Prolog

 

ANNO DOMINI 1091, SOMMERTAG IN DER PROVENÇE,

MITTAG

BURGRUINE BEAUSOLEIL BEI LES-BAUX, IN DEN ALPILLES

 

»Fata volentem ducunt, nolentem trahunt.«
(L. Annaeus Seneca)

 

Wieder begannen die Zikaden mit ihrem durchdringenden Lärmen. Ein Falkenpärchen zog seit einer Stunde seine Kreise hoch über dem brüchigen Rundturm der Burg. Schweigend, noch halb im Traum, sah Jean-Rutgar den Raubvögeln zu. Einige Tauben gurrten im verfallenden Taubenhaus, die wenigen Hühner, die der Fuchs sich noch nicht geholt hatte, wagten sich nicht aus dem Schatten der Scheune hinaus. Unter den weißen Wolken des Heumonds rüttelte Westwind an der Krone des Baumes und streichelte die Kornfelder in langen, zitternden Wellen. Ragenarda richtete sich halb auf und strich das schweißnasse Haar aus Jean-Rutgars Stirn.

»Der Herbst beginnt. Ringsum zerbricht alles«, sagte sie leise. »Und der Wintersturm wird alles zu Staub zerblasen und forttragen in alle Welt. So wie dich.«

Die weiße Sonne der Provençe, die das Land ausgedörrt hatte, brannte seit fast einem Monat heißer als sonst. Ein blauer, leuchtender Sommer endete. Aus dem Gebüsch kroch der Geruch von Rosmarin und Thymian. Auch Rutgars Tagtraum war von Wohlgeruch erfüllt gewesen, das Traumbild einer Burg mit rundem, weißem Turm unter leuchtenden Wolken, am sandigen Ufer eines Meeres von tiefblauer Farbe, und durch das Wasser hatte er rätselhafte goldene Dinge am Meeresboden liegen gesehen. Die Burg stand auf einem Hügel, inmitten riesiger Bäume, und der Hügel wuchs hervor aus einer silbernen, staunenswert fremdartigen Landschaft. Rutgar blinzelte den Traum fort und holte tief Luft. Über dem fernen Meer ballten sich Wolken, die ein Gewitter ankündigten.

Rutgar öffnete die Augen und glaubte, die Schwungfedern an den Flügelenden der Falken zittern zu sehen. Dann blickte er in Ragenardas Gesicht, und mit lähmender Plötzlichkeit kamen Verwirrung, Trauer und Furcht zurück, die der Wachtraum vertrieben hatte.

»Ich werde dich niemals vergessen können«, sagte er leise. Er hatte es schon Dutzende Male ausgesprochen. »Dich und das alles hier. Diese beiden Sommer. Niemand hat uns gesehen, keiner hat uns gestört. Warum muss es zu Ende gehn?«

»Nichts währt ewig«, antwortete sie und beugte sich über ihn. Ihr schweres Haar umgab seinen Kopf wie ein schützender Mantel, die dunklen Spitzen ihrer Brüste rieben sich an seiner heißen Haut. »Die Armut zwingt uns. Ich muss fort. Du musst fort. Im Frühling geht auch Thybold. Die Burg wird bald nur ein Haufen Steine sein.«

Der Brand während des Weidemonds im vergangenen Jahr hatte die Hälfte des Daches und viele der hölzernen Wände endgültig zerstört. Seit einem Jahr lebten nur Tauben, Mäuse und Ungeziefer, winzige Eidechsen und bleiche Skorpione zwischen den wenigen verwilderten Hühnern. Brombeeren, Himbeeren, Gestrüpp und mistralzerzauste Pinien wuchsen an den Flanken des Hügels außerhalb von Les-Baux und überwucherten die Brandspuren. Nur die Krone des Rundturms, aus der Dutzende Quader und Mauersteine herausgebrochen waren, ragte über die Pinienwipfel, in denen Zikaden schnarrten. Zum Versteck, in dem sie sich seit dreizehn Monaten mit der Hingabe derer liebten, die, weil sie das nahe Ende zu erkennen wussten, mehr und mehr Vorsicht fahren und sich von den köstlichen Stunden mitreißen ließen, führte ein handbreiter Pfad hinauf; schon eine Fußstunde an der Flanke vor dem Dörfchen auf der Klippe begann die menschenleere, wegarme Landschaft, über der nur Habichte und Falken rüttelten.

»Morgen.« Die leise Stimme Ragenardas, dunkler Samt wie ihre Haut, konnte ihn selbst nach einem Jahr noch verführen. »Nach dem Gewitter, morgen früh, mein schöner, junger Geliebter, müssen wir uns trennen. Für immer.«

Der Wetterturm wuchs schneeweiß im Westen; sinnlos, die Wolken und Stunden aufhalten zu wollen. Morgen begann ein anderes Leben. Die Furcht davor, das allzu Vertraute zu verlassen und sich in der unbekannten Welt zu verlieren, hockte seit der ersten Nacht dieses Sommers tief in Rutgars Herz. Das Vertraute, das waren die schöne, erfahrene Ragenarda, das Land rund um Nîmes zwischen dem Meer und Les-Baux, die wenigen Freunde und Philbert, der alte Ordensbruder, von dem er so viel gelernt hatte. Rutgar legte die Arme um die Schultern der Frau und antwortete:

»Mit dir bin ich glücklich. Fata volentem ducunt ..., das Schicksal führt den Glücklichen, hat Philbert gesagt, in seiner Kirchensprache. Und den Unglücklichen zieht es. Ich will nicht unglücklich werden.«

»Du wirst nicht unglücklich sein.« Ragenardas Hüften drängten sich an ihn. Smaragdfarbene Eidechsen sonnten sich auf dem Mauerrest. »Du bist so viel klüger und stärker als alle anderen. Und so viel leidenschaftlicher, mein Grünauge.«

Er zählte fünfzehn Jahre, sie war zehn Jahre älter und ein halbes Jahrhundert erfahrener. Sie hatte ihn, der nicht einen Atemzug lang daran gedacht hatte, sich zu wehren, mit wissendem Lächeln verführt und ihn alles gelehrt, was sie von der Minne und der Leidenschaft ihrer Körper wusste. Von ihr hatte er auch ein paar Dutzend Schriftzeichen und Wörter der muslimischen Sprache gelernt. Wozu eigentlich? Es gab an der Küste keine Sarazenen mehr. Und mit diesem Können und Wissen, seiner Kraft und seiner Jugend würde er von nun an allein sein müssen. Mit schweißfeuchten Fingern erwiderte er ihr Streicheln und murmelte in ihr Haar:

»Ich weiß nicht, was mit mir geschehen wird, draußen, in der Welt, die ich nicht kenne. Aber ich werde zurückkommen, reich und mächtig.«

»Dann wirst du hier wenig wiederfinden von dem, was du kennst.« Ragenarda nahm lächelnd seine Hand und führte sie zwischen ihre Schenkel. Ihre Augen, schwarz im Schatten des löchrigen Vordachs, betrachteten ihn mit seltsam abwesenden Blicken, als habe sie geweint, ohne dass es ein anderer sah, habe den Abschied längst vollzogen. »Alles wird sich verändert haben. Ich weiß, dass es so ist - ich hab's selbst schon einmal erlebt.«

Der Hauptstützpunkt der plündernden muslimischen Seeräuber, die Festung Fraxinetum im Land hinter den Küstenbuchten war lange vor Jean-Rutgars Geburt zerstört worden. Ragenarda stammte aus dieser Gegend, was ihr Aussehen zu erklären schien; der Graf hatte »die Maurin«, damals noch ein Kind, mitgebracht, und nach seinem Tod war ihr Leben bedeutungslos geworden. Rutgar, ebenso elternlos, ein fürstlicher Bastard, mit einer Magd gezeugt, wuchs im Schutz Thybolds, eines wirklichen Sohnes des Grafen und unter den Fittichen des alten Mönchs Philbert auf, dessen Glaubensbrüder aus der Abtei Montmajour die Sümpfe bei Arles trockengelegt hatten. Morgen würden Philbert und Rutgar dorthin aufbrechen.

Er wollte antworten, aber unter Ragenardas weichen, fordernden Lippen wurden im Summen des Windes seine Worte zu undeutlichem Murmeln. Ihre Körper schlangen sich umeinander, das hastige Atmen wurde zu stockendem Keuchen, die Lust ließ Rutgar seine Furcht und Traurigkeit vergessen. Ragenarda nahm ihn mit unverständlich murmelndem Singsang in sich auf, schlang die Beine um ihn, und er bewegte, wie sie es gelehrt hatte, seine Hüften. Dieses Mal legten sich zwei Schatten auf die leidenschaftliche kurze Ewigkeit, die Rutgar bisher fröhlich und ohne an die Sünden der Begierde und der Unzucht zu denken genossen hatte: die Furcht vor dem Leben im Unbekannten und die Schatten der Wolken, die sich vor die Sonne geschoben hatten. Der Himmel war leer, das Falkenpärchen war abgestrichen.

 

Aus der wohligen Erschöpfung weckten sie kurze, heiße Windstöße. Die Wolken hatten sich grau gefärbt. Pflanzensamen, dürres Laub und Spelzen wirbelten durch die Luft. Rutgar und Ragenarda zogen sich flüchtig an und liefen den Pfad hinunter bis zu der uralten Eiche, unter der Ragenardas Pferd lustlos an braunen Halmen zupfte. Im winzigen Quellteich wuschen sie sich, ergötzten sich zum letzten Mal an der Schönheit ihrer nassen Körper und ließen sich von der Luft im säuselnden Wind trocknen.

Rutgar sattelte Ragenardas müden Schimmel und sagte: »Morgen bringt der Händler Wein zur Abtei. Er nimmt Philbert und mich mit.«

Sie flocht ihr tropfendes Haar zu einem schwarz glänzenden Zopf, während sie zu ihrem Pferd ging. Einige Atemzüge lang betrachtete sie die Burgruine, die Pinien und den Kirschbaum, dessen Krone im Wind schaukelte, dann deutete sie auf die grauschwarze Gewitterwand.

»Ich werde morgen bei der Weggabelung sein, unter dem Nussbaum, mein Liebster.«

Er saß im kurz gefressenen Gras und zerrte den Stiefel am rechten Fuß hoch, sprang auf und hakte die Hände ineinander.

»Steig auf, Ragenarda.« Sie setzte ihren Fuß in die Steighilfe und schwang sich in den Sattel. »Sag Thybold, dass ich bei Philbert bin. Vielleicht sucht er mich.«

Sie hielt seine Hand und zügelte den Schimmel. Ihre Blicke kreuzten sich; in ihre Augen traten Tränen und liefen über ihre bräunlichen Wangen. Langsam nickte Ragenarda, dann entzog sie ihm die Hand. Sie gab den Zügel frei, schlug die Fersen in die Flanken des Reittiers und trabte unter den raschelnden Blättern der Eiche hinaus auf den Sandpfad. Jean-Rutgar ließ hilflos die Arme sinken, blinzelte und schloss die Augen, als der Wind eine Wolke aus Staub und Pflanzenresten über die Wasserfläche wehte.

Auch dieses karge Stück Land würde er verlassen; hier war er aufgewachsen, fünfzehn Jahre lang, kannte jeden Pfad, jede Quelle, jede verwitterte Mauer. Hier hatte er Vögel mit Leimruten gefangen, Wachtelfallen aufgestellt, Hasen in Schlingen erlegt und Paare beim lustvollen Tun beobachtet. Er bewegte sich schnell und unsichtbar wie der Fuchs oder eine wildernde Katze, selbst noch in den Jahren, in denen er vor der Hütte des Mönchs mühsam Lesen und Schreiben gelernt und in Philberts Heiliger Schrift gelesen hatte. Warum musste er fort? Was trieb ihn aus der Umgebung, deren tausend winzige Geheimnisse er besser kannte als jeder andere? Sein Traum, der weiße Burgturm? Die Sehnsucht nach einem anderen Leben, nach fernen Ländern, anderen Menschen? Er sah wieder zur drohenden Gewitterwand hinauf und begann zu laufen.

Die Grillen im Gras und zwischen den Steinen und die Zikaden im Geäst verdoppelten ihr Zirpen und Schnarren. Für einen Augenblick hörte Rutgar die Pferdehufe auf Steinen klappern, von fern polterte leiser Donner. Wenn nicht einmal Thybold, der jüngste von drei Söhnen des Grafen, etwas zu sagen hatte und sich mit den Brosamen begnügen musste, die vom allzu kargen Tisch der Familie für ihn abfielen, dann war es klüger, besseres Leben und größeres Heil in der Fremde zu suchen.

Hier war es beschwerlich, so wie das schmale Band des Feldes, das hügelan am Waldrand endete; abgesichelt, voller Spelzen und Stoppeln und Staub. Sperlinge pickten zwischen den stacheligen Resten. Die Wipfel der alten Zypressen neben dem Häuschen schwankten im Wind; der Brauch, der dem müden Wanderer durch diese drei Bäume Essen, Wasser und Schlafplatz versprach, stammte von den Römern, hatte Ragenarda ihm erzählt.

Er überquerte den leeren Streifen und rannte ein gelbes Kornfeld entlang, zwischen umwucherten Felsen hindurch und über die uralte Brücke zu der Hütte, die neben den Resten der Kapelle stand. Sie war schon eine zugewachsene, vom Mistral umheulte Ruine gewesen, als Rutgar den Benediktinermönch das erste Mal besucht hatte; vor neun, zehn Jahren.

Von Thybold und Ragenarda hatte er gelernt, Pferde richtig zu behandeln und zu reiten. Reitpferde waren teure, wertvolle Geschöpfe, fast so teuer wie eine Rüstung und gute Waffen. Die Familie besaß nicht mehr als zwei alte Wallache. Alles andere wusste er von den Bauern, den Fuhrleuten, Tagelöhnern und Hirten; denn er hatte sich durchgeschlagen, indem er überall dort gearbeitet hatte, wo es etwas zu schuften gab. Er kannte die harte Arbeit der Rhôneschiffer - Nîmes lag nicht allzu weit im Westen - ebenso wie die knochenbrechende Fron der Müller und Winzer und die Erzählungen von fahrenden Spielleuten und Rittern. An all das dachte er, tausend Erlebnisse schossen durch seinen Kopf, als er im Licht des ersten Blitzes über die Stoppeln eines Roggenfeldes auf die Hütte zustolperte. Ein Vogelschwarm stob vom anderen Ende des Feldes auf.

 

Schwitzend und keuchend ließ sich Rutgar auf die Steinbank fallen. Thybold und er hatten dem Mönch ein einfaches, strohgedecktes Vordach gezimmert, unter dem der Alte im Schatten an seinem Tisch sitzen und ins Land schauen konnte. Auf der Platte stand ein Tonkrug. Rutgar hob ihn an; kühles Wasser. Er trank, leerte ihn halb und setzte ihn ab, als der Weißbärtige aus der Hütte kam und sich unter dem Türstock bückte.

»Ich bin's, Vater Einsiedel«, sagte Jean-Rutgar mit verlorenem Lächeln. »Gerade noch, bevor das Gewitter niedergeht. Will uns Gott ein Zeichen geben?«

Der Benediktinermönch setzte sich, legte den Arm um Rutgars Schultern und deutete mit dem Daumen über die Schulter.

»Nimm's als Zustimmung. Ich hab mein Bündel gepackt. Viel ist's nicht. Und du?«

Rutgar zuckte mit den Schultern. »Ragenarda bringt meinen Besitz morgen zur Straße. Sie hat auch nicht schwer daran zu tragen.«

Der Mönch lächelte unter den weißen Bartstoppeln. »Du wirst es vielleicht mit deinen fünfzehn Jahren nicht verstehen, Jean-Rutgar, aber warum sollte Gott dich strafen wollen? Nur weil du mit reinem Herzen diese Frau begehrst? Minne ist keine Sünde. Sie ist niemandes Eheweib.«

Unverbrüchliche Frömmigkeit und Liebe zu allen Kreaturen, nichts anderes kennt er, dachte Rutgar. Er ist zu gut für die Welt. Philbert mit den tausend Falten im Gesicht, dem schütteren Bart und dem weißen Haarkranz kannte nur Gottes Güte, die sich wie milder Regen auf jedes seiner Geschöpfe senkte. Aber auch Philbert verließ dieses Stück Land, weil er, hinfällig geworden, in diesem gottvergessenen Land verhungern würde, während er sich um seine Schäflein sorgte.

Jean-Rutgar nickte und antwortete lächelnd: »Du weißt, dass ich mich an die Sprüche deiner Weisheit halte, Vater Philbert.«

Zwei, drei vielfach verzweigte Blitze und, einige Herzschläge später, laut knatternder Donner bekräftigten seine Worte und machten ihn und den Mönch halb taub. Rutgar unterdrückte sein Erschrecken, ging in die Hütte und holte Oliven, den Ölkrug, Brotfladen und Käse, in ein feuchtes Tuch eingeschlagen. In seinen Ohren klingelte der Nachhall des Donners. Als er das Holzbrett abstellte und das Messer aus dem Stiefelschaft zog, hörte er trotz der klingenden Ohren Hufgetrappel und den Ruf. Er wandte den Kopf und erkannte Thybold im Sattel des schweißnassen Schimmels, den Ragenarda geritten hatte.

»Schnell, unters Dach!«, rief Rutgar und sprang auf. »Binde den Gaul fest! Wenn er sich losreißt, finden wir ihn nie wieder.«

Thybold sprengte heran, ritt um die Ecke der Hütte und sprang aus dem Sattel. Die Halbbrüder tauschten eine kurze Umarmung aus. Der Grafensohn, um die zwanzig, schwarzhaarig, mit Nackenzöpfchen und strahlenden blauen Augen, ließ sich von Rutgar helfen und knüpfte einen Leinensack vom Sattel.

»Braten, Käse und ein paar Trauben«, sagte er lachend und wickelte einen Krug aus der schützenden Strohhülle. »Und ein Schluck Wein. Mehr hab ich nicht finden können.«

»Gott segne euch zwei!«, rief Philbert. Obwohl er einsam in seiner Hütte lebte, wollte er nicht Eremit oder Einsiedel genannt werden. Er lachte und zeigte auf die Regenwolke. »Lasst uns ein Abschiedsmahl nehmen! Der Himmel schlägt den Takt zu jedem Schluck.«

Er holte Holzbecher aus der Hütte. Rutgar und Thybold sattelten ab und banden die Zügel am Türpfosten fest. Thybolds schmales Gesicht zeigte, dass er am liebsten mit Rutgar mitgeritten wäre, aber nicht zu den frommen Brüdern. Seine Falkennase schien erlebnisgierig in die Ferne hinauszuwittern.

Die tiefschwarze Wolkenmasse schob sich von Sonnenuntergang her blitzend und donnernd heran, aber noch ohne einen einzigen Tropfen. Der Wind fing sich unter dem vorspringenden Dach, als Rutgar die Becher füllte, den Weinstrahl mit der flachen Hand vor dem Sturm schirmend.

 

Das Gewitter tobte die halbe Nacht, mit zahllosen Blitzen, strömendem Regen und unablässigem Donner, als wolle die Welt untergehen. Die drei saßen im flackernden Dunkel hinter den Tropfenvorhängen, die wie Wasserfälle vom Dach plätscherten. Rutgar und Thybold redeten und sprachen sich gegenseitig Mut zu, versuchten den Sinn der Welt zu erkennen, noch ehe sie sich in der Fremde umgesehen hatten. Auch Thybold wollte Les-Baux verlassen, nach dem Winter, aber Rutgars Weg zu den Benediktinern war nicht seiner; er blieb unentschlossen. Der letzte Schluck Wein schmeckte sauer und rau, als sollte Jean-Rutgar auf die nächsten Jahre vorbereitet werden.

 

Um Mitternacht war die schwarze Wettermauer weitergezogen, und auch der Regen verlor allmählich seine Gewalt. Im ersten Morgengrauen sattelte Thybold den Schimmel, nachdem sie das triefende Tier trocken gerieben hatten. Sie hängten ihre Bündel an den Sattel und wanderten durch die Wildnis aus Fels, tropfenden Krüppeleichen und wilden Ölbäumen nach Süden, zur Wegscheide, wo Ragenarda neben dem Gespann des Händlers wartete.

Der Abschied, voll brennender Blicke und verzagten Flüsterns, zerriss Rutgars Herz, aber der Händler drängte. Von den ersten Sonnenstrahlen geblendet, wandte sich Jean-Rutgar um. Die Luft war so klar wie nie zuvor. Thybold und Ragenarda standen unter dem Nussbaum, an dessen Blättern das Sonnenlicht in tausend Funkeltropfen zerstrahlte; in Rutgars Kopf blitzten, wirbelten und strudelten die Gedanken durcheinander. Er empfand nichts, es war zu viel. Er kletterte zu Philbert zwischen die Fässer und wischte, als es niemand sah, die Tränen aus den Augen. Erst als Philberts Schultern schwer gegen ihn fielen, weil der Greis eingeschlafen war, richtete Rutgar seinen Blick auf die Räderspuren der Straße, die hügelan führte und neben einer verwitterten Säule hinter der Erhebung verschwand. Ihm war zumute, als könne er niemals mehr zu weinen aufhören.