Endspiel

Die Welt wurde umgestülpt.

Eben hatte er noch dagesessen und den Hirsch über den Bildschirm gejagt, jetzt lösten sich die Wände des Büros auf, so dass er frei nach draußen blicken konnte. Säulen wuchsen um ihn auf, Säulen wie in einem griechischen Tempel. Der Tisch und der Rechner knisterten wie Holzscheite in einem Feuer. Kramer zog schnell seine Hände zurück, aus Angst sich zu verbrennen. Aber der Monitor, die Tastatur, die Tischplatte gingen nicht in Flammen auf, sondern sie verloren Substanz, als würde sie aus ihnen herausgesaugt. Je stärker es knisterte, desto grauer und dünner wurden die Gerätschaften, und schließlich brach der ganze Aufbau vor seinen Augen zusammen. Feiner Staub hüllte seine Beine ein.

Auf dem Boden lag ein knöcheltiefer Haufen grobkörniger Staub: Das war alles, was von seiner Büroeinrichtung übrig geblieben war. Vögel sprangen herbei und pickten in dem Haufen nach Essbarem. Seltsame Vögel waren das. Lebendig tschilpend und zwitschernd sprangen sie in dem Staub umher, aber ihr Gefieder hatte eine Färbung, die den Augen wehtat – ihre Federn waren stumpfgrau und schimmerten gleichzeitig metallisch grün. Intensiv gelbe Augen hatten diese Vögel, mit stecknadelkopfgroßen schwarzen Pupillen. Kramer sah alles ganz klar. »Todesvögel«, dachte er zusammenhanglos, »Todesvögel.« Einer sprang auf seinen linken Schuh zu und pickte daran herum, als wolle er das Leder fressen.

Kramer stand auf. Der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, knisterte und zerfiel zu Staub.

Noch mehr Vögel flogen herbei. Kramer ließ erst jetzt die Arme sinken. Er sah sich um. Es konnte nur ein Traum, eine Halluzination oder eine Psychose sein. Aber seine Umgebung fühlte sich so furchtbar real an; realer als alles, was er zeitlebens mit seinen sechs Sinnen wahrgenommen hatte.

Allem Anschein nach befand er sich in einer antiken griechischen Tempelruine. Die Säulen waren mächtig und hoch und sie trugen kein Dach. Der Himmel war tiefblau, nur ganz weit oben standen ein paar kleine Schäfchenwolken. Ein leichter Wind fing sich in Kramers Haaren. Thymian und Rosmarin lagen in der Luft, ein herrlicher Tag. Das Meer konnte nicht weit entfernt sein. Man hörte es rauschen, wenn auch schwach. Und da, eine Möwe; die schwarzen Spitzen ihrer Flügel wie winzige Kommata zu einem fehlenden Satz.

Kramer fühlte sich wohl. Er fühlte sich entsetzlich. Es machte keinen Unterschied. War er gestorben? Oder starb er gerade? Es gab so Geschichten, dass Sterbende seltsame Dinge erlebten. Manche, die dann doch gerettet wurden, erzählten von Erscheinungen, Engeln und anderen mystischen Begebenheiten.

Das hier war nicht mystisch. Das hier war die Realität. Einer der Vögel landete auf seiner Schulter und begann die feinen Härchen aus der Haut seines Nackens zu zupfen. Kramer verscheuchte ihn. Mit einem lauten, ärgerlichen »Tschilp« flatterte der Störenfried davon. Als habe man ihm etwas genommen, was ihm rechtmäßig gehörte.

»Herr Kramer?«, sagte jemand hinter ihm.

Er drehte sich um und fühlte sich ganz ruhig dabei.

Als er den Mann erkannte, der ihn angesprochen hatte, wurde ihm noch um einiges leichter zumute, denn er wusste nun mit absoluter Sicherheit, dass er nicht starb, sondern träumte. Der Mann in dem altmodischen Bratenrock, mit dem Monokel vor der Brust und dem wuchernden grauen Bart konnte nur Karl Marx sein. Der Philosoph war viel kleiner, als Kramer gedacht hätte. Er sah nicht im Entferntesten so wuchtig und gemeißelt aus wie manche seiner Denkmäler. Er wirkte zerbrechlich. Wie ein alter Mann, der sich die Knochen dünn gedacht hat.

Seine Stimme aber war fest. »Wir kennen uns«, sagte Marx in einem leichten Trierer Singsang, der Kramer ganz entfernt an die Kölschen Töne erinnerte, die ihm noch von seinem Ausflug zur VEB Spielgeräte im Ohr waren. Er streckte die Hand aus, und Marx nahm sie, lächelnd.

Pasulke sollte jetzt hier sein, dachte Kramer. Ich schüttle Karl Marx die Hand! Die Haut fühlte sich angenehm an, trocken und kühl, wie die Haut alter Menschen eben.

»Kommen Sie«, sagte Marx. Laut tschilpten die Vögel.

 

Kramer folgte dem Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus durch den tief gestaffelten Säulenwald bis vor eine ungeheure Mauer, in der eine ebenso ungeheure Öffnung ausgespart war; eine Tür für Riesen, aber selbst Riesen hätten die Schwelle dieser Tür nicht ohne weiteres überschreiten können. Kramer schätzte die Höhe der Schwelle auf zwei, die der ganzen Tür auf zehn Meter, und den reich verzierten Türsturz dort oben überragte die Mauer noch einmal um ein gutes Stück. Das Gestein war glatt. Man konnte kaum die Fugen zwischen den exakt gemeißelten Quadern sehen.

Marx prüfte seine Taschenuhr.

»Ah ja, Zeit genug«, sagte er. »Genosse Kramer, Sie fragen sich vielleicht, was diese Mauer hier soll? Und die Tür darin? Das ist leicht beantwortet: Durch diese Tür wurden in der Antike die Sprüche des Tempelorakels verkündet. Sie ist übrigens vierzehn Meter hoch. Die gigantische Mauer, vor der wir hier stehen, umschließt das Adyton, das Allerheiligste des Tempels. Dort müssen wir hin.«

Er setzte sich wieder in Bewegung. Einige Meter rechts von der Riesentür war eine weitere, viel kleinere in das Gestein eingelassen, und Marx verschwand darin. Kramer musste seinen Kopf beugen. Krumm getretene Stufen führten hinab in einen dunklen Tunnel, der glücklicherweise nicht allzu lang war. Der Tunnel mündete in einen spärlich beleuchteten unterirdischen Raum, der auf Kramer wie eine Grabkammer wirkte; er roch muffig, nach Kirche. Selbst die Sonne Griechenlands hatte ihn in Hunderten von Jahren nicht austrocknen können.

»Wir sind gleich da«, sagte Marx. Seine Augen und sein Mund wirkten in dem Zwielicht wie kleine Höhlen.

Die Treppe hinauf ins Licht. Geblendet standen sie auf dem Hof, umgeben von fast weißen Steinmauern. Jetzt erst begann Kramer das ungeheure Ausmaß dieser Tempelanlage zu ahnen. Denn dieser Innenhof, oder das »Adyton«, wie Marx ihn genannt hatte, war ungefähr vierzig Meter lang und zwanzig Meter breit, und er beherbergte an seinem fernen Ende noch einmal ein kleines separates Tempelchen, das im Vergleich zu den Gigantenmauern wie ein Spielzeug wirkte.

»Dies«, sagte Marx und zeigte auf den Tempel, »ist der Naiskos. Gewissermaßen das Allerheiligste im Allerheiligsten. Religionen sind wie Babuschkapuppen. Es gibt immer noch etwas Heiligeres, wenn man schon glaubt, das Innerste erreicht zu haben. Faszinierend, nicht wahr?« Der Philosoph lachte. Es klang ein wenig asthmatisch.

Das Spielzeugheiligtum war gar nicht so klein. Links neben ihm stand ein stattlicher Lorbeerbaum, und das Dach des Naiskos überragte ihn. Sieben Meter, schätzte Kramer. Vielleicht acht. Um den Tempel herum waren einige Altäre verstreut, auf denen Amphoren in eisernen Dreifüßen standen, niedere Tongefäße und offene Bronzeschalen, in denen offenbar verdorbene Speisen aufbewahrt wurden. Die Luft roch nach Verwesung und nach sauer gewordenem Wein. Auch einige der Todesvögel stritten sich um Fetzen von ranzigem Fleisch und verfaultem Getreide. »Weihegaben«, sagte Marx.

Eine unerklärliche Angst stieg in Kramer auf. Dieser Traum war anders, befremdlich anders, und er begann sich nach dem Aufwachen zu sehnen. Sie traten ein.

 

Im Innenraum des Naiskos trafen sie nicht auf Friedrich Engels, wie Kramer insgeheim gehofft hatte. An der Querwand stand eine bronzene Götterstatue, vielleicht vier Meter hoch. Davor thronte ein Mann, der eine Toga am Leib hatte und einen goldenen Lorbeerkranz trug. Sein Gesicht strahlte Ruhe, Würde und Macht aus, Kramer musste an Cäsar denken. Und, zu seinem beinah komischen Entsetzen, an Doernberger, den Altstalinisten mit dem unerschütterlichen Glauben an den Genossen Honecker. Links neben ihm stand Anette. Oder war sie es wirklich? Die Traum-Anette war größer und schöner als die reale. Sie war in einen blendend weißen Umhang gehüllt, der in dem gedämpften Licht des Tempel-Innenraums zu phosphoreszieren schien. Ihren Zügen war eine atemberaubende Arroganz eingeschrieben. Sie trug einen antiken Helm, der ihr erstaunlich gut stand. Ihre linke Hand ruhte auf der Schulter des sitzenden Mannes. Kramer hätte sie angesprochen, aber ihr Blick war von einer derartigen Kälte, dass er es nicht wagte.

Die dritte Figur erschreckte ihn am meisten. Sie trug das Gesicht des Weißen aus der Oderberger Straße. Große Engelsschwingen überragten seine Schultern und auch den Kopf und fielen in einem eleganten Bogen zu den Füßen der Gestalt hin ab. Der Weiße trug beidhändig ein langes, goldenes Schwert. Die Klinge lehnte an seiner Schulter, und er schien sich am Hals geschnitten zu haben, denn ein dünnes Rinnsal Blut sickerte durch sein weißes Brustgefieder. Kramer konnte das Schwert nicht ansehen. Es verursachte ihm Übelkeit. Er wusste: Das ist der Erzengel Gabriel.

Ihn fröstelte. Er wollte gehen, aber er glaubte nicht, dass es ihm erlaubt war. Anette, dachte er und sah sich gleichzeitig hilfesuchend zu seinem Fremdenführer um. Aber Marx saß auf einer niedrigen Steinbank am Eingang des Tempelchens und blätterte in einem Buch. Er sah kurz auf: Sein Blick wirkte weitgehend unbeteiligt.

»Was sollen wir nur mit dir machen?« Der Mann auf dem Thron hatte gesprochen. Auch seine Stimme war cäsarenhaft. »Du hast uns den Sieg gekostet.« Er beugte sich vor, wie um Kramer besser sehen zu können. »Wenn du wenigstens deinen Vorgesetzten erschossen hättest. Major …«

»Lobedanz«, ergänzte Anette. Ihre Stimme klang wie im echten Leben, nur verstärkt. Als sprächen mehrere Anettes gleichzeitig.

»Du warst knapp davor. Aber dann hast du dich dagegen entschieden. Zu brav. Geradezu … gehemmt. Das hat uns zurückgeworfen.«

Er raffte seine Toga über den Knien zusammen, um ihren Saum vom Boden fern zu halten.

»Aber ich bin unhöflich. Wir haben uns noch nicht vorgestellt. Reisende sollte man in Griechenland immer mit Hochachtung behandeln. In jedem von ihnen könnte ein Gott verborgen sein.« Er lachte trocken. »Wir«, sagte er und zeigte erst auf sich, dann auf Anette, »sind Götter. Ich bin Zeus. Das hier ist Athene. Meine Tochter.« Er streichelte mit dem Handrücken ihren Bauch, und sie schloss vor Behagen die Augen. »Gabriel ist ein Gast. Ein wichtiger Gast.«

Der Engel stand reglos da. Das Blut aus der Wunde am Hals hatte mittlerweile seine Beine erreicht. Kramer erinnerte sich daran, wo er den Tonfall schon einmal gehört hatte, den Zeus anschlug: Der Weiße hatte so ähnlich geklungen, als er ihm die buddhistische Rede gehalten hatte, auf den Backsteinstufen des illegalen Hinterhoftheaters. Worum war es damals gegangen. Um das Prachtnetz?

»Hast du mich gehört?«, sagte Zeus mit erhobener Stimme.

Kramer schreckte hoch. Der Göttervater sprach mit ihm, und er war unaufmerksam.

»Ich habe dir erklärt, wer wir sind. Aber wer bist du?«

Kramer glaubte zu schwitzen. Aber als er sich an die Stirn fasste, war sie trocken und kühl. »Ich bin Rüdiger Kramer. Ehemals Oberleutnant der Deutschen Volkspolizei.«

Das klang in dieser Umgebung nun wirklich extrem lächerlich. Aber niemand lachte. Die beiden Götter und der Engel starrten ihn an. Kramer spürte ein Stechen in seiner Hüfte. Als er an sich hinabsah, hatte sich sein linkes Bein von ihm gelöst und entfernte sich in kleinen, ruckartigen Bewegungen. Er konnte den sauberen Schnitt durch den Oberschenkel sehen: Muskeln, Blutgefäße und den weißen, glatt durchtrennten Knochen. Das Bein strebte von ihm weg, als fliehe es vor ihm. Aber seine Bewegungen waren unsicher. Einen halben Meter von Kramer entfernt fiel es um. Er hingegen hatte keine Gleichgewichtsprobleme. Er tastete nach seinem linken Bein: Kein Zweifel, es fehlte. Aber er stand ganz fest.

Kramer übergab sich. Aus seinem Mund kamen keine Speisereste, sondern lange rote Würmer, die in dicken Knäueln zu Boden fielen. Als er das sah, musste er sich noch heftiger übergeben, und das Ergebnis waren noch mehr Würmer. Die Wurmbrut ringelte und wand sich auf dem Boden wie ein Nest neugeborener Schlangen. Als einige der Würmer das abgetrennte Bein Kramers wahrnahmen, krochen sie darauf zu und machten sich darüber her. Schnell folgten ihnen die andern nach, und bald war das Bein übersät und durchzogen von Würmern, die sich daran fett fraßen. Es waren so viele, dass sich das Bein über den Boden zu bewegen, ja sich gegen die Wurminvasion zu wehren schien. Kramer, der nicht mehr erbrechen konnte, sagte keuchend: »Nein … nein.«

»Sieh mich an«, sagte Zeus, und Kramer musste gehorchen. »Komm her.«

Kramer konnte gehen. Er wusste nicht wie, aber er trat drei Schritte auf den Gott zu.

»Noch näher.«

Ein weiterer Schritt. Das Gesicht des Göttervaters leuchtete. Seine Augen waren von einem mineralischen Blau, wie Kramer es noch nie gesehen hatte.

»Richtig. Rüdiger Kramer. Wir hatten große Hoffnungen in dich gesetzt. Aber du hast versagt.«

»Er ist müde«, sagte jemand. Marx war unbemerkt neben ihn getreten. Er hielt sein aufgeschlagenes Buch immer noch in der Hand. »Er muss schlafen«, sagte der Philosoph.

»Das stimmt«, sagte Athene.

Zeus sah aus, als sei er noch nicht fertig, aber schließlich lehnte er sich in seinem Thron zurück und atmete aus. »Gut. Sei's drum.«

Kramer hätte beinahe widersprochen. Es stimmte, dass er müde war, ganz abgesehen davon, dass er unter Schock stand, weil ihm gerade ein Bein abhanden gekommen war. Aber er wollte ein paar Fragen stellen. »Ich …«, fing er an, aber Marx packte ihn am Arm.

»Nein«, sagte er. »Du musst dich ausruhen. Du ahnst die Wahrheit schon. Davon kann man müde werden. Komm mit mir.«

Marx führte ihn aus dem Naiskos hinaus. Kramer hörte Athene lachen. Wenn er an sich hinabsah, fehlte ihm ein Bein. Aber er konnte laufen, als sei das kein Problem.

Das Bett, eigentlich eher eine Liege, stand im Schatten der gigantischen Mauer, die das Adyton umgrenzte. Mit den dünnen, schmiedeeisernen Streben und der flachen Matratze sah es archaisch und elegant aus. Es schien ein wenig kurz zu sein, aber Kramer erinnerte sich daran, dass die Menschen in der Antike kleiner gewesen waren.

Er schaute in den blauen Himmel. Die Möwe stand immer noch dort oben, die schwarzen Spitzen ihrer Flügel wie Kommata zu einem nicht vorhandenen Satz. Anscheinend hatte sie sich die ganz Zeit über nicht bewegt.

»Herr Marx«, sagte er.

»Ja?«

»Verscheuchen Sie die Vögel, falls sie sich an mir zu schaffen machen sollten?«

»Selbstverständlich.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Kramer. Dann kam ihm ein tröstlicher Gedanke: Wenn ich hier in diesem Traum einschlafe, wache ich vielleicht in meinem wirklichen Leben wieder auf. Vielleicht in der Pension Aurora. Es wäre das Paradies.

Dann schlief er ein.

 

Als er aufwachte, war der Schatten der Mauer nicht weitergewandert. Auch die Möwe war immer noch da. Ein eisiger Schrecken befiel ihn, als er sie wie festgenagelt da oben am Himmelsblau hängen sah.

Fast noch schrecklicher war die Tatsache, dass sein linkes Bein auf unerklärliche Art und Weise wieder an ihm festgewachsen war. Er tastete es ab, er befühlte es: völlig unversehrt. Aber es war abgetrennt gewesen! Die Würmer hatten es gefressen! Es konnte nicht einfach wieder anwachsen, während er schlief! Und wieso war er in einem Traum eingeschlafen und in demselben Traum wieder aufgewacht?

»Herr Marx?« rief er, der Panik nahe. »Herr Marx?« Aber der Philosoph war nirgends zu sehen. Kramer stand auf. Die leichte Bettdecke glitt zu Boden. Er betrat den Naiskos.

Man erwartete ihn schon. Kramer erschrak. Außer Marx, Zeus, Athene und dem Erzengel Gabriel waren noch zwei weitere Gestalten anwesend, und er erkannte sie sofort: Markus Wolf und der Gesichtslose von seinem Rendezvous mit der Majorin Schindler. In ganz gewöhnlichen Straßenanzügen standen sie da, und bildeten mit den anderen einen lockeren Halbkreis.

Stärker als alle anderen Seltsamkeiten vorher bewies ihm das Auftauchen der beiden, dass seine Realität ernsthaft defekt war: Das hier war nicht sein Leben, es war kein Traum, aber was war es dann? Ein Experiment, durchfuhr es ihn. Das ist ein Experiment. Ich stehe unter dem Einfluss einer Droge, und man erforscht meine Reaktionen. Er erinnerte sich, von solchen Experimenten bei amerikanischen Geheimdiensten gehört zu haben. Ohne ihr Wissen war Probanden LSD oder etwas Ähnliches verabreicht worden, und sie wurden danach beobachtet, um herauszufinden, wie sie mit der Herausforderung fertig wurden. Das ist es, dachte er. So etwas muss es sein. Das ist Körperverletzung, dachte er. Ich will das nicht.

»Wo bin ich?«, fragte er die Gruppe.

»Ah«, sagte Zeus. »Das ist einmal eine interessante Frage. Und ich kann sie ganz einfach beantworten. Du bist auf dem Administratorenniveau.«

Die Gruppe lachte. Sogar Marx musste schmunzeln. Er gehörte jetzt eindeutig zu ihnen.

»Wir sind die Administratoren. Die Götter. Und hier befinden wir uns in einem Tempel. Dort, wo die Götter wohnen.«

Kramer dachte angestrengt nach. Aber er konnte keinen Sinn in dem finden, was ihm da erzählt wurde.

»Das wäre also geklärt. Aber, Rüdiger, jetzt will ich dich auch etwas fragen.«

Der belustigt-sarkastische Tonfall des Göttervaters ärgerte Kramer. Sie geben mir nicht nur Drogen, sie machen sich auch noch über mich lustig. Er nahm all seinen Mut zusammen.

»Ich weiß, was das hier ist. Sie haben mich unter Drogen gesetzt. Ich lasse mich nicht täuschen. Das alles hier ist eine Drogenphantasie, und ich soll geprüft werden. So sehe ich es.«

Der Naiskos war groß genug, dass seine Worte Echos verursachten. Was er sagte, klang in seinen eigenen Ohren so lächerlich, als hätte er gerade erklärt, Zeus sei verhaftet. Einige der Götter und Gäste grinsten überraschend vulgär.

»Drogen?«, sagte Zeus mit spöttischer Empörung. »Was für ein drolliger Gedanke! So etwas würden wir nie tun. Und es ist auch nicht sehr logisch. Könnte jemand in einer Drogenphantasie dafür sorgen, dass du ein Bein verlierst und es von Würmern auffressen lassen? Unter Drogeneinfluss erlebt man ja so allerhand. Ich muss das wissen, bei meinem täglichen Konsum von Nektar und Ambrosia.« Er lachte trocken, wie über einen köstlichen kleinen Scherz. »Von einem solipsistischen Standpunkt aus betrachtet, wäre das durchaus möglich. Wir könnten Ausgeburten deiner Einbildungskraft sein. Schatten. Schemen. Halluzinationen. Aber es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass wir nur Statisten in einer kleinen Drogenphantasie von dir sind, nicht wahr? Du würdest so etwas doch spüren, oder? Du weißt doch, dass wir real sind?«

Zeus war aufgestanden, während er gesprochen hatte. Er war noch größer als Athene. Seine Augen leuchteten. Er hielt ein Bündel strahlender Blitze in der rechten Hand. Kramer bekam Angst und trat unwillkürlich zwei Schritte zurück.

»Aber drehen wir deine Idee doch einmal um«, fuhr Zeus fort. »Wie wäre es, wenn nicht wir von dir geträumt würden, sondern du einer unserer Träume wärst? Wie wäre das? Wer bist du, Rüdiger Kramer? Was bist du?«

Kramer wurde schwindelig. Er fühlte sich, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen, als stürze er, ohne zu fallen.

»Du bist Software«, sagte eine andere Stimme in seine Verwirrung hinein. Es war die Stimme Athenes. Sie schnitt durch ihn hindurch wie Messer aus Eis. »Code! Du bist ein Programm, Rüdiger, erschaffen, um mit uns ein Spiel zu spielen. Das Spiel heißt Polyplay. Es ist nicht das kleine, dumme Spiel, das du bisher kanntest, obwohl es den gleichen Namen hat. Es ist ein viel größeres, viel komplexeres, viel wunderbareres Spiel, als du dir überhaupt vorstellen kannst. Es ist eine Welt. Viele Welten. Wir«, sagte Athene, »sind Spieler. Wir sind Götter. Und du bist Teil des Spiels. Ein intelligenter, fühlender Teil des Spiels. Eine Schachfigur mit Gehirn.«

Es brauste in Kramers Ohren. Er taumelte.

»Das ist nicht wahr!«, brach es aus ihm heraus. »Ich bin Rüdiger Kramer. Ich bin ein Mensch! Ich habe eine Geschichte! Ich habe Erinnerungen! Ich –«

»Ein faszinierender Moment, wenn die Emergenzen mürb werden«, hörte er jemanden sagen, laut und deutlich. »Ich liebe das.«

»Erinnerungen!« Zeus sprach wieder. »Deine Erinnerungen sind eine Datenbank!«

Eine Wand des Naiskos leuchtete auf und zeigte eine verwirrende Struktur von miteinander verbundenen metallischen Würfeln, die in öligen Regenbogenfarben schimmerten. Sie schienen bis in die Unendlichkeit zu reichen.

»Das sind deine Erinnerungen, Rüdiger. Du bist eine Geist-Maschine, ein Stück Software, das im Zusammenspiel mit einer Menge Hardware glaubt, ein Mensch zu sein. Du bist eine künstliche Intelligenz, mein Freund. Applaus, Applaus, Applaus, die Welt hat keine Ahnung davon, dass es Dinge wie dich überhaupt schon gibt. Aber wir sperren deinen Zugriff auf deine Erinnerungsdatenbanken, und du weißt nicht einmal mehr, wie du heißt. Soll ich es dir beweisen?«

Zeus hob die Faust voller Blitze. Kramer sah ihm dabei zu. Die Verbindungen zwischen den Würfeln an der Wand verschwanden.

Was dann kam, dauerte nur einen Moment, aber es war so schrecklich, dass sich Kramer danach fühlte, als müsse er sterben: ein kurzer Blick in das absolute Nichts. Wie ein Ruck durchzuckte ihn die Erkenntnis, dass das Nichts jedem fühlenden Etwas Schmerzen verursachte, die mit nichts anderem vergleichbar waren.

 »Hast du das gespürt, mein lieber Mensch? Das bist du in der Polyplay-Welt, ohne deine Zugriffsrechte: Ein Bündel schreiender, künstlicher Synapsen ohne Input und ohne Geschichte. Glaubst du es jetzt? Nein? Im Grunde weißt du genau, dass wir Recht haben. Hat sich deine kleine Welt nicht seltsam angefühlt, nachdem Michael Abusch gestorben war? War sie nicht durch und durch komisch? Befremdlich? Hast du dich nie gefragt, warum niemand, wirklich niemand wissen wollte, wie euer putziger Müller-Lohmann-Prozess wirklich funktioniert? Warum ist er dir selbst nie fragwürdig vorgekommen? Und all diese Zufälle bei deinen Ermittlungen. All diese unwahrscheinlichen Verknüpfungen. Das war das Spiel, Rüdiger! Du hattest eine Menge Potenzial, und wir wollten etwas daraus machen. Aber du hast uns enttäuscht. Du hast versagt. Immer zu brav. Nicht helle genug. Man musste dich auf manches ja beinahe mit der Nase stoßen, und selbst dann warst du schwer von Begriff. Hin und wieder fragten wir uns sogar, ob unsere Programmierung fehlerhaft war. Stur warst du! Aber sicher nicht so intelligent, wie wir uns das gewünscht hatten. Wir rechneten uns gute Chancen aus. Aber wir haben verloren. Wegen dir.«

Mit einer eleganten Handbewegung ließ Zeus das Würfelbild verschwinden und ersetzte es durch ein riesiges Porträt von Michael Abusch. Ein großer kalter Wind ging durch Kramer hindurch.

»Im Grunde wart ihr euch beide sehr ähnlich. Warum auch nicht, ihr seid vom gleichen Team programmiert worden. Ja, ja, Rüdiger, langsam dämmert es dir, nicht wahr? Du hast zu einer kleinen Gruppe von Kunstintelligenzen gehört, und ihr beiden habt mit Software-Statisten und Göttern ein Spiel gespielt, in einer künstlichen Welt, die du unter dem Namen DDR kennst und die wir das Aktivitätsniveau nennen. Wir hätten mit euch gewinnen können auf diesem speziellen Aktivitätsniveau. Es war alles fein geplant und austariert. Michael Abusch war hartnäckig, und ihm fiel auf, dass etwas nicht stimmte. Wenn er erfolgreich gewesen wäre, hätten wir dich gar nicht gebraucht. Aber er kam und kam nicht dahinter. Wie wir ihm auch halfen, er konnte nicht in Erfahrung bringen, was du jetzt weißt. Durch seine Trägheit fielen wir zurück. Und deswegen musste er sterben. Wir spielten unser zweites Ass aus.«

Kramer wollte nicht hinsehen, aber er musste. Er wollte sich die Ohren zuhalten, konnte aber seine Arme nicht kontrollieren. Dort, wo eben noch das Gesicht Michael Abuschs zu sehen gewesen war, sah er sich selbst in den Jugendclub Taube eindringen, mit seinem Schließwerkzeug. Er sah sich leise durch die abgedunkelten Räume schleichen bis zu dem Hinterzimmer, wo die Videospiele standen.

Ein Junge in Jeans und Pullover saß da vor einer der Konsolen. Er starrte gebannt auf den Bildschirm und ahnte nichts. Kramer sah sich selbst einen kurzen Knüppel aus seiner Jackentasche ziehen. Er trat mit drei Schritten hinter sein Opfer und schlug es nieder. Als Michael auf dem Boden lag, kniete er sich neben ihn und schlug mit mechanischer Präzision und größter Wucht immer wieder auf den Kopf des Jungen ein, bis er nur noch Brei war. So gut es ging, beseitigte er im Licht einer Taschenlampe die schlimmsten Spuren und verließ den Tatort.

Kramer weinte. Er spürte genau, wie Tränen seine Wangen hinunterliefen. Aber wieso?, dachte er. Ich bin eine Maschine.

»Wir nahmen dir die Erinnerung an den Mord, den du selbst begangen hattest, und ließen dich ermitteln. Aber du warst genauso träge wie dein Opfer. Wir konnten dir Hinweise auf den Weg streuen wie wir wollten, du kamst einfach nicht weiter. Merz, auch einer von euch, kam schon weiter, aber zufällig und danach brachte er sich um. Das ist gegen die Regeln. Du dagegen hast so sehr nach den Regeln gespielt, dass wir verloren haben.«

Szenenwechsel an der Steinwand. Kein Würfelbild, kein Michael Abusch, kein Tatort. Stattdessen eine bewegte See. Eine Art Bohrinsel. Kramer strengte sich an, genau hinzusehen. Nur die Bilder von dem Mord an Michael Abusch vergessen, die ihm eben gezeigt worden waren. Nur weiter. Schlimmer konnte es doch kaum kommen!

»Und wir hatten Pech. Ungeheures Pech sogar. Was du hier siehst, mein künstlicher Rüdiger, ist deine Heimat. Ja. Schau sie dir nur an! Auf dieser Plattform mitten in der Nordsee befinden sich die Computer, in denen du sozusagen lebst. Auch dieser Tempel ist dort. Auch die DDR, wie du sie kennst. Und leider, leider haben wir beim Spiel so viel Rechenkapazität verbraucht, dass es aufgefallen ist. Darf ich dir Wes vorstellen?«

Die Plattform in der aufgewühlten See wurde ersetzt durch das Bild eines intelligent wirkenden jungen Mannes mit Brille und Pferdeschwanz, der vor einem Bildschirm saß. Die Kamera schwenkte um ihn herum, und Kramer erkannte, dass der Mann dasselbe Würfelbild vor sich hatte, das eben noch an der Wand des Naiskos zu sehen gewesen war.                                  

Wenn das stimmt, dachte Kramer, wenn das alles stimmt, dann sieht dieser Mann in diesem Moment mein Gedächtnis. Was mich ausmacht. Wer ich bin. Er konnte die Augen immer noch nicht schließen.

»Keine Angst, mein Lieber«, sagte Zeus. »Was du hier siehst, ist eine Aufzeichnung, keine Live-Übertragung. Aber trotzdem hat der gute Wes einen Fehler gemacht, indem er auf den Computern herumgeschnüffelt hat, die er eigentlich nur warten sollte. Es hat zwar nicht die geringste Ahnung, worauf er gestoßen ist, aber es gehört zu den Regeln des Spiels, dass es nicht entdeckt werden darf. Wo kämen wir da hin?« Zeus lächelte ihn an. »Wir müssen schließlich unsere Investitionen schützen. Was würde die Welt tun, wenn sie von uns und unserer kleinen Passion erführe? Sie würde über uns herfallen. Wir bleiben lieber ungestört. Und deswegen hat uns die Tatsache, dass der schlaue Wes uns beinahe auf die Schliche gekommen wäre, zurückgeworfen. Zusätzlich zu Michaels und deinem Versagen. Ein unglücklicher Umstand. Polyplay ist wie das Leben selbst. Es geschehen oft unvorhergesehene Dinge. Man muss nur alert und flexibel sein, nicht wahr, mein tapferer kleiner Rüdiger?«

Kramer wollte sich wehren. Er musste.

»Wenn das hier … nicht die Realität ist«, begann er stockend, »wenn das hier nur ein Spiel ist … wie sieht dann die Realität aus? Wes ist echt, sagt ihr. Was ist sonst noch echt?«

»Eine ausgezeichnete Frage!« Zeus war sichtlich angetan. »Fast könnte man meinen, dass du in gewisser Hinsicht dein Geld wert bist!«

Er hob die Hand mit den Blitzen.

Ein Mann saß vor einem Regal mit vielen Büchern. Sein Gesicht wirkte gleichzeitig ernst, müde und entschlossen. Kramer kannte diesen Mann nicht, aber er wirkte wie ein westdeutscher Bundeskanzler bei der traditionellen Fernsehansprache zu Neujahr. Der letzte Bundeskanzler, an den sich Kramer erinnern konnte, hatte Helmut Kohl geheißen und saß seines Wissens im Gefängnis. Der hier sah nicht aus wie Helmut Kohl. Auch wenn er auf ähnliche Art eine Aura staatsmännischer und historischer Würde um sich zu verbreiten versuchte wie der Dicke. Der Mann setzte zu einer Rede an. Gleich der erste Satz verwirrte Kramer komplett.

»Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, heute Abend hat die NATO mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen.«

Was?, dachte Kramer. Was ist das? Die NATO führt Krieg gegen Jugoslawien? Die NATO gab es seit über zehn Jahren nicht mehr. Sie täuschen mich. Erst wollen sie mir weismachen, dass ich eine Maschine bin, dann stellen sie die Weltpolitik auf den Kopf, wie es ihnen passt. Das ist ein Schauspieler, der in einem Film die Erklärung zum Auftakt des Dritten Weltkriegs abgibt.

»Wir führen keinen Krieg, aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.«

Meine Güte, dachte Kramer. Das muss eine echte Rede sein. So reden nur Politiker, wenn sie das Offensichtliche leugnen wollen.

»An dem Einsatz der NATO sind auch Soldaten der Bundeswehr beteiligt. So haben es die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag beschlossen – in Übereinstimmung mit dem Willen der großen Mehrheit des deutschen Volkes.«

Ich kann das nicht glauben. Ich will das nicht glauben. Jugoslawien ist ein sozialistischer Bundesstaat! Die BRD gibt es nicht mehr, genauso wenig wie die NATO! Aufhören mit diesem Unsinn! Sofort aufhören!

Kramer merkte erst, dass er das laut gesagt hatte, als Zeus den Mann mit einer Handbewegung mitten im Wort unterbrach. Gerade noch hatte er gesagt: »An unserer Entschlossenheit –«, dann war er verstummt und mit offenem Mund an der Wand des Tempels eingefroren.

»Aufhören!«, sagte Kramer noch einmal mit rauer Kehle. »Was soll das?«

»Was das soll?«, fragte Zeus. Er wandte sich hilfesuchend an seine Freunde. »Er fragt, was das soll!« Die anderen lachten. »Das ist die Realität, mein Oberleutnant! Und wir nennen sie das Nullniveau! Du denkst wohl immer noch, die DDR habe die BRD geschluckt, aber in Wirklichkeit war es genau umgekehrt. Die Hauptstadt der BRD ist heute Berlin. Es gibt keine Volkskammer mehr, keine deutsche Volkspolizei und keinen Sozialismus. Das Regierungsoberhaupt, der Bundeskanzler, heißt Gerhard Schröder, und was du da eben gesehen hast, war seine Ansprache vom 24.3.1999, als er Jugoslawien den Krieg erklärte. Du hast ihn ja gehört. Er musste die Menschenrechte in Jugoslawien verteidigen. Aber das weißt du nicht. Und du begreifst es nicht, weil du dich selbst und deine Lage noch nicht begreifst. Das hier ist Polyplay. Die mächtigste virtuelle Plattform für experimentelle Soziologie, die es gibt. Wir Spieler spielen Dutzende, Hunderte von Konfigurationen durch. Was wäre, wenn. Die große Frage. Ein Chile, in dem Allende nie an die Macht kam. Ein Amerika, in dem die britischen Kolonialtruppen den zweiten Krieg gegen die aufständischen USA von 1812-1814 gewinnen. Eine Sowjetunion, in der Trotzki 1924 das Ruder übernimmt und nicht Stalin. Wir spielen alles durch. Wir wollen wissen, was wäre, wenn. Wie entwickelt sich Geschichte?«

»Eigentlich«, warf Karl Marx ein, »ist Polyplay ein privates Forschungsprojekt. Am Anfang wollten wir herausfinden, was eine soziale Handlung ist, wer unter welchen Bedingungen wie handelt, wie sich die Subjekte sozialer Handlungen selbst verstehen, wie und wann aus Individuen ein Kollektiv wird. Diese Anliegen sind … in Vergessenheit geraten.«

Marx sah Zeus offen an. Zeus lächelte.

»Aber keineswegs, verehrter Herr Marx, keineswegs! Nur wollen wir über unserem Forschungsauftrag ja nicht den Spaß vergessen. Wie schön, dass sich in diesem Fall das Angenehme mit dem Nützlichen verbindet. Denn was kann für unser Forschungsvorhaben nützlicher sein und gleichzeitig mehr Spaß machen als die Beobachtung unserer Emergenzen?«

Zeus wandte sich wieder Rüdiger zu.

»Was macht intelligente Software innerhalb von Polyplay? Kommt sie zu einer Art Selbstbewusstsein? Erkennt sie die Lage? Kann sie die logischen Fehler ihrer ›Realität‹ aufspüren, wenn sie nur genügend Widersprüchen ausgesetzt wird? Bemerkt sie die realen Mauern des Gefängnisses? Deswegen warst du Teil eines Polyplay-Spiels, in dem die DDR die BRD geschluckt hat und nicht umgekehrt. Aber in Wirklichkeit, mein kleiner großer Held, führte die BRD, um fünf neue Bundesländer verstärkt, 1999 Krieg gegen Jugoslawien. Wegen der Menschenrechte.«

»Das ist absurd. Das ist alles komplett absurd.«

»Ach? Wenn ich mich recht erinnere, sind auch in deiner Version der Wirklichkeit 1968 NVA-Truppen in die Tschechoslowakei einmarschiert, weil dem Warschauer Pakt der Prager Frühling nicht passte. Übrigens existiert die Tschechoslowakei auch nicht mehr.«

»Dafür hat sich der Staatsratsvorsitzende Modrow entschuldigt!«, rief Kramer. »Er hat den Einmarsch von '68 als einen historischen Fehler bezeichnet!«

»Hat er nicht, weil es einen Staatsratsvorsitzenden Modrow nie gegeben hat. Der letzte Mann mit diesem Beruf hieß Erich Honecker, in deiner Version der Vergangenheit 1987 an einem Jagdunfall verstorben. Aber das ist die Polyplay-Version. In Wirklichkeit musste er 1989 abtreten, nachdem es eine so genannte ›sanfte Revolution‹ gegen sein Regime gegeben hatte. Er starb 1994 in Chile. Es tut mir Leid, Rüdiger: Was die jüngere Geschichte des Nullniveaus angeht, bist du kein Experte. Und übrigens: Entschuldigungen sind billig. Vielleicht wird sich sogar ein Nachfolger von diesem Herrn irgendwann für den Krieg gegen Jugoslawien entschuldigen. Man spricht von 3000 Toten. Was uns aber im Moment überhaupt nicht interessiert.«

Kramer atmete schwer. In seinem Kopf drehte sich alles. Er suchte nach einer Möglichkeit, in den Gesprächsverlauf einzugreifen, die Kontrolle zurückzugewinnen. Er wollte in Erfahrung bringen, ob ihm nur Lügen erzählt wurden oder ob manches auch stimmte.

»Katharina Abusch!«, rief er. »Was war sie? War sie auch eine Kunstintelligenz?«

Die Götter sahen einander an. Zeus und Athene schmunzelten.

»Katharina Abusch?«, sagte Zeus. »Sie war eine von uns. Eine Spielerin. Eine Göttin. Sie hat eine ungute emotionale Beziehung zu Michael entwickelt, der Spielfigur, die sie hauptsächlich betreute. Musste nach ihrer Begegnung mit dir in der Oderberger Straße leider … verschwinden. Polyplay ist gefährlich. Manchmal sogar für Götter.« Er lachte. »Aber auch das interessiert jetzt nicht weiter.«

Kramer bemerkte, dass der Erzengel Gabriel näher an ihn herangetreten war. Seine Brust, sein Bauch, seine Beine waren blutbesudelt. Auf seinem weiß schimmernden Federkleid wirkte das Blut rosa. Der Engel roch nach Schnee. Er lächelte freundlich. Kramer wollte weglaufen, aber seine Beine waren zu schwer. Er wimmerte.

»Ahnst du, was uns jetzt, hier und heute, wirklich interessiert? Wahrscheinlich nicht. Es ist etwas sehr Seltenes geschehen. Die Vorgänge um dein Aktivitätsniveau wurden genau untersucht. Aufgrund der außergewöhnlichen Umstände, die zu unserer Entdeckung geführt haben, hat man uns ein Nachspiel gewährt. Ein Nachspiel! Das ist erst zweimal in der Geschichte von Polyplay geschehen, und wir sind stolz darauf, dass unser Aktivitätsniveau auf diese Weise ausgezeichnet wird. Es ist spektakulär, Rüdiger. Der schlaue Wes hat uns mit seiner Neugier zu einem Nachspiel verholfen. Wir können nicht mehr gewinnen. Aber wir können aufholen und stärker in die nächste Runde gehen, als uns das ohne Nachspiel möglich wäre. Und du darfst mitspielen. Neues Spiel, neues Glück, so heißt es doch, nicht wahr, mein tapferer Zinnsoldat? Natürlich kann es für dich jetzt nicht mehr darum gehen, zu erkennen, was ›Polyplay‹ eigentlich ist. Schließlich weißt du das schon. Jetzt geht es um ganz etwas anderes. Es geht um die Frage: Was macht einer wie du, ein Stück intelligente Software, wenn er um seine Identität weiß und mit diesem Wissen in die Polyplay-Welt zurückkehren muss? Was macht der Moralist Rüdiger Kramer in einer Welt, in der er über einen gewaltigen Informationsvorsprung verfügt, aber über keinerlei Macht? Nimmt er seine Lage hin? Rebelliert er dagegen? Wird er jemanden finden, der ihm glaubt? Wer weiß, vielleicht gibt es in dieser Welt doch noch andere wie ihn? Vielleicht ist er ja doch nicht völlig allein? Das sind Fragen, die neu und interessant sind. Sogar für uns Götter.« Zeus grinste. »Viel Glück, Rüdiger!«

Der Erzengel Gabriel sagte: »Der Herr ist dein Hirte.«

Dann schlug er Kramer mit einem einzigen Streich den Kopf ab.

Der Tempel taumelte wild durch Kramers Sichtfeld. Er begriff, dass seine Augen aus einem abgeschlagenen Kopf herausschauten, der zu Boden fiel. Er hörte das Gelächter der Götter. Wie kann, dachte er, das alles so schmerzen? Er hätte es auch gerne gesagt, aber ihm fehlte der Kehlkopf dazu. Ich bin doch nur eine Maschine.

Er traf mit dem Gesicht zuerst auf.