Kapitel XIV

 

A.D. 1096, 6. TAG IM WEINMOND (OKTOBER),

SONNENAUFGANG

IN XERIGORDON

 

»Und ihre Leichname werden liegen auf der Gasse der großen Stadt.«
(Offb 11,7)

 

Im Morgengrauen weckten Jean-Rutgar gellende Pfiffe und das Wiehern eines Pferdes. Er packte das Schwert und rannte barfuß zu der Stelle der Turmruine, von der aus zwei Pfade zu überwachen waren. Auf dem östlichen Weg näherte sich ein Reiter auf einem Rappen mit einem zweiten, gesattelten und schwer bepackten Pferd. Einige Atemzüge später erkannte Rutgar Berenger, der eines der früher erbeuteten Pferde, den Apfelschimmel, als Saumtier hinter sich herzog.

Rutgar winkte und rief: »Hierher, Berenger! An den Mäuerchen entlang, bis zur zerbrochenen Säule!«

»Bist du unter die Fischer gefallen, Ritterlein?«, gab Berenger laut zurück und hob den Arm. »Mach dich bereit! Gürte deine schlotternden Lenden! Wir müssen nach Xerigordon!«

»Auf wessen Befehl?«, rief Rutgar. »Ist Kukupetros nach Civetot zurückgekommen?«

»Nein. Ich erklär's dir gleich.«

Rutgar kletterte hinunter, beruhigte die Fischer und Chersala und begrüßte Berenger. Zu seinem Erstaunen sah er im ersten Licht des Tages, dass Berenger halbwegs wie ein Seldschuke gekleidet und bewaffnet war. Am Sattelhorn hingen der Köcher und ein Türkenbogen in einer dreieckigen Lederhülle.

»Du hast also herausgefunden, dass ich hier bin«, sagte Rutgar. Er war nicht im Mindesten überrascht. »Was gibt es aus den Dörfern um Nikaia und aus Civetot zu berichten?«

»Hilf mir. Dann - hört zu. Ihr alle.«

Er nickte den Fischern zu und verbeugte sich knapp vor Chersala. Die Steigbügel waren am Sattel des Saumpferdes, einer schlanken Stute, hochgebunden, in den schweren Mantelsäcken waren Proviant, türkische Kleidung, darunter zwei »Jaseran«-Rüstungen aus Leder mit aufgenähten Eisenschuppen, das Kettenhemd, zwei türkische Helme und Krummschwerter. Als die Tiere am Wassertrog standen, rieb sich Berenger die Augen und begann zu berichten.

»Die Würdenträger und der Basileus haben erfahren, dass ein Heer die Grenze von Ungarn erreicht und König Koloman um freien Durchzug gebeten hat. Godefroi oder Gottfried von Bouillon, der Herzog von Niederlothringen, sagen die Boten, führt das Ritterheer an. Jedermann trägt ein rotes Kreuz auf seinem Kleid oder dem Mantel. Gottfried hat seine Gattin Godevère von Tosni, eine Normannin, und ihre kleinen Kinder bei sich. Ungefähr zur gleichen Zeit hat ein Bote in Konstantinopel berichtet, dass Ritter Reinhold oder Rainald, der Italiener, von Civetot aus die alte Festung Xerigordon ohne viel Gegenwehr erobert hat. Das weiß inzwischen auch Kukupetros.

Über Hugo, den Grafen von Vermandois und Bruder des Königs von Frankreich, hat der Basileus inzwischen erfahren können, dass er sich im italienischen Hafen Bari einschiffen will, zusammen mit dem Normannen Wilhelm, einem Enkel des Robert Guiscard. Alexios Komnenos, der nur wenige eigene Truppen befehligt, wird von furchtbaren Albträumen heimgesucht, sagt man.«

Berenger fasste mit beiden Händen eine Schale Sud, den Chersala aus dem Kessel geschöpft hatte, warf ihr einen strahlenden Blick zu und sagte: »Danke, Schönste«, und nahm einen durstigen Schluck.

»Die Waräger-Garden des Kaisers«, fuhr er fort, »aus Angelsachsen, und die Petschenegen-Truppe haben zwar die Paläste und die Stadt Konstantinopel gegen die kaum bewaffneten Pilger des Kukupetros schützen können; gegen ein Heer aus kampfgewohnten Fürsten sind sie machtlos.

Die Nachrichten aus dem Grenzland und aus Kibotos sind verwirrend.« Berenger lachte laut und leerte durstig die Schale. »Die Gelehrten des Basileus vermuten, dass weiterhin Wirrwarr herrschen wird, denn nach alter Rechnung hat für die rhomäischen Christen am ersten Tag des Herbstmonds das Jahr 6605 nach Erschaffung der Welt begonnen, und das muss irgendein besonderes Datum sein - in unserer Heimat rechnet man mit anderen Zahlen. Weil Alexios erfahren will, was in Nikaia und Xerigordon und Civetot und überhaupt geschieht, muss ich dorthin reiten.«

Er grinste und deutete auf das erbeutete Reittier.

»Und weil du ein schneller Reiter und ein leidlich guter Krieger bist, habe ich dich als Begleiter erwählt.« Plötzlich wurde er ernst. »War ein guter Kampf, Ritterlein. Bitte, hilf mir. Reite mit mir nach Xerigordon.«

»Alles ansehen? Nicht kämpfen?«, sagte Rutgar.

»Kämpfen nur, wenn wir müssen. Alles aus dem Versteck mit ansehen.«

»Ich komme mit dir«, sagte Rutgar.

Faroard und die Fischer hatten schweigend zugehört. Jetzt sagte der alte Fischer stockend: »Der Sultan zögert, die Franken zu bekriegen. Wenn seine Anführer sicher sind, die Ritter töten zu können, werden sie's tun. Im Land gibt's hundert Stellen, wo sich die Seldschuken verstecken können.« Er deutete auf Berenger, Chersala und Rutgar und fuhr fort: »Wollt ihr den Rat eines alten Mannes? Ja? Haltet euch fern von den Raubrittern und ihren Spießknechten. Sonst sterbt ihr mit ihnen.«

»Ein guter Rat«, antwortete Rutgar. »Für mich hab ich mich entschlossen. Ich reite nicht mit dem wüsten Haufen.«

»Und für mich hat sich der Basileus etwas anderes ausgedacht.« Berenger grinste kalt. »Ich soll in Konstantinopel darüber berichten.«

»Soll ich mich im Wald verstecken?«, sagte Chersala und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.«

»Am besten bleibst du hier«, meinte Rutger. Bis hierher werden die Franken kaum kommen.«

 

Ritter Rainald kniete in einer der letzten Reihen der Versammelten und nahm am morgendlichen Messopfer teil. Seine Gedanken kreisten um die Frage, ob es klüger sei, Xerigordon besetzt zu halten oder mit einem Teil der Beute nach Civetot zurückzureiten. Als die andächtige Schar, die im Halbkreis um den Maueraltar kniete, das »Ite, missa est!« anstimmte, antwortete er mit einem grob gemurmelten »Deo gratias!« und stand auf. Vor Kurzem hatte das Gewitter mit Regengüssen und Donner gehaust; Baumkronen, Gras, Büsche und Mauern glänzten vor Nässe. Andächtig bekreuzigte er sich, wandte sich ab und stapfte zur Leiter, die zum halb zerfallenen Turm hinaufführte. Er blieb neben dem Späher stehen, stützte sich schwer auf die Brüstung aus frischen Balken und schlug Waffenmeister Willem auf die Schulter.

Zwischen dem Tor, das die Berittenen wiederhergestellt und verstärkt hatten, dem Brunnen und dem Quertal, in dem die Quelle sprudelte, spannte sich eine ununterbrochene Kette schwitzender Männer, die gefüllte Ziegenbälge, Ledereimer, fette Korngarben und frisch gesicheltes Gras hangaufwärts in die Festung wuchteten. Leere Behältnisse wanderten ebenso rasch von Hand zu Hand abwärts. Ein breiter Streifen Gras und zertrampelter Boden, vom Wasser durchtränkt, zog sich vom Brunnen bis zum Tor.

»Vielleicht hätten wir mit der Beute nach Civetot ziehen sollen«, sagte er brummig.

Der Alte schüttelte den Kopf. »Wir hätten nicht einmal ein Drittel mitnehmen können - und der Proviant wäre unterwegs verdorben. Jedenfalls das meiste.«

»Hast recht. Alles ruhig im Land?«

Längst mussten die berittenen Boten in Civetot eingetroffen sein und dort berichtet haben, wie leicht Xerigordon erobert worden war. Zwei Dutzend Späher Rainalds versteckten sich in den Wäldern ringsum, und wahrscheinlich ebenso viele seldschukische Reiter.

»Hinter der Stadt bewegt sich etwas.« Willem hob den Arm. »Die Sonne, sie spiegelt sich auf Metall. Und auf dem Wasser des Sees.«

»Ich kann nichts sehen«, sagte Rainald. »Wo sind sie?«

»Links neben den Stadtmauern. Auf der freien Fläche.«

Rainald schirmte seine Augen mit den flachen Händen ab und blickte mit angehaltenem Atem zu der angegebenen Stelle. Jetzt sah er es auch: Sonnenlicht funkelte von Metall, und bunte Farben bewegten sich zwischen ameisenhaft kleinen Gestalten.

»Du hast recht, Meister Willem«, sagte er knurrend, »Das sind die braunhäutigen Ungläubigen. Die Seldschuken auf ihren schnellen Pferden. Gute Bogenschützen, sagt man. Sind sie einmal in Nikaia, kommen sie auch hierher.« Er holte tief Luft und rief: »Also - zu den Waffen!«

Der Graubärtige lüpfte seinen Helm und spuckte über die Brüstung. »Mit Gottes Hilfe! Zu den Waffen, Herr Ritter. Wir locken sie in einen feinen Hinterhalt und hauen sie in Fetzen.«

Rainald drehte sich um, lehnte sich zum Festungshof hinunter und brüllte seine Befehle. »Ein Türkenheer steht vor Nikaia! Zu den Waffen! Holt die Sättel, sattelt die Pferde. Tausend Männer sollen sich bewaffnen. Pfeile und Bogen, Schwerter und Lanzen! Gott hat uns Xerigordon geschenkt - er will, dass wir unseren Besitz verteidigen.«

Begeistertes Geschrei stimmte ihm zu. Ein Lärmen und Rennen brach aus; Pferde wieherten, Männer schrien und fluchten. Rainald kletterte hinunter und stapfte zu seinem Quartier, dem abgetrennten Teil eines gemauerten Gebäudes mit löchrigem Dach. Seine Knappen halfen ihm, sich zu wappnen. Die Kriegsknechte, die sich um ihn versammelten, führten sein Streitross herbei.

Rainald ritt als Erster durchs Tor. Er zügelte das Pferd und rief die Wasser schleppenden Männer an.

»Es geht gegen die Ungläubigen! Hört auf und rennt in die Festung, wenn sie kommen - weg vom Brunnen und von der Quelle.«

»Wir haben Wachen mit scharfen Augen an der Brücke.«

»Gut so!«, rief Rainald und ritt ohne Eile zur Straße. Er wartete, bis sich sein kleines Heer gesammelt hatte. Die Späher, die sich auf abgehetzten Pferden zu ihm durchdrängten, berichteten aufgeregt von einer riesigen Zahl berittener Seldschuken, die sich unaufhaltsam näherten.

»Der Herr ist mit uns!«, rief Rainald. »Folgt mir!«

Er und seine Ritter verhielten vor der schmalen Brücke, teilten sich in zwei Gruppen und ritten in die Schlucht hinein. Die Fußkämpfer folgten und besetzten die Hänge des steilen Tals.

Eine halbe Stunde danach lagen Straße und Brücke wieder verlassen da. Die Sonne stieg, die Wolken warfen riesige Schatten über das Land, die nach Osten huschten. Die Besatzer Xerigordons wussten, dass sie einer Belagerung ohne ausreichend Wasser nicht lange würden standhalten können. Sie fuhren fort, jedes brauchbare Behältnis innerhalb der Mauern mit Wasser zu füllen, und die Späher hielten in steigender Besorgnis Ausschau nach der Streitmacht des Sultans.

Rainald kannte die Umgebung Xerigordons inzwischen gut genug. Er wusste, dass jenseits der Enden der Schlucht vielleicht einzelne Krieger durch die Wirrnis aus Felsen und Gebüsch zu den Mauern vordringen konnten. Aber keineswegs ein berittenes Heer. Überdies verhinderten Felsschroffen einen Angriff auf die Festung. Der einzige Weg, der ohne große Mühe zu begehen war, führte über die Brücke. Sie spielte im Plan Rainalds eine bedeutende Rolle.

Ungeduldig warteten er und seine Männer, bereit, mit den Reitern von beiden Seiten das fremde Heer anzugreifen und, die Unordnung ausnutzend, die Türken von Fußkämpfern niedermachen zu lassen.

Mit gellendem Feldgeschrei galoppierte eine Abteilung von mehr als zwölf Dutzend Seldschuken auf die Brücke zu. Ihre Bogen waren gespannt, Pfeile steckten auf den Sehnen, die Spitzen der turbanumwickelten Helme blitzten. Als der Hufschlag der ersten Reiter auf den Brückenbohlen dröhnte und zu beiden Seiten die Anführer ihre Schwerter zum Angriffsbefehl in die Höhe rissen und die Pferde spornten, hielten alle türkischen Reiter fast gleichzeitig an, wendeten die Pferde, warteten einige Atemzüge und galoppierten langsamer zurück.

Die fränkischen Reiter brachen aus dem Versteck hervor, sahen die Seldschuken nur einen Bogenschuss weit an sich vorbeireiten, rissen ihre Pferde herum und verfolgten sie. Hinter ihnen sprangen die Fußkämpfer zwischen Büschen und Felsen hervor. Die türkischen Reiter flüchteten schreiend auf Nikaia zu, galoppierten auf dem Bogen des Sandwegs nach rechts und ritten in die Gassen hinein, die in einer Mauer wartender Bogenschützen aufsprangen. Hinter den Reitern schloss sich der Wall schussbereiter Bogenschützen. Einige scharfe Schreie gellten vor den Mauern. Hunderte Pfeile heulten durch die Luft, kamen scheinbar aus der Sonne, hagelten auf Rainald und seine Reiter nieder und hämmerten in die Schilde. Getroffene Pferde wieherten kreischend und warfen ihre Reiter ab.

»Zurück!«, brüllte Rainald und ließ sein Pferd aufsteigen, riss es herum und schützte sich mit dem Schild. »Es sind zu viele!«

An den Rändern der Kampflinie versuchten fränkische Fußkämpfer, Seldschuken aus dem Sattel zu reißen und zu erschlagen. Sultan Arslans Bogenschützen schossen ihre Pfeile mit bestürzender Treffsicherheit aus sicherem Abstand oder aus ihren Verstecken. Die christlichen Ritter, manche blutend auf dem Pferderücken, bildeten eine Verteidigungslinie; jeder seldschukische Reiter, der den Gepanzerten zu nahe kam, starb durch das Schwert oder die Lanze. Die Verwundeten und ein Teil der Fußkämpfer rannten zum Tor Xerigordons.

In Viererreihen galoppierten die Seldschuken über die Brücke. Nur das Kampfgetümmel vor den Schilden der zurückweichenden Ritter schützte die Flüchtigen und ermöglichte den Fußkämpfern, sich kämpfend zurückzuziehen. Die ersten Reiter, an denen sich Verwundete festhielten, trieben ihre Pferde den Hang aufwärts; auf den Mauerkronen brüllten und schrien die Verteidiger und versuchten, mit Pfeilschüssen die Türken zu treffen. Auf manchen Pferden saßen zwei Reiter, am Boden keilten verwundete Tiere dumpf wiehernd mit den Läufen. Ritter Rainald sprengte als Hinterster seiner Reiter hin und her, sein Schwert hob und senkte sich blitzschnell, sein Schild starrte von abgebrochenen Pfeilen. Immer wieder gelang es kleinen Gruppen der Franken, sich zu sammeln und Widerstand zu leisten, und zur gleichen Zeit konnten sich ebenso viele in die Festung retten; keuchend, schweißüberströmt, blutend, mit zerbrochenen Waffen.

Rainald sah sich um, stieß sein blutiges Schwert senkrecht hoch und schrie, so laut er konnte:

»Ein letzter Angriff! Danach zurück hinter die Mauern!«

Vielleicht sechzig Ritter sammelten sich zu einem wirren Haufen, bildeten einen Kreis, senkten die Schilde und hielten die Lanzen stoßbereit. Sie spornten die Pferde und galoppierten Schulter an Schulter auf die Seldschuken zu, deren Pfeile ihnen nichts mehr anzuhaben schienen. Die Türken erschraken vor der rasenden Wut der Reiter. Pferde, Schilde und Kettenhemden waren blutbespritzt. Aus den Maschen der Hemden hingen zerbrochene Pfeile. Die Wunden der Männer und der Pferde bluteten, aber weder das Wiehern noch die anfeuernden Schreie der Männer waren leiser geworden. Schwertschneiden klirrten auf Helme, spalteten Schilde, prallten von Krummschwertern ab oder bohrten sich zwischen die Eisenplatten von Halbrüstungen.

Die Ritter griffen blind und brüllend an, kämpften furchtlos, schienen sich für unbesiegbar und unverwundbar zu halten.

Einige Seldschuken wurden niedergehauen, die größere Anzahl ihrer Reiter in den vorderen Reihen wich zur Seite aus. Rainalds Männer hasteten den Pfad zum Tor hinauf; Fußkämpfer hielten sich stolpernd an Sätteln und Steigbügelriemen der Reiter fest. Die Frankenritter zersprengten die türkische Reiterei, kehrten wild um sich schlagend um und galoppierten zur Festung zurück. Ein Reiter nach dem anderen preschte den Hang hinauf und verschwand zwischen den Tortürmen. Als Rainald sah, dass sich alle seine Männer, die noch rennen konnten, in die Festung gerettet hatten, kehrte er selbst um. Er ritt, vor Blutverlust und Erschöpfung im Sattel schwankend, das Pferd mit dem flachen Schwert antreibend, in die Sicherheit Xerigordons. Hinter ihm schlug die schwere Balkenwand des Tores zu.

Er sprang aus dem Sattel und taumelte durch die Menge der Geflüchteten zur Leiter, kletterte zum Torturm und blickte hinunter auf das Heer der Angreifer. Er stöhnte auf. »So viele! Gottes Barmherzigkeit!«

Zwischen der Stelle, an der sich die Straße hinter das Wäldchen krümmte, und dem Fuß der Festungsmauern lagen einige Dutzend bewegungslose Körper; Männer und Pferde. Aus der Richtung Nikaias kamen Dutzende, Hunderte, Tausende reitender Bogenschützen. Das Heer teilte sich in der Nähe des steinernen Brunnentrogs, und die Türken ritten ohne Eile nach rechts und links und begannen, einen Ring um den Hügel Xerigordons zu bilden. Schweigend starrte Rainald die Streitmacht an, die in endlosen Reihen über die Brücke kam und sich verteilte. Er brauchte nicht lange nachzudenken: Xerigordon war schon jetzt eingeschlossen, und der Gegner war in einer gewaltigen Überzahl.

»Wenn ich einen Ausfall wage«, sagte er knirschend vor sich hin, »bringen sie uns um. Zu viele Feinde! Und ... vom Wasser abgeschnitten.«

Zuerst waren die Verwundeten zu versorgen. Als er die Leiter hinunterkletterte, verspürte er starken Durst; es gab noch mehr als genug Wasser für alle auf dem Festungshügel.

Das Durcheinander zwischen den Mauern und Türmen klärte sich binnen weniger Zeit. Die Verwundeten wurden versorgt; die Kundigen erleichterten etlichen Schwerverletzten mit Dolchstichen ins Herz den Weg in die ewige Seligkeit; die Pferde, noch gesattelt, band man in den Ställen fest. Ohne auf Befehle zu warten, schleppten Ritter und Fußkämpfer Waffen auf die Mauern hinauf und stellten sich wartend auf die Wehrgänge.

Die Sonne schien am höchsten Punkt ihres täglichen Bogens bewegungslos zu verharren. Die Wolken waren fortgezogen; Windstille breitete sich aus. Sengende Herbsthitze waberte zwischen den Mauern Xerigordons; bei jedem Schluck Wasser oder gemischten Weins dachten die Männer an die schwindenden Wasservorräte.

 

Rutgar stand in den Steigbügeln und trieb den Rappen in leichtem Galopp, der die Kräfte des Tieres schonte, auf dem feuchten Strand nach Süden, hinauf zur Straße nach Nikaia und nach Civetot. Die Hufe ließen eine deutliche Spur tiefer Eindrücke zurück. Die Fischerboote, zur linken Hand, waren nur winzige Punkte im tiefblauen Wasser des Golfs.

Seit Tagen, seit dem Ende des verstörenden Gewitters, stach die letzte Hitze des Sommers oder die erste des Herbstes auf das Grenzland herunter. Durch das Rauschen der Brandung glaubte Rutgar die Pilger singen zu hören; in Civetot feierten die Priester eine späte Morgenmesse. Rutgar hatte Chersala und Berenger in der Burg zurückgelassen und geschworen, so bald wie möglich zurückzukommen. Er näherte sich Civetot mit großer Vorsicht - er erwartete dort Ritter Rainalds Heer mit gewaltiger Beute aus den Dörfern um Nikaia anzutreffen.

Gestern hatte er vom Turm der Burg aus das Frachtschiff von Civetot ablegen und fortsegeln sehen. Der Kaiser hatte Verpflegung geschickt, die schweren Ballen, Kisten und Fässer waren ausgeladen; das Schiff lag hoch im Wasser. Er zügelte den Rappen am Ende des Strandes und lenkte das Tier auf den Schlängelpfad, der am Uferhang Civetots endete.

Plötzlich überkam ihn wie eine Woge ein Gefühl der Sinnlosigkeit. Er zügelte den Wallach, stieg ab und nahm die Gebissstange aus dem Maul des Tieres, klopfte dessen Hals und sah zu, wie es friedlich zu weiden begann. Rutgar, der nur seinen Kittel und das Schwertgehänge trug, ging zum Spülsaum des Strandes und setzte sich auf einen feuchten Stein.

»Was soll ich tun?«, murmelte er. »Was ist richtig, was ist falsch?«

In seinen Lenden spürte er wohlige Schwäche. Chersala schien zu wissen, zu fürchten, dass ihre gemeinsame Zeit endete, und sie war nicht nur in den Nächten unersättlich und voll überströmender Liebe und Leidenschaft. Er vergaß, wenn er bei ihr lag, jeden Gedanken an Ragenarda. In der Trägheit der heißen Herbsttage schienen die hungernden Pilger in Civetot, der Angriff der Plünderer auf Nikaia, das bange Warten auf das Heer der Fürsten und Grafen und die Gefahr, die von den Seldschuken ausging, bedeutungslos zu werden. Ein Teil seiner Träume, in der Fremde eigenes Land und Untertanen zu besitzen und mit einer Frau über ein Lehen, auch wenn es so klein war wie Les-Baux, gebieten zu können bis ins hohe Alter hinein, hatte sich verflüchtet; wollte er zurück in die Provençe? Oder vorwärts nach Jerusalem? Oder wartete er darauf, dass ihn das Schicksal an einen ganz anderen Platz verschlug? Eines wusste er so genau, als habe Gott zu ihm gesprochen:

»Ich will nicht als Krüppel enden. Weder hier noch andernorts. Wegen ruchloser Taten anderer werde ich nicht in der Hölle brennen. Vielleicht ist mir der Herr gnädig, wenn ich Werke vollbringe, die ihm wohlgefällig sind.«

Aber welche? Wusste er mehr, würde er sinnvoll handeln können. Seine Bedeutung glich der eines jener Sandkörner, die er in der hohlen Hand aufschöpfte und durch die Finger rieseln ließ. Zu jung, um Weisheit erlangt zu haben, zu wenig gefestigt im Glauben, um flammenden Herzens in den Krieg zu ziehen, zu gering, um mit dem Schwert Heldentaten vollbringen zu können - was blieb ihm?

»Nach Civetot«, murmelte er und fuhr mit den Fingerkuppen die Form einer Muschelschale nach. »Zu den anderen. Fragen, was sie wissen. Sie warnen, ihnen einen Fluchtweg zeigen. Auf Peter den Eremiten warten. Und unerkannt flüchten, wenn die Seldschuken kommen.«

Er stand auf, ging zu seinem Pferd und zerrte es von den Grasbüscheln weg. Im langsamen Kantergalopp ritt er nach Civetot, trabte den Hang hinauf und durch das Tor und zu einer Gruppe aus Priestern und Rittern, die in hitzige Gespräche vertieft waren.

Das Innere der Festung hatte sich abermals verändert: Es gab mehr aus Zweigen geflochtene Hütten zwischen den Zelten, breitere Lagerstraßen und kleine Plätze, auf denen Altäre standen. Als sich Rutgar innerhalb der Palisaden befand, genügten wenige Blicke, um ihm den Zustand der

durcheinanderdrängenden Menschenmenge zu zeigen: Es herrschte helle Aufregung: Zwei seldschukische Bogenschützen waren in der Nähe des Lagers aufgegriffen worden.

Sie berichteten, dass die furchtbaren Franken das schwach verteidigte Nikaia berannt, belagert, erstürmt und besetzt hatten; ihre Beute, sagten sie unter der Folter, sei unvorstellbar groß, und jeder Ritter oder Fußkämpfer sei schwer mit Gold behängt und fülle seine Taschen mit Edelsteinen, Geschmeide und Münzen. Mädchen und Frauen aller Stände gäben sich jauchzend den Siegern hin und hofften, unter Strömen des besten Weins, die Fremden würden die zukünftigen Herrscher des Landes sein.

»Nach allem, was ich weiß und erlebt hab«, sagte Rutgar zu Gansbold, einem der treuen Priester Peters, »verabscheuen uns die Bewohner des Landes, und als Herrscher Nikaias hätten wir ein kurzes Leben! Das sagt auch Berenger, der Waräger, der den Weg bis Antiochia kennt. Die Gefangenen lügen. Sei es aus Furcht oder weil sie uns aus dem Lager locken wollen.«

»Warte, Rutgar, bis wir mehr wissen.«

»Ich warte.« Rutgar nickte und sah hinunter zum Strand. »Und ich zeige dir und deinen Mitbrüdern den letzten Weg, auf dem ihr euch retten könnt.«

»Wir? Retten? Wovor?«

»Vor den Seldschuken. Vor Kampf, Verstümmlung, Sklaverei, Mord und Tod«, sagte Rutgar mit einem Gefühl nahenden Unheils. »Ich erkläre dir den Weg zu einer Stelle am Ufer, an der die Schiffe des Basileus dich und uns alle retten können. Komm mit mir, und danach kannst du den anderen zeigen, wohin sie sich flüchten sollen; Peter würde es nicht anders wollen!«

»Wenn du meinst ...« Der Kuttenträger starrte Rutgar an, als habe er einen Geist vor sich - oder einen Engel Gottes. »Aber schaden kann es nicht. Die Maus merkt sich die Wege, auf denen sie den Zähnen der Katze entkommt.«

»Bald stürzen sich tausend türkische Katzen auf uns«, sagte Rutgar schroff. Er wandte den Kopf. »Und was soll dieses Geschrei dort oben bedeuten?«

Gansbold runzelte die Stirn. »Das sind welche von unseren Reitern.«

»Vielleicht erfahren wir jetzt, was wirklich in Nikaia geschehen ist.«

Den Rappen am Halfter führend, ging Rutgar mit Gansbold zum südlichen Tor Civetots. Drei verwundete Reiter wurden von ihren erschöpften Pferden gehoben; es waren Männer, die mit Rainald geritten waren. Als sie sich erholt hatten, berichteten sie.

Rainalds Heer hatte zwar Verpflegung in den Dörfern geraubt, und die Festung Xerigordon war ohne Gegenwehr in die Hände der Christen gefallen; ein Ort, der gut zu verteidigen war. Die drei konnten mit Gottes Hilfe lebend dem Kampf gegen die Übermacht entkommen - Rainald hatte sich in Xerigordon verschanzt, mit mehr als fünftausend Männern, und von den Mauern sahen sie den Belagerungsring, den Brunnen und den Weg zur Quelle.

»Dann müssen wir sofort aufbrechen!«, rief ein Bewaffneter. Rutgar drehte sich um; er erkannte Gottfried Burel. »Die Besatzung von Nikaia verstärken, Xerigordon befreien und an der Beute teilnehmen!«

»Halt! Langsam!« Walter Sans-Avoir drängte sich in den Kreis. »Zuerst nachdenken und alles bereden. Warum diese verderbliche Eile?«

Es ging wie ein Lauffeuer durch die Menge der Ritter und der Pilger. Viele jener Männer, die reitend oder zu Fuß das Land auf der Suche nach Proviant durchstreift hatten, rotteten sich zusammen und feuerten sich gegenseitig an. Sie wollten augenblicklich, in einigen Stunden oder erst morgen beim ersten Lichtschein aufbrechen. Die Worte der gefangenen Seldschuken machten immer noch die Runde. Die Aussicht auf Beute war schwer aus den gierigen Herzen zu verdrängen.

»Wenn ihr auf den bekannten Straßen nach Nikaia reitet«, rief einer der drei verwundeten Reiter beschwörend, »werdet ihr auf die Türken stoßen! Wir haben Nikaia nicht angegriffen, geschweige denn erobert. Das Heer des Sultans ist riesengroß!«

»Wir müssen Xerigordon entsetzen! Ritter Rainalds Männer verdursten, und wir leben hier in Prasserei!«, schrie Borel.

Rainhold von Breis und Walter Sans-Avoir überstimmten ihn.

»Ruft den Heeresrat zusammen, schnell; alle Ritter! Deutsche, Franzosen und Italiener!«

»Noch heute. Um Mittag!«

Gansbold und Rutgar ließen sich schweigend von der Menge mitziehen und hörten zu, was die schmerzhafte Befragung der gefangenen Seldschuken erbrachte. Logen die Türken trotz der Schmerzen? Wo blieb die Wahrheit?

Angeblich verhielt es sich so: Sultan Kilidsch Arslan hatte seinen besten Heerführer an die Spitze des riesigen Heeres gesetzt. Die Truppen hatten sich gesammelt und waren nach Nikaia gezogen, hatten den Hinterhalt Rainalds durchschaut und belagerten Xerigordon. Ein Teil des Heeres hatte den Belagerungsring verlassen und war mit unbekanntem Ziel und mit neuen Befehlen davongeritten. Die türkischen Späher kannten dieses Ziel angeblich nicht.

Rutgar legte die Hand auf die Schulter des Priesters und sagte: »Die Türken besuchen nicht die Grenzdörfchen, sondern sie suchen uns. Wohin reiten sie wohl?«

»Vielleicht hierher?«, sagte Gansbold düster. »Nach Civetot.«

»Wenn sie erst einmal Xerigordon zurückerobert haben, wird auch die andere Hälfte ihres Heeres ihnen hierher folgen.«

»Gott wird uns schützen.«

»Er schützt nur die Mutigen«, antwortete Rutgar, »die erkannt haben, wohin sie flüchten können. Also: Komm mit. Ich zeige dir den Weg.«

Er führte den Priester zum nördlichen Tor, zog Gansbold auf den Pferderücken und ritt langsam bis an die Stelle, von der aus zu sehen war, wie Faroards Boot winzig klein zwischen die Quader des halb überfluteten Hafens einfuhr. Das gelbbraune Dreieckssegel fiel zusammen.

»Siehst du's?«, sagte Rutgar. Der Priester nickte, blickte danach aufs Meer hinaus, musterte den gestrüppüberwucherten Felshang und murmelte ein Gebet. »Nun weiß ich Bescheid, Rutgar. Wenn doch nur Peter wieder bei uns wäre und uns führen würde. Ein Bote, der auf dem Schiff war, hat es versprochen. Binnen einer Woche will Peter in Civetot sein.«

»In sieben Tagen kann viel geschehen«, sagte Rutgar, wendete das Pferd und ritt zum Nordtor zurück. Er verbrachte die Stunden bis zum frühen Nachmittag damit, Fragen zu stellen; was der Heeresrat beschließen würde, dem alle Grafen und Ritter angehörten, erfuhr er nicht. Es schien, als würden die Ritter auf Kukupetros warten, denn sie hofften, er käme mit dem Heer der Fürsten aus Konstantinopel, auf den großen Schiffen des Basileus.

Eine Stunde später lenkte Rutgar den Rappen auf dem Weg, den er hierhergeritten war, zur Festungsburg zurück. Er ritt zwischen den Mauern und unter den Torbögen hindurch, zum einzigen Teil des Bauwerks, in dem verstecktes menschliches Leben möglich war und wo Chersala und Berenger auf ihn warteten.

 

Bei flackerndem Kerzenlicht, in der Schwärze der dritten Belagerungsnacht, leerte Ritter Rainald den Becher. Dies war, er wusste es mit der Genauigkeit eines Todgeweihten, der letzte Schluck Wasser in Xerigordon. Rainald war nahe daran, das Wasser aus Trotz und als Zeichen seines ungebrochenen Muts auszuspucken, aber dann schluckte er die abgestandene, laue Flüssigkeit hinunter.

»Fortes Deus adiuvat!«, murmelte er. »Uns, den tapferen Streitern, wird Gott beistehen!«

Der heiße Nachtwind war kaum mehr als ein Hauch. In Xerigordon bewegten sich Hunderte kleiner Lichter: Männer irrten umher auf der Suche nach Wasser und Wein. Andere, größere Feuer und die Fackeln der Seldschuken, die Xerigordon belagerten, ohne sich von der Stelle zu rühren, zeichneten einen großen Halbkreis in die Nacht; die Enden verschwanden zwischen Felsen und hinter Wäldern, wo weitere Teile des Heeres lagerten und sich auf einen Ausbruch der verzweifelten Franken vorbereitet hatten. Bisweilen hörten die Eingeschlossenen am Brunnen oder an der Quelle Wasser plätschern, und ihre Verzweiflung nahm zu. Über die Festung hatte sich eine unbewegte Haube schrecklichen Gestanks gestülpt, die das Atmen erschwerte und die Vögel vertrieben hatte. Fast sechstausend Männer, die sich seit dem Ende des Kampfes nicht hatten reinigen können, und zahlreiche Tiere litten alle quälenden Durst.

Zuerst hatten die Dürstenden die Adern ihrer Pferde, Maultiere und Esel geöffnet und das Blut getrunken; zwei Dutzend Tiere waren inzwischen daran verendet. Viele Dutzende Männer hatten dort, wo das Erdreich feucht war, Gruben ausgeschaufelt und sich selbst sowie Tücher in die kühle, nasse Erde gelegt; später wrangen sie die Stofffetzen aus und fingen die Tropfen mit der Zunge und den Lippen auf. Die Zisterne, die sich während des letzten Regens gefüllt hatte, war längst wieder leer, die Wände und der Boden knochentrocken. Warf man Steinchen hinein, ertönten nur klappernde Geräusche und höhnische Echos. Viele Pilger schlugen ihr Wasser in Becher oder in die Hände ihrer Kampfgenossen ab, und sie tranken die heiße gelbe Brühe gemeinsam.

Die Priester und Mönche, die ihre Waffen abgelegt hatten und ebenso vom Durst gequält wurden, irrten durch die von Fliegenschwärmen eingehüllte Menge und versuchten sie zu trösten; bald würden Ritter aus Civetot kommen, die Seldschuken in die Flucht jagen und den Weg zu Brunnen und Quelle freimachen.

Ritter Rainald und seine Getreuen waren in dumpfes Grübeln verfallen. Die ausgetrockneten Körper wurden von Krämpfen heimgesucht; immer wieder packten Männer schreiend ihre Waden oder Arme und drückten sie, bis der stechende Schmerz verging. Sollten sie einen Ausfall wagen? Zum Feind überlaufen? Mit den Seldschuken verhandeln?

Wieder verging eine furchtbare Nacht. Vor dem Morgengrauen fiel Tau, dessen Tröpfchen die Eingeschlossenen von den Blättern, Gräsern, von Hölzern und selbst von ihren Schilden leckten. Zuerst färbte sich der Himmel grau, und die Eingeschlossenen konnten ihr Elend sehen, ihre staubigen Bärte und schmutzigen Gesichter und den Schorf auf ihrer Haut. Dann zuckten die ersten Sonnenstrahlen über das Land. Schon jetzt verschwanden die blitzenden Tautröpfchen. Eine oder zwei Stunden später kamen grelles Licht und zunehmende Hitze aus dem Himmel und schienen den Kessel zwischen Xerigordons Mauern kochen zu wollen; ein stinkender Sud, in dem sich Vernunft, Geduld, Glaube, Hoffnung und Mut auflösten. Rabenvögel, Geier und andere Aasvögel erschienen und begannen, heiseres Geschrei ausstoßend, über Xerigordon zu kreisen. Nur der peinigende Durst blieb, und die Verzweiflung.

 

Berenger glich einem reitenden Bogenschützen am meisten, und vielleicht hielten die Türken auch Jean-Rutgar auf den ersten Blick für einen der Ihren. Aber trotz ihrer Verkleidung würde niemand Chersala für einen türkischen Späherreiter halten. Sie trabte einen Steinwurf vor den beiden auf der Straße nach Nikaia. Zwei Bogenschüsse vor der Gabelung, von der aus der See und die turmbewehrten Mauern der Stadt zum ersten Mal zu sehen waren, hob sie den Arm und zügelte ihr Pferd.

»Hinunter. In die Schlucht der tausend Säulen. So haben wir sie früher genannt, als Kinder.«

»Wir und die Pferde - wir werden jeden einzelnen unserer Knochen brechen«, sagte Berenger und ritt an die Felsen heran, die den Weg säumten. Als Erster sah er den Sims, fasste die Zügel mit zwei Fingern und lenkte seinen Rappen mit Schenkeldruck von der Straße. Chersala folgte, Rutgar sicherte nach allen Seiten, ehe er sich an den Abstieg wagte. Der felsige Pfad, der sich in die Tiefe wand, war kaum breiter als drei, vier Ellen. Zwischen verkrüppelten Bäumen, den Resten eines Buschfeuers, breiten Vorhängen aus Dornenranken und Mooszöpfen ging es zwischen Krüppeleichen abwärts bis unter die dichten Kronen der Bäume. Schritt um Schritt wurde es stiller und dunkler. Auf dem Boden, den Wildschweine aufgewühlt hatten, lagen, als wären sie vor wenigen Tagen zerbrochen, viele Säulenstücke aus hellem Stein.

Chersala ritt in Schlangenlinien um die Bruchstücke herum. Winzige Quellen gluckerten in der dunkelgrünen Finsternis. Es waren, sagte sich Rutgar, sicherlich nicht tausend Säulen, aber wie die steinernen Brücken, auf die er mehrere Male gestoßen war, schienen auch sie Zeugen einer längst vergangenen Zeit zu sein. Eine kleine Herde wilder Ziegen flüchtete zwischen das Unterholz und die Felsen. Schweigend folgte Rutgar und duckte sich unter den dicken Eichenästen.

Der Boden der Schlucht stieg nach Süden leicht an; die Huftritte waren in der dicken Schicht aus Erde und moderndem Laub kaum zu hören. Ein paar Atemzüge lang schloss Rutgar die Augen. Er fühlte sich in der Dunkelheit einer Falle, umzingelt von einer unübersehbaren Übermacht gnadenlos kämpfender Türken, die im Sonnenlicht ritten. Die Beklemmung wich, als Chersala die Reiter auf einen Pfad führte und aus dem Sattel glitt.

»Absteigen«, sagte sie leise. »In einer halben Stunde sehen wir Xerigordon.«

Berenger und Rutgar schwangen sich aus den Sätteln und zogen die Pferde an den Zügeln hinter sich her. Der Pfad wendelte sich einen schmalen Hang hinauf. Ziegenkot lag verstreut auf dem sandigen Geröll und im vergilbten Gras, Herbstlaub raschelte im Dornengestrüpp. In sechzig, siebzig Tagen, dachte Rutgar, um Weihnachten herum, würde das Land in Schnee, Sturm und Kälte versunken sein. Das Ende des Pfades, auf der Kuppe eines der zahlreichen Hügel, verlief sich zwischen Felsen und windzerzausten Bäumen, die den Föhren der Provençe glichen. Die Reiter ließen die Pferde auf einer winzigen Lichtung stehen, und Chersala ging ihnen durch einen Felsspalt voraus.

Die Luft war voll vom lauten Schnarren der Zikaden. Die Wurzeln der Bäume krallten sich in winzige Felsfugen. Vorsichtig hoben die Reiter ihre Köpfe über eine Barriere aus Felstrümmern und verwitterten Ästen. Vor ihnen, vielleicht eine halbe Stunde zu Fuß entfernt, sahen sie die Festung.

Ähnlich wie Civetot war Xerigordon auf einem Hügel errichtet worden. Die alten, aus Quadern errichteten Mauern waren gut erhalten; aus den Fugen wuchsen kleine Büsche. Einige ehemals stattliche Türme und ein schmales Tor ließen erkennen, dass die Türken die Burg besetzt und instand gehalten hatten. Chersala deutete nach links und flüsterte:

»Im Tal gibt es eine Quelle, die das ganze Jahr hindurch sprudelt. Den Brunnen seht ihr - dort, am Fuß der Mauer.«

»Ich sehe es«, murmelte Rutger. Er sah aber auch, wie Berenger und Chersala, einen großen Teil des türkischen Heeres. Die Seldschuken hatten einen Ring um Xerigordon gezogen, machten aber keine Anstalt, die Festung zu berennen. Nach einer Weile sagte Berenger: »Sie haben die zwei mächtigsten Verbündeten, mit denen sie die Franken vernichten.«

»Den Durst und die Zeit«, antwortete Rutgar. Berenger nickte.

»Die Zeit und das Fehlen von selbst einem Tropfen Wasser«, bestätigte er und zeigte zum Himmel. Herbstwolken trieben durch das helle Blau des beginnenden Tages. »Nur ein langer Herbstregen könnte sie retten.«

»Es wird keinen Regen geben«, sagte Chersala. »Heute nicht, und morgen auch nicht.«

Sechstausend Mann und Rainald, Ritter, Priester und etliche Bischöfe waren in Xerigordon eingeschlossen. Entweder ergaben sie sich, oder sie starben eines grässlichen Todes. Wenn sie sich ergaben ... Rutgar weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Er beobachtete weiter, wie das türkische Heer außerhalb der Reichweite der fränkischen Bogenschützen in aller Ruhe den Belagerungsring zu schließen begann.