Kapitel XXIV
A.D. 1097, 12. TAG IM WEINMOND (OKTOBER),
UM MITTERNACHT
SCHLUCHTEN DES ANTITAURUS
»Da erzitterte die Erde, der Himmel troff, und die Wolken troffen von Wasser. Die Berge ergossen sich vor dem Herrn ...«
(Ri 5,5)
Vor einer Stunde hatte der peitschende Regen aufgehört. Von jedem Blatt, von allen Zweigen schlugen schwere Tropfen auf die Pilger und ihre Tiere und rannen an den Felswänden herunter. Hoch über Rutgar lösten sich inmitten triefenden Wurzelwerks kopfgroße Steine und polterten, gefolgt von Wassergüssen und Schlamm, auf den Sims herab. Rutgar hob den Schild, fasste den Zügel fester und drängte sein scheuendes Pferd ein paar Schritte zurück; hinter dem erschreckt auskeilenden Tier und vor ihm prasselte der nasse Bergrutsch herunter und machte den Pfad halb unpassierbar. Zwischen den Berggipfeln hing dunkelgrauer Nebel, der jeden Laut verschluckte.
»Langsam, ganz ruhig«, sagte er und richtete seine Blicke nach oben. »Wir werden nicht abstürzen, mein Guter.«
Drei Tage hatte der Zug von Kaisareia nach Koxon gebraucht. Die alte Heerstraße war jenseits von Koxon nach und nach in Dutzende schmaler Pfade zerfasert, die sich an den Hängen entlangwanden, steil aufwärts und ebenso steil abwärts. Der Fels war rutschig, jeder Schritt ein tückisches Abenteuer. Schwer beladene Saumtiere stürzten in die Schluchten und rissen ihre Führer und andere Tiere mit. Nicht ein einziger Ritter saß im Sattel, sondern zerrte sein Ross hinter sich her. Der Pilgerstrom hatte sich in tausend Rinnsale verwandelt. Menschen und Tiere konnten nur hintereinandergehen und tasteten sich seit endlosen Tagen durch das Gebirge. Nicht ein einziger Sonnenstrahl verirrte sich in die Schluchten und Klüfte. Die Karren waren, so gut es ging, in einzelne Teile zerlegt worden, die über die schmalen Pfade gezerrt wurden. Jeder Pilger, bis auf die Haut durchnässt, schleppte schwitzend und hustend nasse, schwere Lasten.
Rutgars Stiefel versanken ebenso wie die Hufe seines Rappen tief im Schlamm und Geröll. Nach fünf Dutzend Schritten blickte er sich um: Berenger und Chersala waren unversehrt. Lasten, Lanzen und Schilde scharrten gegen die Felswand. Nur an wenigen Stellen war der Pfad breit genug, um kurz stehen bleiben zu können. Meist klaffte neben dem Pfad der nasse Abgrund.
Die Pfade beschrieben entlang der Abstürze unzählige Windungen, sodass die Ritter und Pilger zusehen und hören mussten, wenn auf der anderen Seite der Schlucht ein Tier oder ein Pilger schreiend und mit wirbelnden Gliedmaßen zu Tode stürzte. In der Tiefe vieler Schluchten rauschten schäumende Bäche über mannsgroße Felsen und Steinbrocken, zwischen denen die Körper zerschmettert wurden. Und der Regen strömte ohne Unterlass aus den Wolken. Auf den Rastplätzen verkauften manche Lehensmänner ihre Kettenhemden und ihre Waffen, weil sie, entkräftet und durchnässt, frierend und hungrig, die Last nicht mehr zu schleppen vermochten.
Rutgar und Chersala hockten zwischen ihren Pferden unter einem überhängenden Felsen, über den einige große Äste ihre triefenden Blätter wölbten. Am Stein rann in fingerbreiten Rinnsalen schmutziges Wasser herunter. Der Rauch der Fackel fing sich unter der schrägen Decke. In zwei, drei Stunden würde mit trübem Licht der Tag beginnen.
Rutgar schreckte hoch, als schwache Huftritte und das Murmeln einiger Stimmen an sein Ohr drangen. Er zog sich am Hals des Pferdes in die Höhe und blieb am Rand des Pfades stehen. Im zuckenden Halbdunkel sah er eine Gestalt, die einen Esel am Halfter zog und ein Sturmlicht trug, und eine zweite, die sich am Sattel des Grautiers festhielt. Die Gruppe schob sich langsam an ihm vorbei; das Murmeln riss ab, und beide Männer erschraken, als Rutgar neben ihnen aus dem Dunkel hervorkam.
Im gleichen Augenblick erkannte Rutgar unter der tropfnassen Kapuze den Einsiedel. Kukupetros, Peter von Amiens. Sie starrten einander an, die Gestalt am Kopf des Esels blieb stehen. Peter hob den Kopf und sagte leise: »Jean-Rutgar! Mein treuer Wächter! Ich war überzeugt, dass dich der Herr längst in sein Reich aufgenommen hat.«
Rutgar schüttelte den Kopf und antwortete:
»Ich lebe. Ich habe dich ein paarmal von fern gesehen.« Er deutete auf den anderen, der einfache Bauernkleider trug. »Dein neuer Beschützer?«
»Peter Bartholomäus«, erwiderte Peter. »Wir haben uns zusammengetan, um nach Jerusalem zu gelangen. Ich bin schon lang kein Führer von Gläubigen mehr, Rutgar.«
Der Esel - ein junges Tier, wie Rutgar feststellte, und er erinnerte sich daran, wie er den Eremiten auf dem Marsch nach Ikonion zu Fuß gesehen hatte, nachdem sein treues Reittier verendet war - schüttelte den Kopf und nässte die Gesichter der Männer mit Regenwasser. Rutgar hob die blakende Fackel und leuchtete in Peters bärtiges, zerfurchtes Gesicht. Das Feuer in den Augen des Predigers schien erloschen zu sein.
Bartholomäus, Peters Begleiter, sagte unwillig: »Wir müssen weiter, solange wir noch ein wenig Licht haben. Dort vorn soll es warmen Sud und Brot geben.«
Rutgar hob die Hand. Beim Anblick dieses Paares, das einander so ähnlich war, war ihm endgültig bewusst geworden, dass die Veränderung, die in ihm selbst vorgegangen war, die unzählbar vielen Tausend Schritte mit Peter, in ferner Vergangenheit, bedeutungslos hatte werden lassen. Bartholomäus ruckte am Führungsseil des Esels, Peter von Amiens wandte sich ab und zog die Kapuze tief in die Stirn. Rutgar trat einen Schritt zurück und brachte die Flämmchen der Fackel in Sicherheit.
»Geht mit Gott«, sagte er leise. »Euer Weg sei gesegnet. Jerusalem ist ferner, als wir glauben. Viele werden es nicht erreichen.«
Peters Antwort kam, durch die Kutte und den Regen gedämpft, zurück:
»Aber ihre frommen, tapferen Seelen werden zum Himmel auffahren, Ritter Rutgar.«
Der Eremit griff nach dem Sattel und stolperte, als der Esel, aus dessen Mähne und Schwanz das Wasser tropfte, den Kopf senkte und weitertrippelte. Rutgar zog sich in den Schutz des Felsüberhangs zurück und sah, als er sich auf den Steinbrocken setzte, dass Chersala schlief, den Rücken an den Bauch des Rappen gelehnt.
Nachts versuchten die Wandernden meist vergeblich, Feuer oder Fackeln anzuzünden; nur die Kundschafter des Generals, die ihre Fackeln in Säcken aus geöltem Leder trugen, schafften es manchmal, Feuer zu schlagen. Zwischen den Felshängen kreischten die Todesschreie der Stürzenden, die in der Finsternis gestolpert waren, zusammen mit dem Poltern berstenden Gesteins als Echos hin und her. Die gemurmelten Gebete und die zaghaften Lieder der Verzweifelten und Kranken erfüllten die Schluchten mit schauerlichem Gesumm.
Inzwischen waren einige Hundert Menschen zu Tode gestürzt oder an Entkräftung gestorben. Alles, was aus Eisen war, begann unterschiedlich stark zu rosten, sogar Schwertklingen in den Scheiden. In den Linien der Kletternden schwankten nur wenige Lichter; selbst die Frömmsten begannen das Gebirge zu verfluchen und ihr Schicksal zu beklagen. Rutgar und Chersala hatten einander geschworen, zusammenzubleiben und keinen unbedachten Schritt zu tun. Die Truppe des Generals überlebte mit geringen Verlusten die Schinderei, indem sich nachts kleine Gruppen Reiter und Pferde in Felsnischen und winzigen Lichtungen zusammendrängten und es bisweilen schafften, Suppe oder Kräutersud zu erhitzen oder gar zu kochen. Die Feuer, deren Rauch ätzend durch die Nächte zog, brannten unter Zeltleinwänden in großen Kesseln oder seltsamen Bauwerken aus Steinen und Felsplatten.
Am 17. Tag des Weinmonds wichen die tief treibenden dunklen Wolken, die Schluchten wandelten sich zu grasbewachsenen Hängen. Wenig später verbreiterten sich die Pfade und mündeten, wie Bäche in einen Fluss, im Lauf einiger Wegstunden wieder zur Straße, die über sanfte Hügelflanken ins Tal führte. Für wenige Atemzüge breitete sich vor den Augen der Pilger eine Ebene aus, an deren Ende sich die Stadt Germanikeia wie die Verheißung des irdischen Paradieses zeigte.
Die Wolken rissen auf, der Regen plagte die Pilger nicht mehr länger, und die Sonnenhitze eines neuen Tages verwandelte die Welt in eine gewaltige Wolke aus Dampf und Nebel, in der niemand weiter sehen konnte als drei Schritte. Von jedem Stück unbedeckter Haut tropfte Wasser, ebenso aus Mähnen und Fell der Reittiere. Die Kundschafter versammelten sich, stolpernd und auf Zurufe und Flüche achtend, um die triefenden Fahnen von General Tatikios.
Die Sonne des späten Vormittags, zuerst nur als weiß glühende Scheibe im Nebel zu sehen, löste den Nebel auf und zeigte den Pilgern eine Gruppe Ritter, die von Germanikeia kamen und auf die Spitze des eigenen Heeres zutrabten. Rutgar erkannte mit Mühe die Fahne, die Peter von Castillon auf seinem Erkundungsritt mitgeführt hatte.
Während sich die Pilgerschar zu erholen versuchte und die Kranken versorgte, während man die Namen der Verschwundenen festzustellen begann und die erschöpften Wanderer in kleinen Abteilungen nach Germanikeia wankten, erfuhren die Heerführer, dass die Kundschafter in einer Burg am Orontes, besetzt von abgefallenen armenischen Christen, gehört hatten, dass die Sarazenen den Angriff auf Antiochia vorausahnten und Verstärkung aus allen Richtungen zur Stadt unterwegs war.
Berenger führte sein Pferd heran und begann den Sattelgurt zu lösen. Er musterte Chersala und Rutgar, nickte schwer und sagte:
»Fürst Thatul, ein armenischer Fürst, kam vor Jahren aus Konstantinopel. Er ist rechtgläubiger Christ und dem Basileus treu. Es wird uns allen gut gehen in seiner Stadt.«
Chersala zog die Trense aus dem Maul ihres Pferdes und antwortete: »Es heißt, dass um die viertausend Pilger im Gebirge gestorben seien.« Sie deutete auf die Berge, die im vollen Sonnenlicht im Rücken des Pilgerzugs als unbesiegbarer Wall prunkten. »Sie zählen und zählen, aber jede Zählung ergibt, dass mehr Kinder, Frauen und Männer, Knechte und Ritter fehlen.«
»So viele haben die Seldschuken bisher nicht mit ihren Pfeilen und Krummschwertern töten können«, sagte Berenger heiser. Er deutete zur Stadt. »Kommt! Dort warten trockene Quartiere und gutes Essen.«
Die Kundschafter führten ihre Pferde und Saumtiere, die mit hängenden Köpfen folgten, am lockeren Zügel. Auf dem Weg zur Stadt erfuhren die Pilger, dass Godehilde, die Gemahlin Balduins von Boulogne, todkrank auf einer Trage und später auf einem der wenigen Karren, die jene furchtbare Gebirgsüberquerung überstanden hatten, nach Germanikeia gebracht worden sei; auch ihre Kinder litten unter Husten, Fieber und Auszehrung.
Wieder lagerten die Franken innerhalb der Stadtmauern und im Kreis um die Stadt, und in ihrer Schwäche und Erschöpfung nahmen sie dankbar und verwundert wahr, dass die Stadtbewohner sie mit allem, worüber sie verfügten, geradezu verwöhnten.
An Bruder Odo und Bruder Rasso zu Cluny im Clunisois bei Mâcon in Frankreich schreibt Jean-Rutgar aus Les-Baux:
Viel Seltsames haben die Ritter berichtet, die Herrn Peter von Castillon, Tancred von Tarent und Balduin von Bouillon begleiteten. Die Muslime sammeln sich in Antiochia und verwandeln die Stadt in eine Festung, gegen die alle Heere der »Ungläubigen« vergeblich anrennen und vor deren Mauern sie verbluten und verhungern sollen. Die Hoffnung, dass die Muslime auch Antiochia kampflos übergeben, ist also dahin, aber kein Ritter fürchtet sich, denn Gott ist mit ihnen.
Herr Balduin von Boulogne, der mit seinen Lehensleuten und einigen Dutzend Soldaten, die von den Piratenschiffen kommen, zum Hauptheer zurückgekehrt ist und um das Leben seiner Gemahlin bangt, kämpfte sich zum kilikischen Pass und kämpfend von Dorf zu Dorf und folgte dem Normannen Tancred, der auf Tarsus zuritt und die Stadt am 21. Tag des Herbstmonds erreichte. Dorther, dem Geburtsort des Apostels Paulus, wo er lange gewohnt und gepredigt hatte, kamen in Scharen Seldschuken des Sultans und stellten sich zum Kampf gegen die Unsrigen vor den Mauern. Aber Tancred, der entschlossen war, ein reiches Lehen zu erobern, drang mit dreihundert Kriegern todesmutig auf die Muslime ein, schlug sie in die Flucht, und sie zogen sich in die Stadt zurück. Tancred aber hatte Boten zu Bohemund gesandt und um Hilfe beim Kampf gebeten.
Tancreds Vetter Balduin von Bouillon, der drei Tage später zu Tancred stieß, wollte von ihm, dass er sich die kostbare Beute mit ihm teile, aber Tancred weigerte sich, obwohl Balduin fünfmal so viele Ritter und Fußkämpfer mit sich führte. Man berichtete uns, dass es ernsthaften Streit gegeben habe, der am nächsten Morgen durch Vermittlung der Besonnenen aber hinfällig war. Wieder fügte es der Herr, dass sich nachts die Seldschuken heimlich aus Tarsus hinausschlichen und flüchteten, denn sie hatten die Übermacht der Unserigen gesehen. Die armenischen Bewohner kamen in Scharen, um die fränkischen Ritter zu begrüßen.
Wahrscheinlich betrachtete Guibert von Nogent die Geschehnisse der vergangenen Wochen mit gebührendem Abstand, mit der Schärfe seines Verstandes und in der Sicherheit des Glaubens anders als Rutgar; Rutgar hätte gern gelesen, was Guibert schrieb. Er hob müde den Kopf und sah sich um. In Umkreis des kleinen Gutshofs weideten die Pferde zwischen Schafen und Ziegen. An Seilen trocknete Kleidung, die armenische Frauen geflickt und gewaschen hatten, Sättel lagen umgedreht in der Sonne, über einem Dutzend großer Feuer hingen Kochkessel. Tatikios' Kriegsknechte putzten Waffen und pflegten ihr Lederzeug, während drüben im Lager der Ritter, zwischen trocknenden, stinkenden Zelten, Totenmessen gelesen und für die Kranken gebetet wurde. Es schien abermals, als ob plötzlich viele Tausende Menschen ihr rastloses Vorwärtsstreben vergessen hätten und, halb trunken und erschöpft, jeden Sonnenstrahl auffangen wollten.
Selbst das Pergament dünstete sauren Geruch aus. Rutgar rückte das Schreibbrett in den Schatten und spitzte die Feder, um weiterzuschreiben.
Die Stadtbewohner wollten aber weder von Konstantinopel noch vom Sultan regiert werden. Als die Seldschuken aus Tarsus geflohen waren, wünschten die Bewohner, dass Tancred ihr neuer Herr würde. Als Balduin die reiche Stadt plündern und brandschatzen wollte, verbot es ihm Tancred, obwohl sein Heer das kleinere war. Balduin vertrieb ihn aber aus Tarsus, und als die dreihundert Normannen, die Tancred zur Hilfe gerufen hatte, vor den Stadttoren erschienen, verbot Balduin ihnen, in die Stadt zu reiten. Aber seine eigenen Leute ließen in Körben Essen und Wein zu den Rittern hinunter.
In der folgenden Nacht kamen die vertriebenen Seldschuken wieder, fanden die Tore verschlossen und griffen mit großer Übermacht die tapferen Normannen an und metzelten jeden der dreihundert Ritter nieder. Als die Lehnsleute Balduins am Morgen des Grauens gewahr wurden, beschuldigten sie ihn, den Tod der tapferen Christen nicht verhindert zu haben; vor ihrer Wut flüchtete Balduin in einen sicheren Turm.
Aber nun kamen fremde Schiffe in den Hafen von Tarsus. Guynemer von Boulogne, ein reicher Pirat, befehligte die Mannschaft aus Dänen, Flamen und Friesen. Er erkannte, dass Balduin der Sohn seines einstigen Landesherren war, und schloss sich ihm ohne Zögern an.
Balduin ließ eine starke Besatzung mit Guynemer als Befehlshaber in Tarsus zurück, nahm einige Dutzend Piraten in seine Gefolgschaft auf und ritt nach Osten, auf Mamistra zu. Er wusste aber nicht, dass Tancred zuerst nach Adana, dann nach Mamistra gezogen war, was ihm Fürst Oschin von Lampron, ein Fürst aus diesem Land, geraten hatte. Aber als Balduin dort angelangt war, musste er erkennen, dass Tancred mit Hilfe des Ritters Welf, eines Manns Balduins, die Stadt schon besetzt hatte und nun den Herrn Balduin nicht hineinließ. Tancreds Ritter forderten ihren Herrn auf, Balduin für den Verlust der dreihundert erschlagenen Normannen zu bestrafen, aber als sie Balduins Truppen angriffen, schlug er sie blutig zurück. Daraufhin mussten sich Tancred und Balduin abermals versöhnen.
Als aber ein Bote, von Gottfried von Bouillon ausgesandt, Balduin die Nachricht von der schweren Krankheit seiner Gemahlin überbrachte, ritten er und seine Gefolgsleute hierher nach Germanikeia, und nun sitzt er, wie man mir sagte, neben seinen todkranken Kindern am Sterbebett von Frau Godehilde. Von Berenger weiß ich, dass wir am 16. Tag dieses Monats wieder aufbrechen werden, und Berenger weiß es von General Tatikios.
Rutgar kramte in dem Haufen, der auf einer trockenen Decke lag; auch der Ledersack trocknete, nach außen gekehrt, noch in der Sonne. Er zählte die Kerben in seinem Holzstäbchen und rechnete. Es waren schon mehr als hundert Tage, doch er war sich nicht sicher, ob die Zählung wirklich stimmte. Sollte er weiterschreiben? Welches Wissen brauchte Herr Neidhart? Dass die einfachen Knechte und viele Pilger dem General und dessen Kundschaftern misstrauten? Dass sie die Ortskundigen anklagten, sie über unbegehbare Pfade geführt zu haben? Dass sie nicht verstanden, dass nach mehr als zwanzig Jahren Kämpfen, Krieg und jährlich wechselnder Herrschaft selbst steinerne Brücken, Straßen und Furten zerstört waren? Dass der Basileus hinter dem christlichen Heer mit seiner Flotte, die Johannes Dukas und Admiral Kaspax anführten, versuchte, jede Eroberung der Christen für seine Herrschaft zu festigen, war gerade noch, außer Tatikios, Bischof Adhemar und Gottfried von Bouillon bekannt.
Rutgar schüttelte den Kopf und stöpselte das Tintenkrüglein zu. Schritte näherten sich; Berenger und Chersala. Sie setzten sich zu Rutgar auf die sonnenheiße Bank und betrachteten die schwarzen Zeichen auf dem Pergament, dessen Enden sich einzurollen begannen.
Rutgar blickte in ihre Gesichter, die trotz der Bräune, des Bades und des Duftöls von den Anstrengungen der letzten Zeit gezeichnet waren.
»Nütze jede Stunde, Ritterlein«, sagte Berenger. Aber in diesem Wort lag keine Herablassung mehr, kein Hauch der Überlegenheit, sondern Anerkennung. Er deutete auf die weidenden Reittiere. »Bald reiten wir weiter. Macht's wie unsere Pferde. Esst, trinkt und schlaft ... zusammen.« Er lächelte Chersala an. »Antiochia ist nahe. Aber Jerusalem ist weit.«
Rutgar wickelte das Pergament zusammen. Es war völlig trocken. Er legte den Kopf in den Nacken, rollte mit den Schultern und stöhnte, dann sagte er leise: »Ja. Allzu weit. Und jetzt gibt es endgültig kein Zurück mehr, Liebste.«
Berenger blinzelte. Um seine Augen lagen schwarze Schatten. Er hielt den Atem an, legte die Hand hinter das Ohr und lauschte dem Lärm, der sich im Lager Gottfrieds erhob. Nach einer Weile sagte er:
»Godehilde, die Gattin Balduins von Boulogne, ist gestorben. Jetzt ist er wieder arm, denn es gibt keine Erbschaft von seinen Schwiegereltern.«
Rutgar zuckte mit den Schultern und machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Die langen Ritte und die Kämpfe haben ihm nichts genutzt, nichts eingebracht.« Er nickte zum Zeltlager hinüber. »Ich habe gehört, dass viele Ritter bis zum Frühling hier ausruhen und auf ein neues Heer aus Frankreich warten wollen.«
»Nichts da, im Namen des Herrn, hat Graf Raimund gerufen«, antwortete Berenger und grinste. »Gott half uns bei Nikaia, und er wird auch die Mauern Antiochias umstürzen. Überdies, hat er gesagt, ist die Stadt nur ein paar Tagesritte entfernt.«
»Also steigen wir übermorgen wieder in den Sattel«, sagte Chersala. Sie hob die Hände und starrte die schmutzigen, zersplitterten Fingernägel an. »Auf nach Antiochia!«
Noch bevor der Feldzug im Morgengrauen weiterging, erfuhren die Pilger, dass auch die Kinder Balduins und Godehildes der Erschöpfung und der würgenden Krankheit erlegen waren.
Zwei Dutzend Späher und Kundschafter, von zwei jungen armenischen Landeskundigen begleitet, ritten in der Mitte der leidlich breiten Straße. Sieben Reiter verteilten sich rechts und links, abseits des Weges und schräg voraus; sie würden vor einem Hinterhalt warnen. Alle Kundschafter trugen ihre Helme, Kettenhemden, eisenverstärkten Panzerjacken und sämtliche Waffen.
Chersala drängte ihr Pferd zwischen Berenger und Rutgar. »Wisst ihr etwas über Antiochia, was ich noch nicht weiß?«
Rutgar lauschte der Frage nach und dachte verwundert: Sie ist einen beschwerlichen Weg gegangen, von Drakon bis hierher, und sie hat mehr gelernt als ich. Reiten, Kämpfen, Überleben in Durst und unendlicher Mühsal und anderes, Wichtiges: fremde Sprachen und Länder, Sitten und die Absonderlichkeiten der Menschen. Sie ist stärker als ich. All die Entbehrungen haben sie schöner und reifer werden lassen. In ihren Träumen und Gedanken, ebenso wie in Rutgars, wuchs Antiochia zu absonderlicher Größe, goldener Pracht und schwarzer, tödlicher Bedrohung.
Berenger antwortete bereitwillig: »Man nennt Antiochia die Perle am Orontes, einst die drittgrößte Stadt der bekannten Welt. Fünfundsiebzig Jahrzehnte alt. Nur einen scharfen Tagesritt vom Meer entfernt. Dort finden wir die Hafenstadt Sankt Simeon. Tutusch, Sultan Malik Shahs Bruder, sollte die Seldschuken gegen andere Muslime, die Fatimiden, verteidigen und war erfolgreich, bis der Turkmene Yaghi-Siyan zum Statthalter in Antiochia gemacht wurde. Tutuschs Söhne Duqaq und Radwan eroberten Damaskus und Aleppo. Namen, die wenig bedeuten.«
Er sah weder Chersala noch Rutgar an; seine Blicke suchten die Hänge abseits der Straße ab.
»Denn ist es nicht der«, fuhr er fort, »wird's bald ein anderer. Die Muslime sind untereinander meist uneins, und das macht sie zu schwachen Gegnern. Vor etlichen Tagen hat Yaghi-Siyan alle Priester und alle Christen, die kämpfen können, aus der Stadt vertrieben - unsere besten Verbündeten.«
Aufregung herrschte entlang des vorrückenden Zugs. Vertriebene Christen, die einen Unterschlupf suchten, jubelten dem Heer zu und berichteten, wie der Emir in Antiochia hauste. Tatikios' Späher sammelten alle Nachrichten und wussten bald, dass die Belagerung schwierig werden würde. Denn nicht alle Tore konnten von den Belagerern bewacht und versperrt werden. Und durch diese Schlupflöcher konnten Seldschuken aus Aleppo, Damaskus, Mosul und Edessa zur Verteidigung in die Stadt geholt werden, mit Waffen, Ausrüstung und Proviant. Die Namen der Städte sagten Rutgar wenig, weniger noch als die Namen der Grafen, Fürsten und Ritter, die in den Heeren ritten und stritten.
»Vierzehntausend Schritte sollen die Mauern lang sein«, sagte Rutgar zweifelnd. »Aus braunen Quadern, und sehr hoch. Ist das so?«
»Vierhundert Wachtürme, im Abstand eines Pfeilschusses.« Berenger nickte knapp. »Yaghi muss andere Emire um Hilfe bitten. Längst sind Boten unterwegs. Er weiß, dass wir kommen.«
Vor ihnen ertönten Pfiffe, die schrillen Signale eines Spähers. Atemzüge später ertönte Hufschlag, dann galoppierte von Süden ein Reiter der Vorhut heran, einer der Männer, die sich abseits der Straße der Stadt genähert hatten. Er zügelte sein schäumendes Pferd vor Rutgar und grüßte Berenger.
»Seldschuken aus Antiochia haben in den Dörfern ringsum die Christen verfolgt«, stieß der Mann hervor. »Die Dörfler wissen, dass wir kommen, und haben viele muslimische Besatzungen erschlagen und erdolcht.«
Berenger lenkte seinen Rappen mit Schenkeldruck zur Seite und sagte drängend: »Reite zum Heer, zum General. Sag ihm, was du uns berichtet hast. Die fränkischen Heerführer werden es auch wissen wollen. Es ist unnötig, deinen Gaul zu schinden, Mann!«
Der Späher nickte und trabte an. Die Straßen aus Aleppo und Germanikeia vereinigten sich östlich Antiochias bei einer Brücke über den Orontes. Pons ferri, »Eiserne Brücke«, nannten die Schriftkundigen diese Brücke, die keineswegs aus Eisen bestand, denn ihr eigentlicher Name war Pons farreus, nach dem zweiten Namen des Orontes. Dies und dass sie von zwei Wachttürmen voller Bogenschützen geschützt wurde, wusste man von den Ortskundigen. Als einige Stunden später der nächste Späher von der kleinen Stadt Artah berichtete, wo die Christen ebenfalls ihre muslimische Besatzung umgebracht hatten, sammelte Robert von Flandern seine Männer um sich und ritt dorthin.
Entlang des linken Ufers des Al-Assi, des »rebellischen Flusses«, Orontes oder Farreus in der Sprache der Rhomäer, mehr als drei Stunden lang, waren die Vorhut und Tatikios, gefolgt von Robert von der Normandie mit dreitausend Kämpfern, unbehelligt nach Süden geritten. Wo die Ebene endete, am Ufer des Antiochia-Sees, begann der Blick auf den Berg, den die Muslime Habib an-Naijar nannten.
Etliche Zeit nach Mittag, am 20. Tag des Weinmonds, erreichte das Heer jenes Stück der Straße, von der aus uralte, mächtige Wachttürme und die Brücke und jenseits des Flusses die große Hauptstadt von Syria zu sehen waren. Der Fluss schäumte und gurgelte von Nordost nach Südwest vor den hohen Mauern der Stadt, die an der Grenze der Ebene auf einem niedrigen Hügel aus Buschwerk, Wald und Gras, Felsen und Gärten an einem breit dahingelagerten Bergrücken, dem Berg Silpius, erbaut war; Mauern und Befestigungen aus Haustein und vermörtelten Ziegeln reichten bis zu einer großen Burg auf dessen Gipfel. Die Truppe des Generals sammelte sich im Norden der Eisernen Brücke, oberhalb des Sumpfes, und Rutgar sowie Chersala beteiligten sich am Aufbau eines flüchtigen Lagers.
»Wahrlich, das ist nicht Nikaia«, sagte Rutgar, nachdem er die gewaltige ummauerte Stadt mit ihren unzählbar vielen Häusern und Türmen schweigend und lange gemustert hatte. Die Mauern ragten nicht weiter als eine halbe Stunde Ritts entfernt auf. Vor den Mauern erstreckte sich ein tiefer Graben, aus dem vor kurzer Zeit alle Gewächse und jeder Unrat entfernt worden waren; eine hässliche Narbe im Grün, das zu zwei Dritteln die Stadt umschloss. »Wir werden sie lange belagern müssen. Monate, vielleicht Jahre!«
»Der Emir der Heiden weiß, wie viele wir sind. Und alle muslimischen Städte schicken ihm Truppen. Bald werden wir umzingelt sein.« Chersala hängte den Helm an den Sattelknauf und strich das Haar aus der Stirn. Sie zeigte auf das nächste Tor. »Dieses Mal rennen die Seldschuken nicht vor uns davon.«
»Davon sind auch unsere Heerführer überzeugt.«
Die Spione hatten berichtet, dass ungefähr vierzigtausend Menschen innerhalb der Mauern lebten. Der General und seine Unterführer wussten, wie die Seldschuken die Brücke und die Stadttore verteidigten. Ein Befehl von Tatikios ließ zwei Dutzend Reiter losgaloppieren; die ausgesuchten Bogenschützen sollten den Fürsten helfen.
Während der Tross unter Chersalas wachsamen Augen die Karren ablud und die Pferde versorgte, beobachtete Rutgar, was an der Straße und dem Flussübergang geschah. Adhemar von Le Puy stand in den Steigbügeln, deutete mit dem blanken Schwert zum Himmel und feuerte seine Ritter an. Die Ritter Herzog Roberts trabten schon vor dem kleinen Trupp des Bischofs auf der leeren Straße auf den östlichen Turm zu. Fast jeder Reiter trug einen normannischen Bogen und zwei gefüllte Köcher; viele Ritter schützten sich mit großen Schilden. Als die Angreifer nahe genug herangeritten waren, erschienen plötzlich zwischen den Zinnen und in wenigen, der Brücke zugewandten Öffnungen einige Dutzend seldschukische Bogenschützen.
Im nächsten Augenblick begannen die Seldschuken Pfeil um Pfeil abzuschießen. Es waren geübte Schützen, die mit jedem Atemzug einen gut gezielten Schuss abgaben. Auf die Angreifer prasselten Dutzende Geschosse auf einmal nieder; nur wenige schlugen vor ihnen in den Boden oder splitterten an der Brüstung der Brücke. Schilde, Körper und Pferde wurden getroffen, aber obwohl hervorragende fränkische Bogenschützen den Pfeilhagel erwiderten, vermochten die Seldschuken den ersten Ansturm aufzuhalten und die kleine Truppe in die Flucht zu schlagen.
Die Christen zogen sich zurück. Einige Verwundete wurden aus den Sätteln gehoben. Fußsoldaten schwärmten aus und drangen im Schutz ihrer Schilde unaufhaltsam zum Turm vor. Die langen Pfeile heulten hinauf zu den Zinnen und trafen die seldschukischen Schützen. Das Knattern der einschlagenden Eisenspitzen in den Schilden, das Kampfgetriller und die »Allāhu-akbar!«-Schreie der Muslime übertönten das Rauschen der Strömung um die Brückenpfeiler.
Acht Kriegsknechte rannten zur eisenbeschlagenen Tür des Turms, sprangen die Treppenstufen hinauf und hämmerten die Spitze des Rammbocks gegen die Bohlen. Pfeile und Steinbrocken prasselten auf die Schilde herunter, aber Helfer rannten hinzu und packten die Schilde. Im Eifer, das Eindringen in den Turm zu verhindern, wagten sich manche Seldschuken zu weit aus dem Schutz der Brüstungsquadern hervor und wurden von Pfeilen getroffen.
Ein Teil des Heeres begann sich an einer seichten Stelle des Orontes, unterhalb der Brückenpfeiler, zum Durchgang durch die Furt aufzustellen, als sich das Tor unterhalb des kaiserlichen Palasts öffnete und einen Strom seldschukische Reiter entließ.
Rutgar versuchte erst gar nicht, die Reiter zu zählen. Er schätzte sie auf sechs- bis siebenhundert. Die Seldschuken galoppierten zum Fluss und verteilten sich im Bereich der Brücke und der Straße entlang des Ufers, eines mit Gras und Kieseln gefüllten Wadis. Aber die Ritter Herzog Roberts zögerten, ins Wasser der Furt hineinzureiten. Über den Fluss hinweg entspann sich ein Kampf der Bogenschützen und Armbruster, ebenso wie auf der Brücke, wo die normannischen Bögen ihre Überlegenheit ebenso bewiesen wie die bösartig surrenden Bolzen der Armbrüste. Der Kampf wogte unentschieden hin und her, niemand verlor, keiner schien zu gewinnen. Verwundete Pferde rissen sich wiehernd los, die blutenden Körper der Krieger auf beiden Ufern klatschten in die Wellen, und plötzlich schmetterten im Rücken der Franken grelle Trompetensignale.
Der Bischof von Le Puy und seine Lehensleute trabten auf der Straße heran. Endlich! Als ob sie vom bevorstehenden Wunder überzeugt wären, drangen die Franken mit neu erwachter Kraft und wildem Kriegsgeschrei auf die Seldschuken ein. Sie galoppierten über die Brücke, durch die Furt, wateten und schwammen durch die Wellen und griffen die Muslime mit Stoßlanzen, Schwertern, Streitkolben und Kampfäxten an. Ununterbrochen ertönte das heulende Sirren abgeschossener Pfeile durch das Getümmel.
Die Reihen der Seldschuken lichteten sich. Einzeln und in kleinen Trupps warfen sie die Pferde herum und flüchteten schreiend zur Stadt und durch das Brückentor in den Schutz der Mauern. Als die ersten Ritter inmitten schäumender Wasserfontänen das gegenüber liegende Ufer erreichten, trafen sie nur auf einige Pferde und tote Seldschuken im flachen Wasser.
Adhemar, der dem Heer Roberts von der Normandie folgte, und die Vorhut von Bohemunds Truppen überfielen einige Stunden danach eine große Karawane, die aus Saumtieren, mit Kornsäcken beladen, und aus Schafherden, Schlachtochsen und anderem Vieh bestand. Der Zug war auf dem Weg zur Stadt, um für das Heer Yaghi-Siyans Proviant für eine lange Belagerung herbeizuschaffen. Als der Bischof in den heftigen Kampf eingriff, ließ er einige Dutzend Fußsoldaten und eine Handvoll Berittene zur Bewachung der Beute zurück, die den Franken unverhofft in den Weg getrabt war. Die Karawane bewegte sich am Westufer des Orontes flussaufwärts auf das Gebiet zu, wo die blau-goldenen Fahnen geschwenkt wurden, auf dem das Lager des Generals entstand.
Die Trompeten bliesen zum Sammeln. Fahnen wirbelten durch die Luft, Ritter schrien Befehle. Langsam ritten die Kämpfer auf dem östlichen Ufer zur Straße und auf die Brücke zu. Der erste Kampf gegen die Seldschuken war beendet, die Verteidiger getötet oder vertrieben. Der Weg über den Fluss und die Straße zur Stadt lagen ungeschützt vor dem Heer; am nächsten Tag erwarteten Adhemar von Le Puy und Herzog Robert die Ritter und den Tross Bohemunds und den Rest der bewaffneten Pilger.
Jean-Rutgar ließ den Schild sinken und zupfte am Zügel. Langsam drehte sich der Rappe und stellte die Ohren auf. Boten und Kundschafter sprengten in sicherer Entfernung von den Wachttürmen auf kaum erkennbaren Pfaden einher. Schwerfällig folgten ihnen die Gepanzerten und der Tross der Heeresteile. Die Haufen der Pilger drängten sich hinter dem Tross zusammen und staunten die Mauern und Türme an; die Kreuze in den Armen der Mönche schwankten wie im Sturm. Von der Mauerkrone schrien die Verteidiger Flüche und Schmähungen herunter.
Rutgar und fünf Späher hatten von Berenger den Befehl erhalten, das Land entlang der Mauern zu erkunden, so gut es ging; wo gab es Verstecke, Höhlen, Quellen, oder wo boten sich Möglichkeiten, die Mauern zu überwinden? Sie ritten entlang des Baches im Norden der Stadt, wo Raimund von Toulouse gegenüber dem Hundstor sein Lager aufschlug, vorbei am Lager Gottfrieds von Bouillon, der unterhalb einer Burg oder Festung im Nordosten die Zelte aufbauen und einen Schutzwall anlegen ließ.
Im Licht der Morgensonne zeigte sich Rutgar ein gewaltiges, farbiges Bild, das gleichermaßen Bedrohung wie Unverwundbarkeit ausstrahlte: Es war den Christen unmöglich, die Stadt völlig zu umschließen. Im Süden, vor den Bergen, hätten sie, um den Fuß der kühnen Mauern zu erreichen, erst einen steilen Felsenberg ersteigen müssen. Wo im Nordwesten der Berg Silpius in die Ebene überging, beim Sankt-Pauls-Tor, wuchsen die Zelte Bohemunds in die Höhe. Im Morgenwind knatterten Leinwände und das Fahnentuch; die Stadt war vom Lärmen der Kriegsknechte und ihrer Werkzeuge umgeben. Von den Mauerkronen und aus den Türmen beobachteten Seldschuken die Anstrengungen. Noch war im Westen die Straße nach Sankt Simeon, zum Meer und zum Hafen, in der Hand der Muslime.
Rutgar ritt voraus; er war allein mit sich und seinen Gedanken. Sein Rappe ging ruhig zwischen seinen Schenkeln, der Hufschlag war auf dem feuchten Gras kaum zu hören. Rutgar gähnte; blickte er zu den Türmen, über den Sumpf zum Hundstor, vom Norden nach Süd zur Oberstadt, dachte er träge an Erdbeben, stürzende Mauern, an das Ende der Welt und den Untergang aller Menschen, den die Prediger mit flammenden Worten verhießen. Die Welt, sagte er sich, würde nicht untergehen, trotz Zeichen am Himmel und der ständigen Drohung von Krankheit, Tod und Verderben. Aus unerforschlichen Gründen sah Gott dem Sterben und dem Elend ungerührt zu, der Rohheit der Schwertkämpfer, dem Wüten der Seldschuken und der besessenen Entschlossenheit zu Angriff und Tod. »Memento mori«, sangen die Priester, »gedenket, dass ihr sterblich seid!«, und es war wahrhaftig ein Wunder, dass er, Rutgar, Chersala und Berenger noch lebten. Sie lebten auch, weil sie mit ihrer Kraft und ihrem Können bedachtsam umgingen - trotz aller Versuche der Muslime, mit wohlgezielten Pfeilen ihr Leben auszulöschen.
»Nein«, murmelte Rutgar und sah, wie ein Trupp Seldschuken die Stadt durch das Sankt-Pauls-Tor verließen. Späher. Kundschafter, dachte er. »Wir werden auch dieses Bollwerk und die Belagerung überleben. Dank Tatikios' großer Klugheit.«
Schaudernd dachte er an einige der schlimmsten Nächte auf dem langen Elendsmarsch. In der grausamen Finsternis, wenn auch die letzte Glut zischend erloschen war, hatten sie gespürt, wie unbedeutend sie unter dem erstickenden Schild des Firmaments waren, wie die Einsamkeit sie zu erdrücken drohte, und dass nur ein Windstoß sie von der Auslöschung trennte. Aber an jedem Morgen war die Sonne wieder erschienen, und Rutgar erkannte, dass der Herr sie nicht zu sich gerufen hatte. Wer so viele Tage überlebt hatte, durfte sich zu den Auserwählten zählen. Zu jenen, die auch vor den Mauern dieser Stadt nicht starben, die so groß zu sein schien wie Konstantinopel.
Rutgar, Chersala und Berenger waren über ihre eigene Furcht hinausgewachsen. Berenger kannte anscheinend keine Angst mehr, und Rutgars Träume hatten stets den gleichen Kern: seine weiße Burg, eine Handvoll Goldstücke und ein glückliches Leben mit Chersala ...
Als er die Augen öffnete, sah er jenseits des gilbenden Schilfs die Straße nach Edessa, die sich als Prachtstraße innerhalb der Mauern fortsetzte, bis fast hinunter zum Brückentor. Bohemund und Tancred hatten ihr Lager jenseits der Straße bezogen und richteten sich ein. Knechte hoben einen Graben aus, Handwerker begannen Palisaden einzurammen. Zwischen den Zelten loderten große Feuer, denn es gab Wasser, Brot und Schlachtvieh in großen Mengen.
Rutgar setzte sich im Sattel zurecht, berührte mit den Sporen die Flanken des Pferdes und trabte weiter, in weiten Windungen des Pfades bis zur Straße und nach Osten. Er prägte sich jeden Felsen, jede Baumgruppe, jedes Stück Weide unter der Mauer ein. Die Stadt war ein gewaltiges Bollwerk, wie eine unübersteigbare Felswand. Das Heer würde vor diesen Mauern und Türmen verhungern, verdursten und verbluten.
Er sah eine Gruppe langbärtiger und zottelhaariger Männer in abgerissenen Kleidern, barfuß oder mit Lumpen an den Füßen. Einige waren fast nackt, und nur ihr langes Haar wärmte sie.
Die abscheulichen Tafuren, dachte er. Arme Kerle; niemand wusste, woher sie kamen und wessen Glaubens sie waren. Sie bezeichneten sich als die wahren Christen, folgten dem Heer seit einigen sieben Tagen und führten die niedrigsten Arbeiten aus. Jetzt fällten sie mit Werkzeugen der Ritter kleine Bäume und schlugen sie zu Palisaden zurecht. Plebs pauperum, die Armen in Christo. Sie verlangten keinen Lohn und kämpften ebenso todesmutig wie Ritter und Bischöfe und Mönche. Sie schienen die Bedürfnislosigkeit zu lieben und sich nur nach dem himmlischen Jerusalem zu sehnen - im Kampf waren sie rasend, opferten sich in besinnungsloser Wut. Welche Bedeutung der Erfolg der Belagerung Antiochias für das Ritter- und Pilgerheer hatte, war selbst dem roi d'Tafur, ihrem Anführer, einem freiwillig verarmten normannischen Ritter, abgrundtief gleichgültig. Rutgar, ebenso wie die anderen Soldaten, wusste nicht recht, ob er sie verachten oder fürchten sollte.
Am Fuß des Berges, jenseits von Bohemunds Lager, wo die Mauer mit ihren Wachtürmen anstieg, wendete Rutgar sein Pferd. Zwischen dem Lager und der Stadt stand, abweisend und uneinnehmbar, eine Seldschukenfestung, von Tancred »Malregard« genannt. Überall, auf jedem Fuß Mauer dieses Stadtteils, sah Rutgar muslimische Wachen. Sie beobachteten argwöhnisch jede Bewegung der Franken.
»Zurück zum General«, murmelte er, tätschelte den Hals des Schwarzen und winkte den anderen Reitern. Sie legten den verschlungenen Weg im kräfteschonenden Galopp zurück. Drei Ausfalltore - Hundstor, Sankt-Pauls-Tor und das Herzogtor, nach Herzog Gottfried benannt - waren belagert, das Brückentor und das breite Sankt-Georgs-Tor blieben noch unbewacht. »Aber auch die Waräger und Petschenegen werden keinen schnellen Sieg herbeiführen können.«
Als er im Lager eintraf, hatten sich bei Tatikios die Fürsten versammelt und beredeten, wie die Belagerung anzufangen und was zu tun sei: Selbst der General wusste, dass die Belagerung schwer werden und lange dauern würde - viele Wochen, wahrscheinlich einige Monde, wahrscheinlich bis lange nach dem Christfest. Heute schrieb man den 23. Tag im Weinmond.
Fast genau nördlich der Stadt und des Lagers Gottfrieds von Bouillon, wo das Flussufer sich zum Sumpf weitete, unweit seines Lagers, ließ Tatikios von seinen Männern und einer schuftenden Hundertschaft Tafuren aus schnell gezimmerten Booten und grob behauenen Baumstämmen eine Schiffsbrücke errichten. Im herbstlichen Niedrigwasser des Orontes entstand ein Bauwerk aus Balken, Seilen und langen Eisennägeln, breit genug, um Rittern in Viererreihen den Übergang zu ermöglichen. In fieberhafter Arbeit verschanzten sich die Heere in ihren fünf Lagern, während die Seldschuken, von Tatikios' Spähern beobachtet, durch die unbewachten Tore Proviant, Waffen und Truppen in die Stadt schafften. Im Westen, Süden und Osten verschmolzen die Mauern mit dem Fels des Berges. Es war keinem Menschen möglich, die Stadt auf der Südseite zu erobern, und überdies krönte den höchsten Punkt der Mauer im Stadtinneren ein begrünter Berg, auf dem sich die Festung ausdehnte.
Berenger kam hinter der Brustwehr hervor und deutete über die Spitzen der Palisade.
»Dort, hinter dem Schilf und dem Sumpf, das Hundstor, General. Das ist der beste, breiteste Weg für die Seldschuken, wenn sie uns angreifen wollen.«
General Tatikios, versunken in düsterer Nachdenklichkeit, ließ seine Blicke über den unvollkommenen Halbkreis schweifen, in dem sich die Heere um die wehrhaften Mauern Antiochias verschanzten. Die Arbeiten von mehr als fünfzigtausend Menschen brachten ein dröhnendes, vom Schrillen der Sägen und tausend Hammerschlägen durchbrochenes Geräusch hervor, das als Widerhall von den Mauern zurückgeworfen wurde und die Belagerten erschreckte; die Franken füllten den Tag mit einer erschreckenden Zielstrebigkeit aus. Hunderte Rauchsäulen blies der Wind schräg, grau und schwarz nach Sonnenaufgang. Hunderte Reiter stoben hierhin und dorthin, Fuhrwerke polterten knarrend entlang der Pfade und auf den breiteren Sandstraßen, und wie weißlich giftige Pilze nach Regen und Sonnenhitze wuchsen Hunderte Zelte in Kreisen, Vierecken und langen Reihen in die Höhe, flankiert von Lanzen und Pfählen, an denen vielfarbige Fahnen im Wind Falten schlugen.
Der Graf Garnier von Grez, der zufällig neben Berenger stand, sagte schroff: »Wir müssen die Brücke zerstören. Unbrauchbar machen, bei Gott! Mit allem, was wir haben.«
»Die Brücke ist aus Quadern, Steinen, dicken Balken gebaut«, warf Rutgar ein. »Sie ist alt und hat viele Winter und Hochfluten überstanden. Es wird nicht leicht sein, Herr Ritter.«
»Nichts ist leicht in diesem Land, zu dieser Zeit. Der Herr ist mit uns - wir werden einen gepanzerten Turm bauen und mitten auf dieser gottlosen Brücke aufstellen.«
»Holz brennt leicht«, knurrte Berenger. »Ihr dürft die Seldschuken nicht unterschätzen. Sie werden kämpfen wie hunderttausend Teufel. Die Stadt ist voller Frauen, Kinder und Truppen. Und Yaghi-Siyan hat viele Vorräte eingelagert.«
»Viele Christen kommen und gehen durch die offenen Tore«, bemerkte der General ruhig. Er versuchte in den Mienen der Ritter zu lesen, die ihn umstanden. »Sie bringen uns Nachricht darüber, wie es in den Mauern zugeht. Der große Emir wird in den nächsten Tagen keinen Ausfall unternehmen.«
»Und nicht wenige seiner Spione sind unter uns und berichten ihm«, warf Berenger ein. »Auf den Straßen und durch die Tore im Norden, auf dem Berg, herrscht ständiges Kommen und Gehen.«
Die seldschukische Besatzung und ihre Familien waren in Antiochia in der Minderheit. Die Einwohnerschaft bestand aus Christen verschiedener Bekenntnisse. Der Emir traute den Christen nicht, also hatte er den griechischen Patriarchen Johannes Oxeites in den Kerker geworfen. So konnte er des Gehorsams von dessen Glaubensbrüdern sicher sein. Bevor die Christen vor den Mauern erschienen waren, hatte er alle Mönche und waffenfähigen Männer, Priester und Diakone aus der Stadt gejagt. Aber von seldschukischen Truppen drohte im weiten Umkreis der Stadt kaum Gefahr.
»Emir Duqaq hat Hilfe zugesagt, glauben die Spione zu wissen«, warf der General ein, »mit einem Heer aus Damaskus. Und da gibt es auch noch den Emir Janah ad-Daula von Homs und einen anderen, den Atabeg Toghtekin. Mit ihnen werden wir es bald zu tun bekommen.«
Manche Botschaften gingen verloren, der Inhalt vieler Briefe wich von der Wahrheit ab, oder Boten verirrten sich. Aber im Rücken der Christenheere, so viel stand fest, hatte der Basileus mit seinem Admiral Kaspax, der kaiserlichen Flotte und dem Schwager des Kaisers, Johannes Dukas, das an die Seldschuken verloren gegangene Land zumindest entlang der Küsten wieder zurückerobert. Ionien und Phrygien schienen sicher in der Hand des Basileus zu sein, desgleichen die Inseln Samos, Chios und Lesbos. Der Emir von Smyrna gab seine Herrschaft ab und rettete sich an den kaiserlichen Hof. Tatikios, der viele, wenn nicht alle Fäden in der Hand hielt, konnte die christlichen Heerführer beruhigen: Das Land zwischen Antiochia, dem letzten Bollwerk vor der Stadt des Grabes Christi, und der Hauptstadt des Kaiserreiches, gehörte nicht mehr den Muslimen.
Balduin von Boulogne, der sich mit weniger als einhundert Rittern vom Heer getrennt und nach Osten vorgedrungen war, eroberte eine Handvoll kleine Besitztümer, siegte gegen Baldak, den Emir von Samosata, verbündete sich mit Fürsten namens Fer und Nikosos, und belagerte die Festungen Ruwandan und Tel-Bascheïr, die von den Schreibern »Ravendel« und »Turbessel« genannt wurden. Bessere Nachrichten gab es nicht.
»Versuchen wir zuerst, die Brücke zu zerstören!«, rief Robert von der Normandie. »In ein paar Stunden. Wenn wir das Lager bezogen haben.«
»Wir lassen diesen Sperrturm bauen«, sagte Bischof Adhemar und gab seinen Pferdeknechten ein Zeichen. »Das Hundstor muss verriegelt werden.«
»So wie die anderen Tore auch.«
Berenger winkte Rutgar und Chersala. »Unser Lager wird wohl für lange Zeit unsere sichere Heimstatt sein. Bauen wir es gediegen und gottgefällig.«
General Tatikios nickte und blickte den Reitern mit breitem Grinsen nach.
Der Windmond stand bevor; die Nächte wurden länger und kälter, Regen und Sturm drohten. Vor den Belagerern erhob sich ein wahres Gebirge unterschiedlicher Beschwernisse. Rutgar begann sich zu fragen, wie viele Totenmessen man vor den Mauern würde lesen müssen.
Über Antiochia und dem Vorland kreiste ein großer Schwarm Krähen oder Raben. Unerreichbar hoch über ihnen schwebte ein Adlerpärchen.
Berengers Zeigefinger fuhr steil in die Höhe. Der Waräger sagte mit undeutbarer Miene: »Könnten wir doch mit den Augen des Adlers sehen, was wirklich geschieht.« Er unterdrückte einen Fluch. »Noch besser wäre, wenn wir wüssten, was uns der nächste Mond bringt.«
Keiner der Versammelten antwortete ihm. Er verbeugte sich, ebenso wie Rutgar und Chersala, und führte sein Pferd zum Absatteln und zum Wassertrog.
Mit Äxten, Hämmern und Meißeln, Keilen aus Holz, die mit Wasser begossen wurden und aufquollen, versuchten rhomäische Handwerker, schweigende Tafuren mit stinkenden Bärten und verfilztem Haupthaar und Helfer aus dem Tross, die Brücke zu zerstören. Sie begannen auf der Nordseite, am Uferpfeiler, in der Querfuge unter dem Sand, den Kieseln und dem festgebackenen Lehm eine Reihe Quader herauszustemmen. Die Männer arbeiteten außerhalb der Reichweite seldschukischer Bogenschützen, aber schon eine Stunde nachdem sie mit ihrem Werk begonnen hatten, öffneten sich die Flügel des Hundstors.
Mit geschwungenen Schwertern und gespannten Bogen stoben Seldschuken aus der Stadt und griffen im Galopp, trillernde Schreie ausstoßend, die unbewaffneten Arbeiter an. Die Helfer ließen das Werkzeug fallen, sprangen auf und rannten in drei Richtungen davon, von Pfeilen umschwirrt und verwundet. Vor dem Ende der Brücke rissen die Reiter die Pferde in die Höhe, drehten auf der Hinterhand und verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren.
Stunden später ritten bewaffnete Ritter zum Schutz der Brückenarbeiter heran und stellten sich in einer dichten Reihe, Schilde und Lanzen gesenkt, quer über die Brücke auf.
Ein zweiter Angriff seldschukischer Reiterei, in dessen wütendem Verlauf Schwärme heulender Pfeile abgeschossen wurden, ließ nicht lange auf sich warten. Die verwundeten Pferde der Ritter scheuten und gehorchten Zügel und Sporen nicht mehr. Im Schutz der von Geschossen gespickten Schilde zogen sich die Gepanzerten zurück; auch einige der Ritter hingen blutüberströmt im Sattel.
Dann schickte Tatikios seine Belagerungshandwerker vor. Sie begannen aus Teilen mitgeschleppter Balken, aus Rädern und dem Holz, das vom Brückenbau übrig war, einen rollenden Belagerungsturm zu bauen. Ochsengespanne und Kriegsknechte schoben das kantige Monstrum auf die Brücke zu. Nasse Ochsenhäute waren vor die Holzschindeln genagelt worden und wurden von der obersten Plattform aus mit Flusswasser übergossen. Die schweren Flügel des Turms wurden ausgeklappt, sodass er breiter war als die Brücke selbst.
Als der Bohlenturm einige Fußbreit vor der freigelegten Fuge stand, mit Armbrustschützen und Bogenschützen besetzt, begannen die Pilger wieder zu hämmern und zu scharren. Während aus den Vorräten und Teilen der Beute und durch das Werk vieler Hände Wälle und Palisaden um die Zeltlager entstanden, Kreuze aufgerichtet und Altäre gebaut, Brotöfen gemauert und Bäume gefällt wurden, blieb die Straße nach Sankt Simeon für die Seldschuken weiterhin geöffnet. In einer der nächsten Nächte schlichen sich mutige Seldschuken aus der Stadt, überquerten die Hundstor-Brücke und legten mit Fackeln und ölgetränkten Strohbündeln und Lumpen Feuer an den Turm. Die nassen Ochsenhäute, in denen Brandpfeile verloschen, nützten nichts; in einem Wirbel mauerhoher Flammen verbrannte das hölzerne Bauwerk bis hinunter zu den breiten Rädern.
Der General und die Anführer gaben nicht auf. Inzwischen waren außerhalb der Lager einige Schleudern, Manganen und Wurfmaschinen halbwegs zusammengebaut worden. Die Anführer befahlen, die Gerätschaften vollends aufzurüsten und in Stellung zu bringen. In fieberhafter Eile schufteten die Belagerungshandwerker und ließen die fertig errichteten Maschinen auf die Straße am Ende der Brücke ziehen. Große Wackersteine und Felsbrocken, mit eisernen Spitzen versehene Balken und armdicke Lanzen wurden Tag und Nacht gegen die schmalen, aber drei Mannsgrößen hohen Tore geschleudert und häuften sich vor den Torflügeln. Pfeile und Brandpfeile flogen hin und her, aber immer wieder öffnete sich eine Hälfte des Tores, und die Seldschuken schleppten die Hindernisse weg.
Zuletzt sahen die Anführer keinen anderen Ausweg mehr, als Felsbrocken und mannsgroße Steine aus dem Flussbett heraufzuwuchten und mit unendlicher Mühe zur Brücke zu schleppen. Zwischen den verkohlten Balken und den Schleudergeschossen türmten sie einen halb steinernen, halb hölzernen Wall auf, der die Brücke in einer Tiefe von zehn Schritten sperrte. Mehr als mannsdicke Baumabschnitte ragten zwölf, fünfzehn Ellen hoch zwischen den Steinen auf - unüberwindlich für kletternde oder gar berittene Seldschuken.
»Jetzt wird uns kein Ungläubiger mehr angreifen!«, rief Bohemund von Tarent, als die Knechte zwischen Steine und Stämme bündelweise Dornenranken flochten. »Besprechen wir unter uns, welche Stellen wir belagern wollen. Und wo wir in die Stadt eindringen können.«
»Der Emir lässt die Stadt befestigen. Schon seit langer Zeit«, fügte der General hinzu. »Aus diesem Grund befiehlt er keine Ausfälle.«
»Übermut und Hoffart sind uns fremd«, sagte Bischof Adhemar. »Aber wir sind voller Gottvertrauen.«
Das Heer und der Tross hatten die fruchtbare Ebene des Orontes in Besitz genommen. Die kleinen eigenen und die großen Herden der Beute weideten, es gab Milch und Braten, frisches Brot und Butter und Wein, Nüsse und Früchte, Öl und alles, was die Pilger so lange entbehrt hatten, scheinbar im Überfluss. Tatikios ließ in seinem Lager Vorräte anlegen: Wein, Korn und Pökelfleisch, Käse und Öl; seine Kundschafter hatten sich darüber empört, dass die Franken nur die besten Bratenstücke aßen, die Reste der Schlachttiere den Hunden und Geiern überließen.
Die Schmiede schärften Messer, Dolche, Speerspitzen und Schwerter, Äxte und Kampfbeile, hämmerten Pfeilspitzen, Bolzen, Nägel und Klammern, während armenische Christen, die sich durch die südlichen Tore aus der Stadt geschlichen hatten, von den Absichten und Befehlen Yaghi-Siyans berichteten. Überall herrschte Betriebsamkeit, niemand gab sich dem Nichtstun hin. Der Emir schonte seine Krieger, ließ Tore und Mauern verstärken, zwang die Christen Antiochias zur Fronarbeit und wartete auf Verstärkung, die über die beiden freien Straßen kommen würde.
Zum Warten riet auch Bohemund. Raimund von Toulouse hingegen wollte möglichst bald einen machtvollen Angriff starten. Doch zunächst einmal geschah nichts. Fünfzehn Tage lang ungefähr kämpften weder Muslime noch Christen innerhalb oder außerhalb der Mauern; es gab nur zufällige, kleine, aber blutige Scharmützel.
Das Zelt war eingeräumt, die Pferde getränkt und auf der Weide, die Belagerungshandwerker und die Kundschafter errichteten die Befestigung um das Lager des Generals. Chersala hörte den Lärm durch die Zeltleinwand; ein gewohntes Geräusch aus vielen Lauten. Sie kannte dieses Rumoren, Hämmern, Geschrei und Fluchen wie die eigenen Seufzer. Sie ließ sich auf eine Truhe sinken und flüsterte: »Hier bin ich also. Tausend Tage weit ist Drakon. Wir finden niemals mehr zurück.«
Sie schloss die Augen und holte tief Luft. Zahllose Gedanken an Flucht und Überleben, durchmischt mit Todesfurcht, drangen auf sie ein. Jean-Rutgar, Berenger und ihre Träume von einem Leben in einem Land, in dem sie weder verhungerten oder verdursteten, weder todkrank wurden noch zu Tode kamen, drohten an den Mauern der Stadt in tausend Funken zu zersprühen und als Asche unter den Hufen der seldschukischen Reitpferde zu zerstäuben.
Eine Stunde lang hatte Chersala in schweigendem Staunen zur Stadt hinübergestarrt, die herbstliche Farbe der Bäume und die steinernen Häuser am Hang des Berges, die Schafherden und die winzig kleinen Menschen beobachtet, die umherrannten und Steine und Balken schleppten. Dort gab es weiche Lager, Ruhe, Essen und Wein und frisches Brot; dort, hinter den Mauern, brauchten sich Frauen nicht zu verkleiden, dort wuschen sie ihre Körper in warmem Wasser, das nach Blütenölen duftete, und trugen feine Kleider aus dünnen Stoffen. Dort, im Schutz der gewaltigen Mauern, durften Frauen schön und weich sein, Wein trinken und sich dem Liebsten hingeben.
Wieder seufzte Chersala und zog sich hoch, ging zum Zelteingang und sehnte sich einige Atemzüge lang mitten in die Stadt hinein. Hinter verschlossenen Türen, im Warmen, an Rutgars Seite und in seinen Armen, auf den Lippen den Geschmack des Weins und von Rutgars Küssen, seine Hände auf ihrer Haut. Sie wollte ihren Körper ansehen und fühlen können, den Blick Rutgars auf ihren Brüsten und Hüften spüren und wollte hören, dass er ihr atemlos sagte, dass er ihre Schönheit bewunderte.
Plötzlich fühlte sie sich schuldig und ausgestoßen. Sie hatte Rutgar dazu gebracht, dachte sie verzweifelt, dem Heer zu folgen, bis hierher und vielleicht weiter nach Jerusalem. Ihre Schönheit, versteckt unter männlicher Lederkleidung, und ihr unbeirrbarer Wille, mit ihm zu gehen, hatten ihn hierhergeführt. Sie hatte sich an ihm versündigt.
Zwischen dem Lagerwall und der Stadtmauer, die hoch über dem Sumpf aufragte, galoppierten Kundschafter zu den Zelten Bischof Adhemars und den Palisaden unweit des muslimischen Friedhofs, die Raimund von Toulouse' Heer schützen sollten. Die Ritter! Im Zeichen des Kreuzes würden sie weiterkämpfen bis zum letzten Atemhauch. Alle waren mit Blindheit geschlagen und vom Wahnsinn besessen. Wir sollten fortreiten, dachte sie, am Ufer des Orontes entlang, zum Hafen Sankt Simeon und auf ein Schiff, das uns nach Les-Baux bringt. Zu spät? Würde der General uns gehen lassen? Oder werden wir sterben, wenn die Muslime einen Ausfall wagen und die Ritter besiegen?
Mit dem Saum des Reiterhemdes wischte sie die Tränen von den Wangen. Ihr Blick klärte sich. Jenseits der Stadt, über den Bergen, wuchsen schwarze Wolken in die Höhe und Breite. Im Westen der Wolkenbank begannen breite Regenbänder niederzustürzen.