Kapitel XVI

 

A.D. 1096, 21. TAG DES WEINMONDS (OKTOBER),

SPÄTER MORGEN

IN CIVETOT

 

»Alles Fleisches Ende ist vor mich gekommen; denn die Erde ist voll Frevels, und siehe da, ich will sie verderben.«
(1.Mose 6,13)

 

Die erste Welle der flüchtenden Fußkämpfer brandete gegen den Durchlass des südlichen Tors. Zwischen der nächsten Horde sah man einige Ritter und Kriegsknechte zu Pferde. Hinter der kaum überschaubaren Menge erschienen die ersten Reihen der berittenen Seldschuken, vor denen Hagelschauer aus Pfeilen zu wüten schienen; einzeln und reihenweise fielen die Fußkämpfer unter den todbringenden Geschossen.

Die Flüchtenden zwängten sich durch die Engstelle des Tors. Ohne zu wissen, was vor sich ging, rannten Kinder, Mädchen und Frauen zum Strandtor und hetzten den Hang hinunter zum Wasser.

Bald stauten sich Tausende vor dem nördlichen Tor. In dieser schreienden Masse, in der sich Menschen gegenseitig fluchend und kreischend zu Tode traten, schufen sich Berittene ein wenig Raum und versuchten, sich den nachdrängenden Seldschuken entgegenzuwerfen. Walter von Teck sah man, die Brüder von Zimmern, Albert und Konradt, Gottfried Burel, vom Nasenbein bis zu den Pferdehufen von geronnenem Blut bedeckt, und Wilhelm von Poissy. Sie kämpften wie die Rasenden, wurden aber von der Menge eingeschlossen und zum Tor gedrängt. Walter von Teck starb durch mehr als ein Dutzend Pfeile, die fast gleichzeitig in seinen Körper einschlugen, und ein aufblitzendes Krummschwert trennte den Kopf seines Pferdes vom Rumpf, noch bevor der Ritter tot zu Boden gesunken war.

Unzählbar, unüberschaubar groß war die Zahl der Angreifer, die von der Straße nachdrängten und mit wildem Kampfgeschrei an Hunderten Stellen gleichzeitig aus dem Wald hervordrangen; Reiter und fußkämpfende Bogenschützen, deren Pferde man ihnen hinterherführte.

Von blutenden Wunden bedeckt sank Rudolf von Brandis innerhalb der Palisaden vom Pferd. Seine Knechte und Knappen schleppten ihn in einer ledernen Decke, aus der das Blut tropfte, zum Südtor und von dort, in lebensgefährlichem Galopp, den Strand entlang nach Sonnenuntergang; dort sollte man, hatten manche Priester verbreitet, sich verstecken können.

Unzählige wütende und blutige Einzelkämpfe brachen an ebenso vielen Stellen der Mauern und Palisaden aus. Es dauerte keine halbe Stunde, bis die Menge vor dem Südtor von einem Halbkreis der Feinde eingeschlossen war. An drei Stellen brannten die ausgedörrten Palisaden der Brustwehr.

Friedrich von Zimmern, der mit den meisten seiner Getreuen von der Masse der Verfolger schon nach Civetot hineingepresst worden war, ließ, stöhnend und fluchend, Gott anrufend, im Sattel, ungeduldig die schlimmsten seiner Wunden verbinden und versuchte, im letzten Aufflammen seiner Kräfte, eindringende Seldschuken niederzuhauen.

Seine Mannen, allesamt schwer gezeichnet, zwangen ihn nach nutzlosen Waffengängen, sich mit ihnen im Pinienwald vor Helenopolis zu verstecken. Überall im Rund blitzten die langen Krummschwerter der Seldschuken auf, von überall her ertönten Kreischen und Heulen. Soldaten, Frauen, alte Männer und junge Kämpfer wurden niedergemetzelt, als genügend Seldschuken eingedrungen waren und Feuer an die Tortürme gelegt hatten. Aber jetzt hackten die Alten brennendes Holz aus den Türmen und dem Tor und schleuderten es, der eigenen Verbrennungen und der dichten Rauchwolken nicht achtend, auf die Türken.

Die Raserei wütete weiter. Kranke wurden auf ihren Lagern erschlagen oder von den Hufen der Pferde zertrampelt. Das Geschrei machte selbst die Furchtlosesten zu zitternden, winselnden Bündeln der Angst. Wie ein Keil bohrten sich die Seldschukenkrieger in das Rund des Lagers, schwärmten nach beiden Seiten aus und trieben Kinder und Heranwachsende beider Geschlechter rücksichtlos mit Geschrei und Schlägen zu Gruppen zusammen.

Auch Graf Heinrich von Schwarzenberg, brüllend, verwundet und blutend, wehrte sich verbissen. Seine Leute schleppten ihn als tot zum Südtor und retteten sich, während die Festung sich mit Eindringlingen füllte. Noch immer ergossen sich vom Bergpass herunter Teile des seldschukischen Heeres zum Fuß der Festung und zum Tor, drangen ungehindert ein und wüteten unter den Männern, die sich zu verteidigen wagten.

Als die Sonne im Mittag brannte, schien alles vorbei zu sein. Die Seldschuken rissen den Kindern die Kleidung herunter. Diejenigen, deren Äußeres ihnen gefiel, ließen sie am Leben und peitschten sie aus Civetot hinaus, wo sie, nach Geschlecht getrennt, in Sklavenpferche gesperrt wurden. Viele andere wurden erschlagen, erdolcht oder erdrosselt, nachdem die Krieger sie im Siegesrausch missbraucht hatten. Der Boden Civetots, verdorrtes Gras und nackter Sand, war blutgetränkt. Bald waren alle Frauen und Männer, die so aussahen, als würden sie arbeiten können, als Sklaven gebrandmarkt und weggebracht. Niemand wusste, wie viele Christen dem Ansturm der Türken hatten entfliehen können.

Am frühen Nachmittag war Civetot fest in der Hand der Truppen des Sultans. Innerhalb der Palisaden lebte kein Christ mehr. Die Gefangenen marschierten mit einem Teil der Truppen nach Nikaia; im weiten Umkreis der Festung lagen Hunderte Tote und reglose oder zuckende Sterbende im staubbedeckten Gras. Vom Eingang der Schlucht bis zur höchsten Stelle im Tal des Drakon herrschte das Schweigen tausendfachen Todes. Über die bewegungslosen Körper der Erschlagenen, Erstochenen, von Pfeilen Durchbohrten, Ausgebluteten und den Wenigen, die noch nicht tot, aber tief besinnungslos waren, machten sich Ameisen, Käfer und schillernde Fliegen her. Aus dem Nachmittagshimmel, aus dem eine messingfarbene Sonne glühte, senkten sich die ersten Aasgeier.

 

Sie ritten weit im Westen auf dem verborgenen Pfad zur Uferfestung. Berenger schwieg, und Rutgar deutete die Richtung an. Als sie eine Stunde lang im Schritt und Trab geritten waren, endete der furchtbare Lärm aus Civetot. Der graue und schwarze Rauch schwerer Brände stieg auf und wehte nach Westen. Einen Steinwurf vor ihnen gabelte sich der Pfad; links führte er zum Dorf.

»Der Herr liebt uns, meine Schöne«, sagte Rutgar und glaubte, schon den Rauch des Schmiedefeuers und den Geruch schmorenden Horns aus Gautmars Werkstatt riechen zu können. »Wir leben noch. Oder Er, der alles sieht, hatte seinen Blick nicht auf uns gerichtet. Wir kommen nach, Chersala.«

Sie hob den Arm, setzte sich im Sattel zurecht und galoppierte an. Wenige Atemzüge später waren nur noch die Hufschläge und das Schnauben ihrer Stute zu hören. Berenger und Rutgar trabten zur Uferburg, vergewisserten sich, dass keines der Fischerboote mehr festgemacht hatte, und ritten, so gut wie möglich in Deckung, entlang des Strandes auf Civetot zu.

Schon nach einem Fünftel des Weges kamen ihnen die ersten Flüchtenden entgegen und erschraken vor den Verkleideten, bis Rutgar und Berenger sich zu erkennen gaben. Es kamen Dutzende, Hunderte, fast ohne jedes Hab und Gut; schließlich glaubten Berenger und Rutgar, dass sich ungefähr dreitausend Verwundete, Kranke, Alte, Frauen und Kinder gerettet hatten. Im Lauf der nächsten Stunden stießen noch überlebende Ritter und Männer aus deren Gefolge dazu.

»Mit und ohne unsere Hilfe«, sagte Berenger, nachdem er aus dem Turmausguck hinuntergeklettert war, »werden sie die Burg gegen die Seldschuken halten müssen.«

»Also im letzten Tageslicht nach Drakon? Das schaffen unsere Pferde gerade noch.«

»Einverstanden.«

Die Männer waren ebenso müde wie die Tiere, aber im Schritt und bisweilen Trab erreichten sie das Dorf in der Abenddämmerung. Im langsamen Trab ritten sie in Drakon ein. Sie konnten weder Schafe noch Rinder sehen, es brannte kein Herdfeuer, und nur einige Hühner flüchteten gackernd vor dem Schatten eines Habichts.

»Sie haben sich versteckt. Alle«, meinte Rutgar und ließ sich zu Boden gleiten. »Sie sind in Sicherheit, und sie beobachten die Pilger und die Seldschuken. Vater Gautmar hat sie gelehrt, sich zu verbergen.«

»Wir sollten es ihnen gleichtun.« Berenger stieg unter dem Vordach der Schmiede ab und hielt die Hand über das Feuer neben dem Amboss. Der Reiter tat, als wäre er hier zu Hause. Die Glut unter der dicken Lehmschicht strahlte kaum noch Wärme ab; die Werkzeuge des Schmieds fehlten. Die Männer tranken kaltes Wasser und versorgten die Rappen.

»Sie sind geflüchtet. Recht getan«, sagte Berenger. »Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn deine schöne Liebste nicht mit einem Essen und einem Krug Wein auf uns wartet.«

Wie als Antwort wieherte ein Pferd hinter der Schmiede. Eine Tür knarrte, schwacher Lichtschein fiel ins Freie. Chersala stand im Türrahmen und winkte lächelnd.

»Bringt die Pferde hinters Haus«, sagte sie leise. »Wir sind allein im Dorf.«

Sie versorgten die Tiere, lockerten die Sattelgurte, nahmen die Sättel aber nicht ab. Als Chersala Rutgar erleichtert umarmte und küsste und sich seine Augen ans Dämmerlicht des Wohnraums gewöhnt hatten, sah er, dass ein einfaches, aber reichhaltiges Mahl auf ihn und Berenger wartete. Während sie aßen, berichteten Berenger und Rutgar, wie es um Civetot und die Uferfestung stand.

Berenger streckte die Beine aus, lehnte sich gegen die Wand und hob den Becher.

»Dass sich euer Dorf samt Schafen und Kühen versteckt hat, ist gut. Die Türken, glaube ich, haben anderes zu tun, als in Drakon nach Christen zu suchen, denen sie die Hälse durchschneiden können. Trotzdem - wir sollten wachsam bleiben. Du bringst uns in ein Versteck, Schönste?«

Chersala nickte stumm.

»Also: Die Pferde gesattelt lassen. Ich setze mich neben den Pfad und halte Wache. Bis Mitternacht.« Er grinste behaglich. »Dann hole ich dich vom Liebeslager herunter, Ritterlein. Geschworen?«

»Versprochen!«

»Es war ein langer Tag, voll mit Tod und Blut«, murmelte Berenger und trank von dem ungemischten Wein. »Wir haben überlebt und warten nun auf die Schiffe des Alexios. Denn an keinem Fleck vieler Länder ist dein Prediger so unnütz und überflüssig wie hier.«

»Und du gehst zurück nach Konstantinopel?«, fragte Chersala.

»So ist es mir befohlen worden«, lautete die Antwort. »Aber nicht, bevor die verbliebenen Pilger entweder in Sicherheit gebracht oder abgeschlachtet worden sind.«

Rutgar starrte ihn kopfschüttelnd an. Berenger stand auf, hängte seinen zusammengerollten Mantel über die Schulter und blinzelte in die Kerzenflammen. Er ging, einen Weinkrug in der Hand, zur Tür und sagte: »Bis Mitternacht, Ritterlein!«

Die schwere Bohlentür schloss sich leise hinter ihm.

Später, nachdem sich Rutgar lächelnd hatte verführen lassen, saßen sie im Mondlicht auf dem Rand des Brunnentrogs. Chersala hatte ihre Hände bis halb zu den Ellbogen ins Brunnenwasser gesenkt, ihre unruhigen Finger riefen kleine Wirbel hervor. Die Härchen ihrer Oberarme hatten sich aufgerichtet, die Adern am Hals pochten in der Erinnerung an die leidenschaftliche Umarmung. Ihr Blick forschte zwischen den Schatten in Rutgars Gesicht, als sie leise fragte: »Werden wir uns wiedersehen, Grünauge? Wenn alles vorbei ist?«

»Wenn das Schicksal, das uns Gott zugedacht hat, gnädig ist«, entgegnete Rutgar zögernd. »Eine Frage, die niemand beantworten kann. Vielleicht. Warte nicht auf mich. Ich kann schon morgen Abend tot sein.«

»Ich weiß.« Sie hob die Hände aus dem Brunnentrog und kühlte ihr Gesicht. »Nichts ist ungewisser in der Zeit der Kriege als die Liebe.«

»Und nichts anderes muss mehr Gefahren fürchten.«

Chersala legte die Arme um seinen Nacken und versenkte ihre Blicke in seine Augen. Sie hatten darüber geredet, was er morgen und in den nächsten Tagen tun musste. Nur wenn es fehlschlug und er den Türken entkam, würde sie ihn wiedersehen.

»Gib auf dich acht, Rutgar aus Les-Baux«, flüsterte sie. »Mit dir kämpfend und betend bis nach Jerusalem zu ziehen, dazu bin ich nicht geschaffen.«

»Das haben wir oft besprochen. Halte dich fern von den Pilgern, wenn das Große Heer durchzieht. Du hast erlebt, welches Übel sie mit sich bringen.«

»Sie haben Übles gebracht, aber auch du bist mit ihnen gekommen.« Sie löste sich von ihm, stand auf und warf ihr Haar in den Nacken. »Geh zu ihnen zurück und lass dich nicht von ihren Übeln anstecken.«

»Das will ich tun«, sagte er und nahm ihre Hand. »Und nun küsse ich dich zum ersten Abschied.«

Chersala schüttelte den Kopf, riss sich los und ging mit weiten Schritten zum Haus. Über die Schulter rief sie: »Du sollst nicht sehen, wie ich um dich weine, Grünauge! Komm im Dunkeln auf mein Lager!«

Sie begann zu rennen; Rutgar hörte dumpf eine Tür ins Widerlager fallen. Der Rappe oder ein anderes Pferd wieherte leise hinter dem Haus. Eine Stunde später ging Rutgar ins Haus und tastete sich in völliger Finsternis zu Chersalas Lager.

 

Nur ein Kerzenrest in einem schmiedeeisernen Leuchter brannte mit ruhigem Flämmchen. Der Raum war voller Schatten und dem Geruch trocknender Kräuter. Chersala lag mit einem Laken halb zugedeckt; sie war wach, und ihr Haar breitete sich über die Kissen aus. Sie hatte geweint. Rutgar setzte sich auf das Bett, ein helles Viereck im Halbdunkel, und küsste ihr tränennasses Gesicht.

»Ich will dich nicht verlassen«, sagte er leise. »Ich will dich nicht allein zurücklassen. Aber ... was soll ich tun?«

Sie blickte ihn aus großen, glänzenden Augen an und schwieg. Er zuckte mit den Schultern und wiederholte:

»Ich hab dem Eremiten versprochen, ihn und die Pilger zu schützen. Ich bin fremd in eurem Land. Und ich will dich nicht anlügen.«

Chersala richtete sich auf. Ihr Schatten vereinigte sich mit Rutgars Schatten an der Wand. Sie streckte den Arm aus und zog Rutgar zu sich auf das Kissen herunter. »Bleib bei mir, Liebster.«

»Um Bauer oder Schmied in Drakon zu werden«, sagte er unschlüssig, »bin ich nicht aus meiner Heimat fortgelaufen. Hätte ich dort ein Lehen, würde ich sagen: Reite mit mir dorthin. Aber ... ich bin nichts, habe nichts und kann kaum etwas.«

»Hier bekämst du alles«, flüsterte sie.

»Wir wären ein bettelarmes Paar. Ärmer als viele meiner Pilger.«

»Vater Gautmar würde gut für uns sorgen.«

Rutgar vermochte sich vieles vorzustellen. Ein Zusammenleben mit dieser jungen, schönen Frau, der es gelungen war, das Bild Ragenardas zwar nicht verschwinden, aber zu einer von vielen schwankenden Erinnerungen werden zu lassen, würde alle Tage und Nächte bereichern. »Ich glaube dir. Aber draußen wartet Berenger. Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen.«

Sie nickte langsam und hielt sich an seinem Arm fest. Dann schlug sie das Laken zurück und streckte sich aus, verschränkte die Hände im Nacken und zog ein Knie zu sich heran. Ihr dunkler Körper lag zwischen den Falten des Leinens wie Adams Verführerin Lilith.

»Ich warte auf dich, Grünauge«, sagte sie herausfordernd und räkelte sich, als sie ihr Haar zusammenfasste und die Strähnen zwischen die Brüste legte. Rutgars Begehren wurde stärker als seine verzweifelte Unsicherheit. »So warte ich auf dich.«

»Du musst nicht lange warten«, antwortete er und schlüpfte aus Wams, Hemd und Hose. »Vielleicht umarmst du mich zum letzten Mal. Die Seldschuken ...«

Sie legte die Finger auf seine Lippen, dann küsste sie ihn und öffnete langsam ihre Schenkel. Ihr Körper schien zu glühen; sie liebten sich gierig, zerquält und in keuchender Besessenheit, als wüssten sie beide, dass das Schicksal keine Wiederholung zuließ.

 

Rutgar saß wieder vor dem Haus, als Berenger, leise wie eine Wildkatze, sich der Schmiede näherte und ins Halbdunkel hineinsprach: »Kein Lärm. Keine Fackeln. Keine Seldschuken in der Nähe. Der Herr segne meinen Schlaf. Schläft die Schöne?«

Er las die Antwort in Rutgars Gesicht, blickte in die Sterne und ging zur Scheune; schon nach einem Dutzend Schritten hörte Rutgar sein Schnarchen.

 

Nur ungefähr dreitausend Überlebende sammelten sich während des Restes des Tages und in den ersten Nachtstunden in der Ruinenburg westlich von Helenopolis. Priester führten diejenigen, die den Weg nicht kannten, zur namenlosen Stelle am Ufer. Die überlebenden Flüchtigen erkannten einander trotz der ausgestandenen Schrecken wieder: Kinder, Frauen, Männer, Krieger, die wenigen Grafen, die Unversehrten und die Verwundeten hatten sich verschanzt, indem sie alles, was sie tragen konnten, zur Verstärkung der Mauern benutzt hatten.

Während sie, halbwegs ratlos, sich auf eine grausige Belagerung einrichteten, suchten einige ihrer Reiter entlang der Küste einen Fischer zu finden, der ihren Hilferuf nach Konstantinopel brachte.

 

Rutgar ritt durch eine Landschaft, über die sich die Stille des Todes gelegt hatte. Vorsichtig, im Schritt, lenkte er den Wallach an einer Wegegabelung nicht zum Schleichpfad weiter, sondern hinüber zur Höhe des Passes. Er warf einen langen Blick in die Schlucht, schloss die Augen und schlug die Hände vors Gesicht. Aus allen Richtungen strichen schwarze Vögel heran.

Er vermochte nicht weit in die Schlucht hineinzusehen, aber was er erkannte, erfüllte ihn mit eisigem Entsetzen. Hunderte, Tausende toter Körper lagen nebeneinander, aufeinander und übereinander, zum Teil ihrer Waffen beraubt, wie in einem See trocknenden Blutes. Rutgar bekreuzigte sich langsam und fühlte, wie er innerlich erstarrte. Er schüttelte sich; plötzlich fror er. Stockend, fast flüsternd, formte er Worte, die für ihn kaum Sinn ergaben:

»O Herr! Du bist ein grausamer Gott - und uns hast du so schöne Zeit geschenkt. Haben sie alle für uns büßen müssen?«

Aus seiner Kehle löste sich ein seltsamer Laut; halb Keuchen, halb Aufschrei. Alle jene Toten, die Pilger ebenso wie die Ritter, hatten inbrünstig geglaubt, Gott sei mit ihnen, bis in alle Ewigkeit. Dieser Glaube hatte ihr Leben beherrscht; er besiegte jede Widrigkeit und ließ Wunder alltäglich erscheinen, und da sie alles diesem Glauben unterstellten, hielten sie ihre Wünsche und Vorstellungen für Gottes Willen: Deus lo volt! Und nun hatte ihr Glaube ihnen den Tod gebracht. Ob sie wirklich jetzt bei Gott im himmlischen Paradies waren?

Rutgar riss das Pferd herum und trabte zurück, ritt mit äußerster Vorsicht durch den kleinen Abschnitt des Grenzlandes zur Uferburg. Sicher würden Drakons Bewohner später die Toten ausplündern, nachdem die Seldschuken abgezogen waren; sie würden wenig finden außer schartigen Waffen und ein paar Münzen - vielleicht einige Pferde, die sich verlaufen hatten, zerbrochene Lanzen und Sättel. Es würde vor dem ersten Schneefall geschehen, und niemand würde die Mühe auf sich nehmen, eine so große Zahl Toter zu begraben.

Wieder hielt er auf dem felsigen Stück einer Wegkehre an, bog einen Ast zur Seite und blickte hinunter zur Burg und auf das nachmittägliche Meer. Die Boote der Fischer waren verschwunden. Auf dem Meer war kein Segel zu sehen.

Ich beschwöre euch, Faroard und ihr anderen, dachte er in steigender Verzweiflung, betrügt mich nicht, und lasst uns nicht im Stich. Holt Schiffe und Truppen des Basileus!

Aber zwischen den Mauerresten, auf dem schütteren, vergilbten Gras und hinter den schartigen Höhlen der Fenster und Durchgängen bewegten sich Gestalten zwischen den Säulenstümpfen. Rutgar zwang sich, das Bild aus dem Tal der Leichen zu vergessen, und blickte genauer hin. Es waren keine Seldschuken. Auch sah er ein paar Pferde und zwei Esel. Ein Mann auf schwarzem Pferd ritt langsam durch die Menge. Berenger!

»Also sind offensichtlich alle Überlebenden aus Civetot hierhergeflüchtet«, murmelte er. Der Rappe bewegte unruhig die Ohren. Rutgar hob die Augen zum Himmel. »Es war ein großes Sterben, Herr. Hast du das gewollt?«

Er lenkte das Tier in einem weiten Halbkreis durch die Wildnis, hielt sich im Schutz der Gewächse und versuchte zu erkennen, ob die siegreichen Truppen des Sultans auf dem Weg zur Ruinenburg waren oder sie schon zu belagern begannen.

 

In der Festung der Fischer schienen alle Anführer versammelt zu sein, die von den Türken verschont geblieben waren: Sechs Ritter hatten, schwer verwundet, den kurzen Kampf überlebt. Gottfried Burel, Walter von Breteuil, Wilhelm von Poissy, der von Schwarzenberg, Friedrich von Zimmern und Rudolf von Brandis - Feldscher und Heiler versorgten ihre Wunden. Alle anderen Grafen waren tot. Von den mehr als fünfhundert Berittenen hatten die meisten ihre Pferde eingebüßt. Unter moosüberwucherten Steinbögen und Dächern aus vermorschten Eichenbalken lagen Verwundete im Schatten, entkleidet, vom Blut gereinigt und von den Heilkundigen versorgt. Die Flüchtenden wagten nicht, Feuer anzuzünden, um ihr Versteck nicht zu verraten.

Einige Reiter versuchten noch immer, einen Fischer zu finden, der nach Konstantinopel segelte und um Hilfe rief. Aber alle Fischer dieses Küstenstreifens blieben unauffindbar, und es war auch keines der Frachtschiffe zu erspähen, die bisher Verpflegung nach Civetot gebracht hatten.

Nach den wenigen Befehlen der Ritter und mit dem Einfallsreichtum und der Kraft der Verzweifelten verwandelten die Pilger den innersten, höchstgelegenen Teil der Ruine in ein Bauwerk, das sich einige Zeit verteidigen ließ; denn auf der Landseite umgaben steile Hänge, Mauerreste, Felsen, Gräben und fast undurchdringlicher stacheliger Bewuchs die Burg. Es schien unmöglich zu sein, dort Belagerungsmaschinen aufzustellen oder in größeren Gruppen anzugreifen.

Rutgar kannte drei oder vier Wege durch den Irrgarten aus zersplitterndem Fels und ebenso viele entlang des Ufers. Er ritt zur Burg; die Priester der Pilger erkannten ihn und brachten ihn ins Innere. Eine halbe Stunde später stand er am Krankenlager der Grafen Gottfried Burel und Walter von Breteuils. Die Männer waren wach und erkannten, was um sie herum vorging. Berenger lehnte schweigend, mit verschlossenem Gesichtsausdruck, an einem Pfeiler und grüßte Rutgar mit einem kurzen Nicken.

»Mit Gottes Hilfe, Ihr Herren«, sagte Rutgar langsam und betont deutlich, »sind die großen Schiffe des Kaisers schon auf dem Weg zu uns. Mit dem Gold, das mir Peter von Amiens gab, hab ich sie bezahlt, die Fischer, die sonst hier anlegen.«

»Warst du in ... der Schlucht?«, ächzte Gottfried, nachdem er Rutgars Gestalt lange gemustert hatte und sich, offensichtlich mit Mühe, Kukupetros' Begleiters entsann. »Hast du die Krieger gesehen? Unsere Toten?«

»Ja«, sagte Rutgar. »Ich habe sie nicht gezählt. Sie sind alle tot. Alle!«

Eine Zeit lang schwiegen sie. Dann fragte der Graf von Breteuil: »Zwanzigtausend? Fünfundzwanzigtausend, mit den Toten in Civetot.«

»Vergesst Xerigordon nicht, Ihr Herren«, sagte Rutgar und bemühte sich, weder verächtlich noch belehrend zu wirken. »Die bewaffnete Reise nach Jerusalem ist hier zu Ende. Gott hat sie nicht gewollt.«

»Er hat es uns wahrlich deutlich genug gezeigt«, keuchte Burel und schloss die Augen.

Rutgar verbeugte sich knapp und verließ die offene Halle, in der es nach Verzweiflung und Sterben roch. Berenger folgte ihm schweigend, holte ihn im Innenhof ein und fragte, den Arm um Rutgars Schulter:

»Wie viele Türken haben sich in der Umgebung versteckt? Bereiten sie sich vor, die Burg anzugreifen? Was hast du gesehen? Du bist später gekommen als ich.«

»Da sie sich versteckt haben«, antwortete Rutgar und wandte den Kopf ab; Berengers Atem roch nach saurem Wein, »hab ich schwerlich alle gesehen. Aber es sind mindestens so viele wie beim Sturm auf Civetot.«

»Dann wird's uns allen schlecht ergehen«, sagte Berenger und wies auf ein Feuer. »Vielleicht können wir sie ein wenig versengen, indem wir das Gestrüpp anzünden, wenn sie stürmen. Hab ich einmal gesehen. Hundert Steppenreiter in einem brennenden Schilfwald. Alle tot. Leider auch die schönen Gäule.«

»Du bist wahrlich eine Zierde deiner Warägertruppe. Seid ihr alle so voller Güte und Barmherzigkeit?«

»Nur wenn es die Not gebietet.« Wieder hatte Berenger sein wölfisches Grinsen im Gesicht. »Eigentlich bin ich freundlich, gerecht und verträglich.«

»Gebe Gott«, sagte Rutgar, »dass wir Freunde bleiben. Oder wenigstens gemeinsam für die gute Sache kämpfen.«

Berenger lockerte seinen Griff und schlug ihm die flache Hand zwischen die Schulterblätter. »Gebe Gott, dass wir die gute Sache recht erkennen, Ritterlein.«

 

Während des Tages und der ganzen Nacht griffen die Seldschuken die Burg nicht an. Aber in weitem Halbrund sahen die zum zweiten Mal Eingeschlossenen die Lagerfeuer des Heeres, hörten die Schreie der menschlichen Beute, das Johlen und Gelächter der türkischen Bogenreiter. Am Morgen, davor fürchteten sie sich alle, würden die Truppen des Sultans angreifen und beenden, was die christlichen Ritter angefangen hatten.

Rutgar saß unweit der verwaisten Räucher- und Salzhütte Faroards, trank Brunnenwasser und lehnte an einem Quader. Die erschöpfte Besatzung der Burg schlief, nur die Wachen redeten leise miteinander. Lang gestreckte Wolkenbänke zogen im Mondlicht vor die starrenden Sterne. Auf der Uferseite des Kastells brannten wenige Holzscheite und Kienspäne; im Halbdunkel erkannte Rutgar den Waffenmeister Gottfried Burels, der einen Tonkrug trug.

»Ein Krug Wein.« Giovan setzte sich neben ihn und stieß ein kehliges Lachen aus. »Das ist alles, was von der Beute geblieben ist.«

»Mehr werden wir diese Nacht nicht trinken können«, sagte Rutgar. »Lebt Graf Burel noch?«

»Er wird's vielleicht überleben, Jünger Rutgar.« Giovan nahm einen Schluck, wischte über den schartigen Krugrand und gab Rutgar das schwere Gefäß. »Der alte Hitzkopf ist nicht totzukriegen. Tot sind nur die anderen alle.«

Er rülpste. Rutgar dachte an Peter den Eremiten und grinste verzweifelt in der Dunkelheit. Im Mondlicht zeichneten sich weit draußen die weißen Wogenkämme ab. Peter würde, ebenso wie der Kaiser, die Nachricht vom Untergang des Pilgervolkes schon gehört haben.

»Und morgen Abend sind wir auch tot - und im Reich Gottes, mit etwas Glück.«

Beide wussten, dass im Morgengrauen sich unzählbar viele Seldschuken, Mann um Mann, der Burg nähern würden. Jede noch so lange Verteidigung würde den Tod nur hinauszögern können. Siebenundsiebzig lange Tage hatte die riesige Schar in Civetot gelagert; in drei Tagen war alles vorüber.

»Peters Glaube war groß und echt«, sagte Rutgar. Langsam ging der Krug hin und her. »Aber darüber hinaus hat so vieles gefehlt, Waffenmeister: Gehorsam und Klugheit, Demut und ein klares Ziel.«

»Wer hätt's uns zeigen sollen?«

Sie tranken schweigend weiter. Hin und wieder bewegten sich Lichter im Gemäuer, hörte man mitunter Husten und Schnarchen.

In unregelmäßigen Abständen schlichen Lichter im Halbkreis um die Uferburg; Seldschuken mit lodernden Fackeln ritten hin und her, Gruppen sammelten sich und zerstreuten sich wieder, Schatten schienen zu wandern, fremde Stimmen hallten durch die Nacht. Ab und zu klirrten Waffen; man hörte raues Gelächter und das Wiehern und Prusten von Pferden. Die Seldschuken hatten mit der Belagerung der Uferburg begonnen.

Mühsam, Schritt um Schritt, tastete sich Rutgar durch das Halbdunkel und kletterte zu seinem Ausguck hinauf. Mondlicht lag auf dem Meer und sprenkelte Wald und Felsen um das Gemäuer. Obwohl der Wind, der von Nord wehte, nicht stärker geworden war, sah Rutgar weit draußen große Wellen mit breiten Schaumkronen. Sie schienen auf die Ufer von Helenopolis zuzukriechen.

Er kniff die Augen zusammen. Aus den hellen Streifen lösten sich einzelne Punkte. Er glaubte Lichter zu erkennen, Segel. Schließlich bestand kein Zweifel mehr. Es waren Schiffe, die übers Meer auf die Küste zuhielten. Viele Schiffe, eine ganze Flotte.

Rutgar verließ seinen Platz und suchte nach dem Waffenmeister, der neben dem halb erloschenen Feuer döste.

»Die Flotte des Kaisers! Sie helfen uns, sie holen uns ab.« Rutgar packte das Handgelenk des Alten. »Still! Kein Geschrei. Sie brauchen noch vier, fünf Stunden.«

»Die Seldschuken - glaubst du, sie sehen die Schiffe auch?« Aufgeregt kam der Waffenmeister auf die Beine und blickte wild um sich.

»Vielleicht früher als wir«, antwortete Rutgar. »Wenn es kein Trugbild ist, sind wir bei Sonnenaufgang gerettet.«

Langsam verging die Zeit, der Krug leerte sich, und später mischte Rutgar Brunnenwasser mit dem letzten Wein. Giovan schlief wieder ein und rutschte zu Boden, wo er friedlich schnarchend liegenblieb. Das Glucksen der Wellen und die Brandung, die auf dem Sand zischelte, verwandelten sich für Rutgar in die Musik der Cherubim und den Gesang der Engel.

Aus der schwindenden Dunkelheit leuchteten die langen Ruderriemen des ersten Schiffs wie die Strahlen eines Heiligenscheins, der Widerschein vieler Lichter in den Segeln war wie der Himmel über dem Goldenen Jerusalem.

Als das Geschrei anhub - die Wachen hatten die Flotte des Kaisers gesehen -, fuhr Rutgar aus Halbträumen auf, die vom Tod durch hundert seldschukische Pfeile, von Chersalas bebendem Körper und einer Straße erzählten, die jenseits des Horizonts im Himmel endete.

Das erste Schiff legte im Morgengrauen an.

 

Während sich die Flotte auseinanderzog, den Steg von Helenopolis ansteuerte und an den verfallenen Kai der Uferburg heranfuhr, suchte Rutgar nach Berenger. Er fand ihn auf der steinernen Fläche der Anlegestelle, umgeben von einigen Knappen und Priestern. Berenger hielt zwei Fackeln in die Höhe, schwenkte sie und brüllte Befehle. Kaum waren die Planken auf die Quader und in den Sand gekippt, rannten schwer bewaffnete Waräger an Land.

»Dorthinüber!«, hörte Rutgar Berenger schreien. Seine Stimme klang wie Peitschenknall. »Und nach links! Die Seldschuken sind in einem Halbkreis vor den Mauern!«

Die Pilger, von Angst erfüllt, hasteten durcheinander. Hunderte kaiserlicher Söldner formierten sich und drangen in die Wildnis an den Flanken der Uferburg vor. Ein Keil Bewaffneter folgte Berengers Zeichen, bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge und besetzte die Stellen hinter den Mauern, an denen Rittersknechte bisher Wache gehalten hatten. Überall starrte die Uferburg von Helmen, Schilden und Lanzen; das Licht der Fackelflammen mischte sich mit dem der rötlichen Morgendämmerung. Die Mauern der Ruine, mit aufgeregten Menschen angefüllt, tauchten aus den nächtlichen Schatten auf. Fragen prasselten auf Rutgar nieder, wenn ihn die Pilger erkannten.

»Nehmt eure Habseligkeiten«, wiederholte er immer wieder, »und geht zu den Schiffen. Sie lassen niemanden zurück.«

»Werden uns die Türken nichts mehr tun können?«

»Ich glaube nicht, dass sie angreifen«, antwortete er, während das Durcheinander um ihn herum zunahm. »Seht ihr nicht, wie viele Waräger uns der Kaiser geschickt hat?«

Berenger stand auf einem Quader der halb versunkenen Kaimauer und rief einigen besonnenen Männern Befehle zu. Sie sammelten Pilger um sich und führten sie zu den Schiffen. Dort halfen ihnen Seeleute über die schrägen Planken an Deck. Inzwischen hatten alle Soldaten, auch drüben in Helenopolis, die Schiffe verlassen und drangen entlang der Mauern in die Landschaft aus Felsen und Gestrüpp vor. Die ersten waagrechten Sonnenstrahlen erreichten den Turm und die bröckelnden Zinnen und ließen die Rüstungen und Waffen der Söldner aufblitzen.

Rutgar sah zu, wie die Überlebenden von Civetot in langen Reihen die Burgruine verließen und gehorsam hinter den Anführern zu den Schiffen stolperten. Sie drängten sich der Rettung entgegen wie eine Herde; noch immer waren sie die Schäfchen des Eremiten Peter.

»Es wird Zeit, Jean-Rutgar«, sagte Rutgar leise zu sich selbst und ging zurück durch die dachlosen Säle bis zu dem Winkel, in dem er seine Waffen und die Sattelsäcke zurückgelassen hatte. Auf dem Weg dorthin entschied er sich, zu seinem Ausguck hinaufzuklettern. In der Nische des Turms, auf der steinernen Brustwehr, standen fünf Waräger und starrten hinunter auf den Strand und ins Gestrüpp.

»Ich bin Berengers Freund«, sagte Rutgar. »Und der Beschützer von Kukupetros. Was seht ihr dort unten?«

Einer der Söldner zeigte mit der Hand im eisengeschuppten Handschuh auf das Gewirr vor den Mauern. »Viele Seldschuken, Ritter. Sie sammeln sich und reiten fort. Deine Pilger und die Grafen müssen sich nicht verteidigen.«

»Es wäre eine kurze Belagerung gewesen«, gab Rutgar erleichtert zu. »Die Pilger können nicht kämpfen, und die Ritter sind mehr tot als lebendig. Gott ist gnädig.«

Der andere lachte. »Und wir waren rechtzeitig zur Stelle. Bist du der Mann, der die Fischer nach Konstantinopel geschickt hat?«

»Ja. Ich hab ihnen meine letzten Münzen dafür gegeben.«

»Lass sie dir von Kukupetros zurückgeben!«, rief ein anderer Waräger. »Er trinkt guten Wein in der Stadt und wartet auf das Wunder von hunderttausend gepanzerten Rittern.«

Unter ihnen leerte sich die Burg. Die lärmende Aufregung griff jetzt auf den Schiffen um sich. Im Buschwerk und zwischen den Felsen, zur Straße nach Nikaia hin, erkannte Rutgar im zunehmenden Sonnenlicht einzelne Reiter, kleine und große Gruppen, die von ihren Lagerplätzen auf die Straße hinausritten und davontrabten. Gleichzeitig näherten sich von den Flanken der Uferburg die Söldner des Kaisers mit funkelnden Lanzenspitzen und Helmen. Je weiter sie vordrangen, desto mehr Seldschuken verließen lärmend das Gebiet vor der Burg.

»Keine Belagerung«, sagte Rutgar erleichtert. »Kein Kampf. Nicht noch mehr Tote.«

Er nickte den Söldnern zu und kletterte hinunter. Er holte seinen Rappen, zäumte und sattelte ihn, suchte seine Ausrüstung, schnürte und rollte sie zusammen und band Schild und Helm an den Sattelknauf. Zwischen erloschenen Feuern und Abfall, Lumpen und blutigen Binden führte er den Schwarzen aus der Burg hinaus und blieb auf dem Strand stehen. Die Schiffe waren kaum mehr als zweihundert Schritte entfernt. Berenger war weder im Heck einer der Galeeren noch am Strand zu sehen.

Ruhig betrachtete Rutgar das Bild, das sich ihm bot. Noch immer warteten Pilger am Rand des Strandes, vor den auslaufenden Wellen. Vier Männer trugen einen Ritter auf der Laufplanke ins Schiff. Einige Waräger kamen von Helenopolis her; zwei Reiter trabten heran. Geschrei und Seemannsflüche hallten von den Schiffsdecks. In wenigen Stunden, vielleicht am Abend, würde er zusammen mit den Pilgern irgendwo bei Konstantinopel an Land reiten.

»Ritterlein! Träumst du noch?«

Rutgar drehte sich um. Berenger, im Kettenhemd, ohne Helm, eine Lanze in der Rechten, trabte auf ihn zu. Zwei Dutzend Waräger folgten ihm mit langen Schritten; schweigend, mit verschlossenen Gesichtern und selbst jetzt noch von beeindruckender Kampfbereitschaft. Den Lanzenschaft als Hilfe benutzend, sprang Berenger aus dem Sattel. Er lachte, winkte die Waräger zum nächsten Schiff und schlug Rutgar leicht auf die Schulter.

»Die Seldschuken reiten zurück nach Nikaia, in verständlicher Eile. Sind wahrscheinlich genauso hungrig wie wir. Das siegreiche Heer des Sultans wird sich bald aus dem Grenzland zurückgezogen haben.« Berengers blaue Augen strahlten Rutgar an, als habe er selbst den Kampf gewonnen. »Im Grenzland wird einige Zeit lang wieder Ruhe herrschen.«

»So lange, bis die Heere der Ritter übergesetzt werden«, antwortete Rutgar. »Du gehst zurück nach Konstantinopel?«

»Meine Befehle. Es gibt hier nichts mehr zu tun.« Berenger machte eine einladende Armbewegung und ging auf das Heck des Schiffes zu. Nach kurzem Zögern folgte ihm Rutgar. »Und du darfst wieder den Esel deines Predigers striegeln.«

Rutgar gab keine Antwort. Das Gefühl, das ihn erfasst hatte, nachdem er nicht mehr an die Verteidigung der Burg zu denken brauchte, vermochte er sich nicht zu erklären. Ratlosigkeit mischte sich mit Erleichterung, Verwirrung mit den Gedanken eines unwiderbringlichen Verlusts. Noch immer stiegen Pilger und kaiserliche Söldner die hölzerne Schräge hinauf und wurden zwischen Bug und Heck der Galeere verteilt; keiner von ihnen sang oder betete laut.

»Komm!«, sagte Berenger und blickte prüfend in Rutgars Gesicht. »Wir finden schon eine sinnvolle Aufgabe für dich, in Konstantinopel.«

Rutgar nickte und führte den Rappen hinter Berengers Pferd auf den Quadern bis zur Rampe. Berenger zog das Tier auf den nassen, ausgetretenen Brettern aufwärts. Die Hufe rutschten und fanden nur an den Querlatten Halt, die eine Art flache Leiter bildeten. Als das Tier im Bauch des Schiffes verschwunden war, klopfte Rutgar beruhigend den Hals des Schwarzen, packte den Zügel kürzer und zog das Tier die Schräge hinauf. Er sah auf seine Füße und die Vorderhufe und bemühte sich, nicht zu rutschen. In der Mitte der Planke blieb er stehen.

Im selben Atemzug war ihm, als hielte auch die Zeit an. Eine rasende Flut aus Gedanken und Empfindungen wirbelte vor seinem inneren Auge vorbei. Wenige Gedanken vermochte er zu erhaschen und festzuhalten. Wenn mich morgen ein Seldschukenpfeil tötet, wird von meinem Leben nichts geblieben sein, an das sich auch nur ein Mensch erinnert. Nein. Chersala wird um mich weinen. Ich will nicht zurück in den maßlosen Prunk der Großen Stadt, der mir nichts bedeutet.

»Halt!«, sagte er, zog am Zügel und führte den Rappen rückwärts. Das Tier rollte wild mit den Augen, die Steigbügel schlenkerten umher, aber der Rappe gehorchte, bis sie beide wieder auf festem Boden standen. Rutgar wartete einige Atemzüge lang und stieg erst in den Sattel, als die Hufe und seine Stiefel im groben Sand einsanken. Langsam ritt er die wenigen Schritte bis zum festgetretenen Burgweg und wartete. Er hatte seinen plötzlichen Entschluss noch nicht bedacht, aber er wusste, nein, er ahnte, welche Bedeutung er für sein Leben haben konnte.

Einen Atemzug später war er sicher. Er wollte, um jeden Preis, Chersala haben, bei ihr sein, sie an seiner Seite wissen.

Kurze Zeit später stellte sich Berenger ins Heck, legte die Unterarme auf das Schanzkleid und blickte Rutgar einige Zeitlang schweigend an. Dann grinste er. »Die schöne Grobschmiedtochter, nicht wahr, Ritterlein?«

»Auch sie«, bekannte Rutgar. »Aber vieles andere ebenso, Freund Berenger. Das alles hier«, mit dem rechten Arm beschrieb er einen Halbkreis, »ich muss es erst verstehen können. Denn so viel Töten und Sterben muss einen Sinn haben. Dazu brauche ich Zeit.« Er wusste es selbst nicht besser.

Berenger nickte und sagte: »Zeit genug wirst du haben im Winter. Ich sag dir etwas, Ritterlein ...«

»Ja? Ich höre.«

»Sicherlich finde ich dich in Drakon, bei der Langhaarigen. Ein schönes Weib, meiner Seel. Der Basileus, dein Kukupetros und du, ihr wartet auf das Große Heer. Wenn ich genug weiß, dass es sich lohnt, komme ich zu dir und erzähl, was ich weiß. Und du erzählst mir - oder wirst es aufschreiben -, was sich zwischen Helenopolis und Nikaia tut. So haben wir beide etwas davon. Beschworen?«

»Versprochen!«, rief Rutgar. »Nein, besser: Beschworen, Berenger!«

Berenger hob grüßend die Hand und winkte. Ein Waräger kam zu ihm und gab ihm einen kleinen Krug in die Hand. Berenger schielte hinein, nickte und nahm einen langen Schluck. Dann bedeutete er Rutgar, noch zu warten.

Ein junger Söldner kam die Planke hinunter, lief auf Rutgar zu und hob einen gefüllten Trinkschlauch zu ihm hinauf.

»Schickt dir unser Anführer Berenger«, sagte er atemlos. »Guter Wein aus Konstantinopel.«

Rutgar stützte den schweren Balg auf seinen Schenkel, öffnete den Verschluss und trank. Der dicke, süße Wein fuhr wie heißes Blei seinen Schlund hinunter. Ein zweiter Schluck, dann rief Berenger:

»Mehr davon gibt's nicht in den nächsten Monaten! Ich halte mich an mein Versprechen. Werde Kukupetros von dir grüßen. Leb wohl, Ritterlein!«

»Leb wohl! Du weißt, wo du mich findest, Berenger!«

»Dort, wo man Eisen schmiedet.«

Sorgfältig band Rutgar den Ziegenbalg am Sattel fest und wartete. Die Planke wurde eingezogen und hochgeklappt, die Leinen glitten spritzend um die glitschigen Festmacher, der Anker wurde eingeholt. Dann schoben sich die Riemen ins Wasser, und das Segel glitt am Mast hoch. Schwerfällig legte das erste Schiff ab und glitt zur Seite, bis das Segel zu knattern aufhörte und die Riemen ins Wasser stießen. Rutgar grüßte, winkte und sah die Menschen im Heck kleiner werden.

»Der Basileus wird die Herren Grafen und ihren Tross entwaffnen«, murmelte Rutgar und wendete das Pferd. »Es war dennoch eine wunderbare Rettung. Dreitausend? Und wie viele waren es zuvor? Dreißigtausend oder mehr? Hat Gott es wirklich so gewollt?«

Auch seine innere Stimme wusste keine Antwort. Während er das Meer vergeblich nach den Booten Faroards und der Fischer absuchte, erinnerte er sich daran, was er über das Wüten einiger Ritter unter den Juden am Rhein, in Regensburg und Prag erfahren hatte. Der Wein, auf leeren Magen getrunken, half, die trüben Erinnerungen zu vertreiben.

Rutgar sah die Umrisse des Schiffs kleiner und unbedeutender werden. Das Tor in seinem Leben, mit weit aufgestoßenen Flügeln, war noch immer geöffnet. Aber unmittelbar hinter der Torschwelle waberten undurchdringliche Nebel der Zukunft.

»Nun«, murmelte er und trieb den Rappen mit den Fersen an, »Faroard findet auch ohne mich nach Drakon. Auf zu Chersala!«

Eigentlich, sagte er sich, als er auf einem der versteckten Pfade nach Süden ritt, war alles, was er tat, gleich viel oder wenig wert. Ob hier oder wieder bei Peter Venerabilis - er war niemand, konnte nichts, war arm wie eine Kirchenmaus, oder doch nicht: Er besaß Kleidung, gute Waffen, ein Pferd und etwas Silber und Gold, konnte kämpfen und hatte unverwundet überlebt - plötzlich zuckte er zusammen, hielt den Rappen an und stellte sich in den Steigbügeln auf. Er hatte die Seldschuken völlig vergessen; viele Krieger auf dem Rückzug konnten sich hier noch versteckt halten.

Er blickte um sich, lauschte und wusste nach einiger Zeit, dass er der Einzige war, der den Frieden des Vormittags störte. Im Ostwind, unter hurtigen weißen Wolken, lärmten und flatterten rings um ihn Vögel; er hörte die gewöhnlichen Laute im Wald und im Unterholz, und nirgendwo wieherte ein Pferd oder blitzten Sonnenstrahlen auf Metall. Nur über der Schlucht, die zum Pass führte, kreisten Schwärme schwarzer Aasvögel.

 

Eine Stunde später hielt Rutgar an der Weggabelung an und überlegte, ob er zu der Schlucht und dem Pass reiten oder den Weg nach Drakon einschlagen sollte. Die Herbstsonne brannte in sein Gesicht, aber der Wind war kühl und trug den Geruch von Schnee und Kälte von Osten her. In diesen Geruch mischte sich, als würden Blutstropfen in Wasser in Schlieren verdünnt, Schwaden aus dem grausigen Ruch von Aas, Fäulnis und Verwesung. Rutgar schüttelte den Kopf, zog am Zügel und trabte nach Westen.