Du bist eingeladen

Kramer wollte seine Frau berühren, aber er wagte es nicht. Sie war erschöpft von der Arbeit zurückgekommen und hatte ihm in der Küche nur kurz die Hand auf die Schulter gelegt, bevor sie ins Bett gegangen war. Jetzt lag Kramer neben ihr, voller Bitterkeit und Sehnsucht. Jetzt irgendetwas zu erzwingen wäre furchtbar geworden, das wusste er aus Erfahrung nur zu genau. Aber er war einsam! Wie lange sollten sie eigentlich noch so nebeneinanderher leben? Natürlich war sie nicht allein schuld, denn auch er schwieg sich über seine Sorgen und Nöte beharrlich aus. Wie konnte er aber Anette auch von den unglaublichen Erlebnissen der letzten Tage berichten? Was hätte das gebracht? Im schlimmsten Fall den Rat, den auch Pasulke ihm gegeben hatte: das Ganze zu vergessen und mal richtig auszuspannen (das aus Anettes Mund!). Im besten Fall würde sie ihn ernst nehmen und sich zu ihren eigenen Sorgen noch die seinen aufladen. Wäre das fair gewesen? Wohl kaum. Aber er hätte sie so gerne berührt. Sie lag auf der Seite, mit dem Rücken zu ihm. Regelmäßig hob und senkte sich die Decke über ihrem Oberkörper. Er strich ganz leicht darüber hin, so, dass sie es nicht spüren konnte, dass sie nicht gestört wurde in ihrem wohlverdienten Schlaf.

Kramer sank in sein Kissen zurück. Seine private Einsamkeit – seine berufliche Einsamkeit. Es mochte alles wirr und undurchschaubar sein, aber es gab einen Zusammenhang zwischen all den seltsamen Ereignissen seit Michael Abuschs Tod. Verstand das denn niemand außer ihm? Pasulke hatte ihn schwer enttäuscht. Von ihm hätte er dieses Desinteresse zuletzt erwartet, diese achselzuckende Gleichgültigkeit. Kramer fühlte vor lauter Frustration Tränen aufsteigen und kämpfte sie nur mit Mühe zurück. Selbstmitleid, dachte er, schlimmer Fall. Nüchtern betrachtet hatte Pasulke genauso Recht wie Lobedanz. Wenn er Schumacher und Natschinsky, die den Abusch-Fall wahrscheinlich schon halb vergessen hatten, nach ihrer Meinung gefragt hätte, wäre wahrscheinlich dasselbe herausgekommen: »Vergiss es.« Ach ja, Schumacher hätte wahrscheinlich noch ein leises und bedauerndes »Operation Neescherfett« fallen lassen. Kramer musste fast lachen, als er sich das vorstellte. Lachen und Weinen nah beieinander, dachte er. Was er brauchte, war ein Plan.

 

Er beschloss, bei dem Buch anzusetzen. Zwar vermutete er, dass von der gespenstischen Bibliothekarin im Präsidium kaum zu erfahren sein würde, wer die Notiz in das Buch hineingeschrieben haben konnte. Außerdem hatte er echte Angst davor, ihr dieses Buch zu spät zurückzugeben. Aber er wollte ihr immerhin die Frage stellen, wer außer ihr noch Zugang zum Buchbestand hatte. Sicherheitshalber kopierte er S. 29, zusammen mit dem Umschlag und den bibliographischen Daten. Er nahm sich dabei vor, das Gekritzel auf der Postkarte und in dem Buch von DORA mit gespeicherten Schriftproben vergleichen zu lassen. Vielleicht war der Verfasser ja schon anderweitig polizeilich in Erscheinung getreten. Außerdem nahm er eine Handschriftprobe von sich selber mit, um der Bibliothekarin beweisen zu können, dass nicht er die Randnotiz verfasst hatte.

Auf dem Präsidium erlebte er eine handfeste Überraschung. Die Tür zur Bibliothek war verschlossen. Das Schild neben der Tür, das noch vor zwei Wochen die Öffnungszeiten und den Namen der Bibliothekarin verzeichnet hatte, war abgeschraubt worden. Man sah noch die helle, viereckige Stelle und die notdürftig zugespachtelten Bohrlöcher der Schrauben. In dem Moment, als Kramer verdutzt vor der verschlossenen Tür stand, kam eine hübsche junge Büroangestellte die Treppe herunter und lief lächelnd an ihm vorbei.

»Entschuldigung«, rief er ihr hinterher. »Hallo!«

Die Frau drehte sich um. Sie war wirklich außergewöhnlich hübsch, und Kramer hätte gern ein wenig mit ihr geflirtet, aber dazu war jetzt die Zeit nicht.

»Können Sie mir sagen, was mit der Bibliothek passiert ist?«

Die Frau runzelte die Stirn. Kramer bedauerte fast, der Anlass dafür zu sein.

»Bibliothek? Welche Bibliothek?«

»Na, die Bibliothek hier«, sagte Kramer und wies mit dem Daumen auf die verschlossene Tür. »Vor zwei Wochen war hier noch die Präsidiumsbibliothek. Jetzt sind die Schotten anscheinend dicht. Ich möchte gern ein Buch zurückgeben, das ich mir ausgeliehen habe, sehen Sie!« Er hielt das Buch über die Finanzdelikte hoch.

»Ich bin … neu hier«, sagte die schöne Unbekannte. »Von einer Bibliothek weiß ich nichts.«

»Ach?«, fragte Kramer. »Schade. Dann muss ich mich woanders erkundigen.«

»Ja«, sagte die Frau fröhlich, offenbar erleichtert darüber, dass das Problem gelöst war. »Das müssen Sie wohl.« Sie lächelte wieder.

»Auf Wiedersehen«, sagte Kramer.

»Auf Wiedersehen«, sagte sie freundlich und wandte sich zum Gehen.

Während sie davonstöckelte, fragte er sich, ob er sie nicht zu einem Kaffee hätte einladen sollen. Er fragte sich allerdings auch, wie neu man eigentlich sein musste, um von der Existenz einer Hausbibliothek nichts zu wissen. Andererseits war das beim Zustand dieser Hausbibliothek auch kein Wunder. Wahrscheinlich war sie geschlossen worden, weil sich niemand mehr an sie erinnerte.

Sollte er tatsächlich nach dem Verbleib der Bibliothek und der Bibliothekarin forschen? Er entschied sich dagegen. Die Sache erinnerte ihn sehr an die alte DDR von vor zehn und zwanzig Jahren, wo so was dauernd vorgekommen war: Planstellen, die nicht mehr existierten, geschlossene Behörden, die gleichwohl noch geharnischte Erinnerungsschreiben verschickten, und anderes mehr. Es konnte sein, dass er im ganzen Polizeipräsidium von Großberlin niemanden finden würde, der ihm sagen konnte, was aus der Bibliothek geworden war, und er wollte keine Zeit verschwenden, um am Ende mit nichts in der Hand dazustehen.

Manches ändert sich nie, dachte er kopfschüttelnd, während er die Treppen zum Parkplatz hinunterlief.

Der Schriftvergleich brachte auch nichts. Seine R-610 spuckte zwar ein Dutzend Treffer aus, aber die Identitätswahrscheinlichkeit lag immer unter dreißig Prozent, und das reichte einfach nicht aus.

Nach dieser Pleite beschloss Kramer, den ganzen NATA-Komplex beiseite zu legen. Er wollte sich nicht mehr mit der Frage beschäftigen, wie die seltsame Postkarte, das Buch und das Fundstück zusammenhingen, weil er wusste, dass er dieses Rätsel ohne zusätzliche Informationen nicht lösen konnte. Es war ja ohnehin nicht sicher, dass der NATA-Komplex irgendetwas mit dem Tod von Michael Abusch zu tun hatte, auch wenn er nicht glauben konnte, dass die Kausalkette Buch – Postkarte – Späthbrücke – NATA reiner Zufall war. Vielleicht war er tatsächlich zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen, und dieses Spiel galt nicht wirklich ihm.

Unangenehmerweise verlor er aber mit dem NATA-Komplex auch eine der wenigen Spuren, die er überhaupt hatte. Die Bedingungen waren ohnehin schwierig. Offiziell durfte er in dem Fall gar nicht mehr ermitteln, also durfte Lobedanz nichts davon erfahren, dass er es trotzdem tat. Pasulke hätte er bis vor kurzem gerne mit einbezogen, aber Pasulke war nicht interessiert. Mit Unbehagen bemerkte Kramer, dass er seinem Freund, mit dem er seit fast zwanzig Jahren zusammenarbeitete, nicht mehr hundertprozentig traute. Natschinsky und Schumacher kamen ohnehin nicht als Verbündete in Frage. Ansonsten war die Arbeitslast die gleiche wie immer: Kramer musste sich mit Staatsanwälten herumschlagen, Zeugen verhören und Berichte schreiben. Aber all das interessierte ihn nicht. In Gedanken war er immer bei der Leiche in dem Jugendclub. Und gerade damit war er allein. Nach dem NATA-Debakel blieb ihm eigentlich nicht viel übrig, als zum Ausgangspunkt des Falles zurückzukehren: zu Michael Abuschs seltsamer Vorliebe für ein veraltetes Computerspiel. Er konnte im Grunde nur zwei Dinge tun: Polyplay noch besser kennen lernen, um vielleicht einen Schlüssel in dem Spiel selbst zu finden. Und Ausschau nach den ehemaligen Freunden von Michael halten. Ganz kleine Brötchen.

Was Polyplay anging, rechnete er sich keine großen Chancen aus. Michael Abusch war ein kluger Junge mit ziemlich viel Zeit gewesen. Er hatte Polyplay seit Jahren gespielt. Was konnte ein alter Sack wie er in dieser Hinsicht erreichen? Und trotzdem: Vielleicht ging es auch nur um Zufall und nicht um Methode. Vielleicht würde ihm eine zufällige Tastenkombination, eine bestimmte Spielreihenfolge oder -dauer, eine bestimmte Punktzahl, ein bestimmtes Muster auf dem Bildschirm oder irgendeine andere Kombination von Umständen eine Tür öffnen, die Michael in Jahren angestrengter Suche nicht gefunden hatte. Die Möglichkeit war gering, aber sie war vorhanden. Natürlich setzte das voraus, dass Michael wirklich etwas gesucht hatte und nicht einfach nur polyplaysüchtig gewesen war. Kramer akzeptierte diese Voraussetzung. Sein Kriminalisteninstinkt sagte ihm, dass ein Stück Wahrheit in der Vermutung steckte, Michael Abusch sei einer Spur gefolgt.

Kramer spielte jeden Tag mehrere Stunden lang Polyplay, auch wenn er das Spiel dabei hassen lernte, abends mit geröteten Augen als Letzter die Inspektion verließ und auf dem Weg nach Hause kleine leuchtende Männchen vor seinen Augen herumtanzen sah.

Das »soziale Umfeld Michael Abuschs« hatten Natschinsky und Schumacher schon einmal abgeklopft, aber die Berichte, die sie darüber verfasst hatten, waren unbrauchbar. Kramer entschied: Er würde noch einmal speziell das computerisierte Umfeld seines Opfers beackern müssen. Die Szene, in der sich Michael Abusch früher herumgetrieben hatte, war nicht schwer zu finden. Wo immer öffentliche Spielautomaten aufgestellt waren, in Jugendclubs, Diskotheken, den Hinterzimmern von Restaurants, traf Kramer sie an: die Fünfzehn- und Sechzehnjährigen mit den Taschen voller Kleingeld. Schwarz war die Farbe der Saison. Manche der Jungen (Mädchen gab es unter der Spielern so gut wie keine) trugen T-Shirts mit den Namen ihrer Lieblingsbands. Die Haare trug man kurz, getrunken und geraucht wurde erstaunlich wenig. Das galt anscheinend nicht als »trocken«. »Trocken« oder »groß« waren die aktuellen Sommerhits unter den Modewörtern. Alles Gute musste »trocken« oder »groß« sein, der Rest war einfach nur »schlimm«.

Kramer versuchte sich an die Mode seiner Jugend zu erinnern. Zu seiner Zeit hatte es Fleischerhemden gegeben und Römerlatschen. Trampen war in gewesen und »Faustan«. Spätestens bei seinem Eintritt in die Polizeihochschule hatte sich Kramer von diesen Kinkerlitzchen verabschiedet.

Die Zeiten hatten sich geändert. Die Computerspieler waren eine andere Sorte von Kunden. Während Kramers Freunde damals nächtelang durchdiskutiert hatten, waren die Konsolenkinder stumm. Sie standen in stillen Gruppen um die Automaten herum wie Fachleute um eine Versuchsanordnung, und wenn sie redeten, dann benutzten sie einen bizarren Techno- und Spielerslang, der wahrscheinlich extrem »trocken« und »groß« war, aber Kramer überhaupt nichts sagte.

Es brachte nichts, sich zu verstellen, das merkte er gleich. Egal, wie er sich anzog, die jungen Leute sahen ihm auf zwanzig Meter Entfernung an, dass er ein Bulle war. Deswegen entwickelte er bei seinen Besuchen in den Spielhöllen eine bestimmte Vorgehensweise. Er latschte einfach in die Läden rein, setzte sich auf einen Stuhl oder eine Tischkante und wartete darauf, dass einer der Jungs sich von seinen Freunden verabschiedete, zum Klo musste oder neues Münzgeld holen ging. Dann griff er sich den Knaben und hielt ihm ein Bild von Michael unter die Nase, nachdem er sich mit Namen und Dienstgrad vorgestellt hatte. Manche waren verängstigt (»Ich kann mich nicht erinnern, Herr Oberleutnant«), andere gleichgültig (»Kenn ich nich. Nie gesehen.«), und ein Gutteil von ihnen wollte »groß« und »trocken« wirken, auch im Gespräch mit einem Oberleutnant (»Soll 'n das eigentlich?«). Kramer ließ sie.

Es ging ihm nicht darum, jemanden einzuschüchtern oder auszuquetschen. Er suchte nur nach einem Muster. Nach einem roten Faden, an dem er ziehen konnte, um das verworrene Knäuel um Michael Abusch herum aufzudröseln. Das Ergebnis dieser Befragungen war gleichzeitig eindeutig und dürftig: Einige hatten Michael gekannt, gemocht hatten ihn nur wenige. Er war ein Außenseiter gewesen – wegen Polyplay. »Ach, der Pippimat«, bekam er öfter zu hören. »Pippi« gleich PP gleich Polyplay. Manche der Aussagen waren so herablassend, dass sich Kramer absurderweise im Nachhinein Gedanken um den Jungen machte, wie ein Vater, der herausfindet, dass sein heranwachsender Sohn keine Freunde hat. Manchmal fragte er nach illegalen Sachen, von denen er nur vermuten konnte, dass die Jugendlichen Kontakt damit gehabt hatten: verbotene Spiele, Raubkopien usw. Dann wurden die Allermeisten aber extrem einsilbig, und das Wenige, was sie äußerten, hatte bis auf eine Ausnahme nie mit Michael Abusch zu tun. Die eine Ausnahme bestand in der Behauptung, Michael sei öfters mit einem gewissen Mike gesehen worden. Felix »Mike« Ihmels war einer von der Fünferliste, die Kramer seinerzeit von Majorin Schindler erhalten hatte, aber er fand den Zeugen nicht glaubwürdig und hakte ihn als Wichtigtuer ab. Fazit nach vier Tagen: so gut wie nichts.

Am fünften Tag wurde er von einem Kollegen zur Rede gestellt.

Die Spielhalle im Kulturhaus an der Französischen Straße war ziemlich groß, die Musik recht laut, und zu Kramers Erstaunen trug eine ganze Anzahl der Jugendlichen ihr blaues FDJ-Hemd.

»Oltersdorf, Schutzpolizei Mitte«, sagte der korpulente Mittvierziger, während er Kramer seinen Dienstausweis hinhielt. »Ich hätte da mal 'ne Frage.«

»Schießen Sie los.«

Oltersdorf wirkte ganz wie der gemütliche Dicke von nebenan, aber Kramer war auf der Hut. Er kannte diesen Typ Polizist nur zu gut.

»Wir sind doch Kollegen, oder?«

Kramer nickte.

»Wissen Sie, wir haben da so eine Aktion laufen. Gegen Vandalismus. In letzter Zeit, die jungen Leute, Sie wissen schon. Geräte kaputt oder aufgebrochen, Farbschmierereien, das Übliche. Hat ein bisschen Überhand genommen. Da haben wir uns gedacht, wir machen mal was. Auf der einen Seite Präsenz zeigen, auf der anderen Seite ein paar Ohren lang ziehen, wenn man einen erwischt.«

Kramer nickte.

»Seit ein paar Tagen erzählen mir die Kollegen, in Berlin läuft einer in den Spielhallen rum und stellt komische Fragen. Wegen Mord und so. Ich nehm mal an, Sie sind das.«

»Kann schon sein«, sagte Kramer.

»Aha. Dann wüsste ich doch gar zu gerne, was das soll. Es ist nämlich so. Wenn Sie jetzt mit Ihrer Mordsgeschichte hausieren gehen, ist unsere Arbeit zum Teil in den Wind geschissen. Die Szene kriegt nämlich Angst, wird eine Weile ganz brav, und wir finden keine Ohren zum Langziehen. Nur ist das blöd. Wir haben nämlich unsere Aktion ziemlich lange geplant und so. Wären Sie wohl so freundlich, verehrter Kollege, mir Ihren Namen und Ihre Dienststelle zu nennen, damit ich mal nachfragen kann, ob Ihre Ermittlungen eigentlich so wichtig sind?«

»Gerne, Genosse Oltersdorf«, sagte Kramer. »Mein Name ist Akkermann. Ich komme vom K5 Friedrichshain.«

Der Dicke blinzelte. Dann lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück. Er war ein bisschen rot geworden.

»Ah«, sagte er. »Ah. Na dann nichts für ungut, Genosse Akkermann.«

Oltersdorf gab Kramer die Hand und verzog sich. Kramer freute sich diebisch. Manchmal war sogar die Stasi noch für etwas gut.

 

Erst am sechsten Tag seiner Exkursionen in die Spielhallen der Hauptstadt kam er auf die Idee, den Jugendclub Taube zu besuchen. Den Ort, an dem Michael ermordet worden war. Es verblüffte ihn, dass er nicht früher daran gedacht hatte, aber er fand es verzeihlich: ein simpler Akt der Verdrängung.

Die große Taube über dem Haupteingang des Jugendclubs war mit viel Liebe zum Detail aufgefrischt worden: Sie breitete ihre Schwingen schützend über den Türrahmen, der Ölzweig im Schnabel trug goldene Früchte, die Taube flog durch einen lieblich bewölkten Himmel, an dem auch vier oder fünf rote Sterne zu sehen waren. »30 Jahre Jugendclub Taube«. Im Inneren hatte sich wenig getan. Der Veranstaltungssaal war noch genauso verstaubt wie vor zwei Monaten, die alten Stühle aus Schkopau standen gestapelt in der Ecke. Der Vorhang der kleinen Bühne war immer noch so niederschmetternd schmutzbraun wie am Morgen des 3. April.

Im Hinterzimmer mit den Spielautomaten hatte man immerhin die Wände gestrichen. Blau und golden prangte die FDJ-Sonne an der Wand: Kramer vermutete, dass hier derselbe Künstler wie bei der Taube am Werk gewesen war. Unter das Gemälde hatte jemand geschrieben: »Solanaceae Tau«.

Hartnäckiger Fan, dachte Kramer. Es war nur ein gutes Dutzend Jugendliche anwesend. Die meisten von denen, die sich umgedreht hatten, als er hereingekommen war, widmeten sich schnell wieder ihrem Spiel. Nur einer sah ihn unverhohlen an. Er saß nahe beim Fenster, und im Gegenlicht erkannte Kramer ihn nicht gleich.

»Oberleutnant Kramer!«, sagte der Junge. »Wie schön, Sie zu sehen.«

»Na, Sebastian?«, entgegnete Kramer. »Schulische Leistungen wieder in Ordnung?«

»Alles bestens. Kleines Leistungstief, das nun völlig überwunden ist. Anstrengende Zeit. Ein wenig Ablenkung muss da schon mal sein.«

Er machte eine lässige Geste in Richtung der Spielautomaten, wie ein Gutsherr, der seinen Gästen den englischen Park zeigt. Dir würde ich gern mal so richtig in die Fresse hauen, dachte Kramer. Damit dir dein beschissenes Prinzengetue vergeht.

»Und selber?«, fragte Verner. »Immer noch an der Sache mit Michael dran?«

»Klaro«, sagte Kramer. »Bin im Dienst, mein Junge.« Er tätschelte dem jungen Lord die Backe. »Man sieht sich.«

Wenn Verner durch Kramers gönnerhafte Vertraulichkeit verunsichert war, dann ließ er sich das nicht anmerken. Mit seiner üblichen arroganten Selbstgewissheit sagte er: »Nicht so schnell, Herr Kramer. Bevor Sie gehen – ein kleines Geschenk für Sie.« Er griff in seine Jackentasche, zog ein graues, handtellergroßes Viereck hervor und überreichte es Kramer mit einem ironischen Schlenker.

Es schien sich um eine Versandtasche für Datenträger zu handeln, Kramer hatte so etwas schon mal bei Merz gesehen. Er überlegte, ob er Verner einfach stehen lassen sollte, aber seine Intuition riet ihm davon ab.

»Danke schön«, sagte er, »ich liebe diese kleinen Aufmerksamkeiten von Zivilisten.«

Verner lachte. »Gern geschehen. Tschüs.« Dann stand er auf und ging auf den Ausgang zu. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Ach, und noch was. Grüße an Major Lobedanz.« Er winkte und war verschwunden.

Kopfschüttelnd steckte Kramer Verners »Geschenk« ein. Er fragte noch ein paar der Jungs an den Automaten nach Michael, war aber so wütend, dass er sich auf die Antworten kaum konzentrieren konnte.

 

Grüße an Major Lobedanz. »Lass mich in Ruhe oder es gibt Ärger«, übersetzte Kramer in Gedanken, als er das graue Viereck in seiner Hand wog. Die Versandtasche fühlte sich frisch und neu an. Einige aufgedruckte Piktogramme empfahlen, sie nicht zu knicken oder zu magnetisieren, unter »Lagerungsbedingungen« war zu lesen: Temperatur: -40 °C – + 50 °C, Luftfeuchtigkeit: 8 % – 90%. Auf der Rückseite war aufgedruckt: »Altstoff ist Rohstoff! Nach der Verwendung zur Altstoffsammlung!« Nachdem er die Versandtasche mit zitternden Fingern geöffnet hatte, tauchte eine weitere Bemerkung unter der geöffneten Verschlusslasche auf: »Sicherheitsverschluss (nur einmal zu öffnen!)« Na denn, dachte Kramer. Einmal öffnen reicht wahrscheinlich.

Auf den ersten Blick schien das Ding leer zu sein. Aber als er ein wenig schüttelte, rutschte ihm eine flache, trapezförmige Platte in die Hand. Kramer hätte gar nicht gewusst, was das war, wäre ihm bei der Recherche zu dem seltsamen Rechner auf Michael Abuschs Schreibtisch nicht eine neue Speichertechnologie aufgefallen, die gerade Furore machte: FFS hieß das Ganze, oder »Fraktaler Festspeicher«. Es handelte sich dabei um ein DDR-Eigengewächs (»Revolutionäres Produkt sozialistischer Spitzentechnologie!«) und wurde bisher nicht einmal ins Ausland verkauft. Brandneu. Kramer hatte sich keine Mühe gegeben, das Konzept zu verstehen, dieser Technikkram war ohnehin nicht sein Bier. Aber das hier war eine FFS-Platte, das konnte er klar erkennen. So sahen die Dinger aus.

Was soll ich jetzt damit anfangen?, dachte Kramer und drehte die Platte um. Er erschrak, als hätte ihn jemand ohne Vorwarnung geschlagen: Auf der Rückseite der FFS-Platte waren dieselben drei klingenförmigen Keile eingeprägt, die er schon bei seinem Fundstück von der Späthbrücke kennen gelernt hatte. Ah, dachte er sarkastisch, noch so ein Gestaltungsmuster. Das Ding fühlte sich unangenehm an, leicht speckig, wie ein Material, das man nicht mehr sauber bekam, wenn es einmal mit menschlicher Haut in Berührung gekommen war. Es wurde in seinen Händen schnell warm. Metall? Plastik? Keramik? Ein Gemisch aus alldem? Wer wusste das schon. Jedenfalls ein Spitzenprodukt.

Vor seinem Fenster flatterte kurz ein Vogel herum, der auf dem schmalen Sims landen wollte. Dann überlegte er es sich anders und flog wieder davon. Kramer legte die FFS-Platte auf seinen Schreibtisch und stand kurz auf, um aus dem Fenster zu schauen. Goldenes Licht lag über den Gebäuden der Umgebung, ein warmer Tag ging in einen angenehm milden Vorsommer-Abend über. Eigentlich sollte ich spazieren gehen und diesen ganzen Kram sein lassen, dachte Kramer. Aber er wusste genau, dass er das nicht konnte.

Er schlenderte zum Schreibtisch zurück und nahm die Speicherplatte wieder in die Hand. Kann mein Rechner dieses Spitzenprodukt überhaupt lesen?, fragte sich Kramer. Als er die Vorderseite seiner R-610 genauer betrachtete, entdeckte er einen Laufwerksschlitz, der ihm vorher nie aufgefallen war. Er wollte das »Geschenk« gerade hineinstecken, da hielt er inne. Vielleicht war ein wenig Vorsicht angebracht. Wenn Sebastian Verner ihn nur mit einem Virus foppen wollte oder die FFS-Platte irgendeinen anderen Unfug anstellte, musste sein Rechner doch nicht dafür herhalten! Aber wo sonst konnte er wohl mit dem »Geschenk« experimentieren? Der Rechner daheim hatte kein FFS-Laufwerk, das war gewiss. Außerdem gehörte er offiziell der Wismut: »Finger weg«, Anettes Worte. Als ihm eine Lösung für sein Problem einfiel, kam er sich vor wie ein Schuljunge, der gerade beschlossen hatte, seine ersten Bonbons zu klauen.

Auf dem Gang begegnete ihm niemand. Die Inspektion lag still und verlassen. Wie so oft der Letzte, dachte Kramer, als plötzlich ein Kollege um die Ecke bog und grinsend auf ihn zulief.

»Kramer!«, sagte der Mann und gab ihm die Hand. »Lange nicht gesehen. Immer noch fleißig?«

»Toilette«, war das Einzige, was Kramer einfiel. »Muss zur Toilette. Bei uns ist mal wieder verstopft.«

»Immer derselbe Scheiß«, sagte der grinsende Kollege, dessen Namen Kramer ums Verrecken nicht einfallen wollte.

»Im wahrsten Sinne des Wortes«, sagte Kramer und grüßte zum Abschied.

Auf der Treppe nach unten lauschte er angespannt und sein Herz klopfte wild. Die Ausrede mit der Toilette war nicht schlecht gewesen, aber wenn er auf einem anderen Stockwerk erwischt wurde, musste er sich was Besseres einfallen lassen.

Er hatte Glück. Die Tür zu Merzens Büro war immer noch unverschlossen. Kramer schlüpfte schnell hinein und schloss die Tür so leise wie möglich. Ein schneller Rundblick bestätigte ihm, dass seit Merzens Tod nichts verändert worden war. Seine Rechner (insgesamt drei) standen noch da. Ein Haufen CDs und andere Datenträger lagen ungeordnet auf dem kleineren der beiden Schreibtische herum. Beim Anblick des ausgetrockneten Füllers, der seltsam dicht am Rand des ansonsten leeren Hauptschreibtischs lag, überlief Kramer ein Schauer. Noch genauer wollte er sich lieber nicht umschauen, sonst fand er womöglich noch Spuren von Kramers Selbstmord.

Pasulke hatte ihm vorgestern erzählt, dass Kramers Büro wegen Versetzungs- und Organisationsschwierigkeiten noch nicht wieder in Beschlag genommen worden war. Pasulke war seiner Aussage nach in den letzten Tagen sogar einmal selbst hier gewesen und hatte sich davon überzeugt, dass das Büro noch unbenutzt war.

Kramer schaltete die R-610 von Merz ein, und mit einem Summen, das ihm viel zu laut vorkam, erwachte sie zum Leben. Auch dieser Computer hatte natürlich eines der neuen Laufwerke: Merz wäre wahrscheinlich bis zum Polizeipräsidenten gegangen, wenn man ihm nicht sofort einen Prototypen zur Verfügung gestellt hätte. Kramer schob die FFS-Platte in den Laufwerksschlitz hinein, bis sie mit einem leisen Klicken einrastete. Er zog einen  Stuhl heran und setzte sich. Die Vorderkante der Platte, die etwa einen Millimeter aus dem Computer herausragte, begann in mildem Orange zu glimmen, etwa wie ein Spannungsprüfer. Kramer fühlte sich ganz entfernt an das Licht aus dem Fundstück erinnert. Kein Wunder, dachte er. Kommt ja auch aus dem gleichen Stall. Bei der NATA kann man offenbar mit den neuesten Entwicklungen ein und aus gehen, wie es einem beliebt.

Er wollte gerade nachsehen, ob er das Laufwerk irgendwo in seinem Verzeichnisbaum finden konnte, da erschien auf seinem Bildschirm ein lächelndes Gesicht.

»Hallo, Rüdiger«, begrüßte ihn der Mann.

Kramer erschrak bis ins Mark. Die Art, wie der Kerl so plötzlich auf dem Bild aufgetaucht war, erinnerte ihn an die Todesbotschaft von Merz. Und er erkannte ihn: Er glich dem Phantombild des Unbekannten, den Harry der Penner seinerzeit gesehen haben wollte. Das markante, lang gezogene Gesicht, die schmale Nase, die eng beieinander stehenden Augen. Kein Zweifel, das war er.

»Schönes Wetter heute, nicht?«

Auch der affektierte Tonfall stimmte. So janz uff feiner Herr, hatte Harry damals gesagt. Passte genau. Täuschte er sich, oder versuchte diese Erscheinung da mit ihm ein Gespräch anzuknüpfen?

»Was …?«, fragte Kramer zögernd.

»Ja, ›was?‹«, sagte der Unbekannte amüsiert. »Das ist doch eigentlich immer die Hauptfrage. Nicht ›wer?‹ oder ›warum?‹, sondern zuerst einmal ›was?‹, nicht wahr?«

Kramer wusste nicht, was er tun sollte.

»Hat's dir die Sprache verschlagen? Na macht nichts. Ehrlich gestanden, ich wäre auch überrascht. Aber jetzt mal was anderes. Hast du eigentlich heute Abend schon was vor?«

»Wer … wer sind Sie?«

»Jetzt sind wir schon beim ›wer‹, Rüdiger. Ich möchte aber noch gern ein bisschen beim ›was‹ bleiben. Weil ich es spannend finde. Ganz außerordentlich spannend sogar. Und, denk mal an, Rüdiger, ich würde dir ein bisschen von diesem ›was‹ erzählen. Interessiert dich das nicht?«

»Doch«, sagte Kramer. Er krächzte es eher. Und hatte immer noch nicht die geringste Ahnung, was hier vorging.

»Na also. Und daher die Frage: Hast du heute Abend schon was vor?«

»Nein. Nicht direkt.«

»Das ist fein. Ich würde mich nämlich gerne mit dir treffen. In einem Hinterhof in der Oderberger Straße. Der Spielplatz, weißt du. Und die kleine Freilichtbühne, wo es früher diese oppositionellen Theatervorstellungen gab. Treffen wir uns da? In zwei Stunden? 20.30 Uhr?«

Oderberger Straße. Es war lange her, aber dieser Name und die anderen Dinge, die der Mann erwähnt hatte, brachten irgendetwas zum Klingen. Ja richtig! Als er noch Offiziersschüler gewesen war, hatte er als Teil der Ausbildung einen Einsatz gegen die oppositionellen Jugendgruppen mitgemacht, die in dem Theater in der Oderberger Straße ein »alternatives Festival« hatten abhalten wollen. Das war noch in der alten DDR gewesen, vor der Wende, und statt NKO hatte es geheißen: Schnappt sie euch. Ähnlich wie später in der Mainzer Straße. Die Genossen von der VP-Bereitschaft Basdorf hatten ohne Zögern hingelangt, so dass es zu ein paar blutigen Nasen gekommen war, und sie hatten einige der Jugendlichen auch an den Haaren zugeführt. Kramer erinnerte sich ungern daran.

»Ich komme«, sagte Kramer.

»So ist brav, Rüdiger. Komm aber bitte allein. Wir bleiben ganz unter uns, dann plaudert es sich gemütlicher. Bis dann! Ach, übrigens: Es ist die Toreinfahrt bei Haus Nr. 17.«

Das Gesicht verschwand, und die Fenster, die Kramer vor seinem Auftauchen auf dem Schirm gehabt hatte, wurden wieder sichtbar. Erst jetzt fiel ihm auf, dass rechts unten am Bildschirm eine kleine grüne Leuchtfläche zu sehen war, die anzeigte, dass eine Verbindung zum Internetz bestand. Wahrscheinlich war der Rechner die ganze Zeit mit dem Netz in Kontakt gewesen, und wenn das stimmte, konnte die Aufzeichnung von Kramers Gespräch mit dem interaktiven Geist wer weiß wohin unterwegs sein. Vielleicht direkt zu Lobedanz' Rechner. Dann erlosch die Leuchtfläche, und die FFS-Platte sprang mit einem leichten Klicken aus dem Laufwerk. Kramer nahm sie heraus und verließ zitternd das Büro seines toten Kollegen.

 

Wilder und wilder, dachte Kramer, als er in der Oderberger Straße aus dem Auto stieg. Er hatte sich während der Fahrt einige Gedanken darüber gemacht, was Harrys Phantom, die NATA und Sebastian Verner miteinander zu tun haben mochten, und dann hatte er es aufgegeben. Er stocherte ohnehin nur im Nebel herum. Als Kriminalist mochte er das nicht, aber es war nun einmal so: Die anscheinend unzusammenhängenden Ereignisse schoben ihn vor sich her, wie ein Schachspieler die Figuren auf dem Brett hin und her schiebt. Wieder fühlte er sich an die Schillerparkfälle erinnert.

Die Oderberger Straße war gar nicht weit von seinem Wohnort entfernt, aber sie gehörte zu einem vernachlässigten Teil von Berlin. Die Häuser waren nicht renoviert, braun und grau; an manchen waren noch Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg zu sehen. Kramer staunte. Er hätte vermutet, dass hier wie fast überall sonst in Berlin die Spuren der Vergangenheit getilgt worden waren. Aber diese Straße wirkte, als habe jemand eine Glasglocke über sie gestülpt und einen Zettel daran befestigt: »DDR 1970-1987, bitte nicht berühren.« An dem Haus, vor dem er geparkt hatte, stand über der Eingangstür: Polstermöbe (das fehlende »L« war abgeblättert). Der Schriftzug war im Stil der zwanziger Jahre gehalten. Nicht zu fassen.

Natürlich gab es Unterschiede zur alten DDR, wie Kramer bald bemerkte. Die Straßenbeleuchtung war besser. Das war zwar einerseits ungünstig, weil es den Zustand der Häuser auch nachts deutlich sichtbar machte, andererseits aber auch gut, weil man den Löchern im Gehweg besser ausweichen konnte. Im Unterschied zu Vor-Wende-Zeiten gab es hier jetzt jede Menge Kneipen, und in der milden Abendluft saßen Hunderte von jungen Leuten auf den Gehsteigen und Terrassen vor den Häusern, rauchten, tranken, palaverten und ließen es sich gut gehen. Schön, dachte Kramer, als er vor Nr. 17 stand. Hätte ich jetzt auch gern.

Nur zwei Armeslängen von ihm entfernt saß eine junge Frau mit dem Rücken zu ihm. Kramer prüfte kurz ihre nackten Schultern. Er hörte sie reden. Angenehme Stimme. Ihr Begleiter sah kurz zu Kramer auf, als wolle er ihn gleich fragen, warum er da herumstand. Kramer fand, die Toreinfahrt zu Nr. 17 sah nicht anders aus als die anderen, an denen er schon vorbeigelaufen war.

»He!«, rief ihm der Begleiter der jungen Frau halbherzig hinterher. Zu spät, Junge, dachte Kramer. Den Beschützer musst du jetzt woanders spielen.

Die Toreinfahrt stank ein wenig nach Pisse. Dahinter lagen die ausgedehnten Hinterhöfe der Oderberger Straße.

Selbst als Berliner fand Kramer es erstaunlich, wie tief diese Höfe gestaffelt waren. Ein miserabler, von vier hohen Wänden umgebener, mit Platten ausgelegter Platz folgte dem anderen, wie die quälend kleinen Pausenhöfe von Gefängnisabteilungen, deren Insassen einander nie sehen dürfen und denen nie bewusst werden darf, wie groß die Anstalt insgesamt ist. Schon im zweiten Hof war von der Straße nichts mehr zu hören. Hier konnte man immer noch ballspielend eine ganze Kindheit in Grau verträumen, bis die Welt zu einem überdimensionalen Lichtschacht geworden war, mit einem Fenster, aus dem die Mutter »Abendessen!« herunterrief. Kramer zählte fünf Höfe, bis er in einen kleinen Park trat.

Er erinnerte sich. Bei dem Einsatz gegen die Oppositionellen waren die Höfe und der Park mit den Kollegen von der VP-Bereitschaft verstopft gewesen. Der Einsatzleiter hatte ihn und zwei andere Offiziersschüler an den Behelmten vorbei »zur vordersten Front« gelotst, dort wo die fünfzig verzweifelten und verängstigten Jugendlichen auf den Abtransport gewartet hatten. Auf dem Weg dorthin waren sie an einem aus Stahlstangen zusammengeschweißten Stier vorbeigekommen, und der Einsatzleiter hatte geschnaubt: »Ist schon so ein Nest hier. Das halten die für Kunst. Nix wie Ärger.« Ein paar Schritt weiter war Kramer die bizarre Einfassung eines Spielplatzes aufgefallen: ein kopfloser Adler in Sandstein gemeißelt, der auf dem Rücken lag, und andere Bruchstücke, die wie die zertrümmerten Kapitelle von großen Säulen oder massiven steinernen Brüstungen aussahen. »Ulkig, nich?«, hatte der Einsatzleiter gesagt. »Das sind original Bruchstücke vom Stadtschloss. Gesprengt, verstehen Sie?« Kramer hatte nicht verstanden. Stadtschloss? Kinderspielplatz? Und dann die »Freilichtbühne«. Nun ja, vielleicht eher ein Braschenviereck mit vier oder fünf in Backstein gemauerten Sitzrängen drumherum. Hinterhof-Amphitheater. Die Jugendlichen hatten auf dem Boden gesessen, entschlossen, sich wegtragen zu lassen – wie die Pershing-Blockierer im Westen. So war es dann auch gelaufen.

Der Stahlstier, der Reichskanzlei-Adler, die Bühne: Alles war noch da. Kramer stand auf dem kleinen Platz, drehte sich einmal um seine eigene Achse, und hörte die Stimmen von damals: das Geschrei, die Beleidigungen, das Geschimpfe. Er hatte es gewusst: In diesem Tumult wurden Biographien umgeschrieben. Gefängnisstrafen wurden vorbereitet, Republikfluchten besiegelt, einige wenige Knochen und viele, viele Herzen gebrochen. Als junger Polizist hatte er sich das alles angesehen, die blutigen Nasen, die knüppelnden Kollegen, die Tritte zwischen die Beine, und ihm war davon schlecht geworden. Und dann hatte er es vergessen, um weiter Polizist bleiben zu können. Seit der Wende kamen solche Einsätze eigentlich nur noch bei Fußballspielen vor, und dort waren sie auch bitter nötig. Ach ja, und bei NKO-Konzerten.

20.45 Uhr. Der Weiße, wie Kramer seinen Gastgeber wegen Penner-Harrys Beschreibung nannte, ließ sich Zeit. Von Minute zu Minute wurde es dunkler. Gebüsche und kleine Bäume verschmolzen mit der Mauer, die den Platz einfasste, zu einer dunkelrotbraunen Fläche. Über der Mauerkrone das letzte Licht dieses Berliner Sommerabends. Kleine, schwirrende Reflexe zogen durch dir Luft, auf seltsam zackigen Kursen, immer rundherum. Kramer dachte zunächst an Vögel, dann aber ging ihm auf: Das mussten Fledermäuse sein. Wie war das noch gleich? Diese Biester orientierten sich mit Sonar und konnten deswegen auch im Dunkeln jagen? Nicht schlecht, dachte er. Könnte ich auch gebrauchen. Manche der langsamen schwarzen Blitze flogen sehr nah an ihm vorbei, und er bildete sich ein, er könne ihre Schreie hören.

»Das ist ein seltsamer Ort, nicht wahr?«

Kramer fuhr herum. Der Weiße stand hinter ihm und lächelte ihn an. Er sah genauso aus, wie Harry ihn beschrieben hatte: ein ziemlich großer Mann mit langem, schmalem Gesicht und eng beieinander stehenden Augen. Er war ganz in Weiß gekleidet, »Dunkelweiß«, wie Harry es genannt hatte, und schon wie er dastand hatte etwas Blasiertes.

»Voller Melancholie und … Eigensinn, wenn man so sagen darf. Wussten Sie, dass hier bis zum Ende der achtziger Jahre illegale Theateraufführungen stattfanden? Manchmal war sogar die Polizei da. Aber wir wollten uns heute Abend über andere Dinge unterhalten. Setzen wir uns doch.«

Der Weiße zeigte auf die kümmerlichen Backsteintheaterränge, und Kramer beschloss mitzuspielen.

Kaum hatten sie sich gesetzt, sagte der Mann: »Ich bin ein Bewunderer des Buddhismus. Kein Buddhist im Wortsinn, das ist mir zu anstrengend. Ein Bewunderer. Ab und zu lese ich in den Lehrreden des Buddha und freue mich darüber. Nehmen wir zum Beispiel die Lehrrede vom Prachtnetz, die Brahmajala-Sutta. Kennen Sie die?«

»Nein«, sagte Kramer. Er fühlte sich hilflos.

»Ah. Dann wird Sie interessieren, was der Buddha zu sagen hatte. Am Ende dieser Lehrrede heißt es: Wenn aber, ihr Mönche, der Mönch der sechs Sinnesgebiete Entstehen und Vergehen, ihre Lust und ihr Leid und das Entrinnen wirklichkeitsgemäß erkennt, so erkennt der, was höher als alle Erfahrung ist. Und alle diejenigen Büßer und Brahmanen, ihr Mönche, die sich mit dem Voranfang befassen, die sich mit der Zukunft befassen, die sich mit Voranfang und Zukunft befassen, die über Voranfang und Zukunft spekulieren, in Bezug auf Voranfang und Zukunft verschiedenartige hochtrabende Lehrsätze vortragen, alle die sind eben mit diesen zweiundsechzig Besonderheiten ins Netz hineingeraten. Wenn sie hochtauchen, tauchen sie hier als gebunden hoch; wenn sie hochtauchen, tauchen sie hier als gefangen, als ins Netz hineingeraten hoch. Gleich als wenn, ihr Mönche, ein geschickter Fischer oder Fischergehilfe mit einem feinmaschigen Netz einen Tümpel durchzöge, dem käme dann der Gedanke: Was es auch in diesem Tümpel hier an groben Lebewesen geben mag, die alle sind ins Netz hineingeraten. Wenn sie hochtauchen, tauchen sie als gebunden hoch; wenn sie hochtauchen, tauchen sie hier als gefangen, als ins Netz hineingeraten hoch – ebenso auch, ihr Mönche: Alle diejenigen Büßer und Brahmanen, die sich mit dem Voranfang befassen, die sich mit der Zukunft befassen, die sich mit Voranfang und Zukunft befassen, die über Voranfang und Zukunft spekulieren, in Bezug auf Voranfang und Zukunft verschiedenartige hochtrabende Lehrsätze vortragen, alle die sind in Bezug auf diese zweiundsechzig Besonderheiten ins Netz hineingeraten. Wenn sie hochtauchen, tauchen sie hier als gebunden hoch; wenn sie hochtauchen, tauchen sie hier als gefangen, als ins Netz hineingeraten hoch.«

Kramer hatte sich schon nach den ersten Sätzen des Weißen nicht mehr konzentrieren können und in den immer dunkleren, von Fledermäusen gekreuzten Abendhimmel geblickt. Zweifellos hatte der Weiße das bemerkt, aber seinen Vortrag hatte er trotzdem gehalten. Was ist das eigentlich hier?, dachte Kramer.

»Verstehen Sie, was der Buddha damit sagen will?«, fragte der Mann, anscheinend ehrlich an einer Antwort interessiert.

»Nein«, sagte Kramer.

»Ah«, seufzte der Weiße. Er klang enttäuscht. »Dieses Gleichnis vom Fischergehilfen erfrischt mich jedes Mal, wenn ich es lese. Geistig gesprochen.«

»Aha«, sagte Kramer und sah den Weißen an. Es war schon zu dunkel, um seine Augen noch richtig sehen zu können, die Hutkrempe verdunkelte das Gesicht zusätzlich. »Kann schon sein. Aber ich bin nicht hergekommen, um mir irgendwelchen mystischen Unsinn anzuhören. Was wissen Sie über Michael Abusch?«

»Über Michael Abusch? Wenig und doch sehr viel. Sie sind immer so direkt, Genosse Oberleutnant. Manchmal führen Umwege schneller und sicherer zum Ziel als die breite Schnellstraße. Es ist nicht alles wie es scheint. Denken Sie doch einmal an Herr Schwernik und seinen Todesgarten. Denken Sie doch überhaupt einmal.«

Kramer hatte genug. Der Fall mochte abgeschlossen sein, aber hier hatte er einen Verdächtigen – den ersten konkreten Verdächtigen, der ihm überhaupt über den Weg gelaufen war –, und selbst wenn Lobedanz ihn in der Luft zerreißen würde, wollte er sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen.

»Wissen Sie was?«, sagte er. »Wir machen das jetzt ganz anders. Ich nehme Sie fest, und dann reden wir auf der Inspektion mal Klartext. Wie finden Sie das?«

Der Weiße lächelte so breit, dass man seine Zähne sehen konnte. »Sie nehmen mich fest?«, sagte er. »Wie putzig!«

Dann sprang er schockierend schnell auf und lief weg. Als Kramer ihm hinterhersetzen wollte, stolperte er über einen der Sitzränge und fiel hin. Kaum hatte er sich aufgerappelt, wurde er wie von einem leichten Faustschlag an der Brust getroffen. Verwirrt taumelte er zurück. Eine Fledermaus, dachte er, das muss eine Fledermaus gewesen sein. Er fing sich und suchte die Umgebung nach dem Flüchtigen ab. Plötzlich konnte er den Mantel des Weißen durch die Büsche des Hinterhofparks schimmern sehen. Offenbar hatte er vor, sich dort zu verstecken. Dumm gelaufen, dachte Kramer. Hättste nur den offiziellen Ausgang genommen. Er warf sich mit gezogener Pistole in das Strauchwerk und nahm die Verfolgung auf.

So schnell der Weiße davongelaufen war, so unbeholfen bewegte er sich durch die Büsche. Er hatte seinen Hut verloren und schien auch ein wenig kleiner zu sein als vorhin, aber das kam wohl daher, dass er sich geduckt hielt. Kramer holte ihn ein. Hat ihm schon, dachte er, als er den Weißen am Arm packte. Aber noch während er ihn herumriss, dachte er: Hier stimmt was nicht.

»Nicht schießen!«, schrie eine hohe Stimme, und Kramer sah in ein Frauengesicht, das ihm bekannt vorkam. »Nicht! Ich ergebe mich!«

Es dauerte eine Weile, bis er sie erkannte: Vor ihm stand Katharina Abusch, hell gekleidet wie der Weiße, keuchend und schluchzend, ganz Angst und Verzweiflung.

»Frau Abusch!«, sagte er entgeistert, während er die Pistole sinken ließ und den Griff an ihrem Arm lockerte. »Was machen Sie denn hier?«

»Nicht schießen«, sagte sie weinend.

»Nein«, stammelte er, »natürlich nicht.« Er steckte die Pistole weg.

»Ich habe zufällig gesehen, wie Sie vorhin aus dem Auto gestiegen sind. Dann bin ich Ihnen gefolgt. Lassen Sie mich in Ruhe!«

Sie wollte sich seitlich an ihm vorbeidrücken. Kramer hielt sie auf.

»Sie sind mir gefolgt? Warum das denn?«

»Das geht Sie nichts an«, sagte sie und schob ihn erstaunlich energisch zur Seite.

»Halt!«, sagte Kramer. »Warten Sie!«

»Das geht Sie überhaupt nichts an!« Ihr Tonfall wurde wieder hysterisch, während sie sich durch die Büsche kämpfte. »Wenn Sie mir etwas tun, sage ich es Ihrem Vorgesetzten!«

»Frau Abusch!«

»Lassen Sie mich!« Sie lief los.

Kramer, plötzlich von der Aussicht gelähmt, sie könne ihn wirklich bei Lobedanz anschwärzen, rief ihr machtlos hinterher: »Bleiben Sie stehen!«

»Lassen Sie mich!«

Weg war sie.

»Scheiße«, fluchte Kramer, wankte zu den Sitzrängen und setzte sich hin. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«

Er bekam das alles nicht mehr geregelt. Er musste jetzt mit jemandem reden. Er musste einfach.

 

Als Kramer in der Lumumbastraße ankam, war es Nacht. Eine schöne Ecke von Berlin. Die Rehberge und der Goethepark lagen unmittelbar in der Nähe, und von der Erich-Honecker-Kaserne, die auch nicht weit entfernt war, bekam man gar nichts mit. Kramer parkte den Wagen im Zwielicht unter den Alleebäumen am Goethepark, die den Straßenlaternen in einem auffrischenden Nachtwind die Zweige um die Blechmützen schlugen. Der hell erleuchtete Haupteingang der »Wissenschaftlichen Leitstelle Berlin« lag direkt gegenüber. Kramer rief noch einmal daheim an. Niemand regte sich: Anette saß noch an ihrem Schreibtisch. Sollte er sich ihr wirklich anvertrauen? Sie in diesen verflixten Fall hineinziehen? Aber sein Kopf drehte sich, wenn er nur an diesen Abend dachte. Er brauchte Entlastung, jemanden, der ihm die Hand auf die Schulter legte und sagte: »Nimm das doch nicht so wichtig« oder: »Spinn dich aus.« Wenn nicht Anette, wer dann?

Als er gerade aussteigen wollte, schwebte über der Afrikanischen Straße ein Werbeballon von enormer Größe heran. Das Ding flog tief und trug eine gigantische Leuchtschrift, die so hell strahlte, dass sie trotz der Straßenbeleuchtung Schatten warf: »Plaste und Elaste aus Schkopau – VEB Chemische Werke Buna«. Kramer konnte es kaum glauben. Das Schauspiel des sich im Nachtwind relativ rasch dahinbewegenden Ballons hatte gleichzeitig etwas Majestätisches und Lächerliches: Seine schiere Größe zwang zum Staunen. Aber dass für Produkte, die in der DDR jeder kannte, solch ein Aufwand getrieben wurde, noch dazu mitten in der Nacht, war grotesk. Das musste eines dieser Dinger aus der neuen Luftschiffwerft in Senftenberg sein. Der Ballon segelte davon, Kramer schüttelte den Kopf und machte die Wagentür auf.

In diesem Moment öffnete sich der Haupteingang. Ein Mann und eine Frau traten heraus und kamen dann Arm in Arm die Treppe zur Straße herunter. Die Frau hätte Kramer in jedem Licht erkannt, allein schon an ihrer Statur und ihrem Gang: Es war Anette. Wer der Mann war, wurde ihm erst klar, als das Paar sich am Fuß der Treppe umarmte und leidenschaftlich küsste. Akkermann. Das war Akkermann in Uniform, der seiner Frau dort drüben, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, einen leidenschaftlich-verliebten Zungenkuss gab. Kramer blinzelte, und er blinzelte noch einmal, aber das Bild ging nicht weg. Sobald er hinsah, waren sie wieder da: Akkermann und Anette in enger Umarmung. Eine lähmende Form von Elektrizität stieg an Kramers Armen und Beinen auf. Er fühlte sich, als würden ihm die inneren Organe von groben Fäusten zusammengepresst. Langsam, ganz langsam, schaffte er es, seinen linken Fuß wieder ins Wageninnere zu befördern und die Tür fast geräuschlos zu schließen. Er sank in seinem Sitz zusammen, bis er gerade noch aus dem Wagenfenster hinaussehen konnte. Sein Kopf wurde immer heißer. Seine Knie fingen an zu zittern, weil er so unbequem halb saß, halb lag. Ich töte sie, dachte er. Beide. Mit meiner Pistole.

Der Kuss dauerte lange, und Kramer konnte nicht wegsehen. Es war, als würde er mit einem glühenden Eisen gebrandmarkt und könne von Anblick und Gestank seines eigenen brutzelnden Fleischs nicht genug bekommen. Akkermann tastete an Anettes Hintern herum, und sie fand das offenbar angenehm. Als die beiden sich endlich trennten, hoffte er nur, dass sie ihn nicht entdeckten. Das Wageninnere war dunkel. Vielleicht übersahen sie ihn.

Sein Wunsch ging in Erfüllung. Die beiden waren noch so damit beschäftigt, einander Kusshände zuzuwerfen, dass sie ihrer Umgebung kaum Beachtung schenkten. Akkermann stieg in sein Auto und fuhr weg, Anette genauso. Sie fuhr nach Hause, so wusste Kramer, in der sicheren Erwartung, ihn vor dem Fernseher oder im Bett zu finden.

Sie würde die Tür aufmachen, ihre Sachen abstellen und aufs Klo gehen, um sich ein wenig frisch zu machen. Akkermanns Sperma auswaschen. Nicht zu sehr nach Mann stinken. Dass die beiden gefickt hatten, war offensichtlich. In irgendeiner Besenkammer oder im Büro waren sie übereinander hergefallen, wie immer, wenn Speidel angeblich wieder seine beste Kraft bis in die Nacht hinein bei der Arbeit festgehalten hatte. Nachtschicht sozusagen – aber nicht mit Speidel, sondern mit Akkermann.

Sie würde sich frisch machen, die Spuren verwischen, und dann ins Schlafzimmer gehen, in der Absicht, sich glücklich und durchgefickt ins Bett gleiten zu lassen. Und das einzige, worüber sich Kramer in diesem Moment freuen konnte, war der Gedanke, dass sie sich mit der Idee verrechnet hatte, er liege wie üblich dumm und ahnungslos da und schlafe schon längst. Er bekam einen hysterischen Lachanfall. Heimfahren? Nie. Das würde einer von ihnen beiden nicht überleben. Hastig ließ er das Fenster herunter, weil er plötzlich zu ersticken glaubte. Die Bäume rauschten gewaltig.