Kapitel I
ANNO DOMINI 1095, 27. TAG DES WINDMONDS (NOVEMBER)
CLERMONT IN FRANKREICH, VOR DEN MAUERN
»Deus lo volt!« - »Gott will es!« - »Diex le volt!«
(Schlachtruf der Kreuzfahrer)
Vielen der Versammelten schien es, als habe der Regen, der vor einer Stunde über das Land gezogen war, aus geweihtem Wasser bestanden. Zugleich mit der Nässe bedeckte weihevolle Erwartung die Felder und Weiden. Noch war das teppichgeschmückte Podium, das den Baldachin und den Thronsessel trug und vor dem Osttor der hoch ummauerten Stadt Clermont errichtet worden war, nass und menschenleer. Breite Strahlenbündel durchbrachen die tiefen, grauschwangeren Wolken. Den stumpfen Kegel des Puy de Dome krönten zerfaserte Windfahnen.
Mehr als ein Dutzend Erzbischöfe, etliche zwanzig Dutzend Bischöfe und fast vierhundert Äbte, Prälaten, Priester und Mönche, die den vorletzten Tag des zehntägigen Konzils in der Auvergne hinter sich gebracht hatten, umgaben das geschmückte Podest; ein unruhiger, malmender Dreiviertelkreis aus Bewegung, Farbe, dampfenden Kleidern und blitzendem Silber und Gold. Aus feuchten Fahnen tropfte schmutziges Wasser auf die Schultern prächtig gewandeter Träger.
Auf dem weiten, flachen Feld, das der Regen des elften Monats durchweicht hatte und über dessen Stoppeln und niedergetretene Furchen eisiger Wind flüsterte, warteten Tausende auf den Papst. Urban II., dreiundfünfzig Herbste auf dem kerzengeraden Rücken, ein französischer Adliger namens Eudes »Odo« de Lagery, geboren auf dem Familienschloss nahe Châtillon-sur-Marne, schritt an der Seite Adhemars von Monteil, des breitschultrigen Bischofs von Le Puy, eines achtungsgebietenden Recken, durch die Gasse der prunkvoll gewandeten Würdenträger bis zu den Stufen des Podiums.
Jean-Rutgar fühlte, wie kalte Nässe durch die Sohlen an seinen Füßen heraufkroch. Er stand einen Steinwurf vom Podest entfernt und fragte sich, warum er wartete, fror und nicht im Heu der warmen Klosterscheune lag. Seit den letzten Tages des Erntemonds, seit Nîmes und Saint-Gilles, rhôneaufwärts und auf der Saône, über Vienne und Lyon, begleitete er den Zug des Papstes, schuftete als Knecht des Gespannführers und erhielt guten Lohn und freie Kost überall dort, wo der Papst mit seinem Gefolge zu Gast war. Es war eine gute Zeit gewesen, trotz der endlosen Mühen der Reise.
Ich bin aus Neugierde hier, dachte Jean-Rutgar, und vielleicht, weil ich Thybold hier wiederfinden kann. Halbbruder Thybold. Vor mehr als fünf Jahren hatten sie den letzten Schluck sauren Wein geteilt. Fünf Jahre! Sie waren schneller vergangen als eine Rhône-Hochflut und hatten Rutgar hierhin und dorthin gebracht, auf den unsicheren, schlechten Straßen der Provençe, im Burgundischen, bis in die Champagne und an Lothringens Grenze. Zuvor hatte er länger als ein Jahr als Klosterknecht und Herr über vier Gespanne in der Abtei Montmajour und später lange in Cluny gearbeitet, bis der liebenswerte Mönch Philbert, mehr, aber anders als ein Vater, in friedlichem Schlaf zu seinem Gott eingegangen war.
Daraufhin war Rutgar ein Jahr lang als Rhôneschiffer gefahren, flussauf, flussab, zwischen Aigues Mortes und Nîmes, Avignon oder Lyon; er kannte jede tückische Stromschnelle und hatte vier Mal dem nassen Tod davonschwimmen können.
Er musterte die prächtige Kleidung der Bischöfe und Kardinäle und fühlte sich plötzlich in der Menge der Versammelten eingeschlossen und bedrängt. Dass der Papst mit langen, gesiegelten Sendschreiben die Bischöfe hierher zusammengerufen hatte, wusste Jean-Rutgar; er hatte einige Male den Boten geholfen und ihnen den Weg gewiesen. In die Schäfte seiner Stiefel und den Messergurt waren Silber- und Goldmünzen eingenäht; wenige silberne und zwei goldene Denare.
Er blickte hoch und in Papst Urbans beherrschtes Gesicht. Die Züge verrieten Klugheit, Entschlusskraft, Listigkeit und, schwer zu verstehen, tiefe Gläubigkeit. Der Heilige Vater war unter dem Pilgerhut fast kahl, bis auf ergraute Haarbüschel über den Ohren, einen langen braunen Bart und einen dichten, dunklen Schnurrbart. Beide Bärte waren gepflegt und schienen gefärbt zu sein. Urbans kräftiger Körper war der eines Zimmermanns im Dachstuhl des Herrn oder eines tapferen Soldaten des wahren Glaubens.
Rutgar, der den Papst einige Male aus der Nähe erlebt hatte, leutselig, aber in gemessener Ruhe, zweifelte keinen Atemzug lang daran, dass er aus einer langen Rede den entscheidenden Satz, für hundert Probleme den einzigen Ausweg und aus vielen Schwierigkeiten die gerechteste Lösung fand. Von Urbans Begleitern, die bisweilen auf schlammigen Wegen oder wenn es zu steil wurde betend und fluchend an den klobigen Rädern der Wagen gezerrt hatten, hatte Jean-Rutgar einiges aus Urbans Leben erfahren können.
Im Lenzmond 1088 hatte ihn das Konklave von Terracina zum Papst gewählt. Dass er als Novize in den Gewölben der Abtei Cluny vom einfachen Mönch zum Prior aufgestiegen war, nötigte selbst Kirchenfürsten wie Adhemar von Monteil unendliche Hochachtung ab; der von Monteil war mit dem Grafen von Toulouse, Raimund IV., verschwägert, und Raimunds Bruder war Petrus, ein Cluniazenser Mönch. Jean-Rutgar erkannte an der Seite des Papstes den Bischof der Stadt Le Puy, der Urban den Vortritt ließ und nach ihm die Stufen des Podiums erklomm, kraftvoll, als sei er ein junger Priester; die Kardinäle folgten und stellten sich an drei Seiten des Podiums auf.
Urban verharrte in der Mitte des Podiums. Dann folgte er der Geste Adhemars und nahm auf den Kissen und Pelzen des prächtigen Thronsessels Platz. Er verhielt eine Weile mit geschlossenen Augen, hob die Arme und begann zu reden. Seine kraftvolle Stimme reichte in der Runde mühelos dreißig Reihen tief. Rutgar verstand, was er sagte, aber die meisten Versammelten um ihn herum kannten die Sprache der Kirchlichen nicht oder nur sehr unvollkommen.
»Vielgeliebte Brüder! Amtsbrüder im Glauben! Ihr Fürsten Frankreichs! Ihr seid von Gott geliebt und auserwählt, wie viele eurer Taten zeigen. Gottes Liebe erweist sich in der besonderen Lage eures Landes. Dank eures Glaubens und der Auszeichnung durch die Heilige Kirche nehmt ihr unter den Völkern einen besonderen Rang ein.«
Unruhig schweigend warteten die Versammelten. Der Gipfel des Puy de Dome, gut zwei Wegstunden im Westen, war in den Wolken verschwunden. Die Luft um Rutgar schien zu knistern wie vor einem Wintergewitter. Nie war er von einer solchen Stimmung umgeben gewesen. Urban holte tief Atem und schien mit sichtlicher Zufriedenheit zu erkennen, dass er noch nie vor so vielen Menschen geredet hatte. Tausende Augenpaare blieben auf ihn gerichtet. Graue Wolken schoben sich über die fahle Wintersonne. In den Händen einiger Priester glaubte Rutgar kleine Knäuel roter Bänder zu sehen.
Die Herrschaft Roms über die Christenheit, für die Urban unentwegt in zähen Gefechten der Macht und des Glaubens kämpfte, stand wegen des Schismas noch auf tönernen Füßen; bis vor einem Jahr hatte Gegenpapst Guibert auf dem Lateran zu Rom regiert.
Urban rief: »Aus der Christenheit im Osten erreicht uns großes Wehgeschrei. Unsere Brüder im Orient, von Türken und Muselmanen bedrängt, haben uns um Hilfe ersucht. Bis zu den östlichen Stränden des Mare mediterraneum sind die Gottlosen vorgedrungen, bis Romanien und Konstantinopel am Meeresarm Sankt Georgs, Propontis mit anderem, griechischen Namen. Die Perser, die auch Sarazenen, Seldschuken und Türken genannt werden, haben viele Kirchen Gottes im Reich von Alexios, dem Kaiser des oströmischen Reiches, geschändet, sie haben Altäre mit Unrat entheiligt, haben Christen beschnitten, deren Blut auf Altäre und in Taufbecken vergossen - und wir wissen, dass sie mit Vergnügen die Bäuche von Christen aufgeschlitzt, die Gedärme herausgerissen, die Körper gepfählt haben, dass sie mit Pfeilen auf Christen, an Bäume gebunden, geschossen und unzählige Frauen genotzüchtigt haben. Wer soll die Untaten rächen? Wer soll das eroberte Land befreien? Ich stehe hier, um euch den Willen Gottes zu enthüllen!«
Auf seiner monatelangen, beschwerlichen Reise hatte Rutgar einige von Urbans Reden gehört, schweigend, hinter der letzten Reihe der Versammelten. Klosterbrüder und Reisegenossen hatten erzählt, dass der Pontifex mit seinen Worten die Macht der Kirche in die gekrönten und gesalbten Häupter hineingehämmert habe; heute beschwor er die Herzen des frommen Fußvolks.
In die Geräusche, die einige Tausend Soldaten und Bauern, Handwerker und Tagelöhner verursachten, mischte sich das Winseln des Windes, der die Wolken um den Puy de Dome zu einer grauweißen Standarte zerteilte; wie Pfeilspitzen deuteten sie nach Osten. Rutgar zog seinen feuchten Mantel enger um Schultern und Hals zusammen.
Alle, auch Rutgar, die Papst Urban zuhörten, warteten auf das Unausgesprochene, auf die Große Botschaft. Flüsternd, gut oder schlecht übersetzt, wurde die Bedeutung von Urbans Worten bis in die hintersten Reihen weitergegeben.
»Schreckliche Nachrichten haben uns erreicht. Krieger des muselmanischen Reiches, gottlose Heiden, sind in unsere christlichen Länder vorgedrungen und haben sie durch Feuer, Schwert und gottlose Plünderung verwüstet. Christen wurden gefangen, verschleppt und zu Tode geschunden.«
Viele Worte und Sätze erkannte Rutgar wieder. In eindringlichen Predigten, zu Valence, daraufhin in Le Puy, La Chaise-Dieu, Monastir, Nîmes, Saint-Gilles, Tarascon, nach Avignon in Saint-Paul-Trois-Châteaux, Vienne, Lyon, Burgund, Cluny und Autun, Souvigny und zuletzt hier in Clermont, also in jeder Stadt am linken Rhône-Ufer, hatte Urban die Bischöfe beschworen. Er wollte die Kirche zur höchsten Schiedsrichterin über weltliche und geistliche Fürsten emporheben; Gottes Urteil sollte für jeden Gläubigen gelten. Seit Nîmes hatte Jean-Rutgar als junger Fuhrknecht, später als Gespannführer, Urbans päpstlichen Tross begleitet.
Was er den Tausenden sagen würde, hatte der Papst sicherlich in schlaflosen Nächten ausgedacht und niedergeschrieben. Alle Teilnehmer des Konzils wussten aus Briefen, aus den Worten des Pontifex, aus den Ansprachen ihrer Bischöfe, dass er sich über das Schicksal der Christenheit ereifern würde. Selbst Rutgar, der in mehr als zwei Dutzend Nächten das Leben Urbans bewacht hatte, kannte es nicht anders.
Als das Lärmen und die ersten Hochrufe verklungen waren, redete der Papst weiter.
»Kirchen wurden zerstört, das Land verwüstet, Frauen geschändet, sie und ihre Kinder in die Sklaverei geführt. Christus befiehlt uns, gegen die Heiden anzutreten, zu Lande und zu Wasser, und wer in diesem Kampf sein Leben verliert, dessen Sünden werden allesamt vergeben sein.«
Wieder erhoben sich Lärm und von Abscheu erfülltes Geschrei. Urban rief zu einem Zug in Waffen ins Heilige Land auf. War es ein Pilgerzug oder ein Krieg - oder gar beides? Rutgar blickte sich um: Die Gewappneten dachten wohl an geschändete Christenfrauen oder lüstern an willige Heidenweiber und an abergläubische Turkmenen, durchbohrt von christlichen Lanzenspitzen und zermalmt von den Hufen der Streitrosse. Der feuchte Wind hatte zugenommen; er trieb die Wolken auseinander, zerrte an den Gewändern und ließ Stoffbahnen und Fahnen dumpf knattern.
»Die versammelten Fürsten der Kirche werden Vorbilder für jeden einfachen Gläubigen sein. Sie werden die Beschlüsse des Konzils verteidigen und jeden begehrlichen Einfluss weltlicher Mächte abweisen. Wer aber wird das Unrecht gegen unsere Glaubensbrüder rächen?«
Urbans Aufruf war dazu gedacht, gleich mehrere Missstände zu beseitigen. Französische Adlige sollten ihre kleinlichen Händel vergessen, ihre übermütigen und kriegslustigen Söhne sollten sich einer Idee verschreiben, die größer und wichtiger war als ihre persönlichen Fehden; der Militia Christi, wie es Urban nannte. Ein solches gemeinsames Unterfangen würde ein für alle Male die gegenseitigen Überfälle der Ritter beenden und ebenso die Raubzüge gegen andere Gläubige.
Der Hungersnot würde begegnet, indem die Hungrigen ihre Mägen in den Ländern der Ungläubigen füllten, und waren erst einmal alle Vorbereitungen getroffen, konnte sich der Große Zug in Bewegung setzen.
Das Geschrei der Volksmenge scheuchte eine schwarze Wolke aus Hunderten Krähen auf, die schauerlich krächzend, lauter als die Stimmen der Tausende, über die Versammlung flatterten und nach Osten abstrichen, als habe sie der feuchte Westwind fortgeweht.
»Ihr seid das Volk voller Waffenruhm, Körperkraft und stolzem Mut, das jene demütigen soll, die euch widerstehen wollen. Erinnert euch an die gewaltigen Taten eurer ruhmreichen Ahnen! Erhebt euch! Ich erinnere euch an alle großen Könige, die viele Heidenreiche zerstört und das Banner der Heiligen Kirche aufgerichtet haben.«
Unter den Zuhörern waren einige französische Fürsten, die Urban selbst herbeigerufen hatte. Die Männer fühlten Urbans fordernde Blicke auf sich ruhen; jedes Wort drang tief in ihre Herzen. Bisher hatten sich Franzosen gegen Franzosen in zahllosen Kleinkriegen verzehrt, jetzt fühlten sie sich dazu aufgerufen, sich gemeinsam einem höheren Ziel zu widmen. Wenn Thybold davon erfahren hatte, dachte Rutgar, würde auch er wahrscheinlich diesem Aufruf folgen.
Urbans Worte sollten gleichermaßen aufrütteln und versöhnen. Er kannte den schwelenden Konflikt zwischen Rom und Konstantinopel. Er selbst, halb Flüchtling und halb Mächtiger, stützte sich auf das Wort des Herrn und auf die Überzeugung, dass selbst in jedem Raufbold ein edler Kern steckte, der aus der Furcht des Herrn heraus in heiligem Eifer eine höhere Aufgabe suchte. Urbans II. volltönende Worte nahmen einen feierlichen Klang an.
»Ihr habt euch selbst, o Söhne Gottes, Gott geweiht. Ihr werdet unter euch Frieden halten und die Gesetze der Kirche befolgen. Ein Werk ist zu vollbringen durch die Kraft eurer Aufrichtigkeit und durch göttliche Bestimmung. Wir wenden uns einer Aufgabe zu, die Gott euch auferlegt hat.«
Das kirchliche Verbot persönlicher Fehden hatte die Schwerter in den Scheiden festgeschmiedet. Der Nachfolger Petri erlaubte ihnen nun, die Waffen zum Schutz des Glaubens im Feindesland zu schärfen. Kampf für das eigene Seelenheil, das geöffnete Himmelstor vor dem inneren Auge, ehrenvolles Sterben und ein Weg durch Länder, wo Milch und Honig flossen, gaben dem Rittertum eine bislang nie gekannte Bedeutung.
Mit ausgestrecktem Arm zeichnete Urban das Kreuz in die Luft. »Ihr werdet die Herolde Christi sein, denen all ihre Sünden vergeben sind, selbst wenn der Tod sie ereilt. Aus der Macht Gottes, die er mir verlieh, gewähre ich euch diese Absolution.«
Jedes Wort war ein heiliges Machtwort. Die Unruhe nahm zu; fröstelnd und sich bekreuzigend, von der Angst vor der Bestrafung aller Sünden bewegt, schlugen sich viele Zuhörer an die Brust und erhofften Gesten und Beweise der Vergebung.
Der Pontifex wartete, bis größere Stille eingekehrt war, und rief: »Ihr, bisher Söldner der Hölle, werdet zu Soldaten des lebendigen Gottes! Ich rufe euch zur Heiligen Reise auf, zur Pilgerfahrt in Waffen. Im Land der Heiligen Stätten werdet ihr die Elenden finden; ihr seid die wahrhaft Reichen. Dort sündigen die Feinde Gottes; ihr aber seid lautere Soldaten Christi. Christus verlangt, dass seine Streiter ihren Besitz und ihre Familie um seiner Willen verlassen, denn nur durch Christum erlangen sie, erlangt ihr das ewige Leben.«
Aus der Menge der Tagelöhner und Leibeigenen rief eine heisere Stimme: »Gott will es so!«
Jean-Rutgar begann zu erkennen, dass er Zeuge eines einzigartigen Geschehens wurde. Auf dem flachen Feld vor der Stadtmauer ergriff eine ansteckende Begeisterung, eine Art heiliger Schauder alle Wartenden.
Urban wandte sich halb um und ließ sich von einem Würdenträger ein armlanges Kreuz geben. Er hob das Kreuz hoch über seinen Kopf und rief:
»So ist es! Gott will es!«
Ein Chor rauer Kehlen erhob sich. »Deus vult!« Die aus dem Languedoc riefen: »Deus lo volt!«, und »Diex le volt!« schrien die Südfranzosen.
»Es ist Gottes Wille!« Jetzt reichte der Donner aus Urbans Kehle bis zu den hintersten Reihen der Versammlung. Was war es, das Gott wollte, fragte sich Rutgar verstört und schüttelte sich. »Er ist unter uns, die in seinem Namen versammelt sind. Er gab euch die Worte ein, die euer Kriegsruf sein soll. Überall werden sie seine Gegenwart verkünden. Tragt das Kreuz auf den Schultern, auf eurer Brust, auf den Fahnen! Unsere Pflicht ist, für ihn zu sterben, so wie er für uns sein Leben hingegeben hat.«
Kardinal Gregorio dei Guidoni trat vor und rief beschwörend: »Ich nehme euch die Generalbeichte ab, ihr Krieger des Herrn!«
»Gott will es! Gott will es!«, schrien jetzt Dutzende, dann Hunderte, Tausende. Ohrenbetäubendes Geschrei hallte von der Stadtmauer wider. Rutgar presste die Hände auf die Ohren, die im Wind eiskalt geworden waren. Viele Männer fielen auf die Knie, schlugen die Fäuste an die Brust und redeten wild durcheinander. Aus den Wolken zuckte ein schmaler Sonnenstrahl herunter; der gezackte Riss in der bleigrauen Fläche erweiterte sich, und zugleich mit einem Regenguss fluteten breite Lichtbalken auf die Dächer der Stadt. In die Gesichter der Menge trat der Ausdruck gläubigen Staunens oder beginnender Besessenheit.
Der Bischof von Le Puy trat zu Gregorio und Urban.
»Ich, Adhemar von Monteil, will auf dem Weg Gottes schreiten. Aus der Hand des Papstes erbitte ich das Kreuz. Segne mich, Fels der Christenheit!«, rief er demütig.
Viele erinnerten sich daran, was auch Rutgar wusste: dass der Bischof, zu Pferde und in Waffen als Krieger der Kirche ungeschlagen, vor neun Jahren ins Heilige Land gereist war. Adhemar fiel vor Urban auf das rechte Knie, und Urban reichte ihm zwei Stoffstreifen, die ein junger Priester aus dem Gewand eines neben ihm Stehenden gerissen hatte.
»Dir, Bruder im Glauben«, rief Urban II., »erteile ich den Segen des Herrn und ernenne dich zum Anführer aller Gläubigen, zum Befehlshaber dieser Reise und aller Mühen.«
Adhemar stand auf, und während er demütig den Segen empfing, befestigte er die roten Stoffstreifen in Kreuzesform auf seiner Brust. In diesem Augenblick, erkannte Rutgar, hatte Urban II., also die Kirche, die Führung des Kreuzzugs übernommen. Kardinal Gregorio sank am Rand des Podiums in die Knie und stimmte das Confiteor an. Zuerst hörte Rutgar nur einzelne, unsichere Stimmen, dann ertönte, lauter und mächtiger aus Hunderten Stimmen, das Gebet. Er stimmte murmelnd mit ein. Überall erschienen Kreuze aus roten Bändern.
Als im strahlenden Sonnenschein, der die nassen Dächer der Stadt mit unirdischem Glanz übergoss, das Bekenntnis geendet hatte, stand Urban vom Thronsitz auf und erteilte langsam und lautstark die Absolution: »Ego vos absolvo ...«
Er schloss mit den Worten:
»Geht nun auseinander, ihr Milites Christi, ihr Soldaten Christi und Streiter im Herrn, und redet mit allen darüber, was heute geschah. Die Bischöfe und ich werden beraten und das Konzil beenden. Wenn ihr aber eure Gelübde ablegt, so sollt ihr wissen, dass die Abreise zur bewaffneten Wallfahrt auf nächstes Jahr, auf den Tag der Himmelfahrt unserer seligen Jungfrau, festgesetzt wurde.«
In einer langen Prozession nahmen die Würdenträger den Weg zum Tor und in die Stadt. Noch länger brauchte die Menge, um sich zu zerstreuen.
Die Stadt war überfüllt, das Gedränge schwitzender Menschen in nassen Kleidern in den Gassen unentwirrbar. Ob durch Gottes Fügung oder blanken Zufall: Auf der Suche nach einem kräftigen Imbiss außerhalb der Abteimauern traf Jean-Rutgar einen der anderen Begleiter des päpstlichen Trosses, Robard, der sich »Vicomte« nannte. Er packte Rutgar am Handgelenk, zog ihn in eine überfüllte, rauchige Schänke und sagte:
»Seine Heiligkeit und seine trinkfesten Bischöfe weilen noch eine Handvoll Tage hier in Clermont. Wein her!«
»Bei Adhemar wird er's gut haben«, antwortete Rutgar und packte den Becher, ehe ihn der betrunkene Nachbar zur Linken erreichte. »Was willst du mir damit sagen, Vicomte Robard?«
»Er braucht uns. Mich und dich. Große Dinge werden sich tun, Gevatter.« Er hob den schartigen Holzbecher. »Wir sollen ihn begleiten, nach Limoges, nach Poitiers, Tours und bis zum Brachmond oder Heumond zurück nach Nîmes. Graf Raimund von Toulouse wird ihn empfangen und begleiten. Gehst du mit uns?«
»Zahlt der Papst so gut wie bisher?«
»Er vertraut uns. Wir kommen durch halb Frankreich und hören tausend Predigten. Jede wird sich anhören wie die Rede, die er heute geführt hat. Kommst du mit? Dank des Pontifex ist Gott mit uns allen.«
Sie tranken und starrten einander über die Ränder der Becher in die Augen.
»Ja«, antwortete Rutgar. »Ich hab nichts Besseres und nichts Schlechteres zu tun. Glaubst du, dass Urbans Aufruf Erfolg haben wird?«
»Hab mich umgehört«, meinte Robard. »Es wird sein wie Hochwasser, wie eine Sturzflut, und vielleicht wird das Vorhaben den Händen der Bischöfe und der Fürsten entgleiten. Ja, sie alle werden die roten Kreuze tragen.«
Jean-Rutgar nippte am säuerlichen Wein und hörte, wie sein Magen knurrte. »Ich bin auf der Suche nach einem Jugendfreund, Thybold von Les-Baux. Hast du seinen Namen gehört? Ist er in Clermont?«
Der Vicomte schüttelte den Kopf und entfernte einen Strohhalm aus dem Wein. »Nein. Nicht dass ich wüsste. Komm, gehen wir zu den Mönchen. Dort bekommen wir Essen und können ruhig schlafen. Dort hören wir auch alle Neuigkeiten und Nachrichten.«
Rutgar nickte, leerte den Becher und schob sich hinter dem breiten Rücken des Vicomte durch die Menge. Auf dem Weg durch überfüllte Gassen dachte er an die Worte seines Gefährten. Papst Urban hatte, nachdem der deutsche Kaiser und der französische König gebannt worden waren, im Clermonter Konzil zu fast jeder lastenden Frage eine Antwort erzwungen, die der Heiligen Kirche ebenso wie dem Volk diente: Die Moral der Fürsten und Bischöfe musste sich ändern und bessern. Das Recht auf Asyl und das Verbot aller Kämpfe zwischen Sonntag bis Mittwoch, ein Verbot aller bewaffneten Streitereien, an denen sich Händler, Frauen, Arbeiter, Mönche und Priester beteiligten, und ein Verbot von Kämpfen an kirchlichen Feiertagen würden das Leben aller Menschen erleichtern und auch die Straßen sicherer machen. Wenn sich Adel und Volk an diese Gebote hielten.
Vielleicht war der heutige Tag ja der entscheidende Anstoß dazu, die Welt ein wenig besser und gerechter zu machen. Die Nachricht von den Stunden vor Clermonts Stadtmauer würde sich verbreiten, schneller als der Wind; so schnell wie die Schleier der lautlosen nächtlichen Lichterscheinungen, die seit Anfang des Jahres von Norden her in den Ländern zwischen den Meeren die Menschen Britanniens, Spaniens, Frankreichs und Italiens, selbst jene in Ungarn mit tiefer Furcht erfüllt hatten.
An jenem Abend lauschte Rutgar jedem Wort der Mönche und Knechte des Klosters und war, bevor er einschlief, ein wenig hoffnungsvoller als zuvor.