Kapitel XX

 

A.D. 1097, 6. BIS 18. TAG IM BRACHMOND (JUNI)

VOR NIKAIAS MAUERN

 

»Wir schickten nicht ein Heer vom Himmel oder sonst ein Zeichen der Bestrafung, wie früher, sondern es bedurfte nur eines einzigen Donnerwortes, und sie waren vernichtet.«
(Al-Qur'ān, 36. Sure [»Ya Sin«], Vers 29, 30)

 

Ein Schilfgürtel endete zwischen einigen bemoosten Felsen auf der Seeseite der Stadt. Der Weg, den Zehntausende Füße, Räder und Hufe geschaffen hatten, bog nach Sonnenuntergang ab. Rutgar und Chersala lenkten ihre Pferde aus der Kolonne hinaus und warteten auf Berenger. Das Heer walzte dröhnend weiter, die altersdunklen Mauern ragten in achtungsvollem Abstand rechts von den Bewaffneten auf.

Die drei kannten die Umgebung Nikaias: Selbst wenn die Stadt völlig umschlossen gewesen wäre, konnte sie über das Wasser durch das Seetor versorgt werden.

Einige Reiter kamen den Ankömmlingen entgegen und winkten. Berenger zügelte sein Pferd und deutete nach links.

»Da vorn sehe ich die Fahnen des Butumites. Sein Lager; dorthin, Ritterlein!«

Rutgar kannte von Konstantinopel höhere Mauern, aber zum ersten Mal sah er die verwirrenden Merkmale einer Belagerung, die länger als fünfzehn Tage andauerte. Je mehr Einzelheiten er erkannte und, halb ungläubig, zu deuten vermochte, desto tiefer bohrten sich Verständnislosigkeit und Erschrecken in sein Herz. Als er und Chersala weiterritten, war es, als gefriere im Schatten der Mauern sein Schweiß. Hier drohte ihm, unausweichlich, das Verhängnis: Er würde kämpfen müssen.

Hinter Wagen voll Wasserfässern standen Bogenschützen. Sie zogen die Sehnen ihrer riesigen normannischen Langbögen zum Kinn und zielten sorgfältig auf Krieger der seldschukischen Besatzung, die sich zwischen den Zinnen bewegten. Armbrustschützen spannten die Waffen und jagten surrende Bolzen zu den Zinnen hinauf. Fackeln brannten auf der Mauerkrone; am Rand der Zeltlager loderten rauchend die ersten Feuer. Ein Schrei auf der Mauerkante, ein Körper überschlug sich im Fallen und prallte schwer auf Sand und Kies. Die Schilde über den Köpfen und Schultern, rannten Kriegsknechte auf den sterbenden Verteidiger zu und zerrten ihn vom Fuß der Mauer weg. Außerhalb der Reichweite der seldschukischen Bogenschützen, zwischen Trümmern hölzerner Leitern und Gesteinsbrocken, ließen sie den Körper zu Boden fallen. Während einige Männer dem Sterbenden die Rüstung und die Kleider herunterrissen, hackten andere mit Beilen und Schwertern seinen blutüberströmten Kopf vom Rumpf.

Zögernd, wie es schien, setzte Rutgars Rappe Huf vor Huf. Seine Ohren spielten und zuckten aufgeregt. Nikaias Mauern, vier Meilen lang, begannen mit der Dunkelheit zu verschmelzen. Von überall her erscholl seltsamer Lärm, der von den steinernen Flächen zurückprallte. Es roch nach tausenderlei Dingen, nach gerinnendem Blut, Lauch und kaltem Schweiß, nach Kot, Pisse und dem weißlichen Schwamm auf den Quadern. Brandpfeile sirrten, grell wie Sternsplitter, durch den Himmel, dessen Tiefblau sich schwärzte. Verwundete und Sterbende schrien, von anderen Stellen ertönten Gebete und Gesang. Berenger ritt heran, eine lodernde Fackel in der Hand.

»Zum Lager, ihr zwei«, sagte er und ritt ihnen voraus. Er schien von dem, was ihn umgab, nicht beeindruckt zu sein, obwohl er alles sah. Verwirrt gestand sich Rutgar, dass er seinen Freund zu bewundern begann; daran, ob er ihn jemals richtig zu verstehen vermochte, wagte er nicht zu glauben. Berenger schwenkte die Fackel und rief: »Die blutigen Wunder der Belagerung siehst du morgen deutlicher, Ritterlein!«

Die Geschäftigkeit des Lagers, tausend fremde Gesichter und, als ihnen Berenger jenseits der Palisaden durch eine Lagergasse vorausritt, das plötzliche Gefühl, eine Insel unsicherer Friedlichkeit zu betreten, verwischten die Bilder hinter Rutgar und Chersala.

 

Zwei Bogenschuss weit, vielleicht vierhundert Schritte entfernt, wuchteten sich die Mauern und Türme, von Rauch umwallt, vierzig, fünfzig Ellen hoch in die dunklen Wolken. Die Morgensonne war noch nicht über die Hügel gekrochen. Der Platz zwischen dem nächsten Lager und dem Fuß der mächtigen Quader, bedeckt von kümmerlichem Gras und dürren Büschen, von Räderspuren und tief eingetretenen Pfaden gefurcht, war menschenleer; in vielen Quaderritzen wuchsen, wie Vogelnester oder Mistelbüschel, schwarzgrüne Pflanzen, in denen Schmutzfäden baumelten. Graue und schwarze Regen- und Dreckspuren zeichneten im Licht des späten Morgens lange Linien in den Stein. An manchen Stellen sah Rutgar gemeißelte Rundbögen, winzige Fenster und Tränenlöcher, aus denen braune Tropfen fielen.

Er hielt sich gähnend an den Spannseilen des Zelteingangs fest und betrachtete Berengers schmutziges, verschwitztes Gesicht. Der Dreißigjährige, einst als Knabe aus dem normannischen Britannien verbannt, hockte breitbeinig auf einem Schemel und ölte seine Stiefel. An einem Holzgestell vor dem Zelt hingen Kettenhemden, Waffen, Schilde und Helme. Eine gespannte Leinwand schützte sie vor Regen und Sonne. Die Pferde standen gestriegelt und versorgt bei den Tieren der Butumites-Söldner im Schatten und fraßen Heu.

Die Byzantiner lagerten jetzt schon seit einem Mond unter den Mauern Nikaias. Kaiser Alexios hatte General Manuel Butumites, den Vorgesetzten Berengers, mit Fuhrwerken, Katabolē-Belagerungsgerät und ausgebildeten Mauersturm-Kriegern, die sich »Engingneure«, also »Geräte-Erbauer«, nannten, zur Unterstützung des ersten fränkischen Heeres mitgeschickt.

Zwar gab es in der Nähe der Zelte, der Wagen und der Belagerungsgeräte kaum Lärm oder Geschrei, aber die vielen Tausende brachten vor den Toren Nikaias ein ständiges Geräuschgemenge hervor, das nur in den Nächten leiser war.

»Sie warten alle auf den nächsten Angriff des Sultans«, sagte Berenger, als wäre es ihm gleichgültig. »Die Mauern werden sie wohl nicht stürmen können, in diesem Durcheinander. Proviant wird knapp. Gottlob ist genug Futter für Pferde und das andere Getier da.«

»Es scheinen viele Seldschuken in der Stadt zu sein«, sagte Rutgar und hob den Kopf. Seit drei Tagen arbeitete und schlief er im Süden der Stadt. Der nächste wuchtige Belagerungsturm, zweihundert Schritte rechter Hand, wuchs Elle um Elle seiner Vollendung entgegen. »Man hat sich, wir draußen und die in der Stadt, hab ich gehört, auf eine lange Belagerung eingerichtet.«

»Das sagt auch Butumites. Allein schon wegen der Sultanin, der Emire und des Goldschatzes.«

Die Franken wussten, dass der Sultan in den Bergen lauerte. Als sich die Truppen Arslans zum ersten Mal mit schweren Verlusten zurückgezogen hatten, hatte der Befehlshaber den rhomäischen General in die Stadt eingeladen, um die Bedingungen der kampflosen Übergabe zu besprechen. Aber als bekannt wurde, dass Kilidsch Arslan mit seinem gesamten vielköpfigen Heer herannahte, brachen die Seldschuken die Verhandlungen ab. Am 21. Tag des Weidemonds schlugen die Franken mit Hilfe Bischof Adhemars einen Angriff blutig zurück; der Sultan, der sich nachts mit schweren Verlusten geschlagen geben musste, hatte nicht mit der Entschlossenheit und der Kampfesstärke seiner gepanzerten Gegner und deren geschliffenen Lanzenspitzen gerechnet. Aber der Angriff hatte die Franken viele Verletzte und etliche Tote gekostet. Unentwegt schafften Boote und kleine Schiffe Proviant und Ausrüstung über den See und die Lagune herbei.

Rutgar wischte den Schweiß von seiner Stirn und deutete auf eine Schleuder, deren Wurfarm gespannt wurde. Berenger folgte Rutgars Blicken. Sie sahen, wie Waffenknechte ein Dutzend abgeschlagener Köpfe in den Lederkorb schichteten.

»Einige der Herren langweilen sich«, sagte Berenger anscheinend gleichmütig. »Die anderen wollen den Gonates-Turm umwerfen.«

Der Gonates-Turm nahe des Südtors wurde von den Provençalen Adhemars von Le Puy und Graf Raimunds im Schutz eines Balkendaches untergraben. Links von Adhemars Zelten landeten Boote des Kaisers Nahrungsmittel und Wein für die Belagerer an. Zwischen dem See und den Lagern der Christen fuhren zu jeder Stunde des Tages Karren hin und her und luden Fässer voll Frischwasser ab. Berenger hängte gerade die Stiefel über ein Spannseil und betrachtete seine schlammbedeckten Füße, als der Schleuderarm in die Höhe schnellte und die Steingewichte der Ballisten schwer krachend anschlugen.

Die Köpfe der gefallenen Seldschuken flogen wie ein Schwarm fetter Krähen steil in die Höhe und über die Mauerkrone, die an dieser Stelle höher als fünfzig Ellen war. In schweigendem Entsetzen sah Rutgar dem Flug der seltsamen Geschosse zu, die bräunlich wässerige Tropfen umherspritzten. Sie verschwanden jenseits der Mauer; die Kriegsknechte an der Schleuder stimmten lautes Gelächter und Geschrei an. Aus der Stadt erscholl trillerndes Wutgeheul. Deus lo vult? Rutgar fragte sich, was er empfinden würde, wenn Chersala und Schmied Gautmar in dieser Stadt lebten. Er war erleichtert, dass Chersala im Zelt schlief, das sie beide mit Berenger und einem jungen Seilschläger teilten.

»Langeweile!«, murmelte er und schluckte. Der Geschmack würgte seinen Gaumen. »Sie schleudern Köpfe und Körper hin und her, als wären es Bälle. Ein grausiges Spiel, Berenger.«

»Nur weil du's nicht kennst, Ritterlein«, antwortete Berenger, als wäre es eine Erklärung. Sein Gesicht blieb ausdruckslos. »Morgen, vor Mittag, schickt uns Butumites ins Land hinaus. Als Späher.«

»Einverstanden«, sagte Rutgar. »Wir essen sein Brot, trinken seinen Wein und reiten für ihn.«

»Besser, als vor den Mauern zu verrecken.«

Chersala tappte in die Helligkeit, hielt gähnend die Hand vor die Augen und stieß gegen eine Zeltstange. Sie versteckte ihre weiblichen Rundungen unter einem langen, brandnarbigen Wams aus dickem Leder, das sie einem Schmied aus dem Tross abgekauft hatte. Berenger begrüßte sie mit Kopfnicken und einem breiten Grinsen. Rutgar blickte in ihre verschlafenen, goldbraunen Augen, lächelte und erkannte, dass ihre Blicke einen Atemzug später über seine Schulter zuckten und sich auf etwas hefteten, das vor dem Tor geschah.

Steine, Felsbrocken, zersplitterte Balken und abgebrochene Lanzen waren mannshoch von der Turmmauer zum nächsten Vorsprung geschichtet und aufgetürmt. Die Belagerer fürchteten einen Ausbruch der seldschukischen Besatzung, dachte Rutgar. Und sie schaffen es nicht, die Tore aufzubrechen. Allein von seinem Platz aus sah er drei Dutzend Stellen, an denen die Christen die Mauern zu stürmen versuchten.

Die christlichen Truppen umgaben Nikaias Befestigungen in der Form eines zerbrochenen Hufeisens, und viele Tausend Männer wimmelten mit Leitern, Waffen und allen Arten von Werkzeug in diesem lebenden Wall. Jede größere Gruppe schien für sich zu handeln und zu schuften; anscheinend gab es kein zentral organisiertes Vorgehen. Ein Brandpfeil pfiff funkensprühend und mit langer Rauchspur von der Mauerkrone durch die Luft und blieb siebzig Schritt vor ihrem Zelt im Boden stecken. Irgendwo schrie jämmerlich ein Tier; Köche und Küchenhelfer rannten mit blitzenden Messern durch die Lagergasse.

Rutgars Bart, in dem trocknender Schweiß sich mit Staub und Schmutz vermischt hatte, begann widerwärtig zu jucken. Er nickte Chersala und Berenger zu und schleppte einen vollen Kessel zum nächsten Feuer, hängte ihn in die Ketten des Dreifußes und wartete. Inmitten der Bewaffneten fühlte sich Rutgar zwar fremd, aber sicher im Schutz der erfahrenen kaiserlichen Söldner. Bisher hatte er vergeblich in Hunderte fremder Gesichter gestarrt; Thybold mit den strahlend blauen Augen und der Falkennase suchte er noch immer. Zu seinem Erstaunen, fast Entsetzen, hatte Rutgar den Ritter Wilhelm von Melun, den »Zimmermann«, wiedererkannt, ebenso weitere Ritter aus den letzten Wochen von Peters Pilgerzug wie Clarambald von Vendeuil und Thomas von La Fére. So viele Tausend Gesichter - er würde noch viele Fragen stellen müssen.

Mit seinem Dolch, etwas Öl und heißem Wasser schabte Rutgar seinen Bart und reinigte sich, so gut es ging, in der Nähe des Feuers. Peter von Amiens, die Reise von Köln nach Konstantinopel, die Hitzewanderung von Nikomedia bis Civetot - dies alles schien in einem früheren Leben stattgefunden zu haben. Er spürte kein Bedürfnis, den Eremiten in der Masse der Heere zu suchen und mit ihm zu reden. Vielleicht in ein paar Tagen. Vielleicht war Thybold auf dem Weg aus der Provençe bis Nikaia umgekehrt, krank geworden ... umgekommen ... Nein! Eine innere Stimme befahl Rutgar, nicht daran zu denken, dass sein Halbbruder tot sein könnte.

Wieder wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als fast gleichzeitig zwei Ballisten krachten und Holztrümmer, groß wie Firstbalken, mit eisengeschmiedeten Spitzen versehen, in flachem Bogen über die Mauern schleuderten. Er wrang die Tücher aus, ging zum Zelt und hängte sie an das Spannseil, umarmte schweigend Chersala und zog sie mit sich, zu den Pferden und zum Sattelplatz; er zwang sich dazu, daran zu denken, wie sie in der Umgebung der Stadt, was immer geschah, überleben konnten: er, Chersala, Berenger und, vielleicht, Thybold.

 

Am Hang eines niedrigen Hügels abseits vom Lager des Generals, unter den weit spreizenden Ästen großer Bäume, deren Namen weder Berenger noch Rutgar kannten, war das halb offene Beratungszelt aufgeschlagen worden. Der kaiserliche Befehlshaber Butumites, sein Schreiber Arkadios und die Unterführer des Generals erwarteten die fränkischen Fürsten zur Beratung. Berenger, der von Butumides seine Befehle erhalten hatte, trabte hinter den Palisaden des Lagers zur Straße hinunter und winkte seinen Reitern und Rutgar. Sie ritten nach Süden, zu den Hügeln und den Wäldern, in die sich - so hatte man es von Hirten und Jägern erfahren - der Sultan und seine Krieger nach der Schlacht um Nikaia geflüchtet hatten.

Die Pferde Rutgars, Chersalas, Berengers an der Spitze und eines Dutzends romanischer Reiter, Untergebenen des Generals, fielen aus dem Galopp in Trab und ein Dutzend Atemzüge später in Schritt. Die Gruppe war in voller Bewaffnung vom Lager aus aufgebrochen und zunächst am Ufer des Askanischen Sees entlanggeritten. Auf der Seeseite, hinter dem Gürtel gilbenden Schilfs, boten die Mauern Nikaias einen anderen Anblick als auf der hügeligen Landseite. Hier war kaum mehr zu sehen als ein mächtiger Torturm und einige kieloben verrottende Fischerboote.

Eine seltsame Frage flirrte durch Rutgars Kopf: Jerusalem, Ziel der vielen Tausenden: War jene Stadt so prächtig und groß wie das strahlende, goldstrotzende Konstantinopel? Kleiner oder größer als Nikaia? Mit höheren Mauern? Oder wie das heilige Köln, nur anders, weil in einem anderen Land?

»Während die Fürsten und unserer Anführer beraten«, rief Berenger, hob den Arm und vollführte mit den Fingern im ledernen Handschuh trillernde Bewegungen, »lassen wir unsere Blicke schweifen und suchen die Krieger des Sultans! Vergesst nicht, die Franken, unter denen wir auch ehrliche Kämpfer finden werden, sind dem Basileus verpflichtet - aber viele der Herren glauben nicht so recht daran. Das darf nicht unsere Sorge sein; wir warnen den General, die Fremden, die rhomäischen Bewohner der Stadt und unsere Freunde.« Er setzte sich im Sattel zurecht und prüfte den Knoten, mit dem der Schild am Sattelknauf festgebunden war. »Die Freunde, die mit uns an der Seite der Franken kämpfen. Du, ihr zwei - dorthinüber. In der Dämmerung zurück im Lager. Ich, Cherso und Rutgar, ihr fünf - wir reiten zu den Bergen. Und ihr sieben ... nach Sonnenuntergang.«

Cherso, das war der Name, auf den sie sich für Chersala geeinigt hatten. Zwar mochten die einen oder anderen der Waräger Vermutungen über Chersalas wahres Geschlecht haben, aber wenn sie es taten, behielten sie es für sich, und Rutgar und Berenger hielten es für besser, die Sache im Ungewissen zu belassen.

Die Gruppe trennte sich. Jenseits des Schilfs und des erkennbar flachen Wassers der Lagune ragten unvermittelt und bestürzend machtvoll die Mauern der Seeseite Nikaias auf. Weißliche, schwärzliche, tiefgrüne und unterbrochene waagrechte Linien zeigten die unterschiedlichen Höhen des Wassers an. Fahles Moos wucherte auf den Quadern und verhüllte die Fugen zwischen den Steinen. Vor einer Ewigkeit, dachte Rutgar, waren diese steinernen Würfel aufeinandergetürmt worden, atmeten und keuchten feuchte Jahrhunderte aus; jetzt saß er hier und betrachtete einen Ausschnitt einer Ewigkeit, deren Bedeutung er nicht begriff.

Er ließ den Arm fallen, ritt an Chersalas Seite und griff nach ihren Fingern. Sie und Berenger waren die einzigen festen Säulen, an die er sich klammern konnte. Unvermittelt, als sie in den Hohlweg hineinritten, zog vage und nicht greifbar, wie Nebel aus dem Schilf, Furcht in sein Herz ein.

Es hatte eine Zeit gegeben, in langen Stunden und Nächten, in der Rutgar sich vor der Strafe für seine Sünden gefürchtet hatte, für Taten, von denen er nicht wusste, dass sie sündig waren. Lange hatte er mit Peter dem Eremiten darüber geredet. Den Sinn vieler Worte hatte er nicht verstanden. Jetzt, vor Nikaia, so weit wie nie von der Heimat entfernt, angesichts des riesigen Heeres und der täglichen Gräuel, an einer Stelle angelangt, von der aus der Weg nach Jerusalem seinen Anfang nahm, begann er innerlich zu zittern. Er konnte nicht mehr umkehren; die Mauern versperrten ihm den Weg zurück, und die unzähligen Krieger und Pilger rissen ihn mit sich wie ein angeschwollener Strom. Er dachte an das Dörfchen Drakon und sein ruhiges Leben mit Chersala, und wieder fand er sich im Mahlstrom der vielen Tausenden, die ihn mit sich zogen und zerrten und nicht gehen lassen würden. Nur für seinen Traum und einen Beutel goldener und silberner Münzen? Wohin auch würde er fliehen können?

»Hast du den Teufel gesehen?«, sagte Berenger, als sie ihn eingeholt hatten. »Dein Gesicht ist weiß wie Schnee.«

»Ich habe verstanden«, antwortete Rutgar, »dass ich ein Teil vom dem allen hier bin. Ein kleiner Teil, unbedeutend. Sie ziehen mich mit sich, wie mit Sporen, Peitsche und Zügel.«

Chersala starrte ihn entsetzt an. Berenger schlug ihm auf die Schulter und klatschte die Hand auf die Kruppe von Rutgars Pferd. »Wenigstens führst du nicht ständig den göttlichen oder päpstlichen Auftrag im Mund. Wir reden heute Nacht darüber, Ritterlein«, sagte er. »Im Zelt. Jetzt suchen wir nach den Reitern des Sultans. Auch wenn dir die Furcht ins Gesicht geschrieben steht.«

»Es ist nicht ... ich fürchte mich nicht vor den Seldschuken.« Rutgar ruckte am Zügel. Berenger hob den Arm, und im Poltern der Hufe blieben die Geräusche der Belagerung zurück und wurden leiser.

 

Die Kriegsknechte des Generals hatten das geräumige Ratszelt auf einer ebenen Fläche des Hügels hochgezogen. Im Mittagswind bewegten sich träge die Stoffbahnen der kaiserlichen Fahnen. Tränken, roh gezimmerte Tische und Bänke umstanden das Zelt, es roch nach Wein, nach Kräutersud, Heu und gesicheltem Gras und dem Rauch kleiner Feuer.

General Butumites, umgeben von Söldnern, Übersetzern und Anführern seiner Mauerbrecher, stand unter den mächtigen Ästen einer Kastanie und blickte zum Lager und zur Stadt. Er trug eine Halbrüstung und darunter die wertvolle Kleidung, die ihn als Vertreter des Kaisers auswies. Das Poltern von Hufschlägen wurde lauter.

»Es ist Gottfried von Bouillon, General«, sagte Arkadios, sein Schreiber, und deutete auf eine Gruppe von ungefähr einem Dutzend Reitern, die auf den Hügel zuritten. Hinter ihnen reckten sich die Spitzen der Zelte, von Staub und Rauch umbrodelt, ins Sonnenlicht. Der Lärm der Belagerung war kaum zu hören. »Der reiche Herzog von Niederlothringen und seine ungleichen Brüder.«

»Ich werde mit allen so zuvorkommend und höflich reden, wie es mir der Basileus aufgetragen hat.«

Ein doppeltes Viereck aus hundert schwer gerüsteten Ehrenwachen umstand das Zelt. Arkadios blickte prüfend um sich und nickte zufrieden. »Seit den ersten Tagen im vergangenen Monat belagert Gottfried die Mauern mit vielleicht elfeinhalbtausend Männern und wenig Erfolg im Osten.«

»Erfolglos und zu lange. Auch Gottfried weiß nicht, was wir wissen. Bei ihm ist dieser entsetzliche Eremit, nicht wahr?«

»Mit wenigen Pilgern. Aber er predigt leise und nicht oft.«

Manuel Butumites hatte die fremden Heere und deren Anführer lange und meist zu seinem Missvergnügen in Konstantinopel und am Hof des Kaisers erlebt. Er verfügte über Berichte, die ihm das Wesen und die Eigenarten eines jeden Grafen und Ritters und ihrer priesterlichen Vasallen schilderten. Nachdem fast alle Fürsten, nach langen Verhandlungen und mit kostbaren Geschenken überhäuft, ihre Lehenseide auf den Basileus abgelegt und Konstantinopel verlassen hatten, lautete sein Befehl, sie nach Antiochia zu führen und zusammen mit General Tatikios an ihrer Seite zu kämpfen; sie belagerten Nikaia auf eine Art, die ihre Unfähigkeit bestätigte, sich klug miteinander zu verständigen. Ihr erwählter Anführer Gottfried V. von Niederlothringen und seine beiden Brüder waren nicht in der Lage, so viele Männer mit harter Hand zu führen.

Gottfried, um die vierzig, hochgewachsen, mit langem, strähnigem, flachsgelbem Haar und ebensolchem Bart, hielt seinen schweren Schimmel an. Langsam ging ihm Butumites entgegen. Eustachius III. von Boulogne, der Ältere der Brüder, war Gottfrieds Aufruf nur widerwillig gefolgt; Balduin, der Jüngere, eine Handbreit größer als Gottfried, auffallend weißhäutig, mit wildem schwarzem Haar und Bart, schien das Gegenteil Gottfrieds zu sein. Butumites kannte ihn als hochfahrend, kalt, wollüstig und keineswegs fromm; seltsam war, dass ihn seine Gattin und ihre kleinen Kinder begleiteten.

Butumites winkte die Pferdeknechte zu den Reitern, verbeugte sich tief und begrüßte die Franken mit wenigen Worten in ihrer Sprache. Dann richtete er das Wort an den Dolmetscher, der in wohlgesetzten Worten zu reden begann.

»Basileus Alexios, Ihr Herren, bittet Euch durch mich, bei einem Becher Wein beieinanderzusitzen und zu bereden, wie die Stadt schnell und ohne Verluste zu berennen ist.«

»Danke, Heerführer«, antwortete Herzog Gottfried, packte Butumites' Handgelenk mit festem Griff und schüttelte es heftig. Der Franke roch nach Pferdeschweiß und ungewaschener Kleidung; übel riechender Atem entfuhr seinem Mund. »Es gibt viel zu besprechen. Was wisst Ihr über den Sultan und sein Heer?«

»Weniger, als mir lieb ist«, sagte der General. »Ihr habt ihn in die Flucht geschlagen. Später, wenn alle Eure Fürsten friedlich an meinem Tisch sitzen, reden wir darüber.«

Butumites grüßte das Gefolge des Herzogs und nickte dem Mundschenk zu. Die Franken wurden einzeln ins Zelt geleitet und bewirtet. Der General hasste es, Fragen beantworten zu müssen, auf die er nicht vorbereitet war. Er kannte kein Erbarmen seinen Untergebenen gegenüber, wenn sie ihn stotternd mit unvollständigen Berichten und Nachrichten belästigten. Jeden wichtigen Fürsten des Frankenheeres, ungefähr drei Dutzend Männer, glaubte er bis ins innerste Mark zu kennen. Einige von ihnen verachtete er, andere hasste er. Lange genug hatten er und seine Zuträger die Fremden beobachtet. Er wusste mehr über sie, als sie ahnten, aber er war klug genug, zu erkennen, dass es da in seinem Wissen große Lücken gab. Diese Fremden waren ihm, anders als viele andere große Krieger, fremd geblieben.

Während die Männer um Gottfried die Becher hoben, sprengte Bohemund von Tarent heran. Der Nächste, der anscheinend vom Teufel besessen ist, dachte der General. Sein Lächeln hinter dem tiefschwarz gefärbten Bart blieb unbewegt. Bohemund sah aus wie ein bleicher Riese aus einem Land, in dem kaum jemals die Sonne schien; der italienische Normanne, Sohn Robert Guiscards, war weißhäutig und fast so weißhaarig wie Manuel Butumites' bester Späher Berenger. Sein weizenfarbenes Haar, von einer goldenen Spange zusammengefasst, hing bis zwischen seine Schulterblätter; alle Anwesenden überragte er um mehr als eine Elle. Er strahlte die ungezügelte Kraft eines großen Wildtieres aus; seine Schultern waren breiter als der Bug seines Schlachtrosses. Muskeln spannten sich unter dem Wappenrock; der Ausdruck seines Gesichts versprach jedem Gegner Niederlage und schnellen Tod.

Er sprang aus dem Sattel, als müsse er mit gezogenem Schwert zwischen einem Dutzend Angreifern wüten. Seine Kraft schien größer zu sein als die dreier Männer. Seine wasserhellen Augen blitzten, als er mit langen Schritten auf den Gastgeber losstürmte und den Arm grüßend nach vorn stieß.

»Mein Pferd war schneller als der Gaul Raimunds!«, rief er. Auch der ranzige Geruch seines riesigen Körpers mischte sich mit dem Balsamduft, den Butumites verströmte. »Vetter Tancred ist dicht hinter mir.«

»Wir haben keine Eile, Herr Bohemund.« Der General deutete ins Innere des Zelts. Die Knechte schlugen eine Seitenwand in die Höhe und knoteten die Seile an Baumstämme. Goldschillernde Fliegen summten auf. »Nehmt einen Schluck Wein und setzt Euch bequem.«

Der Graf von Toulouse und Saint-Gilles erschien als Letzter des Quadrumvirats. Über der Höhle des fehlenden Auges trug er eine silberne Platte, in der Sonnenlicht und Schatten spiegelnd wechselten. Ihm folgte der Bischof Adhemar von Monteil, der seinen Chronisten Raimund, den Kaplan von Aguilers, mitgebracht hatte. Der Mönch Guibert von Nogent, aus einem halbvergessenen Ort namens Flay, nickte ihm mit ausdrucksloser Miene zu. Rutgar glaubte, in den Zügen und im Gebaren Guiberts einen kühlen, klugen Abstand zu allzu tiefem Glauben und christlicher Besessenheit zu erkennen. Er schloss die Augen halb und beobachtete Raimund de Agulilers und Guibert ebenso aufmerksam wie deren fürstliche und bischöfliche Herren.

Butumites, der die Uneinigkeit der Fürsten allzu gut kannte, hatte ein Dutzend Platten auf Böcke dergestalt aufstellen lassen, dass sie einen runden Tisch bildeten, an dem sich keiner der Sitzenden benachteiligt fühlen konnte. Weiße Tücher mit goldgestickten Borten hingen bis zum Bretterboden.

Er blieb im Eingang stehen und wartete, bis die Heerführer, silberne Becher in den Händen, in den ächzenden Scherensesseln Platz genommen hatten. Nacheinander begrüßte Butumites mit gleichbleibender Höflichkeit Tancred von Tarent, den Neffen Bohemunds, Hugo von Vermandois und Robert von der Normandie.

»Seit dem sechsten und siebenten Tag im Weidemond, jetzt im vierzigsten Tag, ist Euer Heer vor der Stadt«, hub Butumites an und griff nach einem Becher mit gemischtem Wein. Zwischen den Zeltpfosten schwelten Duftholzspäne in Tonkrügen und vertrieben das Geschmeiß. »Zwar sieht der Basileus Nikaia lieber unzerstört, denn einst gehörte die Stadt zu seinem Reich. Aber seine Geduld schwindet Stunde um Stunde.«

»Wenn der Turm gefallen ist«, antwortete Raimund von Toulouse mit der bestimmenden Festigkeit des wahren Gläubigen, »stürmen wir Nikaia.«

Raimunds tausend Berittene und zehn Tausendschaften und Bohemunds zweihundertfünfzig Ritter und siebenmal so viele Streiter ohne Reittiere hatten unter Tancreds Führung die nordöstliche Mauer Nikaias und das Konstantinopeltor zu belagern begonnen. Bohemund war erst am 14. Tag des Weidemonds selbst zu seinem Heer gekommen.

Raimund der Einäugige und sein Heer schlugen ihr Lager am 16. Tag des Weidemonds am mächtigen Tor vor der Südmauer auf, nachdem Gottfried, der vom 6. Tag im Weidemond an der Ostmauer, links von Tancreds Heer, die Zelte seines Gefolges aufgerichtet und Palisaden eingerammt hatte. Der General, Bohemund, Gottfried und der Graf von Saint-Gilles würden gemeinsam einen Beschluss fassen müssen. Von ihnen hing es ab, ob und wann die Stadt fiel.

»In vier Tagen und Nächten sind alle meine Belagerungstürme fertig, alle Geschütze bereit«, sagte Butumites, musterte die Fürsten der Reihe nach und hob den Becher. »Jeder einzelne Mann, nicht nur meine Söldner an den Wurfmaschinen, muss zum Sturm bereit sein. Das Gleiche gilt für Tatikios' Männer. Das erwartet der Basileus von uns.«

Gottfried von Bouillon hatte Anfang des Ostermonds Konstantinopels Gyrolymne-Tor angegriffen, das zu Kaiser Alexios' Blacherna-Palastgebiet führte, und schließlich, blutig zurückgeschlagen und mühsam besänftigt, am Ostersonntag den Eid auf Basileus Alexios abgelegt. Ihm war, das hatte der General erfahren, die Höhe der Beute recht gleichgültig, denn es ging ihm um den Vorteil der pilgernden Ritter des Herrn und die Befreiung Jerusalems.

»Die Sarazenen halten die Stadt besetzt und wehren sich wie die Rasenden«, sagte Bohemund und leerte den Inhalt eines Kruges in seinen leer getrunkenen Becher. »Sie verteidigen, sagt man, unermessliche Beute und die umfängliche Familie des Sultans. Es müssen ihrer Unzählige sein!«

»Zuerst waren Eure Heere nicht vollständig.« Butumites schüttelte den Kopf und redete beschwichtigend weiter. »Daher erhielt die Seldschuken-Besatzung fast ungehindert Nachschub mit Booten, die den See befuhren. Nachdem Graf Raimund einer Vorhut des riesigen Heeres des Sultans am 21. Tag im Weidemond eine furchtbare Niederlage bereitet hat, scheint die ganze Gegend frei von heidnischen Kriegern zu sein. Tag um Tag suchen meine Späher die feindlichen Reiter. Bisher vergebens.«

»Ihr meint also, der Augenblick sei günstig, mit vereinten Kräften die Stadt zu stürmen?«, fragte Gottfried.

Butumites nickte. Schon der Umstand, dass die einzelnen Heere und einige Fürsten in so langen Abständen von Konstantinopel nach Nikaia gezogen waren, hatte ihn verärgert. Es war nicht Feigheit, das sie so handeln ließ, sondern verletzter Stolz und Eifersucht aufeinander. Der General setzte sich, stützte die Arme schwer auf die Platte und blickte in Gottfrieds bartumrahmtes Gesicht.

»Wenn die Seldschuken der Garnison erfahren, dass wir einen Sturmangriff durchführen, werden sie sich vielleicht ergeben«, führte er aus. »Wenn nicht der Sultan vom Süden her wieder angreift. Auch wenn es den Anschein haben mag, sind innerhalb der Mauern nicht so viele heidnische Krieger, dass sie uns lange widerstehen könnten.«

»Die meisten Bewohner der Stadt sind romanische Christen, keine Ungläubigen, nicht wahr? Sie haben Kreuze und Kirchen in der Stadt?«, sagte Adhemar und verschränkte die Finger.

Butumites' Blicke glitten über die Hände der Fürsten an den Bechern. Die Finger, ausnahmslos kräftig und derb, trugen zersplitterte, schmutzige Nägel; auf verstörende Weise glichen sie dem Ausdruck der Gesichter vieler Ritter, deren kleine Wunden entzündet waren und denen manche Zähne fehlten. Butumites betrachtete stirnrunzelnd seine gepflegten Finger und die glänzenden Nägel. Als Einzige trugen er und Adhemar wertvolle Ringe. Abermals nickte der General bedachtsam.

»Sie waren einst treue Untertanen des Basileus, und wenn Nikaia eingenommen ist, werden sie es wieder sein. Ihr werdet mir zustimmen, edle Herren, dass es sinnlos und verlustreich wäre, Euer Leben für alte Mauern zu opfern, die Ihr auf dem Weg nach Jerusalem ohnehin verlassen müsst.«

»Und die Schätze des Sultans in der Stadt?«, rief Tancred. »Die vielen Sarazenen? Die Weiber der Emire?«

»Das wird sich zeigen«, antwortete Butumites. »Wie ich schon sagte, die Emire und ihre Soldaten sind nicht so zahlreich, wie Ihr befürchtet. Die Gefallenen unter den Verteidigern hat bislang keiner gezählt, ebenso wenig wie die unter dem christlichen Heer, die auf dem Weg hierher und unter den Mauern von Nikaia gestorben sind.«

»Das ist Gottes Wille und daher nicht zu ändern«, warf Bischof Adhemar streitlustig ein. Der Kaplan von Aguilers nickte emsig. »Wenn erst einmal der Hauptturm gefallen ist, ändert sich alles.«

»Wann rechnet Ihr mit diesem gottgefälligen Zusammenbruch?«, erkundigte sich Butumites unbewegten Gesichts.

»Morgen noch. Vor Anbruch der Nacht. Oder einen Tag später.«

»Wenn dies gelingt«, sagte der General und versuchte kaiserliche Bedeutung in seine Stimme zu legen, »könnten wir in die Stadt eindringen. Die Seldschuken werden es eilig haben, sich zu ergeben.«

»Seid Ihr dessen sicher, General Butumites?«

Die Mauern Nikaias waren fünf Jahrhunderte alt; Kaiser Justinian hatte sie auftürmen lassen. Butumites zweifelte daran, dass der Einsturz eines einzigen Turms die Verteidiger in Furcht und Schrecken versetzen würde. Was Nikaia anging, so hatte der Basileus andere Pläne.

»Ich habe Boten geschickt. Wir verhandeln mit den Emiren in der Stadt. Ihr wisst, dass der Basileus befohlen hat, Boote und Schiffe zum See zu schaffen. In einigen Tagen ankern sie in der Lagune und können das Seetor sperren. Kampferfahrene Waräger und petschenegische Söldner werden an Bord sein.« Butumites machte eine Pause. Seine Mundschenke füllten die Becher mit kühlem, gemischtem Wein. »Der andere General meines Kaisers, Tatikios, trifft mit zweitausend Bewaffneten hier ein, um uns zu helfen. Alexios hat ihm befohlen, in Eurer Nähe zu lagern, Bischof Adhemar.«

»Dort schuften meine Männer an den Fundamenten des Gonates-Turms.«

»Tatikios wird Euch dabei helfen«, meinte Butumides.

»Wann sind wir so weit?«, rief Bohemund. Er schien den Sturm und das Gemetzel nicht abwarten zu können.

»Ich schlage vor, in acht Tagen. Am 19. Tag des Johannismonds. So sollten wir es beschließen«, sagte der General rasch. »An mir und Tatikios soll's nicht liegen. Mit Gottes Hilfe werden wir es vollbringen.«

Längst hatte er Spione hinter den Mauern. Von den Stadtbewohnern wusste er, welche Schätze der Sultan in seinem Palast hortete. Er hatte das Einverständnis des Basileus, die Fürsten an der Beute reich zu beteiligen, aber dieses Versprechen würde er erst nach den Verhandlungen machen - und er dachte daran, es zu halten, selbst dem hitzköpfigen Tancred gegenüber.

 

Während die Heerführer berieten, ging die Belagerung weiter. Aus den Wäldern wurden Bäume herangeschleppt, und die Belagerer brachten sämtliche Türme, Steinschleudern, Manganen und Ballisten, die noch nicht völlig zusammengesetzt waren, in Stellung und vollendeten die Kriegsmaschinen. Schwitzende Mönche schleppten Steinbrocken, die Zimmerer schlugen große Pfeile zurecht, die Feuerkugeln, die in die Schleuderkörbe passten, wurden mit Öl und Pech getränkt und mit Strohseilen umwickelt. Unentwegt schossen die Normannen mit den Tzangra-Bögen, die sie von den Arabern auf Sizilien übernommen hatten und die weiter trugen als die Waffen der Seldschuken, auf die Verteidiger, die mit allen Kräften von den Mauern und Türmen antworteten.

Vom Fuß des Gonates-Turms, tief aus dem nassen Erdreich, ertönte seit Tagen ununterbrochenes gedämpftes Klirren und Krachen. Die Knechte schleppten Steine, Erdreich und Felsbrocken in Körben aus den Fundamenten des mächtigen Turms und zerrten auf dem Weg nach unten Stroh, Äste, Tonkrüge voller Öl und klafterweise trockenes Holz mit sich. Armbrustschützen, gedeckt von Schilden und eingerammten Bohlen, versuchten die Männer zu schützen, die den schrägen Schacht bis an die mächtigen Fundamente des Turms vorangetrieben hatten. Das sandbedeckte Schutzdach über dem Gang, durch den sich die halbnackten Männer wühlten, war von Steinbrocken, verschmorten Brandpfeilen und anderen Geschossen übersät. Butumites war mit seinen Unterführern zwei Mal zu dem schrägen Schacht geritten und hatte zweifelnd den Turm angestarrt; er schien so wenig zu erschüttern wie ein Felsenberg.

»Mit Gottes Hilfe«, wiederholte der General, »und mit nimmermüdem Bemühen. Erhofft Euch, Ihr Herren, nicht zu viel vom Fall eines Turms. Wir haben zwanzig Dutzend Mauertürme gezählt.«

»Es ist nicht der Turm. Es ist die Bresche, durch die wir eindringen werden.«

Bohemund schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Die leeren Becher begannen klirrend zu tanzen, aus den gefüllten Gefäßen spritzte Wein und tränkte die Tücher. Butumites deutete mit missbilligendem Lächeln zur Stadt und sagte:

»Es wird schwerfallen, über die Steintrümmer zu reiten. Wie dem auch sei - reden wir darüber, dass wir Nikaia nicht brandschatzen und möglichst unversehrt in Eure Hände und in die des Kaisers legen.«

»So will es Gott«, sagte leise der Kaplan und machte sein Schreibzeug zurecht.

Krieger Christi nannten sich die Heere und deren Angehörige, dachte Butumites. Auf dem Weg nach Jerusalem würden sie vor keinem Hindernis, keiner Beute, keiner Strapaze zurückschrecken. Ihr Glaube, ihre Gier und der Hass auf die Muslime, gespeist vom Staunen und den Erfahrungen eines ganz anderen Lebens, trieben sie unaufhaltsam vorwärts. Auf zahlreiche Beweise dieser unbekannten, reichen Schönheit stießen sie auf ihrem dumpfen Weg, und ein gutes Stück des mörderisch schweren Weges würde er sie auf Befehl des Basileus begleiten müssen.

 

Am frühen Nachmittag erreichten die Reiter den Pfad, der sich am Berghang hinaufwand und zwischen Buschwerk und Bäumen verschwand. Auf diesen Berg hatten sich der Sultan und der größte Teil seines Heeres nach den Angriffen der gepanzerten Lanzenreiter zuerst geflüchtet. Ein kaum mehr wahrnehmbarer Geruch nach erkalteten Feuerstellen wehte den Reitern entgegen. Ein Fuchs mit rotem Fell schnürte über den Weg, verharrte und flüchtete dann ins Unterholz.

»Still!«, mahnte Berenger. »Langsam! Haltet Augen und Ohren offen!«

Langsam ritten sie weiter, schweigend und voller Wachsamkeit. Sie kamen an einem langgezogenen Acker vorbei, der wie frisch umgebrochen aussah und feucht-erdig roch; ein Rudel Wildsäue hatte sich in der Nacht darüber hergemacht. Ein gutes Zeichen, sagte sich Rutgar. Die Pferdehufe zertraten mitunter trockene Äste; trotz des hallenden Knackens geschah nichts Auffälliges. In den Zweigen lärmten Vögel und Grillen, im Duft unbekannter Kräuter und tropfenden Baumharzes summten Fliegenschwärme. Chersala und Rutgar, beide in leeren, sonnendurchglühten Ländern aufgewachsen, hoben die Köpfe, hielten den Atem an und lauschten. Ein einsamer Bussard oder Falke zog über der Hügelkuppe seine Kreise. Die Pferde waren ruhig und prusteten bisweilen; sonst gab es keine verräterischen Laute.

»Sie sind weg, Berenger«, flüsterte Rutgar. Er hörte, weit entfernt, einen Hund bellen.

»Ein Schäfer?« Berenger zuckte mit den Schultern. Boten aus dem Dorf Leuce, einen Tagesritt südlich Nikaias, hatten berichtet, dass die Seldschuken in großer Eile ihre Pferde getränkt, die Ziegenbälge gefüllt und durch das Dorf geritten waren. Jeder, der ihnen zusehen konnte, war sicher, dass sie und der Sultan die Flucht ergriffen hatten. »Wäre ich der Sultan, würde ich mein Heer im Süden sammeln und die Belagerer immer wieder nachts angreifen.«

Rutgar kitzelte seinen Rappen mit den Sporen und ritt auf dem Pfad weiter. Bisher hatten sie seit drei Tagen nichts gefunden außer erkalteten Feuerstellen, abgebrochenen Ästen, entwurzelten Grasbüscheln und Büschen und etlichen unbedeutenden Dingen, die Seldschuken auf der Flucht verloren hatten. Wieder hörte Rutgar aus der Ferne Hundegebell, dann eine harsche Stimme.

»Du bist nicht der Sultan«, sagte Rutgar leise. »Er mag andere Pläne haben. Der Weg nach Jerusalem ...«

»Wir wissen's. Er ist lang, beschwerlich und wird reich an Opfern sein.«

Berenger nickte. Die Späher folgten ihm auf dem Pfad bis zur Kuppe des Hügels. Zwischen Baumstämmen hielt Rutgar sein Pferd an und sprang aus dem Sattel. Als er das Gebüsch teilte, konnte er in ein breites Tal hinein und auf die gegenüberliegenden Hänge anderer Hügel sehen. Eine große Schafherde weidete friedlich auf der gegenüberliegenden Seite; ein vertrauenserweckendes Bild. Berenger kam an seine Seite und ließ seine Blicke schweigend über die Landschaft gleiten.

»Würden sich hier hungrige Bogenschützen verstecken, hätte der Schäfer die Herde längst in Sicherheit gebracht«, sagte er leise. »Nirgendwo Feuer und Rauch, keine aufgeregten Vögel, kein Pferd wiehert - sie sind im Süden, nach Dorylaion hin.«

Rutgar deutete auf das Rinnsal in der Talsohle und auf einige schmale Ziegenpfade.

»Prüfen wir es nach«, schlug er vor. »Wäre ich der Sultan, hätte ich ebenso Späher ausgeschickt wie Butumites und Tacitus.«

»Tatikios heißt er. Klug und immer misstrauisch, Ritterlein. Gut so!«, murmelte Berenger und stieg in den Sattel.

Sein Gefolge wendete die Pferde und war bemüht, keinen Lärm zu machen. Langsam ritten sie in langer Reihe den Pfad abwärts, auf die Straße hinaus und im kurzen Galopp zum nächsten Hügel. Im weiten Bogen näherten sie sich dem Schäfer und versuchten, die blökenden Schafe und Lämmer nicht auseinanderzuscheuchen. Zwei scharfe Pfiffe riefen den kläffenden Hirtenhund zurück. Berenger und Chersala ließen sich aus den Sätteln gleiten und gingen auf den Hirten zu, während die anderen Reiter den Waldrand sicherten und Rutgar die Zügel hielt.

»Ich bin aus Drakon, Hirte«, sagte Chersala. »Und die anderen Bewaffneten gehorchen dem Mächtigen in Konstantinopel. Haben dir die Reiter des Sultans übel mitgespielt?«

»Sie haben ein paar Hammel und Schafe geraubt. Es waren nicht die fetten«, antwortete der Hirt grinsend und zupfte an seinem verfilzten Kinnbart. »Sie sind alle fort. Sonst würden sie da nicht kreisen.«

Sein Finger wies zu den Wolken. Über den Hügeln drehten ein Dutzend Störche ihre Kreise. Rutgar sah weder Geier noch andere Aasvögel.

»Alle Seldschuken-Reiter sind geflüchtet?«

Der Hirt pfiff seinem Hund und zeigte zum Rand der Herde. Der Hütehund sprang davon. »Nach Süden, im Galopp. Der Sultan und seine Emire - sie treffen das Heer dort, wo die Fremden vorbeireiten. Sie haben's mir nicht gesagt, aber ich kenne ihre Sprache.«

Rutgars Arm beschrieb einen Halbkreis, der den Wald und die Hügel jenseits der leer gefressenen Weiden umfasste. Langsam zogen die Schafe stoßend, blökend und Gräser abweidend auf der Flanke des Hügels nach Osten. In weiter Ferne, hinter dem Hügel, krähte ein Hahn.

»Wir finden also keine Seldschuken hier im Land und um die Stadt?«, fragte Chersala und starrte in das bärtige, wettergegerbte Gesicht des Schäfers. »Bist du sicher?«

»Vielleicht eine Handvoll Späher. So wie ihr«, antwortete der Schäfer. Er wirkte auf Rutgar, als könnte nicht einmal der Weltuntergang seine Ruhe und Unbeweglichkeit erschüttern. »Sonst wäre meine Herde längst an den Bratspießen geendet.«

»Das ist eine Antwort«, sagte Chersala und nickte lächelnd, »die wir glauben können. Wachstum und reichen Lämmersegen, Hüter der Herde! Wenn du guten Käse hast - bring ihn nach Nikaia. Dort zahlen die Franken gut.«

»Ich will's mir merken.«

Der Schäfer hob grüßend die Hand, blickte sinnend auf die Rücken seiner Tiere und sah zu, wie die Reiter aufsaßen und am Waldrand entlang zur Straße ritten. Berenger hatte im Schatten angehalten und betrachtete die abgeweidete Fläche. Die dunkelgrünen Grasflächen, leblose Muster zwischen den Büschen des Waldrandes, taten den Augen wohl; so nahe der Stadt und der wütenden Belagerung breiteten sich bäuerliche Ruhe und ungestörte Landschaft aus, als habe sich der Himmel mit dem Land zu ewigem Frieden verbunden. Berenger zügelte, als die Straße zu sehen war, sein Pferd und zeigte auf die Sonne.

»Noch drei Stunden, Freunde!«, rief er unterdrückt. »Weiter nach Süden. Wenn wir keinen fremden Reiter sehen, wissen wir, dass Sultan Kilidsch an anderer Stelle auf uns lauert.«

Berengers Reiter blieben tausend Schritte lang auf der Straße, teilten sich dann und folgten schmalen Ziegen- oder Wildpfaden, die zwischen dem kargen Wald oder dem dornigen Buschwerk verschwanden. Die Stille hielt an; auch hier sahen sie Spuren eines hastigen Aufbruchs, aber keine seldschukischen Reiter. Von Berenger wusste Rutgar, dass viele oder die meisten Krieger des Sultans Nomaden waren, die es verstanden, sich im weglosen, menschenleeren Land zu bewegen wie Füchse oder scheues Rotwild; aber hier ging es um ein ganzes Heer, das sich nicht zur Gänze unsichtbar machen konnte.

Berenger wählte den Weg, der links von der Straße abzweigte, galoppierte durch das nächste Tal und zur Kuppe des höchsten Hügels. Eine halbe Stunde lang hielten sie, verborgen im Halbdunkel des Rhododendrongebüschs, angespannt Ausschau nach versteckten Seldschuken. Nicht ein Laut war zu hören, kein verräterisches Blitzen von Metall, kein Pferdewiehern.

»Außer uns gibt es noch zahlreiche versteckte Späher des Generals«, sagte Berenger am frühen Abend. »Wenn der Sultan angreift, haben wir einen halben Tag, um uns aufzustellen.«

»Zurück ins Lager?«, sagte Cherso und leerte den Wassersack in den ledernen Futterbeutel. Ihr Pferd steckte das Maul tief in den Beutel und soff. »Oder suchen wir weiter?«

»Butumites wartet auf unseren Bericht«, antwortete Berenger und zog sich in den Sattel. »Zurück. Ohne Eile. Schont die Pferde.«

So leise und schnell wie möglich ritten sie zur Straße zurück; ab und zu fielen die Tiere in einen matten Galopp.

 

Viertausend kaiserliche Söldner, die beiden kleinen Heere der Generäle Butumites und Tatikios, halfen den fränkischen Kriegern. Die Stadt war nun vollständig eingeschlossen. Bisher hatten die Seldschuken nur einen Ausfall gewagt und keinen zweiten mehr. Die Verteidiger unter den Fahnen des Sultans zeigten keine Müdigkeit, keine Erschöpfung. Aber sie erkannten, dass sich die Belagerer auf einen Sturm vorbereiteten.

Von den Zelten der Heeresführer, die von Bediensteten umwimmelt wurden, rannten und ritten Kriegsknechte hierhin und dorthin, kamen zurück, überbrachten neue Botschaften und hüteten sich, in die Reichweite der Pfeile und Schleudersteine der Mauerbesatzungen zu kommen. Die Wälder rund um Nikaia lichteten sich; mehr und mehr Baumstämme wurden von den Zugpferden, Ochsengespannen und von vielen Männern herbeigeschleift. Die Felder, noch vor fünfzig Tagen hoch in der Erntereife stehend, waren leer und zertrampelt, aufgewühlt, kotbedeckt oder voller frischer Gräber.

Rutgar war erleichtert, im Lager des Butumites zu wohnen. Längst hatte er den Unterschied dieser Heere zu Peters ungestümen Pilgerscharen erkannt. Jene Fürsten, die sich als Militia Christi bezeichneten, scharten einen vielköpfigen Kreis aus Helfern um sich: Mundschenke, Köche und Zimmerleute, Schwertfeger und Pferdeknechte, Sattelmacher, Schmiede und Gespannführer, Seilschläger und Fleischhauer, Kornschroter, Bäcker und Schreiber, Sprachkundige, Mönche, die als Einzige vorlesen und schreiben konnten, Berater, Chronisten, Pfeilmacher, Wundärzte und Bartscherer - ihm, Peters Bewacher von einst, schien es, dass die wenigsten, die er sah, unbewaffnete Pilger waren. Keiner von denen bemühte sich um Sauberkeit; jeder stank und war voller entzündeter Wunden. Und noch immer blickte er in jedes Gesicht und fragte unzählige Male, wenn er Franzosen traf, nach seinem blauäugigen Stiefbruder. Indes - niemand schien Thybold zu kennen.

Tatikios und Butumites, deren befestigte Lager sich zwischen denen Bohemunds und Tancreds erstreckten, belagerten unmittelbar das Nördliche Tor, das sie »Konstantinopel-Tor« nannten. Zwischen ihren Zelten und Palisaden erstreckte sich ein breites Stück Fahrweg mit längst geplünderten Fruchtbäumen an beiden Rändern, das sich mit der Straße nach Civetot kreuzte.

Zwei Tage nach der Rückkehr der Späher sah Rutgar, dass Berenger ihm winkte und auf vier Gespanne wies, die mit Männern, Holz und Werkzeug beladen waren. Berenger saß im Sattel und zog Rutgars gesattelten Rappen am langen Zügel hinter sich her.

»Der General schickt seine besten Männer zum Gonates-Turm«, sagte Berenger, als Rutgar stehen blieb und sich am Sattel festhielt. »Zu deinen Landsleuten. Du musst mit ihnen reden.«

»Wenn sie mit sich reden lassen«, antwortete Rutgar, tätschelte die Stirnblesse seines Pferdes und stellte seinen Stiefel in den Steigbügel. »Um was geht es?«

»Um den kopflosen Belagerern zu helfen. Dem Le-Puy-Bischof und dem tolosanischen Raimund.«

Berenger und Rutgar trabten zum ersten Gespann, das ihnen folgte und auf die lehmige Spur einbog, die den Weg entlang der Mauern, aber außerhalb der Geschosse der Verteidiger markierte. An einigen Stellen war der Untergrund mit Sand, Kies, Sägespänen oder zerbrochenen Knüppeln notdürftig befestigt. Über der Mauerkrone wirbelte mit klatschendem Flügelschlag ein großer Taubenschwarm. Jedes Mal, wenn sich die Vögel irgendwo niederlassen wollten, wurden sie aufgescheucht. Schon jetzt, am frühen Morgen, stank es nach verderbenden Dingen, und je mehr sich die Gespanne der Mauer näherten, desto lauter wuchs der Lärm der vieltausendköpfigen Menge und ihrer Maschinen an, von denen die Stadt berannt wurde. Jeder Einzelne schien von einer Erregung gepackt zu sein, die Rutgar bisher noch nicht bewusst wahrgenommen hatte.

Rumpelnd und knarrend schob sich ein schwankender Belagerungsturm auf die Mauer zu. Polternd drehten sich die kleinen Holzräder auf untergelegten Bohlen und Brettern. Von den Türmen wirbelten Felsbrocken und krachten gegen die nassen Holzwände der Turmseiten.

»Wobei sollen deine Leute den Provençalen helfen?«, fragte Rutgar.

Berenger führte die Gespanne dicht an den Palisaden vorbei, die das Lager Gottfrieds schützten, und antwortete: »Beim verdammten Gonates-Turm, der nicht fallen will.«

Die Reiter und die Wagen rumpelten am Kreuzweg vor dem Östlichen Tor vorbei, dann am Lager Roberts von Flandern und bewegten sich durch Lärmen und Gewimmel in weitem Bogen nach Süden, zu den Zelten und Wurfmaschinen Raimunds und Adhemars.

Rutgars Blicke glitten über alles, was er sah, und hefteten sich auf besondere Bilder: Zwischen manchen Türmen gab es breite Mauerabschnitte, an denen niemand kämpfte oder Leitern anlegte. Auch auf den Mauerkronen sah Rutgar nur wenige wachsame Verteidiger. Berenger richtete sich im Sattel auf und zeigte auf eine Wurfmaschine, an der ein Dutzend Männer hantierten. Mehr als die Hälfte von ihnen waren Bewaffnete aus Butumites' Lager.

»Deine Landsleute haben keine Erfahrung darin, wie man Schleudern und Türme baut!«, rief er unterdrückt. »Von uns haben sie's gelernt.«

»Ich sehe, dass sie es gut verstanden haben«, gab Rutgar zurück. »Sie geben sich alle Mühe.«

Es waren sicherlich mehr als hundert Gruppen, die sich um vier große Türme versammelten, die mächtigen Schenkel der Schleudern spannten und Wurfarme herunterzogen. Steinmetze meißelten und hämmerten Brocken aus einem Block, der aus einem Fels aufragte. Pilger in abgerissener Kleidung schleppten die Steintrümmer zu einer Schleuder und schichteten sie auf. Als sich der Zug der Mauerkante im Süden näherte, die nach Osten zum südlichen Tor abknickte, rannten normannische Armbrustschützen an Rutgar vorbei. Linker Hand erstreckten sich hinter einem Erdwall, der mit zugespitzten Pfählen gespickt war, das Lager der Normannen und Stephan von Blois' Zelte.

»Wir halten hinter den Baumstämmen!«, rief Berenger dem Führer des ersten Gespanns zu. »Achtet auf die Geschosse von den Mauern.«

Der Raum zwischen einem halben Dutzend verwüsteter Bäume war mit einem Palisadenwall aufgefüllt worden. In unregelmäßigen Abständen prallten Steine und Felsbrocken gegen die Stämme, die von zerbrochenen Pfeilen und Schleuderlanzen starrten. Die Wagen knarrten schwankend bis hinter die hölzerne Schutzmauer, und die Handwerker der Butumites-Truppe sprangen zu Boden. Ein Mann in Helm und Harnisch, das rote Kreuz auf dem Wappenrock, stapfte auf die Reiter zu.

»Ich bin Gerhard von Roussillon und befehle den Arbeitern am Turm. Wer schickt euch?«

»Die Herren Gottfried und Bohemund haben beschlossen«, antwortete Berenger laut, während er abstieg, »Euch die besten Umstürzer und Zusammenbrecher von Türmen zu schicken, Herr. Ich bin Berenger, Anführer im Heer des Generals - sicherlich habt Ihr mich gesehen, als wir hierherritten.«

»Du musst weit hinter uns Rittern geritten sein«, antwortete der Herr von Roussillon. Nur Rutgar bemerkte, als er aus dem Sattel glitt, dass Berenger zusammenzuckte. »Sag deinem General Dank. Ich hab schon gespürt, wie der Turm gezittert hat.«

Rutgar führte sein Pferd näher heran. Butumites' Männer luden ihre Werkzeuge ab und schulterten Hämmer, unterarmlange Meißel und Krüge voll mit griechischem Feuer. Sie warteten unschlüssig auf Berengers Befehle. Rutgar sagte in der Sprache der Provençe:

»Um Vergebung, Herr von Roussillon. Ich bin Jean-Rutgar von Les-Baux, der Kampfgenosse Herrn Berengern, und mit Pierre de Amiens ins Land gekommen. Kämpft an Eurer Seite, vielleicht, mit Gottes Hilfe, mein Halbbruder Thybold?«

Berengers ausgestreckter Arm wies auf den Eingang zum überdachten Tunnel, der schräg hinter den Baumstämmen begann. Unaufhörlich hasteten Männer und Frauen daraus hervor, die Steinbrocken und Erdreich in Körben auf den Schultern schleppten. Vor dem Lager Raimunds von Toulouse entstand quer über einen Weg, durch fast bis zur Unkenntlichkeit zerstörte Gärten und Zierhecken, eine grobe Aufschüttung. Graf Gerhard von Roussillon schüttelte langsam den Kopf; in sein halb verhülltes Gesicht, über das der Schweiß rann, kam ein wachsamer Ausdruck.

»Einige Hundert arme Rittersöhne aus der Provençe und aus dem Burgund reiten mit uns«, sagte er und musterte Rutgar vom Kopf bis zu den Stiefelspitzen. »Aber diesen Namen hab ich nie gehört. Alt oder jung?«

»Dreißig Sommer. Fünf Jahre älter als ich. Kühn und ehrlich. Große blaue Augen, schwarzes Haar, Falkennase.«

Das Kopfschütteln blieb. Rutgar zuckte mit den Schultern und sah zu, wie Berenger seinen Männern Befehle erteilte. Einer nach dem anderen schloss sich den Trägern an, die zusätzlich zu den leeren Körben Wasserkrüge und Brotfladen hinab ins Halbdunkel des Stollens trugen. Im Boden verschwelten Brandpfeile und die Reste von Feuerkrügen; träge zog schwarzer Rauch über die Grasreste.

»Ich werde trotzdem weitersuchen«, sagte Rutgar und führte sein Pferd zur Seite, als die Wagen wendeten und durch das Gewühl davonschaukelten. Er betrachtete missmutig seine verdreckten Stiefel und die lehmverklebten weißen Fesseln seines Pferdes und versuchte sich in all dem Lärm, dem Hin und Her der verschiedenen Geschosse, der hastenden Menschen und des Waffengeklirrs zurechtzufinden. Berenger schlug gerade dem Letzten seiner Männer auf die Schulter und sah ihm nach; der Turm, dessen Flanke zernarbt war von Brandspuren und Einschlaglöchern, stand drohend und dunkel und scheinbar unverrückbar, ohne zu zittern, rechts und links von Mauern gehalten.

 

Länger als vierundzwanzig Stunden arbeiteten Butumites' Handwerker in der Höhle der Turmfundamente. In allen Lagern rüsteten sich die Ritter; morgen Nacht, hatte der General versprochen, würde der Gonates-Turm fallen. Sein Lager war zu zwei Dritteln leer; die Verbliebenen konnten sich eigenen Bedürfnissen widmen. Die meisten schliefen, satt und kaum gestört.

Als Letzte zogen Chersala, Berenger und Rutgar ihre Pferde aus dem flachen Wasser der Lagune. Sie hatten die Tiere getränkt, gewaschen und gestriegelt und waren in der beginnenden Dämmerung mit einem Boot zwei Bogenschüsse weit auf den See hinausgerudert. Auch noch an dieser Stelle der Lagune fanden ihre Zehen Halt im Sand; vor Wohlbehagen stöhnend wuschen sie sich den Schmutz und den Schweiß vieler Tage von den Körpern.

Chersala hatte sich notdürftig verhüllt; als sie auf dem Rand des Bootes hockten, die Füße im kühlen Wasser, sagte Berenger leise: »Hast du deinen Bruder gefunden, Ritterlein?«

»Nein«, antwortete Rutgar, der den Arm um Chersala gelegt hatte und mannhaft sein Begehren unterdrückte. Chersala lehnte an seiner Schulter, und ihr Körper strahlte Jugendlichkeit, Hitze und Bereitschaft aus. »Aber ich suche weiter. Eine innere Stimme sagt mir, dass er nicht weit ist.«

»Hoffentlich nicht gerade dann, wenn es Turmquadern hagelt.« Berenger ließ sich ins Wasser gleiten. »Ich wate zu den Pferden und zu unserem Zeug. Eine halbe Stunde nach Mondaufgang am Ufer, Knappe Cherso!«

»Eine Stunde danach im Zelt«, murmelte Rutgar. »Ich zahl's dir heim, Berenger, auf gute Art. Danke. Lass dich nicht von den Mücken zerstechen.«

Berenger hob den Arm aus dem Wasser und schwamm langsam zum Ufer. Nur sein Kopf mit dem langen weißen Haar tauchte aus den fingerhohen Wellen auf.

Chersala schwang die Beine ins Boot und breitete die gefalteten Decken über den nassen Planken aus. Das Tageslicht war längst geschwunden, aber hundert Fackeln auf der Krone der Seemauer, einige Dutzend Feuer in den Lagern rechts und links des schwarzen Umrisses der Stadt und ein paar umherirrende Lichter am Ufer, wo sich die Pferdeknechte sammelten, spiegelten sich in der Wasserfläche. Rutgar starrte Chersalas nackten Körper an, als sähe er ihn zum ersten Mal. Er glaubte, Sternenglanz auf ihrem Hals und der breiten Goldkette funkeln zu sehen. Die Lichter schufen erregende Spiele auf der nassen Haut.

Rutgar und Chersala bewegten sich lautlos aufeinander zu und verschmolzen in der Höhlung des Bootes wie Wachs am Fuß einer tropfenden schwarzen Kerze. Warmer Südwind kräuselte bisweilen große Felder des askanischen Sees, doch von den beiden Liebenden hatte keiner Augen für dieses gewaltige Bild. Sie umarmten und küssten sich, und die Leidenschaft kam jäh über sie wie Sturzregen aus übersatten Wolken. Chersalas tiefer Kuss erinnerte Rutgar an die Nächte im schneeumtosten Häuschen am Rand Drakons, an den Glutkreis der Feuerstelle und an ein anderes Leben, das weit hinter ihnen lag.

Ihre Körper schienen zu glühen und pressten sich aneinander. Sie sanken ins Boot, Rutgars Knie prallte hart gegen die Ruderbank, seine Finger wanderten gierig über Chersalas Haut. Schwer atmend öffnete Chersala die Schenkel und bohrte die Finger in Rutgars Oberarme. Sie liebten sich wortlos, keuchend und heftig; das Boot begann zu schaukeln, immer heftiger, bis Chersalas leiser Lustschrei das Plätschern durchbrach. Er klang wie der Ruf eines Nachtvogels. Chersala legte ermattet die Arme um Rutgars Hals und zog sich halb in die Höhe.

»Endlich!«, flüsterte sie. Aus ihrem kurzen Haar liefen Tropfen über Hals und Brust. »Ich war halb verdurstet, halb verhungert und gierig ... nach dir. Wenn uns jemand sehen könnte - jetzt würde er wohl sehen, dass ich nicht Cherso, dein Knappe, bin.«

»Bisher haben wir's gut versteckt«, antwortete Rutgar und hielt sie heftig atmend fest, »ob es so bleibt bis Jerusalem - wer weiß?«

Er streichelte ihre Brüste, deren Spitzen sich aufgerichtet hatten. Über dem See, zwischen den schwarzen Hängen, flammten die ersten Sterne auf und spiegelten sich im Seewasser. Zwei Fackeln, winzige Lichter am Seeufer, bewegten sich langsam hin und her. Rutgars Blicke und seine rechte Hand wanderten über Chersalas ausgestreckten Körper, während sie leise miteinander redeten, sich gegenseitig halfen und ins Wasser rutschten, um sich zu reinigen.

Er spürte ihre Arme um seine Schultern, als sie ihn wieder zu sich ins Boot zog und die Beine um ihn schlang. Sie vergaßen die Nacht um sich herum, überließen sich abermals willig der Leidenschaft und liebten sich begierig und weniger hastig auf den feuchten Decken. Das Boot begann zu schaukeln, ohne dass sie es merkten. Keuchend löste sich Rutgar von ihr, strich das nasse Haar aus Chersalas Gesicht und streckte sich neben ihr aus. Aus der Stadt flogen rauchende Brandgeschosse in flachen Bögen durch die Nacht, wie Sternsplitter, dann erklang dumpfes Poltern. In den Lagern schrien wirre Chöre der Angreifer durcheinander.

»Berenger wird nichts sagen«, flüsterte Chersala. »Aber irgendwann werden sie im Lager wissen, dass ich deine Liebschaft bin.«

»Im Durcheinander der Belagerung«, antwortete Rutgar, sprang ins Wasser, packte das Seil und begann das Boot herumzudrehen, »achtet keiner darauf. Und danach ziehen wir alle weiter.«

»Bis dahin dauert's noch.« Chersala kauerte sich ins Heck des Bootes und trocknete sich ab. Rutgar schwamm langsam zum Ufer, das Seil um den Unterarm geschlungen, bis er Boden unter den Zehen fühlte. Er drehte sich um und sah zu, wie sich Chersala in Cherso verwandelte. Ein junger Pferdeknecht hielt drei ungesattelte Pferde und schwenkte die Fackel.

»Hierher, Ritter Rutgar!«, rief er und wartete, bis Rutgar sich angekleidet hatte. »Herr Berenger wartet im Lager.«

»Danke«, sagte Rutgar, zog das Boot auf den Sand und streckte den Arm aus. »Er hat es uns versprochen. Reite uns mit dem Licht voraus.«

»Folgt mir, Herr.«

Rutgar half Chersala aus dem Boot und auf den Rücken ihres Pferdes, zog sich selbst am Hals des Rappen hoch und wartete, bis der Junge aufgestiegen war. Der Halbmond, dessen Licht auf Chersos glattem Scheitel glänzte, hing zwei Handbreit über den Hügeln. Durch das vage Dunkel folgten Rutgar und Chersala der blakenden Fackel an den Lagern Bohemunds und Tancreds und an den verlöschenden Lagerfeuern vorbei bis zu den Zelten des Generals Butumites.

 

Die Wurfmaschinen schleuderten in langen Abständen während aller Nachtstunden schwere Feldsteine, Krüge voll brennendem Öl und Felsbrocken über die Mauern und gegen die Brüstung des Gonates-Turms. Im Untergrund, in verwüsteten Gewölben und Fundamenten, wühlten, hämmerten und hackten die Belagerer im Licht von Talglichtern und Kerzen.

Tausend Körbe Schutt und Brocken waren hinausgeschafft und Holz in die Höhlung eingebracht worden, die in der Nacht wuchs und am späten Morgen ihre größte Ausdehnung erreicht hatte. Eine Stunde vor Mittag legten die Belagerer Feuer an die Holzstöße. Bald loderten Flammen aus dem Eingang, grauer und schwarzer Rauch quoll daraus hervor, und das wachsende Feuer sog pfeifend Luft durch Schächte und holzgezimmerte Zuführungen. Rauch drang durch Spalten und Fugen, auch auf der Stadtseite des Turms und aus den Mauern, die an das steinerne Viereck grenzten. Boten hasteten hin und her, und im Norden, Osten und Süden Nikaias bereiteten sich Ritter und Bewaffnete darauf vor, über die heißen Trümmer des Turms in die Stadt einzudringen; dies war kein Kampf für Ritter zu Pferde.

Auf jeden, der sich dem Umfeld des Turms näherte, schossen die Verteidiger wahre Pfeilhagel ab. Normannische Bogenschützen und Armbrustschützen versuchten die Seldschuken zwischen den Zinnen zu treffen. Ein Holzbalken, von einem Katapult geschleudert, traf die Mondsichel-Fahne und zersplitterte den Schaft an der Turmecke. Es dauerte nur zwei Dutzend Atemzüge, bis zwei neue Fahnen im Mittagswind flatterten. Ein Taubenschwarm kreiste über dem Turm und verschwand nach Norden.

Rutgar hatte Chersala und sein Pferd im Lager zurückgelassen und war zu Fuß aufgebrochen, im Kettenhemd, mit dem Schwertgehänge auf dem Rücken. Er brauchte länger als eine Stunde, bis er im Halbkreis um die Mauern gewandert war. Durch eine breite Lagergasse brachten ihn seine Schritte an den westlichen Rand der Zeltstadt, in der Raimund von Toulouse und sein Gefolge sich ausgebreitet hatten. An vielen Stellen ertönte schon jetzt der Schlachtruf der Gewappneten von Burgund, Aquitaine, dem Languedoc und der Provençe: »Toulouse, Toulouse!« Überall sah er Rüstungen, Kettenhemden und Waffen. Staubwolken schluckten das Sonnenlicht, und der stinkende, atembeklemmende Rauch aus dem unterhöhlten Turm breitete sich nach allen Richtungen aus.

An einem halb gefüllten Brunnentrog blieb Rutgar stehen, trank und kühlte Gesicht und Hände. Als er ausspuckte, war sein Speichel gelb und mehlig. In der lärmenden, krachenden Aufregung, die im Lager herrschte, achtete niemand auf Rutgar, dessen Blicke in den Gesichtern aller Männer forschten, die ihm begegneten. Ein Reiter stob an ihm vorbei, und Rutgar brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit. In der Lücke eines Walls aus Holz, Steinbrocken und schiefen Palisaden blieb er stehen und sah zum Turm hinüber, der, von Rauch umwallt, vielleicht zwei-, dreihundert große Schritte entfernt hochragte. Das Prasseln und Fauchen des Feuers war lauter als die Geräusche der beiden Lager, Raimunds und Bischof Adhemars.

Kleine Gruppen sammelten sich zwischen den Zelten. Sprachfetzen, Flüche und Rufe in Rutgars Muttersprache wirbelten aus den Zelten durch die Lagergassen. Niemand wusste, wann endlich das riesige Gemäuer zusammenbrechen würde. Eines war sicher: Die Lücke würde breit genug für einen Sturmangriff sein.

Berenger hatte Rutgar und Cherso geraten, sich von den Verlockungen eines nächtlichen Kampfes fernzuhalten. Von Arkadios, Butumites' Schreiber, schien er geheime Neuigkeiten erfahren zu haben, oder beachtenswerte Gerüchte sickerten aus der Nähe des Generals in dessen Umgebung - es ging um die Übergabe der Stadt oder den Tag des Erstürmens. Obwohl die meisten jungen Männer, die Rutgar beobachtete, ihre Helme noch nicht trugen, hatte er auch heute Thybold nicht gesehen und auch niemanden, der seinem Halbbruder ähnlich sah.

Die Unruhe, die in allen Lagern vor Nikaia zu spüren war, nahm zu: Mehr brodelnder Lärm, eine größere Zahl Meldereiter und drängendere Gebete und Lieder der Pilger und Geistlichen. Rutgar dachte weder an Sünden, Buße oder Vergebung; tief in ihm nagte ein biblisches Tier, das Kukupetros »Gewissenswurm« genannt hatte. Rutgar starrte kopfschüttelnd die Mauern an und fühlte sich als Teil des großen Menschenstrudels. Aber bisher hatten er und Chersala sich am Rand des Mahlstroms bewegt, geschützt und sicherer als andere. Er wich einer Gruppe vorbeihastender Knechte aus und lehnte sich an einen zerfetzten Baumstamm, in dessen Rindenresten abgebrochene Pfeile steckten. In langen Abständen fuhren tosende Flammen aus der Öffnung im Turmfundament durch den Rauch. Es war, als atmeten die Gewölbe lange Feuerzungen aus, die knallend vergingen.

»Toulouse, Toulouse!«, hörte Rutgar. Am späten Morgen hatte es Regen gegeben, jetzt sengte die Nachmittagssonne senkrecht herunter und verstärkte die Hitze, die der Turm verströmte. An den Mauern verschwanden die letzten Spuren der Nässe. Unablässig fuhren Gespanne gefüllte und leere Wasserfässer zwischen dem Seeufer und den Lagern hin und her. Die Angriffsschreie der Truppen des Grafen von Saint-Gilles hatten wenig zu bedeuten; die Männer feuerten sich gegenseitig an. Sie sammelten sich und fieberten danach, in die Stadt einzudringen und die unerträgliche Erregung austoben zu können, aber ihre Fürsten schienen sich endgültig für das Warten auf den 19. Tag des Brachmonds entschieden zu haben.

Rutgar hob ratlos die Schultern und sagte sich, dass er in Butumites' Lager am besten aufgehoben war. Als er seinen Platz verlassen wollte, sah er am Ende der Lagergasse, am Rand des Ölbaumwäldchens, eine Gestalt, die er augenblicklich erkannte. Peter der Eremit in der braunen Kutte ritt auf seinem Esel vorbei, den Arm segnend erhoben. Rutgar wollte ihn anrufen, begann zu laufen, aber der Eremit verschwand hinter den Spitzen von Zeltstangen, hochgereckten Kreuzen, Lanzenspitzen und einer Staubwolke, zwischen den entferntesten Zelten des Feldlagers.

»Später«, murmelte Rutgar. »Deus lo vult, Kukupetros.«

Er warf einen langen Blick auf die Wand des Turms. Aus Quaderritzen zogen Rauch- oder Dampffahnen in die Höhe und vermischten sich mit dem Qualm aus den unterhöhlten Fundamenten. Rutgar bahnte sich einen Weg durch Teile der Lager, vorbei an Trümmern und Arbeitern, zurück zum Kastanienwald im Mittelpunkt des Butumiteslagers.

 

Nur noch die obersten Zinnen des Turms glänzten im Sonnenlicht; es schien, als wolle an diesem Tag das rote Abendglühen des Gestirns nicht weichen. Das Brausen und Knattern des unterirdischen Feuers war vor mehr als zwei Stunden vergangen. Nur noch dünner Rauch und Dampf kamen aus Rissen und Fugen und lösten sich auf. Im weiten Halbkreis um den Turm warteten Ritter und ihre Kriegsknechte in Rüstung und Waffen. Trompeten schmetterten Signale, dumpfer Trommelschlag rollte durch die Zeltreihen. Unablässig strömten einzelne Bewaffnete und kleine Gruppen herbei und sammelten sich um die Fahnen der Anführer. Sie bereiteten sich darauf vor, über einen zerklüfteten Berg heißer und zerbrochener Quadern, zwischen den bröckelnden Seiten der Mauern, in die Gassen der Stadt einzudringen. Die Sarazenen würden sich todesmutig wehren; jeder Belagerer trug seinen Schild zu allen seinen Waffen.

Auf der Mauerkrone rechts und links des Turms bewegten sich Fackelflammen. Ihr Licht und die letzten Sonnenstrahlen funkelten auf Helmspitzen und Waffen. Eine beängstigende Ruhe und Starre hatten sich ausgebreitet. Darin waren nur die Laute der zwei- oder dreitausend Männer zu hören, deren Blicke über die Mauern glitten, die sich von Atemzug zu Atemzug dunkler färbten, bis sie, schwarz wie die Nacht, mit der Masse der Stadt und der Umgebung verschmolzen. Auf dem Turm waren weder Lichter noch Verteidiger zu sehen; seine Mauern gaben eine ungeheure Hitze ab, wie ein glühender Brotofen. Zwischen den wartenden Rittern wurden Holzstöße angezündet, und Knappen brachten frische Fackeln.

In dem Augenblick, als der letzte Widerschein aus den Wolken verschwunden war, erscholl aus dem Inneren des Turms ein langgezogenes, knirschendes Seufzen wie ein unterdrücktes Todesröcheln. Es hatte noch nicht geendet, als eine Folge krachender Schläge ertönte, gleichzeitig mit peitschendem Knistern und Poltern, und im vagen Licht sahen die Ritter und alle anderen, wie sich fünfzehn, zwanzig Ellen über dem Boden die Vorderwand des Turms in zahllosen weißen Sprüngen, aus denen Staubfontänen geschleudert wurden, unendlich langsam nach vorn wölbte. Mit grauenvollem Knirschen zerbrachen Steine und Quadern, die hellen Spalten rissen auf, wurden breiter und verzweigten sich. Einige Ritter lösten sich fluchend aus den Gruppen und stapften mit klirrenden Waffen zurück ins Lager. Aus dem Poltern und Knirschen, dem Splittern und steinernen Klirren wurde ein unirdischer Lärm, als aus dem unteren Teil des Turms einzelne Steinwürfel herauskippten, gegeneinanderprallten, sich in der Luft drehten, auseinanderbrachen und in den Boden einschlugen. Armlange Splitter und scharfkantige Brocken wirbelten und flogen durch die Luft, mit schauerlichem Getöse sackte der Turm in großen Rucken in sich zusammen und löste sich in einen Felsrutsch auf, der die Trümmer nach drei Seiten streute und Mauerteile in die Gassen der Stadt kippte.

Der Boden bebte, die Mauern schienen zu schwanken, aus der Stadt ertönte schrilles Geschrei. Das Dröhnen setzte sich rund um die Stadt fort; Flüche, laute Gebete, Schreie, lärmend aufflatternde Vögel, wiehernde Pferde und die erschreckten Laute anderer Tiere verwandelten die Nacht in ein Gebiet höllischer Aufregung. Staubwolken, in denen die Fackelflammen erstickten, breiteten sich aus; aus der Stadt kamen abermals Entsetzensschreie und laute Befehle in fremden Sprachen.

Dumpf polternd, kaum zu sehen in der Finsternis, rollten auseinanderbrechende Quader über den Boden und trieben die Wartenden auseinander. Während die Ritter zur Seite rannten und stolperten, liefen Knappen mit lodernden Fackeln herbei. Von der Mauerkrone an den Seiten des Durchbruchs heulten Brandpfeile herunter und blieben im Erdreich stecken. Ihre Flammen verbreiteten zuckendes Licht und schienen als Warnung gedacht zu sein. Der Lärm und das Poltern verebbten, der Staub senkte sich allmählich. Aus dem Dunkel ertönte eine laute, herrische Stimme:

»Toulouse, Toulouse!« Graf Raimund von Toulouse und Saint-Gilles trat in den Lichtschein. Er hob den Arm im Kettenhemd und deutete mit dem Streitkolben auf den Bischof von Le Puy.

»Sinnlos!«, rief der Einäugige. Saint-Gilles' Stimme klang hohl aus dem seltsamen Helm heraus. »Sie würden jeden von uns treffen. Und wir sehen nicht, auf welchen Trümmern wir uns Füße und Arme brechen.«

»Was schlagt Ihr vor?«, fragte Bischof Adhemar laut. Auch er war in voller Rüstung. Seine Hand lag auf dem Schwertgriff. »Keinen Angriff?«

»Lest uns eine Messe, Herr Bischof!«, rief Raimund und zerrte den Helm vom Kopf. Flammen spiegelten sich auf seiner Augenklappe. »Wohlversehen mit Gottes Segen dringen wir beim Morgengrauen ein.«

Bohemunds mächtige Stimme ließ sich vernehmen. Der riesenhafte Normanne schob sich durch die Versammlung seiner Gepanzerten. »Ihr habt recht, Herr Raimund. Auch Tancreds Männer werden sich anschließen. Beim Morgengrauen!«

Die Fürsten und ihr Gefolge starrten durch die Bresche, die breit wie eine Schlucht zwischen den Mauerkanten klaffte. Hinter dem dünnen Staub waren Lichter zu erkennen: Die Flammen wandernder Fackeln und Kerzen und Helligkeit, die durch kleine Fenster der Gasse hinter dem halb verschwundenen Turm fiel und das Gitterwerk von Mauerbrüstungen undeutlich erscheinen ließ. Der Kegel aus geborstenen Quadern und Schutt war noch immer ein Drittel so hoch wie eben noch der Turm.

»Es ist so, wie er sagt.« Adhemars Brüder Franc-Lambert und Wilhelm Hugo traten an die Seite des Bischofs. »Wir würden uns nur selbst opfern, wenn wir in der Schwärze der Nacht dort eindringen und kämpfen.«

Als hätten die Verteidiger die Einwände verstanden, flog in steiler Bahn ein Feuerkrug durch die Luft, zerschellte an der Vorderkante des Schuttkegels und verspritzte brennendes Öl nach allen Seiten. Bischof Adhemar schwenkte die Fahne, drehte sich zu den schweigenden Wartenden herum und rief mit seiner Predigerstimme:

»Wir werden uns zurückziehen, denn über diesen Wall wagen die Sarazenen keinen Ausfall! Vor dem Morgengrauen, nach der Frühmesse, sammeln wir uns hier zum Angriff. Mit Gottes Segen beten wir die Mittagsandacht in Nikaias großer Kirche. Geht mit Gott, ihr Streiter des Herrn!«

Langsam, ohne zu murren, meist in guter Ordnung, zerstreuten sich die Krieger. Die Fürsten warteten, bis man ihre Pferde herangeführt hatte, und saßen auf. Graf Hugo von Vermandois spähte ins Halbdunkel, schirmte seine Augen und sagte, ehe er angaloppierte, zu Balduin von Bouillon:

»Seltsam. Sonderbar. Diese Nächte in der Fremde - mir war, als habe ich ein Wunder gesehen. Wunderbar, wie sich die Trümmer bewegen. Als ob unsichtbare Mächte am Werk wären.«

Alberich von Grandmesnil lockerte die Zügel, setzte die Sporen ein und rief:

»Eure Augen spielen Euch einen Streich, Le Maisné! Schattenspiele. Lasst uns reiten!«

Sie trabten an den Feuern vorbei, an Wällen und Palisaden entlang und an einem Gatter aus Fackeln und Öllichtern zurück zu den Zelten ihrer Lager. Murmeln, Klappern und der Klang fremder Worte, die den Weg aus der Stadt herausfanden, ließen erkennen, dass in Nikaia zu dieser Stunde niemand schlief.

 

General Manuel Butumites hatte zwanzig Dutzend seiner Männer befohlen, zwei Stunden vor Anbruch des Tages am Gonates-Turm zu sein und den Franken beim Sturm zu helfen; mit Leitern, Holzstegen, Schildwänden und tragbaren Dächern, auf die nasse, mit Essig getränkte Felle genagelt waren. Berenger, Rutgar und vier andere Späher, denen die Sprachen der Fremden ein wenig geläufig waren, führten die Männer an; sie hatten Berengers Befehlen zu gehorchen.

Die sechs Reiter, mit Schwert, Schild, Bogen und Pfeilen bewaffnet, führten die Pferde am Zügel, und Rutgar, der in Mondlicht und wabernden Schatten im Seenebel sich auf dem halbwegs vertrauten Weg durch die schwindende Nacht seine Gedanken machte, vermisste in Butumites' Befehl und der halbwegs nachlässigen Art der Männer die entschlossene Ernsthaftigkeit. In den Lagern begannen sich die Männer auf den Sturm vorzubereiten; überall hörte man fahles Wispern, gemurmelte Gebete und die unverständlichen Sätze der Mönche und Priester.

Als er sich an Berenger wandte, flüsterte er in dessen Ohr: »Mich dünkt, Freund Berenger, dass dein General mehr vom Verhandeln als vom Kampf hält.«

»Richtig dünkt es dich, mein Ritterlein«, flüsterte Berenger grinsend zurück. »Er will unserem Basileus eine unzerstörte Stadt übergeben. Heere kommen und gehen - Städte und Straßen bleiben bestehen. Wir warten ab, was geschieht.«

 

Die Sterne verlöschten lautlos nacheinander, der schwellende Mond hatte sich längst hinter die Hügel gesenkt. Im Schilf und im Sumpfgürtel des Sees lärmten die Frösche; frühe Vögel zwitscherten und zerteilten die Stille in der Stunde zwischen Nacht und dem Ende unruhiger Träume. Selbst Berenger schien einen Hauch von Furcht oder Betroffenheit zu spüren. Er legte, die Zügel in der anderen Hand, den Arm um Rutgars Schultern und sagte leise: »Die Trümmer des Turms, Rutgar, sie scheinen sich bewegt zu haben. Kannst du etwas erkennen?«

Die Reiter hatten die Stelle erreicht, an der Rutgar vor kurzer Zeit gewartet hatte. Berenger bedeutete seinen Männern, abzusitzen und zu warten. Bis auf wenige Lagerwachen und ein Dutzend heruntergebrannter, schwelender Fackeln waren sie allein.

»Noch nicht. Alles ist dunkel, schwarz, ohne Bild und Form«, antwortete Rutgar ebenso leise.

Sie starrten die Mauern und die ungefähr fünfzig Ellen breite Lücke zwischen deren Kanten an. Die Reiter hinter ihnen wurden unruhig. Die Laute, mit denen die Lager aus der morgendlichen Kühle erwachten, wurden gröber und erkennbarer. In der kleinen Ewigkeit, die es dauerte, bis sich der Himmel zu färben begann, erschien in undeutlichen Umrissen ein Bild, das keiner der Männer zu sehen erwartet hatte.

Der Anblick war wie ein Wunder. Am oberen Saum der dreieckig aufgehäuften Masse erschienen aus der Dunkelheit breite Reihen aus Quadern.

»Gott ist mit den Sarazenen«, murmelte ein Reiter.

Im dunklen Grau des Himmels waren alle Farben verschwunden; als aus der Richtung des Sonnenaufgangs ein Windhauch aufkam, wehte der Gestank aus den Abtrittgruben heran, zugleich mit Weckrufen, zaghaftem Glockengeläut und Geschrei. Kanten und Flächen der Quader wurden deutlicher, der weißliche Mörtel in den Fugen zeigte sich als Gitterwerk. Aus dem wirren Haufen der Steine war eine neue Mauer herausgewachsen. Sie spannte sich quer über die Lücke zwischen den Kanten der Stadtmauer und bestand aus Blöcken, die wenig zerbrochen schienen. Das Grau des Firmaments wurde heller, die Gegenstände ringsumher traten schärfer hervor, und wenige Atemzüge später erschienen fahle Farben.

Schwarze und graue Flächen, viereckig und rechteckig, gelbliche Gitter aus Füllsel, kleinere und größere Steine, die an den Bruchstellen eingesetzt worden waren, zeigten sich den Blicken. Anstelle des Turms war eine leicht vorspringende Mauer entstanden, weniger hoch als die Stadtmauer selbst, um vielleicht zehn Ellen niedriger.

»Ein Wunder!«, ächzte einer der Bewaffneten, die sich aus dem Lager genähert hatte. Er starrte mit aufgerissenen Augen und weit geöffnetem Mund die Mauer an.

Berenger sagte leise: »Kein Wunder, Franke. Ein Beweis für wütenden Fleiß und große Baukunst der Seldschuken. Allah war mit ihnen.«

An beiden Ecken des Turms waren schmale Teile des Mauerwerks stehengeblieben. Mit gewaltigen Anstrengungen hatten die Seldschuken im Schutz der Nacht einzelne Quader aus dem Haufen herausgewuchtet, zwanzig oder dreißig Fuß weit geschleppt und auf einem neuen Fundament aufgeschichtet. Dieses Fundament war nicht zu sehen, aber im zunehmenden Licht bemerkten Berenger und Rutgar zerbrochene Stangen und zerrissene, zusammengeknüllte schwarze Stoffbahnen. Berengers Lachen klang fast verständnisvoll.

»Sie waren leise und schnell, die Bauleute der Emire. Ihr Licht haben sie hinter schwarzen Tüchern vor euch versteckt.« Er blickte zu den Mauerkronen hinauf. Dort ringelten sich Rußfäden von gelöschten Fackeln in den graublauen Himmel. Aus den Lagergassen und zwischen den Zelten der Franzosen und des Bischofs ertönte das Klirren und Rasseln von Waffen. Pferde wieherten grell. »Ihr werdet es kaum schaffen, die Mauer umzuwerfen.«

Aus dem Lager strömten die ersten Belagerer. Botenreiter galoppierten heran, betrachteten einige Atemzüge lang entsetzt den Steinhaufen und die Mauer über dessen oberem Grat und rissen ihre Pferde herum. Berenger blickte in die Gesichter seiner Männer, grinste Rutgar an und winkte.

»Seit fünfzehn Jahren hält der Sultan die Stadt besetzt. Warten wir mit dem Erstürmen bis zum 19. Tag.«

Butumites' Männer hatten ihr Belagerungsgerät noch nicht ausgeladen. Ohne Eile kehrten sie um, und während Bewaffnete, Kriegsknechte und Mönche zwischen den Zelten hervorströmten und das Wunder der neuen Turmmauern bestaunten, folgte ihnen Rutgar. Er wusste nicht, was er von dieser seltsamen Wendung der Dinge denken sollte.

In der Ruhe des Nachmittags fand er zum dritten Mal Zeit, an dem Brief weiterzuschreiben, den Bruder Odo zu Cluny wahrscheinlich niemals lesen würde.

 

Jean-Rutgar aus Les-Baux schreibt seinen Freunden Odo und Rasso im Kloster Cluny, Grafschaft Mâcon an der Saône:

Alle Kriegsmaschinen, mit denen wir die Stadt sturmreif schießen wollten, Sturmböcke und Leitern, Türme und Steinschleudern, stehen bereit. Die Besatzung der Stadt hat sich mit allen Kräften gewehrt. Viele Seldschuken oder Sarazenen, wie man sie allgemein nennt, kamen im Kampf und im Widerstand um; ich weiß nur, dass die Zahl unserer eigenen Verletzten groß ist; auch liegen viele an unbekannten Krankheiten darnieder. General Tatikios mit seinen zwei Tausendschaften schlug sein befestigtes Lager vor dem zusammengebrochenen und wiederaufgebauten Gonates-Turm auf, der allen unseren Angriffen trotzte, und jeder Mann rüstete sich, um mit Gottes Hilfe an jenem Tag die Mauern und Tore Nikaias endgültig zu berennen, den die Fürsten und General Butumites festgesetzt hatten.

 

Die Hitze des sechsten Monats marterte das Land, die Stadt und alle Belagerer. Immer wieder fehlte es an Proviant, an Korn, Mehl, Salzfisch, Trockenfleisch oder Wein, bis ein Zug aus dem Norden Nachschub brachte, der meist für die vielen Tausende zu wenig war. Chersala und der junge Seilschläger Wigbert versorgten die Besatzungen von sieben Zelten mit Brotfladen und Sud, so gut sie es vermochten. Bisher hatten Tod, Verletzungen und Krankheiten das Lager des Generals verschont.

Rutgar schrieb nach einigem Nachdenken weiter:

 

Es ist nicht anders als auf dem Zug des Eremiten Peter. Die Fürsten und deren Gefolge sind ebenso gläubig wie kriegerisch. Zwar habe ich nur wenige arme, waffenlose Pilger gefunden, denn jeder im Heerbann dient seinem Grafen, seinem Herrn, und dieser hat für Priester, Mönche, Knechte und Handwerker zu sorgen. Man will die Zahl aller »Franken« auf achtzig-, gar hunderttausend und mehr festgelegt haben, aber ich glaube, es sind weniger. Aber auch ich konnte sie nicht zählen; wie denn auch! Den fünf Fürsten, die dem Ruf des Papstes gefolgt sind, und den Ehefrauen, Vertrauten und Verwandten, deren Zelte im Mittelpunkt des Lagers stehen, ergeht es gut. Sie verfügen über alles, was sie brauchen. Je weiter man aus der Mitte hinausgeht zu den Zelten und Unterständen am Rand, desto mehr erinnert es mich an die ärmlichen und von Schmutz starrenden Unterkünfte der darbenden Pilger des Kukupetros. Die Furcht des Herrn und der unbändige Drang, die müden Häupter in der Heiligen Stadt zur Ruhe zu betten, und auch die Hoffnung auf die Herrschaft über reiche Grafschaften, sie vereinen all die sechzig oder siebzig Tausende. Mich erstaunt, dass etliche Adlige mit dem christlichen Heer reiten, die den Zug Peter des Eremiten überlebt haben, auch Wilhelm der Zimmermann und Thomas La Fére. Werden sie wieder schänden, brandschatzen und plündern? Ich zweifle nicht daran. Nun ist die Festungsstadt Nikaia von allen Seiten umzingelt. Die Seldschuken wehren sich verzweifelt, aber wenn jeder von uns, der eine Waffe führen oder an den Leitern und Belagerungstürmen hantieren kann, die Türme und die Mauern berennt, wird Nikaia binnen eines Tages fallen. Am Morgen des zweiten Tages werden die Anführer der Heere dazu die Befehle geben. Aber die Fürsten wissen, dass viele romanische Christen in Nikaia leben. Es wird ein großes Kämpfen und Töten sein, wenn wir eindringen, die Tore aufstoßen und die Seldschuken niederhauen. Dies sagt auch General Butumites, in dessen Lager ich mich sicher fühle. Jeder redet von der großen Beute, die wir machen werden. Sie wird aus armen Fürstensöhnen wie mir reiche Gotteskrieger machen.

 

Die Federspitze war leer, die Tinte trocknete rasch in der Hitze. Rutgar dachte an den Kampf der kommenden Tage, und daran, dass mindestens drei andere Männer ihre Erlebnisse niederschrieben - Fulcher, der von Agulilers und Guibert von Nogent -, rollte das knisternde Pergament zusammen und verwahrte das Schreibzeug.