Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen
»Wie war meine Beerdigung?«
Kramer fuhr herum. Er hatte in seinem Büro wieder einmal Polyplay gespielt, an dem alten Rechner von Michael Abusch. Mittlerweile konnte er den Ton abstellen, so dass Pasulke ihn nicht immer belustigt ansah, wenn er auf die Toilette ging. Er glaubte zuerst, sich verhört zu haben. Aber nein, vom Bildschirm seiner R-610 grinste ihn das Jungengesicht von Uwe Merz an. Wie er leibte und lebte. Auch wenn er nicht sehr gesund aussah und das Grinsen eher wie das eines magenkranken Geiers wirkte.
»Bitte erschrick nicht. Das ist alles aufgezeichnet. Ich bin schon tot. Ich bin verrückt.«
Kramer rollte auf seinem Stuhl näher an den Bildschirm heran. Er sah sich einmal um, ob er auch wirklich allein war. Lobedanz fiel ihm ein. Wenn der jetzt lauschte, konnte er wenig dagegen tun.
»Du musst keine Angst haben. Lobedanz stört uns nicht. Schließlich habe ich sein kleines Spionageprogramm geschrieben, also kann ich es auch sabotieren. Sogar mit Zeitschaltuhr.«
Merz lachte. Diese Lache war Kramer von Merz nicht gewöhnt.
»Und natürlich bist du es selbst, Rüdiger. Man kann dich an der Art erkennen, wie du auf einer Computertastatur schreibst, weißt du das? Du verschreibst dich oft beim t, nicht wahr? Rutscht immer mal wieder ein z dazwischen. Menschen sind so einfach.«
Wieder dieses aasige Lachen.
»Du fragst dich sicher, was das hier soll. Ob ich vor meinem Tod völlig durchgedreht bin. Richtig. Bin völlig durchgedreht. Fast völlig. Ich muss jetzt bald gehen.«
Merz hielt seine Dienstwaffe ins Bild. Bitte nicht, dachte Kramer. Nicht vor meinen Augen.
»Aber vorher, da hab ich noch einen Rat für dich.«
Merz lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Ich kenn dich doch. Sie haben dich in Urlaub geschickt, weil du ein bisschen Scheiße gebaut hast. Und du weißt natürlich, dass das nicht der wahre Grund ist. Deswegen reizt dich das Ganze jetzt doppelt. Mit der Kinderlandverschickung nach Dänemark hat dich Lobedanz erst recht scharf gemacht. Jetzt willst du es wirklich wissen. Warum die Stasi bei dir rumfingert, warum die Abusch nicht durch die Mangel gedreht werden darf, warum in diesem Fall alles so verfahren und dicht und zugeknöpft ist, bis oben hin. Hat Lobedanz den Deckel schon zugemacht? Besser so. Der weiß, was gut für ihn ist.«
Merz fuchtelte mit der Pistole herum.
»Aber du, du bist ein richtiger Idiot. Du willst die Wahrheit wissen, ja? Du willst durchblicken. Du lässt dich nicht verarschen.«
Kramer fühlte eine irrationale Lust in sich aufsteigen, den Bildschirm von seinem Sockel zu stoßen. Merz war immer ein Witzbold gewesen, und er hatte auch nie ein Blatt vor den Mund genommen. Aber so hatte der echte Merz, der gesunde Merz, nie mit ihm geredet. Das war einfach nicht sein Stil gewesen. Andererseits, und das ärgerte ihn doppelt, hatte der Merz mit der Pistole in der Hand Recht. Kramer war wirklich neugierig. Er wollte die Wahrheit wissen.
»Ich hab's rausgefunden. Ich weiß die Wahrheit. Zumindest einen großen Teil davon. Michael war auch nah dran. Deswegen ist er tot. Üble Sache. Ich geb dir einen guten Rat: Lass die Finger davon. Fang mit dem Rechner an, auf dem du so fleißig Polyplay spielst. Schmeiß ihn aus dem Fenster. Vergiss die ganze Angelegenheit. Trainier's dir ab, daran zu denken. Vergiss es so gründlich wie du kannst. Bitte.«
Merz lehnte sich auf seinem Stuhl vor und rückte dadurch wieder näher. Seine Augen waren groß.
»Du kannst nicht gewinnen, Rüdiger. Lass es sein.«
Als wäre er wirklich hier, dachte Kramer. Als spräche er mit mir.
»Ich muss jetzt bald gehen. Du hättest nichts tun können. Es gibt keinen Himmel.«
Merz zündete sich eine Zigarette an, was mit der Pistole in der Hand nicht ganz leicht war. Eigentlich war er Nichtraucher gewesen.
»Gib dir keine Mühe. Die Datei, die löscht sich selbst. Selbst wenn das nicht funktioniert, kannst du sie nicht finden. Such erst gar nicht danach. Mach's gut.«
Das Fenster verschwand, und der Computer startete sich automatisch neu. Kramer fühlte sich, als sei er im falschen Film.
Die Arbeit erledigte er an diesem Tag wie in Trance. Es gab einen Raubmord, den er aufzuklären hatte, aber die beiden anstehenden Vernehmungen führte hauptsächlich Pasulke, und er machte seine Sache gut. Kramer war nicht wirklich beteiligt, ihm ging immer nur ein und derselbe Satz durch den Kopf: Es gibt keinen Himmel. Pasulke fragte ihn einmal, was los sei. Kramer sagte, ihm sei nicht gut. Pasulke riet ihm, sich auszuruhen, und vielleicht ein oder zwei Tage freizunehmen. Er ging früher nach Hause. Anette war schon da. Sie setzte sich zu ihm, als er sich aufs Sofa legte. Auf ihre besorgten Nachfragen antwortete er nur, er habe vielleicht etwas Falsches gegessen. Anette machte ihm einen Kamillentee.
Am nächsten Morgen war er bereit, die posthume Botschaft von Merz als Teil einer spontanen psychotischen Episode zu betrachten, die auch zu seinem Tod geführt hatte. Merz war durchgedreht. So was kam vor. Vor ein paar Jahren hatte ein Polizist aus Moabit in einem Anfall von Wahnsinn seine ganze Familie ausgelöscht, auch mit der Dienstwaffe. Merz war an einen ähnlichen Bruchpunkt gekommen, und weil er sich schämte und nicht weiterwusste, hatte er seinen Nachforschungen zu den verschlüsselten Dateien Michael Abuschs einen Sinn untergeschoben, den sie nicht hatten. Kramer kannte das von Leuten, die mit einem Mord an den Händen vor ihm saßen und ihm erzählten, sie seien es nicht gewesen oder sie hätten das Opfer doch nur geschubst. Merz hatte eine Rechtfertigung für eine Verzweiflungstat gesucht, deren wirkliche Ursachen vielleicht nicht einmal er selbst kannte. Und diese Rechtfertigung war ihm wichtig genug gewesen, um sie Kramer noch nach seinem Tod auf die Nase binden zu wollen. Die arme Franziska Merz. Hoffentlich hatte er ihr nicht etwas Ähnliches hinterlassen. Kramer sprach mit niemandem über die Eskapade von Merz. Er wollte sein Andenken nicht beschädigen.
Gerade an diesem Morgen wurde ihm die Macht des Gewissens demonstriert. Der Raubmord, den Lobedanz ihm vor zwei Tagen zugeschustert hatte, erwies sich als leichter Fall. Der Hauptverdächtige, noch nicht verhaftet, aber nahe dran, verwickelte sich bereits massiv in Widersprüche, und nach ein wenig Hin und Her hatten Pasulke und Kramer ihn so weit, dass er zugab, »im Prinzip« mit dem Tod des Opfers etwas zu tun zu haben. Das ganze stellte sich als eine miese kleine Geschichte aus dem kriminellen Milieu heraus. Der Täter war ein Einbrecher. Er hatte Spielschulden und brauchte dringend Geld. Daher hatte er in der Verzweiflung einen Rentner erschlagen, um an dessen Ersparnisse zu kommen. Beute: 308,74 Mark und einige Scheine in altem Westgeld, das der Rentner aufbewahrt hatte, obwohl es schon lange keinen Wert mehr hatte.
Die Sachlage war eindeutig. Die Fingerabdrücke passten, die Tatwaffe war bei dem Täter gefunden worden, und nach seinem »prinzipiellen« Teilgeständnis war die Sache ohnehin gelaufen. Aber immer noch behauptete er, dass der Rentner nicht wirklich von ihm getötet worden war, obwohl er ihn »im Prinzip« schon geschlagen habe, das ja, aber nicht fest genug. »Der muss wat jehabt haben.« Berlin im Jahre 2000. Kramer verhaftete ihn vom Fleck weg.
Beim Abfassen seines Berichts achtete er ganz bewusst darauf, »t« nicht mit »z« zu verwechseln.
Kramer war auf der Jagd nach einem Buch und einem Blumenstrauß. Der Raubmordfall war abgeschlossen (Kramer hatte kurz vor Dienstschluss noch einmal mit Lobedanz darüber geredet), und weil sonst nichts Gewichtiges anlag, war er etwas früher gegangen als sonst. Nach den Aufregungen der letzten Zeit wollte er sich mit einem guten Buch belohnen. Anette hatte schon länger keine Blumen mehr von ihm bekommen. In einem »florist«-Geschäft der OGS fiel ihm ein schönes Bouquet aus Fresien und weißen Röschen auf. Er ließ es noch ein wenig mit Gartengrün und schönem Einschlagpapier verzieren und fand es dann sehr passend. Der hohe Preis ärgerte ihn, und er musste über seinen Geiz lachen.
Die Volksbuchhandlung Friedrichshain war ganz in der Nähe. Das neue FDJ-Kochbüchlein von Benjamin von Stuckrad-Barre war gerade erschienen. Stuckrad-Barre, ein junger schreibender FDJ-Kader, hatte sich mit seinen süffisanten Possen über den Staatsapparat der DDR einen Namen gemacht. Alles, was er schrieb, war frech genug, um die Bedürfnisse eines begeisterten Publikums nach ein wenig Motzerei und Satire zu befriedigen, und gleichzeitig harmlos genug, um bei den Behörden kein ernsthaftes Stirnrunzeln auszulösen. Sein FDJ-Liederbuch mit leicht umgedichteten Parteihymnen, Fahrtenliedern und ähnlichem war einhunderttausend Mal gedruckt worden, und er wies in Interviews immer wieder darauf hin, dass es auch einhunderttausend Mal gekauft worden war – »derzeit vergriffen« hieß es, wenn man es bestellen wollte. Das FDJ-Kochbüchlein war nach demselben Strickmuster aufgemacht: kleine Spitzen gegen den bürokratischen DDR-Alltag, verpackt in neckische Anekdoten um Kochen, Backen und Braten. Da wurde vieles in die Pfanne gehauen, anderes brutzelte im eigenen Saft vor sich hin, und Kramer legte das Buch beiseite, nachdem ihn auf Seite drei die Langeweile übermannt hatte.
Der neue Grass war auch da: Ein weites Feld. Reich-Ranicki hatte das Buch im »Literarischen Quartett« als »langweiligen Bildungsextrakt« mit »tendenziell antisozialistischem Subtext« verrissen, aber die Leser kauften es trotzdem. Besonders im Westen waren Grass' Kritik an der sozialistischen »Turbovereinigung« und seine bitteren Glossen über »neusozialistische Wendehälse« eingeschlagen wie eine Bombe, aber auch im Osten fand er seine Leser. Kramer war das Buch zu dick.
Dann fiel ihm der neue Kolbe in die Hände: Vineta. Er erinnerte sich, in der Jungen Welt etwas darüber gelesen zu haben. Der schmale Lyrikband mit vier Dutzend Gedichten hatte dem Rezensenten des FDJ-Organs nicht sehr behagt, auch wenn Kolbe eine »hohe Sprachbeherrschung« und ein allgemein »hohes ästhetisches Niveau« bescheinigt wurde. Der Rezensent kolportierte die Geschichte, dass Uwe Kolbe 1987 knapp vor der Republikflucht gestanden habe, und vermutete, er habe in Vineta seine »Liebe zur untergegangenen BRD verschlüsselt«. Und wenn schon, dachte Kramer. Er kaufte den Band.
Als er in eine schmale Seitenstraße einbog, um schneller zu seinem Auto zurückzukommen, wurde er Zeuge einer miserablen Szene. Vier Skinheads traten und prügelten auf einen Mann ein, der bereits am Boden lag. Dazu schrien sie Sachen wie: »Ich bring dich um, du Scheißpolack!« und »Polackensau!« Die Straße war menschenleer. Nur wenige Autos säumten den schadhaften Asphalt. Als Kramer nach oben sah, ging ein Fenster zu und eine Gardine wurde vorgeschoben. Der Himmel in dem schmalen Spalt zwischen den Häusern war strahlend blau.
Eine kalte Wut stieg in Kramer auf. Buch und Blumenstrauß warf er zu Boden, dann zog er seine Pistole und lief auf die Gruppe zu. »Polizei!«, schrie er. »Stehen bleiben! Aufhören!«
Die Skinheads sahen auf, als sie ihn über ihrem eigenen Geschrei verstehen konnten, zögerten kurz verschreckt und flüchteten. Kramer hatte Lust, ihnen hinterherzuschießen, aber er ließ es bleiben.
Der Mann am Boden wimmerte. Als Kramer sich neben ihn kniete, versuchte er sich aufzustützen. Sein Gesicht sah wirklich schlimm aus. Er blutete aus dem Mund, die Augen waren zugeschwollen, und als er sich schließlich in Sitzposition manövriert hatte, hielt er sich ächzend den Bauch. Kramer war hilflos und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, um den Verletzten von weiteren Bewegungen abzuhalten. Es dauerte eine Zeit, bis er seine Pistole wieder eingesteckt hatte, die ihn beim Herumfuchteln behinderte. Der Mann murmelte vor sich hin. Nach dem, was Kramer mitbekam, sprach er tatsächlich Polnisch. Er schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Als er auch noch aufstehen wollte, begann Kramer zu protestieren.
»Um Himmels willen, bleiben Sie sitzen! Sie sind verletzt!«
Aber der Mann wollte nicht hören. Mit unglaublicher Sturheit rappelte er sich hoch. Dabei murmelte er ständig unverständliches Zeug, nestelte mit der einen Hand in seiner Jacke herum und wehrte mit der anderen Kramers Versuche ab, ihn zur Vernunft zu bringen. Als er schließlich schwankend und blutend vor Kramer stand, zog er etwas aus seiner Jacke, drückte es Kramer in die Hand und taumelte, stolperte, lief los. Kramer steckte reflexartig ein, was der Mann ihm gegeben hatte, und folgte ihm.
»Mann! Bleiben Sie stehen! Halt! Ich rufe einen Sanka!«
Der Mann rannte einfach weg. Kramer wollte ihm auf den Fersen bleiben, aber das war nicht einfach, denn er wählte gleichzeitig auf seinem Mobi die 115. Mit dem Telefon am Ohr verfolgte er den Fliehenden, der gerade um eine Ecke bog. Als Kramer diese Ecke erreichte und sich in alle Richtungen umsah, war der Mann wie vom Erdboden verschluckt.
»Hallo, Schnelle Medizinische Hilfe hier, wo brennt's denn?«
Kramer drehte sich hin und her, um den Verletzten vielleicht doch noch irgendwo zu entdecken, aber da war niemand. Resigniert nahm er das Mobi vom Ohr.
»Hallo? Hallo?«, tönte es aus dem Hörer.
Kramer schaltete das Telefon ab und steckte es ein.
»Scheiße!«
Er konnte immer noch nicht glauben, dass er von einem Halbtoten abgehängt worden war, und lief noch ein paar Meter in die eine Richtung, dann in die andere. Vielleicht hielt sich der Mann in einem Hauseingang oder in einer Toreinfahrt versteckt? Aber warum war er überhaupt geflohen? Er hatte Kramer für einen der Angreifer gehalten, das war die einzig mögliche Erklärung. Der Mann blieb verschwunden.
Buch und Blumenstrauß fand Kramer nicht mehr.
»Wird heute später«, stand auf dem Zettel, der in einer Untertasse auf dem Küchentisch lag. Kramer war enttäuscht. Er hätte gerne mit Anette über sein seltsames Erlebnis gesprochen, und er hätte ihr auch gerne erzählt, dass er Blumen für sie gekauft hatte. Aber es würde später werden. Kramer ahnte: so spät, dass ein Gespräch dann nicht mehr lohnte.
Er versuchte sich vor dem Fernseher zu entspannen. Das misslang. Der Hauptbericht der Aktuellen Kamera handelte von Helmut Kohl. Der letzte Kanzler der BRD hatte versucht, ein Urteil des Bezirksgerichts Bonn gegen ihn durch das Oberste Gericht in Berlin aufheben zu lassen. Die Haftstrafe, die das Bezirksgericht verhängt hatte, war jedoch vom Obersten Gericht bestätigt worden, und die Aktuelle Kamera zeigte ihn auf dem Weg in den Knast, begleitet von zwei Kollegen Kramers, die ihn an den Armen hinter sich herzogen. Das wirkte fast komisch: Der dicke Riese wurde von zwei Männern eskortiert, die beide um einen Kopf kleiner waren als er; die drei sahen aus wie Zirkuswärter mit ihrem Tanzbären.
Die Aktuelle Kamera erwähnte, dass es Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Kohls Haftstrafe gab, die aber unbegründet seien. Kohls Rechtsanwalt wurde interviewt und behauptete, das Bonner und das Berliner Urteil hätten keine echte gesetzliche Grundlage. Der vor drei Jahren neu geschaffene Straftatbestand »Korruption« sei eine »Lex Kohl«, und die DDR sperre den ehemaligen Bundeskanzler für ein Vergehen ein, das es zum Zeitpunkt der Tatbegehung in der DDR gar nicht gegeben habe und noch heute nicht gebe: illegale Parteienfinanzierung. Ein Verfassungsrechtler der Bonner Universität erwiderte: Korruption sei in jedem zivilisierten Land der Erde strafbar, daher seien die Urteile gegen Dr. Helmut Kohl gerecht. Kohl durfte noch einmal seinen Fans winken, die ihn bis vor die Tore der Haftanstalt Preungesheim begleitet hatten, dann schloss sich die graue Stahltür hinter ihm. Kramer schaltete ab. 19:48 Uhr zeigte die alte digitale Küchenuhr. Viel zu früh, um schlafen zu gehen. Viel zu spät, um den Abend noch richtig zu planen.
Kramer hängte seine Jacke an die Garderobe. Bei seiner Heimkehr hatte er sie achtlos über das Sofa im Wohnzimmer geworfen, jetzt räumte er sie weg, weil Anette umherliegende Klamotten im Wohnzimmer hasste. Er fischte sein Mobi aus der Innentasche, um es in die Ladestation zu stellen. Dabei erwischte er auch ein zerknittertes, gefaltetes Papier. Kramer stutzte: Ach ja, das hatte ihm der Verletzte gegeben, bevor er losgelaufen war. Er öffnete es.
Bei dem Papier handelte es sich um eine Werbepostkarte für die Frankfurter Allgemeine – Zeitung für Deutschland, die mindestens zehn Jahre alt sein musste. »Die Frankfurter Allgemeine (Zeitung für Deutschland) sendet jedem Leser kostenlos ein Buch im Werte von DEUTSCHE MARK – Zwanzig – UND MEHR, wenn er der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen neuen Abonnenten (der noch nicht ihr Bezieher war) für mindestens sechs Monate zuführt«, las Kramer. Er musste ein wenig über den Begriff »zuführen« schmunzeln, der in der DDR immer noch »verhaften« bedeutete. Alternativ zu dem Buch versprach die Werbeabteilung der Zeitung dem Zuführer einen »Leuchtglobus«, der aber erst abgesandt wurde, wenn die Bezugsgebühren für zwölf Monate bezahlt waren. Zehn Jahre? Nach Machart und Stil war diese Karte mindestens zwanzig Jahre alt. Vielleicht stammte sie sogar aus der Mitte der Siebziger, die Sprache passte. Was sollte das? Seines Wissens war die Frankfurter Allgemeine nach der Wende mit der Frankfurter Rundschau zur Frankfurter Zeitung zusammengelegt worden. Wer konnte ein Interesse daran haben, jahrzehntealte Werbepostkarten einer Zeitung aufzubewahren, die es schon lange nicht mehr gab?
Kramer drehte die Postkarte um. Rechts oben, unter der Markierung für die Briefmarke (»Gebühr bezahlt Empfänger«), war etwas mit Bleistift notiert worden. Die Handschrift war zittrig, der Bleistift war hart gewesen, und Kramer entzifferte mühsam: »S. 29, R.!«
Na denn, dachte Kramer und ging in die Küche, um das Mobi zu versorgen und die dämliche Postkarte wegzuwerfen. Dabei kam er durchs Wohnzimmer, und ihm fiel auf, dass das Buch über die Finanzdelikte auf dem Couchtisch lag. Er wollte gerade weitergehen, als ihm siedend heiß einfiel, dass die Leihfrist für das Buch längst abgelaufen war. Er versuchte sich das Gesicht der Bibliothekarin vorzustellen, wenn er wie ein armer Sünder bei ihr auftauchte, um ein Buch zurückzugeben, das mehrere Wochen zu lange in seinem Besitz gewesen war. In seinem Kopf klickte etwas. Nein, das war ein wirklich zu verrückter Gedanke. Aber wie unter Zwang nahm er das Buch und blätterte bis zur Seite 29 durch. Er zitterte. Auf Seite 29 begann das Kapitel »Zur Latenz bei Finanzdelikten unter Missbrauch der EDV«. Unten, gleich neben der Seitenzahl, stand eine Notiz, wiederum mit Bleistift geschrieben, wiederum in schwer lesbarer Handschrift. »5.5. Späthbrücke, 21.00 Uhr«. Kramer blätterte die Seiten durch: nirgendwo sonst Randbemerkungen oder etwas dergleichen. Er ging in die Küche.
Das ist doch klassisch, oder? So fängt eine Psychose an, nicht wahr? Zusammenhänge dort sehen, wo keine sind, Bedeutung in Zufälle hineinlegen, die keine haben, Verschwörungstheorien, die Idee, dass man beobachtet wird. Nicht zur Späthbrücke gehen. Einen Arzt aufsuchen. Frau Dr. Lorenz in der Charité. Vielleicht hat sie ja heute Abend Dienst. Er prüfte noch einmal Postkarte und Buch: alles wie gehabt. Ein Zufall. Ein extrem unwahrscheinlicher Zufall. Nichts überstürzen.
Quatsch mit Soße, meldete sich eine Stimme in ihm. Kramer erkannte sie gleich. Es war die Stimme der Vernunft. Nüchtern, unpathetisch, klar. So viel Zufall gibt's gar nicht. Das hier hat auf jeden Fall eine Bedeutung. Entweder bin ich verrückt, oder jemand will mir was sagen. Ich find's nicht heraus, wenn ich nicht hingehe. 20:01 Uhr. Aus der Küchenschublade zog er einen zerfledderten Plan von Großberlin (Hauptstadt der DDR) und suchte nach der Späthbrücke. Sie lag in Britz (Bez. Neukölln) und führte über den Teltowkanal nach Johannisthai (Bez. Treptow). Eine vergleichsweise dünn besiedelte Gegend, wie auf der Karte zu sehen war. Wenn er sich beeilte, konnte er es schaffen.
Die Späthbrücke lag wirklich in einer sehr dünn besiedelten Gegend. Kramer kam sich beinahe wie auf dem flachen Land vor. Ihm war schon öfter erzählt worden, Berlin bestehe noch heute aus Dörfern; hier stimmte es. In der Ferne die roten Dächer von Späthsfelde. Die Brücke: verlassen. Kein Auto, kein Mensch. 21:03 Uhr. Konnte es sein, dass er schon zu spät war? Konnte es sein, dass er sich hier zum Narren machte, weil er Sachen zusammenrechnete, die nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun hatten? Wie würde er sich fühlen, wenn er einen halben Abend damit verbracht hatte, zu einer gottverlassenen Kanalbrücke am Rande Berlins und zurück zu fahren, nur weil er glaubte, dort Hinweise auf einen abgeschlossenen Mordfall zu finden?
Die Brücke war unspektakulär, um nicht zu sagen, hässlich. Eine Konstruktion aus Eisenstreben, die eine Fahrbahn für Autos und zwei Gehwege zur Verfügung stellte, einer rechts lang, einer links, fertig. Die Brücke überspannte den Teltowkanal, dessen träges und glattes Wasser Kramers Silhouette spiegelte, als er von der Brücke hinuntersah. Er konnte keine Strömung ausmachen. Das Wasser war vollkommen still. Kramer überlegte sich eine Strategie, um auf sich aufmerksam zu machen. Er würde, so sein Plan, immer über die Brücke hin- und hergehen, auf dem linken Gehweg nach Treptow und auf dem rechten nach Neukölln zurück, hin und her, so lange, bis entweder was passierte oder bis es ihm zu peinlich wurde. Auf diese Weise würde er bestimmt nicht übersehen werden. Wenn ihn jemand treffen wollte, ob er nun zu Fuß, per Boot oder per Auto kam: Einen Mann, der auf dieser kurzen Brücke immer hin- und herging, konnte man kaum übersehen.
Das war völlig idiotisch und so unkriminalistisch wie nur möglich, aber ihm fiel einfach nichts Besseres ein. Er hatte es schon früher so gemacht, wenn er auf keinen Fall übersehen werden wollte, zum Beispiel, wenn er zum ersten Mal ein Mädchen traf. Als Jugendlicher hatte er ganz sicher gehen wollen und bei den vereinbarten Treffpunkten stets die exponierteste Stelle eingenommen, um nur ja aufzufallen. Auch bei Anette war das noch so gewesen. Die Weltzeituhr auf dem Alex, bei der sie sich zum ersten Mal getroffen hatten, war ein schwerer Fall für diese Methode: Sie war gleichzeitig rund und relativ groß, und er konnte sich nicht entscheiden, wohin er sich stellen sollte, um aus möglichst vielen Richtungen sichtbar zu sein. Also wanderte er immer um die Uhr herum, wie ein Tibeter um seine Gebetsmühle, eine Viertelstunde lang, bis er schließlich Anette beinahe anrempelte, die er, von seiner Kreiswanderung völlig absorbiert, fast übersehen hätte. Ihre erste Frage war gewesen: »Was machst du da?« Und ihre erste Auskunft: »Ich hab mich ein wenig verspätet.« Seitdem, dachte Kramer bitter, sind die Verspätungen immer deutlicher ausgefallen.
Diesmal schien der Trick nicht zu funktionieren. Es kamen zwar ein paar Autos vorbei, eines passierte ihn sogar in Schritttempo, aber niemand nahm wirklich Kontakt mit ihm auf. Kein Ruderer, kein Fußgänger, niemand. Nach zwanzig Minuten hatte Kramer genug. Er beschloss, zu seinem Auto zurückzukehren, die Postkarte, den Eintrag in dem Buch und die Brücke zu vergessen und diesen Abend endgültig abzuhaken.
Vor seiner letzten Kanalüberquerung (er war wieder auf dem Weg nach Neukölln) kam er zum x-ten Mal an einem Verkehrsschild vorbei, das Fahrzeugen mit mehr als 7,5 Tonnen Gewicht den Weg über diese Brücke verbot. Irgendjemand hatte das Schild als Zielscheibe benutzt. Die Einschüsse deuteten auf ein Kleinkalibergewehr hin. Am Fuß des Schildmastes lag eine Schachtel, die anscheinend achtlos weggeworfen worden war. Bis jetzt war sie ihm nicht aufgefallen. Kramer ging in die Hocke, weil sie eine interessante Farbe hatte: Das Blau leuchtete in der Dämmerung. Er hob die Schachtel auf und hätte sie beinahe wieder fallen lassen, weil sie sich so seltsam anfühlte. Sie lag wunderbar samtig und schwer in seiner Hand, eine eigenartige Mischung aus metallischem Gewicht und organischer Sanftheit.
Kramer öffnete sie. Darin lag ein Gegenstand, wie er ihn noch nie gesehen hatte: Das Ding hatte in etwa die Größe und Form eines Daumens und glänzte silbern-anthrazitfarben. Er nahm das Fundstück aus der Schachtel heraus. Für seine Größe war es überraschend schwer. Dort, wo bei einem Daumen der Fingernagel gewesen wäre, war ein Zeichen oder eine Markierung eingeprägt: drei Kerben, spitz zulaufend, wie sehr feine und schmale Klingen, wie ein Keilschrift-Zeichen für die Zahl Drei. Kramer hatte dieses Zeichen schon einmal gesehen, aber er konnte sich nicht erinnern, wo. Abgesehen von den Kerben war der Gegenstand unmarkiert. Fabrikat, Hersteller, Seriennummer: nichts von alledem. Wozu diente dieses Ding? Kramer hatte keinen blassen Schimmer. Aber er wusste intuitiv, dass es aus derselben Quelle stammte wie der seltsame Rechner auf dem Schreibtisch von Michael Abusch: Es strahlte dieselbe Aura der Hypermodernität aus, dieselbe quasiorganische Qualität, dieselbe Kompromisslosigkeit der Gestaltung.
Kramer legte den Gegenstand in die Schachtel zurück. Er wog sie in seiner Hand. Sein Ausflug zur Späthbrücke war nicht umsonst gewesen. Aber wie weiter? War das eine Falle? Wollte die Stasi ihn in irgendeinen Mist hineinziehen, der mit Schmuggelaktivitäten zu tun hatte? Aber warum? Er wusste, dass die Stasi zu völlig absurden Konstruktionen neigte, aber das hier schmeckte anders. Es wirkte weitaus bizarrer als die Majorin Schindler und ihre Obsessionen. Fest stand nur, dass irgendjemand ein Spiel mit ihm spielen wollte. Er hockte mit der blauen Schachtel in der Hand vor dem Verkehrsschild und hatte gute Lust zum Mitspielen. Genau, Uwe, dachte er. Ich will wissen, was hier vor sich geht. Ich will es verdammt noch mal wissen.
Auf dem ganzen Weg nach Hause war er gut gelaunt. Er fuhr durch den milden Frühlingsabend. An einer Ampel lächelte ihn ein hübsches Mädchen an. Die Schachtel lag auf dem Beifahrersitz, und er streichelte sie ab und zu, weil sie sich so wunderbar anfühlte. Er nahm sich vor, Anette nichts von seinem Ausflug zu erzählen, allein schon wegen ihrer ständigen Zuspätkommerei. Außerdem wollte er sie nicht mit Angelegenheiten belästigen, die sie nichts angingen. Das war ein ungeschriebenes Gesetz zwischen ihnen: Er schwieg über laufende Ermittlungen, sie schwieg über ihre Arbeit bei der Wismut.
Als er die Tür seiner Wohnung hinter sich zugeschlagen hatte, wusste er sofort, dass sie noch gar nicht da war: Ihr Haken an der Garderobe war leer. 22:12 Uhr. So spät war es schon lange nicht mehr geworden. Aber Kramer wollte sich nicht ärgern. Auch gut, dachte er, dann kann ich noch einmal einen Blick auf die Schachtel werfen. Er legte sie auf den Küchentisch. Weil er Durst hatte, goss er sich ein Glas Mineralwasser ein, trank es auf einen Zug leer und schenkte noch einmal nach. Er holte eine zweite Flasche Margonwasser aus dem Kühlschrank.
Das Material, aus dem die Schachtel gemacht war, faszinierte ihn. Es fühlt sich wie Samt an, dachte er. Wie sehr kurz geschorenes, feines Fell. Aber in Wirklichkeit hatte er keine Vergleiche dafür. Er strich darüber hin und freute sich an dem seltsamen, neuartigen Gefühl. Daraus sollten sie mal Klamotten machen, dachte er, nicht aus dem blöden Malimo.
Als er den Gegenstand aus der Schachtel herausholte, stellte er zu seiner Verblüffung fest, dass die drei Kerben goldfarben leuchteten. Er sah genauer hin: Wenn das Leuchtdioden waren, dann hatte Kramer diesen Typ noch nie gesehen. Nein, nein, das Licht kam aus dem Inneren des Gegenstands. Kramer bekam Bedenken. Was mochte die Ursache für das Leuchten sein? Während seiner Zeit auf der Polizeihochschule war ihm natürlich auch der Umgang mit Leuchtstoffen beigebracht worden. Er konnte sich vage daran erinnern, dass Leuchtstoffe häufig radioaktiv waren. Verstrahlte ihn das Ding gerade?
Das Licht wurde sprunghaft intensiver. Weil es ihn blendete und weil er es wirklich mit der Angst bekam, legte er das Ding auf den Küchentisch, neben die Schachtel. Vielleicht war es aber in der Schachtel besser aufgehoben. Er schloss den Deckel, und sofort begann die ganze Schachtel zu leuchten, blaugolden. Kramer wusste nicht, was er tun sollte. Alles aus dem Fenster werfen? Die Feuerwehr rufen? Andererseits war er noch immer neugierig. Er wollte wissen, wie das Licht aus der Schachtel ohne die Küchenbeleuchtung aussah. Als er die Hängelampe über dem Tisch ausgeschaltet hatte, war das Licht aus der Schachtel schon stark genug, um Schatten zu werfen. Und mit jeder Sekunde wurde es stärker. Sprach- und fassungslos sah Kramer zu, wie das Leuchten schließlich die ganze Küche erfüllte: ein kaltes Feuer, durch das blaue und goldene Funken tanzten. Alles war eingehüllt in dieses Licht: Decken und Wände, die Küchenmöbel, Kramer selbst. Jetzt gab es keine Schatten mehr. Trotz seiner Angst ging Kramer mit ausgestreckten Händen auf die Schachtel zu. Als er die Hand darauflegte, strahlte sie in schmalen Bahnen zwischen seinen Fingern hervor und warf das Abbild seiner Hand vielfach vergrößert an die Decke.
Dann, mit einem Schlag: Dunkelheit. Nichts mehr. Kramer stand in der finsteren Küche, die Finger um die Schachtel gelegt, und wusste immer noch nicht, wie ihm geschah. Es dauerte eine Weile, bis er bemerkte, dass das Telefon klingelte. Langsam ging er rückwärts aus der Küche. Auf dem Weg zum Telefon warf er mehrere unsichere Blicke zurück zur Küchentür. Er betrachtete einige Sekunden lang stumpf den Hörer, bevor er abhob.
»Hallo?«, sagte jemand.
»Anette?«
»Ist was, Rüdiger? Du klingst so komisch?«
Nein dachte er, nichts ist. Ich habe nur gerade die Feen tanzen sehen. In unserer Küche.
»Nein«, sagte er. »Nichts. Ich bin nur müde. Ich bin vor dem Fernseher eingeschlafen.«
»Ach so«, sagte Anette. »Ich wollte dir nur sagen, dass hier das absolute Chaos herrscht. Es hat einen Computerausfall gegeben, und Speidel hat uns allen eine Sonderschicht verordnet, damit das wieder in Ordnung kommt. Nicht auf mich warten.«
»Gut.«
»Wirklich alles in Ordnung? Du klingst so komisch!«
»Ja. Alles in Ordnung. War ein langer Tag heute. Muss ich dir mal erzählen.«
»Ja. Aber nicht jetzt. Die Arbeit ruft.«
»Gut. Wir sehen uns morgen.«
»Bis morgen«, sagte Anette und legte auf.
Kramer hörte sich eine Weile das Freizeichen an. Es klang so beruhigend normal. Dann ging er in die Küche. Die Schachtel lag völlig harmlos auf dem Tisch. Wurde er verrückt? Er musste mit jemandem reden. Aber nicht mit Anette.
Pasulke hatte sein Bier noch nicht angerührt. Sie saßen im Bierkönig, der fürchterlichsten Kneipe Berlins. Der Laden war die ostdeutsche Nachahmung einer Kneipe von Westdeutschen, die seinerzeit eine bayrische Beiz mit Biergarten in Mallorca nachgeahmt hatte, verfeinert durch Reminiszenzen an ehemalige nordamerikanische Diners, wie den »echten Barspiegel« des Hard Rock-Cafés aus Los Angeles. Ein surrealer Alptraum. Pasulke hatte diese Kneipe aufgetan. Er war mit Kramer immer dann dorthin gegangen, wenn es etwas wirklich Ernsthaftes zu bereden gab. Etwas Wichtiges, von dem er gleichwohl wollte, dass es schnell erledigt war. Sie hätten auch in der Inspektion aufs Klo gehen können, aber dort gab es kein Köstritzer.
Diesmal hatte Kramer Pasulke in den Bierkönig gebeten, um ihm die Geschichte mit dem seltsamen Fundstück von der Späthbrücke zu erzählen. Bis jetzt schien Pasulke unbeeindruckt. Vielleicht weil Kramer die Episode mit dem Licht ausgelassen hatte. Er hatte es einfach nicht übers Herz gebracht. Ihm kam sein Erlebnis selbst zu unglaubwürdig vor.
»Zugegeben. Sieht schon eigenartig aus«, sagte Pasulke lahm, während er das Ding zwischen seinen Fingern hin und her rollte, als wolle er eine Zigarre prüfen.
»Eigenartig?«, gab Kramer zurück. Seine Stimme überschlug sich fast. Er musste sich beherrschen. »Ich werde von einer uralten Werbepostkarte und einem Buch aus der Präsidiumsbücherei zur Späthbrücke geschickt. Dort finde ich das hier.« Er zeigte auf die Schachtel. »Eigenartig nennst du das? Hast du so was überhaupt schon mal gesehen?«
»Ja«, sagte Pasulke trocken und legte den Silberdaumen in die Schachtel zurück. »Zumindest das Zeichen auf dem Ding kommt mir ziemlich bekannt vor. Kennst du die NATA?«
Was für eine Frage, dachte Kramer. Natürlich kannte er die NATA! Dieser neue Dienstleistungsbetrieb, der beinahe alles machte, vom Pizzaservice bis zum Schuheputzen, war ja kaum zu übersehen. Weiß gekleidete Mitarbeiter und ein Werbefeldzug in den Medien hatten die NATA innerhalb kürzester Zeit zum Stadtgespräch gemacht.
»Ham denn die damit zu tun?«, fragte er.
Bevor Pasulke antworten konnte, fiel bei ihm der Groschen. Die NATA führte außer drei blauen Strichen auch noch einen dicken roten Punkt in ihrem Firmenzeichen, aber die Ähnlichkeit zu den drei Kerben auf dem Fundstück war unübersehbar.
»Die werfen doch Unmassen von kleinen Geschenken unters Volk. Kugelschreiber, Kaffeetassen, sogar Billigmobis.«
»Jochen«, sagte Kramer beschwörend. »Ist das ein Kugelschreiber? Wozu ist dieses Ding überhaupt gut?« Es hat geleuchtet, fügte er in Gedanken hinzu. Und wie es geleuchtet hat. Fast wünschte er sich, es möge das jetzt auch tun, hier, mitten im Bierkönig. »Ich finde bei Michael Abusch einen Rechner, den es nicht geben darf. Uwe bringt sich um, nachdem er sich mit verschlüsselten Dateien von Michael Abusch beschäftigt hat. Irgendjemand lotst mich mit einem höchst komplizierten Verfahren zu einem Treffpunkt, an dem ein Gegenstand auf mich wartet, der genauso fremdartig wie der mysteriöse Rechner ist und ihm außerdem von der ganzen Machart her auch noch gleicht. Da ist doch was am Laufen!«
Er hatte zu laut gesprochen. Am Nachbartisch drehte sich jemand zu ihnen um. Pasulkes Gesicht verfinsterte sich.
»Hab ich mir doch gedacht. Du murkst das mit der Abusch-Kiste zusammen.«
»Was heißt denn hier ›ich murkse‹? Das sieht doch ein Blinder, dass da was stinkt!«
»Nee, Rüdiger, so nich. Alles, was ich seh, ist ein Prototyp von einem Werbegeschenk und zwei traurige Geschichten, von denen die eine mich immer noch mitnimmt, weil Uwe ein dufter Kerl war. Und außerdem sehe ich einen Oberleutnant der Deutschen Volkspolizei, der zwar kürzlich erst in Dänemark war, der aber einen längeren Urlaub trotzdem gut gebrauchen könnte. So drei oder vier Wochen. So sieht's aus.«
»Ich brauche deine Hilfe«, sagte Kramer schwach. »Ich weiß, dass hier was faul ist, wie seinerzeit bei den Schillerparkfällen. Ich spüre das.«
Pasulke ging nicht darauf ein. »Meine Hilfe brauchst du? In Ordnung. Ich helfe dir mit einem guten Rat. Wenn du wirklich wissen willst, was das hier ist« – er griff nach der Schachtel und schüttelte sie –, »dann geh zur NATA und lass es dir erklären. Vergiss Michael Abusch. Der Fall ist abgeschlossen. Aus. Fini. Erledigt.« Pasulke sah ihn herausfordernd an, wie er das immer machte, wenn er wütend war. »Und noch eins zu Uwe: Vielleicht hat dir das noch niemand erzählt, aber der hat sich umgebracht, weil er Lungenkrebs hatte. Und jetzt ist unsere Mittagspause um. Können wir zahlen?«
»Lungenkrebs?«, fragte Kramer zurück.
»Ja.«
Kramer schüttelte den Kopf. Dann atmete er aus und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Mann«, sagte er. Etwas anderes fiel ihm nicht ein.
Die NATA residierte in einem beeindruckenden Klinkerbau aus der Gründerzeit, direkt am Rand des Grunewalds: Sprungschanzenweg 11. Die Adresse hatte er erst nach ausgedehnten Recherchen im Netz herausgefunden; für eine Telefonnummer hatte er die Deutsche Post bemühen müssen. Immerhin war er jetzt angemeldet, bei einem gewissen Günter Karau, »Direktor für Absatz und Öffentlichkeitsarbeit« bei der NATA.
NATA was? VEB, PGH oder was sonst? Auf dem Dach oder am First des Firmensitzes war nichts zu sehen, und wenn Kramer nicht neben der Haustürklingel ein Messingschild mit der simplen Prägung »NATA« gesehen hätte, hätte er geglaubt, es mit einer ganz anderen »Firma« zu tun zu haben. War es nicht Gesetz, dass die Gesellschaftsform eines Betriebes genannt wurde? Machten es nicht alle so?
»Bitte nehmen Sie den Aufzug. 3. Stock.«, sagte eine Stimme aus der Wechselsprechanlage, noch bevor er sich vorgestellt hatte.
Als sich die Türen des Aufzugs öffneten, dachte Kramer noch einmal kurz an das Gespräch mit Pasulke. Lungenkrebs, dachte er. Aber wie passt das zu Uwes irrer Botschaft? Das war nicht alles, das war nicht alles! Der Aufzug hielt butterweich. Kramer spürte das Gewicht des blauen Kästchens in seiner Jackentasche.
»Oberleutnant Kramer, nehme ich an«, sagte der Direktor für Absatz. »Was führt Sie zu uns?« Gut aussehend. Mitte vierzig. Überfester Händedruck. Der Blick aus seinem Bürofenster ging auf den Grunewald hinaus.
Kramer zog die Schachtel aus seiner Jackentasche, bevor er sich setzte, und packte den Silberdaumen aus.
»Können Sie mir sagen, was das ist?«
Karau nahm das Fundstück in die Hand und betrachtete es kritisch.
»Wo haben Sie das her?«, fragte er.
»Ich habe es gefunden.«
»Das ist Firmeneigentum. Ich werde es behalten müssen.«
Kramer dachte, er habe sich verhört.
»Wohl kaum. Es handelt sich um ein Beweisstück in einem ungeklärten Mordfall. Ich möchte von Ihnen nur wissen, was für eine Funktion dieses Ding hat.«
»Sie können machen, was Sie wollen. Das ist Firmeneigentum. Vor ein paar Wochen sind aus unserer Entwicklungsabteilung einige Gestaltungsstudien gestohlen worden. Ich bin mir sicher, dass dies hier«, er hielt den Silberdaumen in die Höhe, »ein Teil der Beute ist. Ihre Kollegen arbeiten an dem Fall. Möglicherweise werden Sie selbst dazu Auskunft geben müssen, wo Sie es herhaben.«
Kramer verschlug es die Sprache. Wie sicher dieser Kerl sich seiner Sache war. Sein Blick war völlig frei von Zweifeln oder Angst. Was sollte er tun? Seine Waffe ziehen und die Herausgabe der »Gestaltungsstudie« verlangen? Stattdessen legte er seine Hand auf die blaue Schachtel.
»Schauen Sie«, sagte er in dem Tonfall, den er bei hartnäckigen Kriminellen während eines Verhörs verwendete, »das ist ganz einfach. Wir beide werden diesen Raum nicht verlassen, bevor Sie mir das Beweisstück nicht zurückgegeben haben.«
Karau lächelte dünn. »Sie können mir nicht drohen, Herr Oberleutnant. Nicht nur das Recht ist auf meiner Seite. Sondern auch die besseren Argumente.«
Es klopfte an der Tür.
»Herein«, sagte Karau.
Als Kramer sich in seinem Sessel zur Tür umdrehte, betraten zwei Männer das Büro. Sie waren recht groß und trugen blauschwarze Uniformen, wie Kramer sie noch nie gesehen hatte, und außerdem schwarze Baretts mit dem silberfarbenen Firmenabzeichen daran. Das waren keine Betriebsschutz-Polizisten und keine Betriebskampfgrüppler. Das waren Schläger in den Privatuniformen der NATA. Sie stellten sich rechts und links von Kramers Stuhl auf, und er bemerkte, dass beide schwarze Lederhandschuhe trugen. Er steckte die blaue Schachtel in seine Jackentasche.
»Meine Herren«, sagte Karau gut gelaunt. »Oberleutnant Kramer möchte uns jetzt verlassen. Bitte begleiten Sie ihn zur Haustür.«
Kramer stand auf. Hier war Ende der Fahnenstange, und er gab sich geschlagen.
»Falls es Sie beruhigt, Herr Kramer, kann ich Ihnen versichern, dass die Gestaltungsstudien bisher völlig funktionslos waren. Studien eben. Es ist uns ein Rätsel, warum sie gestohlen wurden, und wir würden dieses Rätsel gerne lösen. Vielleicht haben Sie uns dabei ein wenig weitergeholfen. Ich danke Ihnen.«
Die zwei Sicherheitstypen packten ihn rechts und links an den Armen. Karau stoppte sie mit einer Handbewegung.
»Begleiten, hatte ich gesagt.«
Kramer hielt die Faust um die Schachtel in seiner Jackentasche geballt. Als er die Villa verließ, bemerkte er die Videokamera über der Haustür. Sie surrte leise, während er zur Straße ging.
Wütend. Mehr als wütend war er, als er am Rathaus Steglitz vorbeifuhr. Das gibt's doch nicht!, dachte er. Serviert mich ab wie einen Schulbuben! Und was waren das überhaupt für Typen gewesen, die Karau ins Büro gerufen hatte? Seit wann gab es denn private Sicherheitskräfte, die mit irgendwelchen Phantasieuniformen in der Gegend herumlaufen durften?
Noch schlimmer als seine Wut war seine Einsamkeit. Pasulke brauchte er mit seinem NATA-Reinfall nicht zu kommen. Der würde nur mit den Schultern zucken, so wie er im Bierkönig gelaunt gewesen war. »Hab ich's dir nicht gleich gesagt …«
Und so, wie die Dinge lagen, konnte er erst recht nicht zu Lobedanz gehen. Erstens war er ohne Erlaubnis in einem eigentlich abgeschlossenen Fall unterwegs gewesen, zweitens hatte Lobedanz seit einiger Zeit die Hosen gestrichen voll, das war nur allzu offensichtlich. Nur nicht die falschen Leute ärgern, das schien im Moment die oberste Priorität seines Vorgesetzten zu sein. Und nach dem, was Kramer im Sprungschanzenweg erlebt hatte, gehörte die NATA ganz bestimmt zu denen, die Lobedanz nicht ärgern wollte. Meine Güte. In der alten DDR war viel über Schalk-Golodkowski und seine »Kommerzielle Koordination« gemunkelt worden, aber Kramer hatte eigentlich geglaubt, dass die neue DDR solche Schattengesellschaften nicht nötig hatte.
Am meisten ärgerte ihn aber, mit was für einem dämlichen Bockmist ihn dieser Karau hatte abspeisen wollen. »Funktionslose Gestaltungsstudie«. Dass ich nicht lache!, dachte Kramer. Dann war das Feuerwerk in meiner Küche wahrscheinlich auch keine Funktion, sondern ein kleiner Spaß am Rande, den sich der Entwicklungsingenieur geleistet hatte.
Immerhin steckte in seiner Tasche noch das Kästchen. Er vergewisserte sich, dass es noch da war. Nicht ich bin verrückt, dachte er. Die Situation ist es.