkte, dass Pasulke sauer war, und fast war er froh, als Pasulke mit dem Grund dafür herausrückte.

»Musst du Akkermann immer so anrempeln? Er ist ein Arschloch, weiß doch jeder. Aber er ist ein mächtiges Arschloch.«

Kramer war eigentlich nicht in Stimmung zum Streiten. Aber Unsinn wollte er sich auch nicht unwidersprochen anhören.

»Willst du noch was werden, wenn Akkermann Inspektionsleiter wird?«

Pasulke riss den Wagen unsanft in eine Kurve. Er fuhr überhaupt schneller, als die Polizei erlaubte.

»Darum geht's nich. Wenn du ihm weiter dumm kommst, petzt er es dem Alten oder gleich seinen Stasi-Freunden, und dann haben wir den Salat. Du behinderst unsere Arbeit!«

»Der petzt sowieso. Ampel war rot!«

»Höchs-tenfalls o-range, mein Lieber«, sagte Pasulke in seinem hochgestochenen Tonfall und zeigte dadurch an, dass er grundsätzlich zur Versöhnung bereit war.

»Und außerdem«, sagte Kramer, »kann er mich bei diesem Fall behindern wie er will. Der stinkt. Das spüre ich. Ich will den gar nicht. Woher wusste Akkermann überhaupt mal wieder so schnell Bescheid?«

»Ein Vöglein hat es ihm geflüstert, er konnt's nit überhören.«

Seit kurzem galt als sicher, dass die Stasi alle Festnetz-, Mobiltelefon- und Funkverbindungen sämtlicher Volkspolizeiabteilungen abhörte. Kramer hatte sich immer noch nicht an den Gedanken gewöhnt, während Pasulke behauptete, er habe es schon immer gewusst.

Pasulke bog in die Warschauer Straße ein und bremste ruckartig ab, als er einen Parkplatz entdeckte. Sie wischten an dem Pförtner vorbei, der kaum aufsah. Das Treppenhaus stank nach den Fünfzigern, wie immer. Erster Stock links, drittes Büro rechts. Kramer stieß die Tür auf. Schumacher saß an seinem Terminal, Natschinsky stand hinter ihm. Schuhmacher drehte sich um. Er sagte: »Operation Neescherfett.« So war das in der Volkspolizeiinspektion Friedrichshain, Warschauer Str. 7, Abteilung Kriminalpolizei, Büro 1/14, MUK (Morduntersuchungskommission), am Morgen des 3. April 2000.

 

Kramer glaubte nicht, dass Schuhmacher ein echter Rassist war. Er wusste selbst nicht mehr so genau, wie das angefangen hatte mit diesem blöden Spruch, aber irgendwann vor vier, fünf Jahren war Schuhmacher darauf verfallen, jedes Mal, wenn er sich aufregte, wenn er überrascht war, wenn ihm die Worte fehlten, »Operation Neescherfett!« auszurufen. »Neescherfett«, so nannten manche in der DDR Zuckerrübensirup. Kramer verstand nicht, was Schuhmacher mit dem Spruch eigentlich ausdrücken wollte. Wahrscheinlich wollte er nur originell wirken. Kramer hatte das Ganze anfangs als eine dumme Marotte gesehen und ihn erfolglos zur Rede gestellt, schließlich hatte er resigniert. Rein technisch gesehen hätte er als Kopf der Morduntersuchungskommission Schuhmacher befehlen können, mit dem Quatsch aufzuhören, aber erstens war er auf seine Gruppe angewiesen und zweitens war Kramer nicht so.

Schuhmacher hatte den Spruch beim Eintreten Kramers und Pasulkes mit ungewohnter Zurückhaltung ausgestoßen. Als Kramer näher kam, sah er, warum. Auf dem Bildschirm von Schuhmachers nagelneuer Robotron R610-Station waren die Bilder der Spurensicherung zu sehen, live und in Farbe. Gerade filmte dort einer mit großer Hingabe die Füße der Leiche. Erstaunt bemerkte Kramer, dass die Leiche von Michael Abusch keine Schuhe trug. Warum war ihm das nicht vorhin schon aufgefallen? Aber konnte er sich nicht sogar an die Schuhe erinnern? Jemand von der Spurensicherung musste sie entfernt haben, obwohl das gegen die Vorschriften verstieß. Die neue Echtzeitausrüstung funktionierte jedenfalls hervorragend. Wenn Schuhmacher gewollt hätte, hätte er auch einen Tonkanal zuschalten können. Offensichtlich hatte er darauf verzichtet, um sich nicht auch noch die Kommentare der Kriminaltechniker live anhören zu müssen. Es wurde ohnehin alles auf Datenträger aufgezeichnet, zur gefälligen späteren Verwendung. Ja, die neue Echtzeitausrüstung funktionierte so gut, dass die Live-Übertragung von Michael Abuschs zermatschtem Kopf Schuhmacher wohl ein wenig die Laune verdorben hatte, so dass die »Operation Neescherfett« heute Morgen weniger fett ausfiel als sonst. Und Natschinsky, der stille Natschinsky, eine halb leere Kaffeetasse in der Hand, war noch ein bisschen stiller als sonst.

Die Kamera bewegte sich langsam an der Leiche entlang. In die Stille hinein sagte Schumacher plötzlich: »Dolle Sache.« Er sagte es nicht mit viel Überzeugung, sondern offensichtlich in der Hoffnung, ein Gespräch über die technischen Details seines neuen Spielzeugs anstoßen zu können. Aber niemand ging darauf ein. Es war eine dolle Sache, zweifellos. An den Fenstern mochten noch Rollos von Plaste & Elaste Schkopau aus den Siebzigern hängen, und die Büros waren zuletzt in prähistorischen Zeiten frisch gestrichen worden. Aber die Rechnerausstattung der Kommission machte gewaltige Fortschritte, genau wie die ganze neue DDR auf diesem Gebiet. Kramer konnte ja froh sein. Bei der Schupo, der Trapo und anderen Abteilungen murksten sie noch mit 8- und 16-bit-Schrott aus Alt-DDR-Beständen herum, demgegenüber befanden er und seine Leute sich auf einem anderen Planeten, computertechnisch gesehen. Die rechte Freude darüber wollte sich bei ihm allerdings gerade nicht einstellen.

»Die Daten zu dem Jungen?«, fragte er.

»DWE«, gab Schumacher zurück.

»Ich bin in meinem Büro.«

Sein Büro kam Kramer an diesem Morgen besonders unattraktiv vor. Die alten Möbel, der bescheuerte rote Kunstledersessel und natürlich der brandneue Rechner auf dem Schreibtisch, der zu dem Rest passte wie die Faust aufs Auge, sie deprimierten ihn heute Morgen besonders nachdrücklich. Er hängte Jacke und Hut an den Garderobenhaken und setzte sich. Auf dem Abreißkalender an der Wand stand zu lesen: »Deutsche Volkspolizei – Wir sichern die sozialistischen Errungenschaften«. Darüber hing ein Porträt des Staatsratsvorsitzenden Modrow. Kramer schloss die Augen.

 

Während er die Augen geschlossen hielt, passierte etwas, das er gut kannte. Die Bilder des Morgens flimmerten über seine Netzhaut wie Phosphene: Michaels Kopf, das FDJ-Plakat, der Hausmeister, alles in wildem Durcheinander. Kramer wollte sich entspannen, er wollte wenigstens für ein paar Minuten den ganzen Mist aus seinem Leben verdrängen, aber es gelang ihm nicht. Im Normalfall war das ein untrügliches Anzeichen dafür, dass er neugierig geworden war. Ein paar Details an einem neuen Fall reizten seine Phantasie und verwandelten sich aus bloßen Tatsachen in etwas anderes: in den Rohstoff für ein Rätsel, das er lösen wollte. Gleichgültig, was es war – Bilder, das Wort eines Zeugen, ein Geruch am Tatort –, es wurde durch diesen Prozess der Verwandlung plötzlich wichtig für Kramer, sein Interesse war geweckt, er wollte sich ein Bild machen. DWE, hatte Schumacher gesagt. »DORA weiß es.« Kramer öffnete die Augen. Er wollte wissen, wer Michael Abusch war. Gewesen war, um genauer zu sein.

Die blaue DORA-II-Eingabemaske verschwand sofort, als Kramer den Namen eingegeben hatte. DORA II: »Dialogorientiertes Recherche- und Auskunftssystem über Personen und Sachen« Version zwei, die Weiterentwicklung des DORA-Systems aus der alten DDR, das Datenrückgrat der Deutschen Volkspolizei. DORA kannte mehrere Michael Abuschs in Berlin, aber Kramer wählte den aus, den Schumacher mit einem kleinen roten Fähnchen als das Opfer von heute Morgen gekennzeichnet hatte. Kramer staunte immer noch über die Funktionalität des Systems: Die Informationsdichte war beeindruckend. Lebenslauf, biometrische Daten, Porträtaufnahmen, polizeiliches Führungszeugnis, Fingerabdrücke, Stammbaum, AV (Aktuelle Vorgänge). Alles schön übersichtlich in benutzerfreundlich über den Bildschirm verteilten Fenstern.

Kramer war ein wenig scheu, aber er klickte dann doch zuerst die Porträts an. Es gab verschiedene, von einfachen Schwarzweißaufnahmen aus dem ersten Kinderausweis bis zu einem aktuellen 3D-Porträt des Sechzehnjährigen, und das interessierte ihn selbstverständlich am meisten. Das Gesicht sagte ihm nichts. Ein normales Jungengesicht, blonde Haare, ein wenig verstrubbelt, helle Augen, Pickel hier und da. Kramer klickte auf »rotieren« und Michaels Kopf drehte sich auf Kramers Bildschirm, wie er sich in der 3D-Kamera gedreht hatte, als er vom Erkennungsdienst zum Nutzen und Frommen der Staatsorgane abgelichtet worden war. In einem kleinen Subfenster war der Anlass für die erkennungsdienstliche Behandlung vermerkt: »Aufgriff Jugendclub Taube 22.2.2000, Hausfriedensbruch, Abschluss Vorgang GG AZ/1470308 C«. Das bedeutete, dass Michael vor anderthalb Monaten von einem Gesellschaftlichen Gericht wegen Hausfriedensbruchs verurteilt worden war. Kramer hätte das Strafmaß auch erfahren können, denn das Aktenzeichen war mit den Gerichtsakten des betreffenden GG vernetzt, aber das interessierte ihn nicht. Die Verurteilung hatte Michael nicht davon abgehalten, weiter über die Öffnungszeiten hinaus in dem Jugendclub herumzulungern, das stand fest.

Stammbaum, Ebene 2, Eltern, Stiefeltern, Erziehungsberechtigte. Leibliche Eltern: Bernhard und Katharina Abusch, er Physiker, sie Pianistin. In der alten DDR waren beide erste Sahne gewesen, bis Bernhard kurz vor der Wende »RF« verübt hatte. Republikflucht. Über Katharina war zu erfahren, dass ihre Karriere darunter gelitten hatte, aber nicht wirklich gefährdet worden war. Bereits kurz nach der Wende hatte sie wieder Konzerte gegeben, und das waren keine Auftritte in der Provinz gewesen: Gewandhaus Leipzig, Festspiele in Salzburg, Kurzauftritt bei den zentralen Feierlichkeiten zur Wiedervereinigung in Berlin (erster Jahrestag) am 3. Oktober 1991. Kramer runzelte die Stirn. Katharina Abusch mochte sehr talentiert sein. Offensichtlich hatte sie aber auch gute Freunde in der oberen Kulturbürokratie. Sicher, Republikflucht war heute nicht einmal mehr ein Straftatbestand (vor allem deswegen, weil sie nicht mehr vorkam), aber Kramer wusste, dass es überall im Staat eine Menge Traditionalisten gab, die ausgesprochen nachtragend sein konnten. Frau Abusch konnten sie anscheinend nichts anhaben. DORA II lieferte ihm auch Filmaufnahmen von einem ihrer Auftritte. Kramer fielen ihre kraftvollen Hände auf. Sie spielte Rachmaninoff. Der Klang war ausgezeichnet. Irgendjemand würde ihr erklären müssen, dass ihr einziges Kind tot war. Er würde Pasulke schicken. Zu Bernhard Abusch war noch seine Doktorarbeit im Volltext verfügbar, aber den aktuellen Aufenthalt des Physikers kannte DORA nicht.

AV: Die Spurensicherung war immer noch nicht fertig. Im Augenblick forschten sie an den Spielkonsolen und Flippern nach Fingerabdrücken. Kramer klickte das Fenster weg und öffnete Michaels Lebenslauf. Der war Durchschnitt: Kindergarten, POS, EOS, Jungpioniere, FDJ, alles wie üblich. Ein Eintrag über Michaels Mitarbeit in der örtlichen Station Junger Techniker. Als letzten Eintrag in seinem Lebenslauf hatte Schumacher seinen Todestag vermerkt: heute. Das irritierte Kramer, der manchmal ein Haarspalter sein konnte, denn es war nicht sicher, dass Michael auch wirklich heute gestorben war. Andererseits gab es strenge Richtlinien im Umgang mit DORA, die dazu aufforderten, den Tod eines Erfassten sofort einzutragen. Peinlicherweise war es schon zu Blitzdurchsuchungen bei längst Verstorbenen gekommen, und so was schadete dem Ansehen der Polizei.

Kramer lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er sehnte sich nach einem Kaffee, aber die Kaffeemaschine stand im Gruppenbüro, und er wollte jetzt niemanden sehen.

Da klopfte es an der Tür. Kramer rief missmutig: »Reinkommen!«

Es war Lobedanz höchstpersönlich.

 

Der Major der Kriminalpolizei Achim Lobedanz machte so was normalerweise nicht. Er ging seine Untergebenen normalerweise nicht in deren Büros besuchen, sondern rief sie zu sich. Deshalb war Kramer auch tunlichst alarmiert, als sein Vorgesetzter völlig ohne Anmeldung in seinem Büro stand. Er setzte sich auf und sagte: »Achim.«

»Rüdiger«, gab Lobedanz ernst zurück. Mit seiner Glatze und dem grauen Schnurrbart sah er jetzt ein bisschen wie ein trauriger und besorgter Seehund aus. Seine Krawatte saß nicht richtig.

»Was gibt's?«

»Die Normannenstraße ruft.«

»Die Normannenstraße? Wollen die denn?«

Ein weitläufiger Gebäudekomplex in der Normannenstraße war der Hauptsitz des MfS. Stasi.

»Weiß ich nicht. Auf ungeklärte Weise scheinen sie von dem Abusch-Fall Kenntnis erhalten zu haben. Und jetzt möchten sie sich gern mit dir darüber unterhalten.«

Kramer sah das schöne Gesicht Akkermanns vor sich. Ich bringe ihn um, dachte er.

»Unterhalten? Gut. Ich fahr heut Mittag mal rüber.«

»Nee, die haben's richtig eilig. Der Wagen steht unten.«

Kramer wurde komisch zumute. »Der Wagen steht unten? Ich hab noch nix gegessen heute!«

Das war nun wirklich ein sonderbarer, aus der Not geborener und dadurch reichlich infantil wirkender Einwand. Fand Kramer selbst, nachdem er ihn ausgesprochen hatte.

»Vielleicht haben die Normannen ja Stullen. Möglicherweise sogar Kaffeemaschinen. Sei nett zu ihnen. Ich will keinen Ärger.«

Sollte heißen: Wenn sie den Fall wollen, gib ihn ab. Danke sehr, Genosse Major.

»Na dann«, sagte Kramer.

»Na dann«, sagte Lobedanz, drehte sich um und ging hinaus.

Kramer packte seine Jacke und ließ die Bürotür hinter sich ins Schloss fallen. Seine drei Untergebenen wirkten leicht verstört. Gerade eben hatten sie noch Lobedanz hinterhergesehen wie einer Erscheinung, die sich wieder verflüchtigt hatte.

»Kleiner Zwischenfall am Rande. Hab einen Stasi-Termin, von dem ich bis vorhin noch nichts wusste.«

Pasulke gab sich Mühe wie jemand auszusehen, der es ja gleich geahnt hatte. »Stasi?«, fragte er. »Wollen die denn?«

»Frag mich nachher.«

Pasulke setzte eine dramatische Miene auf und intonierte mit Grabesstimme: »Wenn du in zwei Stunden noch nicht zurück bist, compañero, holen wir dich raus.«

»Sehr witzig. Ich muss los. Du sagst der Mutter Bescheid.«

»Welcher Mutter?«

»Frag nicht so blöd. Michael Abuschs Mutter.«

»Ich? Was?«, protestierte Pasulke, aber bevor er die Gründe aufzählen konnte, warum gerade er für diesen Job völlig ungeeignet war, stand Kramer schon auf dem Flur.

 

Auf der Straße erlebte er eine böse Überraschung. Seine Gesprächspartner bei der Stasi hatten ihm einen grauen Gefangenenbarkas und einen Fahrer vom Wachregiment des MfS geschickt. Das fand er überhaupt nicht lustig. Das Wachregiment des MfS hieß in der neuen DDR zwar nicht mehr »Wachregiment Felix E. Dzierzynski«, und es war auch im Bestand um die Hälfte gekürzt worden. Aber es war eigentlich immer noch derselbe Laden: die Privatarmee, der militärische Arm des immer noch mächtigen Geheimdienstes. Vor der Wende hatte es aus 4500 Elitesoldaten bestanden, jetzt waren davon nur noch 2200 übrig. Einer davon stand auf der anderen Straßenseite und wartete auf ihn. Kramer lief über die Straße und dachte über den dummen Scherz von Pasulke nach. Hopsnehmen, dachte er. Wollen die mich hopsnehmen? Der sympathisch aussehende Wachsoldat lächelte ihn an und sagte: »Machen Sie sich nichts draus. In der Eile war nichts anderes frei. Bitte.« Er zeigte auf die Beifahrertür, und Kramer stieg ein. Der Mann klang eigentlich nicht nach Berlin und erst recht nicht nach Dresden. Eher nach Düsseldorf. Es war bekannt, dass die meisten ehemaligen SEK/MEK-Mitglieder aus der alten BRD im Wachregiment untergekommen waren. Sein Begleiter mochte mit Anfang zwanzig Terrorbekämpfung in Nordrhein-Westfalen geübt haben.

Natürlich fühlte sich Kramer auf dem Sitz in der engen Fahrerkabine des Barkas unwohl. Er wusste genau, wie es hintendrin aussah: sechs unglaublich enge Zellen für »Zugeführte« und eine Metallbank für einen oder zwei Bewacher. Als junger Polizist war Kramer selbst manchmal einer dieser Bewacher gewesen. Er erinnerte sich ungern daran. Die Polizei fuhr mittlerweile nur noch die Gefangenentransporter der VEB Volkswagen Wolfsburg, aber beim MfS konnte man sich offenbar nicht zu Veränderungen durchringen.

Der Fahrer ließ den Wagen an. »Ich muss Sie bitten, sich anzuschnallen«, sagte er.

»Was?«, antwortete Kramer. »Ach so.« Und er schnallte sich an.

In der Eile war nichts anderes frei. Ihr Schweine, dachte Kramer. Dieses Gefährt war nichts anderes als eine Drohung. Aber so waren sie eben, die Genossen vom MfS. Wieso menschenfreundlich, wenn's auch anders ging? Ab durch die Mitte.