6

Sachte zog ich den Rollladen hoch. Außer mir war noch niemand wach.

Die Blätter der Aralie in unserem kleinen Garten glänzten üppig grün, und der einzige Kakibaum trug bereits kleine, grüne, harte Früchte.

In Gedanken versunken betrachtete ich sie.

Ich hätte mich gern mit Seiji getroffen, aber er hatte keine Zeit.

»Ich habe zu viel zu tun«, sagte er nur und legte auf.

In Tokio verging die Zeit schnell. Momos Schulfest war vorbei, und sie hatte zwei Tage frei. »Wollen wir nicht mal essen gehen?«, fragte ich sie, aber sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe zu viel zu tun.«

Dennoch hielt sie sich fast die ganze Zeit in ihrem Zimmer auf. Einmal ging sie kurz in die Stadt und kam mit einer kleinen Tüte zurück. CDs oder Bücher? Ich fragte sie nicht und sah nur zu, wie sie in ihrem Zimmer verschwand.

Mehrmals hätte ich sie gern gefragt, mit wem sie damals am Fluss gewesen war, aber irgendwann verging auch mein Drang, es zu erfahren.

Seither war sie kaum noch in die Bibliothek gegangen. Meist hielt sie sich in ihrem Zimmer auf, und ich spürte ihre Gegenwart kaum.

Ein Braunohrbülbül flog in den Kakibaum und stieß einen schrillen Schrei aus. Ein weiterer Bülbül ließ sich auf einem schrägen Ast nieder. Nach einer Weile wechselte er auf einen Ast darunter. Der erste setzte sich neben ihn. Dann huschten sie hin und her, saßen mal auf dem oberen, dann wieder auf dem unteren Ast und riefen einander zu. Schließlich gesellte sich ein dritter Vogel zu ihnen, so dass ich nicht mehr wusste, welcher Vogel wo saß oder rief.

Das Licht wirkte neu. Wohl, weil es noch so früh am Morgen war. Ein reines, noch unverbrauchtes Licht. Es roch nach irgendetwas. Mir fiel ein, dass ich gerade Niboshi - kleine getrocknete Fische - aufkochte, die ich am Abend eingeweicht hatte. Ich eilte in die Küche und drehte den Herd kleiner. Die Fische schwammen auf der Brühe. In einem zarten Schaum.

Ich drehte das Gas ab und schöpfte die Fischchen mit einem kleinen Sieb ab. Ein Windstoß ließ einen mit Magneten an der Kühlschranktür befestigten Zettel rascheln.

Die Tür zum Garten stand offen.

Wieder raschelte es. Der Zettel flatterte, beinahe hätte der Wind ihn abgerissen. Ein Bülbül schrie, und wieder fegte ein Windstoß durch die Küche.

Als Momo den Kopf senkte, glänzten die flaumigen Härchen in ihrem Nacken.

Sie mochte es nicht, wenn ich sie anfasste, und so schaute ich sie nur an.

»Oma, morgen brauche ich kein Obentō (*). Wir kochen in der Schule.«

Sie sprach jetzt fast nur noch meine Mutter an. Auch körperlich schien sie meine Nähe zu meiden.

»War ich auch so?«, fragte ich meine Mutter.

»Du warst viel unausgeglichener.«

»Ich war unausgeglichen?«

»Ja. Einmal völlig unzugänglich, dann plötzlich wieder ganz offen. Manchmal benahmst du dich wie ein kleines Kind und im nächsten Moment wie eine Erwachsene.

»Das liegt also am Alter?«

»Man macht es sich zu einfach, wenn man alles auf das Alter schiebt«, sagte meine Mutter und schlug die Augen nieder. »Es ist vielleicht eher der Anfang von etwas.«

»Der Anfang von was?«

»Der Anfang vom Ende vielleicht?«

»Vom Ende!«

»Ja. Die kleine Kei gab es nicht mehr. Das meine ich mit Ende. Aus ihr war ein anderer Mensch geworden.«

»Das klingt so gewichtig.« Ich lachte. Meine Mutter stimmte ein.

»Erwachsen zu werden ist nicht einfach. Ich fühle mich noch immer unausgeglichen.« Wieder lachten wir.

»Du würdest Momo gern öfter berühren, nicht?«, sagte meine Mutter ruhig. »Aber man darf andere Menschen nicht so einfach anfassen«, fügte sie hinzu.

Ein unerklärlicher Schauer ergriff mich, und ich sah meiner Mutter ins Gesicht. Sie sah aus wie immer.

»Auch das eigene Kind nicht? Mein eigenes Fleisch und Blut?«, fragte ich hastig.

»Ach, Kei, jetzt redest du selbst wie ein Kind.« Sie lachte wieder. »Was denkst du denn? Du warst doch früher genauso.«

Die Stimme meiner Mutter klang sanft, dennoch nahm ich eine gewisse Anspannung darin wahr. Wahrscheinlich hatte ich sie damals auch verletzt.

»Möchtest du vielleicht von den Niboshi essen? Ich habe sie mit Seetang und Sojasoße gekocht. Ein paar werden deinem Blutdruck schon nicht schaden. Sie schmecken wirklich gut zu grünem Tee«, schlug ich vor, um wieder etwas Normalität einkehren zu lassen. In Tokio gab es ein alltägliches Leben, hinter dem man sich verstecken konnte. In Manazuru nicht.

»Ach ja, eine gute Idee. Ein paar esse ich«, sagte sie in gewohntem Ton, und wir beide schlürften vorschriftsmäßig unseren Tee.

Es war noch nicht spät.

Seiji wartete in der von der Straßenbeleuchtung erhellten Dämmerung.

»Seiji!«, rief ich und stürzte in seine Arme.

»Was ist denn mit dir los?«, wunderte er sich.

»Ich wollte dich unbedingt sehen.«

»Du bist aber heute ehrlich.«

»Das bin ich doch immer.«

»Wirklich?«, sagte er und strich mir mit der Fingerspitze übers Kinn. An diesem Abend begehrte ich Seiji heftig. Verlangen nach seiner Haut, seinem Geruch, seinen Bewegungen, nach allem an ihm erfüllte mich.

»Komm, wir gehen gleich ins Hotel, noch vor dem Essen«, sagte ich und nahm seine Hand. Trotz der Kühle war sie etwas feucht. Die Kakis färbten sich bereits orange. Momo hatte meine Mutter gefragt, ob sie eine pflücken dürfe. Aber meine Mutter hatte ihr abgeraten. »Sie können ziemlich bitter sein. Weißt du noch, vor langer Zeit hat Yukino einmal eine angebissen und sofort wieder ausgespuckt.«

Ungeduldig betraten wir das Hotel und nahmen ein Zimmer. Im Aufzug küsste ich Seiji.

»Was ist mit dir?«, fragte er und wich ein wenig zurück. Der Aufzug kam mit einem Rumpeln zum Stehen. Als die Tür aufging, sahen wir, dass über einer Zimmertür am Ende des Ganges ein Lämpchen leuchtete.

»Das ist unser Zimmer. Komm. Schnell.« Ich schob Seiji vorwärts. »Was ist nur los mit dir?«, fragte er noch einmal.

»Ich möchte es so gern. Ich will mit dir schlafen«, antwortete ich hastig.

»Du meine Güte«, murmelte er, während er sein Jackett auszog. Er hängte es ordentlich auf einen Bügel und strich die Schulterpartie zurecht. Ich ließ mich auf das große Bett fallen, dass es federte.

»Ich will, ich will«, sagte ich mehrmals laut, da meine Begierde, sooft ich es sagte, etwas nachzulassen schien. Die Wirkung war jedoch nur oberflächlich. Das hartnäckige Verlangen tief in meinem Inneren blieb.

»Geh nicht weg«, bat ich.

»Ich bin noch nie weggegangen«, erwiderte Seiji ruhig.

Ich war verwirrt. War es nicht Seiji gewesen, der fortgegangen war? Aber wer dann? Ich drückte mein Gesicht an seine Brust. Er streichelte mein Haar.

»Du bist heute so lieb«, sagte ich.

»Ja, weil du dich so danach sehnst.«

»Aber wenn wir es tun, sei bitte nicht so zart«, sagte ich rasch. Seiji drückte seinen Mund auf meine Lippen. Seine große Zunge drang in meine Mundhöhle. Sie war feucht und roch gut.

Ich saugte heftig daran.

Wir liebten uns leidenschaftlich, dennoch fühlte ich mich nicht befriedigt.

Auch wenn ich erschöpft war. Mit ernsten Gesichtern und ohne uns an den Händen zu halten, verließen wir das Hotel.

»Wollen wir Fleisch essen?«, fragte Seiji.

»Das Fleisch von Tieren, die in Wald und Feld herumlaufen, was?«

»Heute Abend sind wir ganz unkompliziert.« Seiji lachte.

Auch als wir in ein Lokal gingen und etwas bestellten, spürte ich noch diese Wildheit in mir. Zuerst goss ich mir ein volles Glas Mineralwasser ein und trank es gierig aus. Als das Wasser seinen Weg durch meinen Körper fand, fühlte ich mich wohler.

»Was ist denn los mit dir?«, fragte er mich zum wiederholten Mal.

»Ich weiß auch nicht.«

»Wovor hast du Angst?«

»Angst? Ich?«

»Stimmt es nicht?«

Wortlos schaufelte ich mir das Essen in den Mund. Wenn ich einen Knochen abgenagt hatte, wusch ich mir in der Metallschale mit Wasser die Finger. Sie hinterließen nasse Flecken auf der Stoffserviette. Das schwere, scharfe Messer drang in das Fleisch ein und zerteilte es. Obwohl kein Geräusch dabei entstand, kam es mir laut vor.

»Schmeckt es dir?«

»Ja«, antwortete ich, noch immer aufgewühlt.

Mit einem Seufzer sah Seiji mir direkt ins Gesicht. Ich senkte den Blick und konzentrierte mich auf Messer und Gabel. Mit der Serviette wischte ich mir etwas Soße aus dem Mundwinkel. Die Stelle fühlte sich heiß an.

»Starr mich doch nicht so an«, sagte ich.

»Wovor hast du Angst, Kei?« Ohne auf meine Bitte einzugehen, musterte Seiji mich weiter forschend. Der Geschmack von Blut breitete sich in meinem Mund aus.

»Warum hast du Angst? Du bist doch bei mir.« Seine Stimme klang ruhig. Für einen Augenblick legte sich meine Panik. Doch schon im nächsten Moment war sie wieder da.

Weil die Erinnerung immer wieder kommt, erwiderte ich stumm. Am nächtlichen Strand von Manazuru ist mir alles wieder eingefallen.

Seiji streckte die Hand aus und wischte den Soßenrest in meinem Mundwinkel mit dem Daumen weg.

Momo war zu Hause, als ich zurückkam.

Sie betrachtete einen Kalender. Er hatte nur noch zwei Blätter. Einschließlich Oktober waren bereits alle abgerissen.

»Hast du etwas vor?«

»Nein, nichts Bestimmtes«, antwortete sie kurz.

Sie sah zuerst weg, wandte sich mir aber gleich wieder zu.

»Wie alt wäre eigentlich mein Vater, wenn er noch leben würde?«

»Wie bitte?«, entfuhr es mir. Was mich wohl so erschreckte? Die Formulierung »wenn er noch leben würde« oder die Frage nach dem Alter? Jedenfalls antwortete ich in möglichst neutralem Ton, er sei zwei Jahre älter als ich, mithin wäre er siebenundvierzig Jahre alt.

»Er hat im Herbst Geburtstag, oder?«

War November noch Herbst? Nicht eigentlich schon Winter? Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, in welcher Jahreszeit Rei geboren war. Ob Momo oft an ihn dachte? Hatte sie ihren verschwundenen Vater etwa ständig im Hinterkopf?

»Ich bin im Frühling geboren.«

»Genau, im Frühling. Würdest du gern ein Stück Kuchen essen?« Ich versuchte das Thema zu wechseln. In letzter Zeit hatten wir kaum zusammen Kuchen gegessen. Sie lehnte immer ab.

»Gerne!«, antwortete sie erfreut. Rasch, ehe ihre gute Stimmung schwand, holte ich die Teller aus dem Schrank und öffnete behutsam die Schachtel mit dem Kuchen. Hübsch garnierte Tortenstücke kamen zum Vorschein.

Momo nahm von der Maronentorte, die Seiji eigens für sie ausgesucht hatte. »Mädchen mögen so was«, hatte er in liebevollem Ton gesagt. Selbst hatte er auch Maronentorte zum Dessert gegessen.

»Schmeckt gut. Wo hast du die geholt?«, fragte sie, während sie mit der Gabel die Maronencreme abtrug.

»In Ebisu. Ich hatte beruflich dort zu tun.« Ihr gegenüber erwähnte ich Seiji nie, sondern sprach stets nur von Geschäftsterminen.

»Mit wem warst du denn dort?«

Momo wusste Bescheid. Sie wollte wissen, was sich hinter dem Wort »geschäftlich« verbarg. Sie war neugierig, denn sie konnte noch nicht ahnen, wie langweilig solche Dinge werden konnten.

»Mit einem Mann.«

»Hat er Ähnlichkeit mit meinem Vater?«

»Nein.«

Etwas blitzte auf. Es war nicht direkt ein Funke, aber es war ein schneidender Hass, der auf mich herabregnete.

»Was weißt du noch von deinem Vater?«, fragte ich, ohne darauf zu achten.

»Ich war erst drei Jahre alt. Ich kann mich nicht an ihn erinnern.«

Sie hatte recht. Sie war ja erst drei gewesen, als Rei verschwand. Sie hatte kein Objekt, auf das sie ihre Gefühle richten konnte. Meine arme kleine Momo. Schon lange hatte sie mir nicht so leid getan. Alles an ihr erregte nun mein Mitleid, ihr Mund, mit dem sie die Creme verspeiste, ihr zunehmend markantes Gesicht, die Hand mit dem schmalen Gelenk, die gereizt das Haar zur Seite strich.

Die Treppe knarrte. Meine Mutter kam herunter.

»Möchtest du auch ein Stückchen Kuchen?«, rief ich mit heiterer Stimme.

Momo ließ es noch immer Abneigung regnen.

»Im Augenblick nicht, danke«, erwiderte meine Mutter müde.

Ich erhielt einen Brief von Reis Vater.

»Ich betrachte meinen Sohn als tot. Damit ich um ihn trauern kann, habe ich einen postumen Namen für ihn ausgewählt und eine Totentafel anfertigen lassen. Bitte verzeihen Sie, dass wir nicht vorher mit Ihnen gesprochen haben. Ich werde selbst bald bei meinem Sohn sein. Sind Sie noch als seine Ehefrau registriert? Bitte tun Sie in dieser Beziehung, was Sie für richtig erachten. Bleiben Sie gesund und leben Sie wohl.«

Ich dachte an die Stadt an der Inlandsee, an deren terrassierten Hängen die Häuser sich dicht aneinander schmiegten. Die zahllosen Gassen waren mir damals wie ein Labyrinth erschienen. An den Abenden wehten von unten die Essensgerüche und -geräusche der Nachbarn ins Haus.

Dreizehn Jahre waren seit Reis Verschwinden vergangen.

Offenbar war für seine Familie die Zeit gekommen, seinen Tod zu akzeptieren.

»Sie haben eine Totentafel machen lassen«, erzählte ich meiner Mutter.

»Wie lautet sein Totenname?«

»Das haben sie nicht geschrieben.«

Rei und ich waren damals durch eine Gasse gekommen, in der außergewöhnlich viele Katzen lebten. Auf Schritt und Tritt sprangen sie aus den Vorgärten oder der offenen Kanalisation hervor. Schwarze, weiße und gefleckte.

»Wie Springteufel«, sagte ich, und Rei lachte.

Wir waren auf dem Weg, um uns seinen Eltern als frischgebackenes Ehepaar vorzustellen. Rei erzählte mir, dass sie und seine jüngere Schwester die kleine Stadt an der steilen Küste der Inlandsee noch nie verlassen hatten.

Sie servierten uns verschiedene einheimische Gerichte. Fisch aus der Inlandsee: als Sashimi (*), gegrillt oder gedünstet. Er schmeckte süßer als die Fische aus der Gegend um Tokio.

Nachdem ich eine Weile schicklich mit untergeschlagenen Beinen dagesessen hatte, waren meine Füße derart eingeschlafen, dass ich unauffällig die Beine ausstrecken musste.

Zwei Jahre später heiratete Reis jüngere Schwester und zog in eine Nachbarstadt. Bei der Hochzeit trug sie eine traditionelle Brauthaube, und ein älterer Mann sang volkstümliche Hochzeitsweisen. Rei und ich hatten die neugeborene Momo bei meiner Mutter gelassen, um an der Feier teilzunehmen. In der kurzen Zeit bis zu Reis Verschwinden bekam seine Schwester einen Sohn, seine Mutter starb, und im folgenden Jahr brachte die Schwester noch einen Jungen zur Welt. Es passierte eine Menge in dieser Zeit.

»Ob Rei wirklich tot ist?«

Ohne auf meine Frage einzugehen, bemerkte meine Mutter, dass ich nun auch schon graue Haare bekäme. Der Alltag überdeckte so vieles. Dinge, denen man nicht direkt ins Auge sehen wollte.

»Warum schreibst du nicht mal einen Roman?«, fragte Seiji.

»Ein paar Kurzgeschichten habe ich ja schon geschrieben, aber etwas Längeres? Ich weiß nicht.«

Wir saßen in einem Café. Wir hatten schon ewig nicht mehr über berufliche Dinge gesprochen. Vielleicht seit fast zehn Jahren nicht, als ich meine ersten Texte veröffentlicht hatte.

»Wie kommst du gerade jetzt darauf, dass wir wieder Zusammenarbeiten könnten?«

Ich hatte es die ganze Zeit vermieden, mit ihm zu »arbeiten«. Es gibt sicher Menschen, die es nicht stört, Liebe und Arbeit zu vermischen, aber ich gehöre nicht zu ihnen. Ich hatte angenommen, Seiji sei der gleichen Ansicht.

»Eigentlich gibt es keinen besonderen Grund«, sagte er. »Nur...«.

»Nur?«

»Deine Texte gefallen mir ziemlich gut, Frau Yanagimoto.«

Das Wort »ziemlich« versetzte mir einen unangenehmen Stich.

»Aber warum gerade jetzt?«

»Ich habe eigentlich immer wieder mal daran gedacht.«

Sprich nicht wie ein Fremder, hätte ich beinahe gesagt. Doch im Grunde verhielt sich Seiji immer so. In den ganzen zehn Jahren hatte sich daran nichts geändert. Noch immer lachte er lautlos und sprach in diesem höflichem Ton mit mir.

»Ist es aus mit uns?«, rief ich erschrocken. Ich geriet in Panik.

»Aber nein«, antwortete er ruhig.

»Ich habe nicht an Rei gedacht. Ehrlich, überhaupt nicht.« Ich schrie es fast.

»Wirklich nicht?«

Etwas sprühte, wie bei Momo. Wieder waren es keine Funken, aber auch Seijis Gefühle regneten wie kleine Geschosse auf mich herab.

»Du hast einmal von deiner Eifersucht gesprochen.«

»Eifersucht kann man es vielleicht nicht nennen.«

»Was ist es dann?«, fragte ich. Einmal losgelassen, schossen mir Seijis Gefühle weiter entgegen.

»Vielleicht habe ich einfach keine Hoffnung mehr.«

Hoffnung? Ich verspürte einen Stich im Magen. Die Wörter »ziemlich« und »Hoffnung« verursachten den gleichen starken Schmerz.

»Komm, wir gehen. Es ist so heiß hier. Gehen wir ein Stück an der frischen Luft«, schlug ich fast flehend vor. Seiji senkte den Kopf und öffnete seinen Terminkalender. Sein starres Profil war schön.

»Seiji!« Leise rief ich seinen Namen und hakte mich bei ihm ein.

»Nein.« Ich drückte meinen Kopf an seine Brust. »Verlass mich nicht. Bitte nicht.«

»Habe ich je Anstalten gemacht, mich von dir zu trennen?«, fragte er und winkte ein Taxi herbei. Das Ende des Satzes »von dir zu trennen« ging im Lärm des Taxi unter, das neben uns anhielt.

»Bahnhof Tokio«, wies er den Fahrer an.

»Nein, nicht zum Bahnhof. Irgendwohin, wo es warm ist«, flüsterte ich Seiji ins Ohr.

»Eben war dir doch noch zu heiß.«

Erschrocken blickte ich ihn an. Er starrte zurück. Er war blass.

Warum schlägst du mich mit Worten? Es war eine stumme Frage, die ich an seine Augen richtete.

Weil ich verzweifelt bin, antworteten sie.

Du wirst deinen Mann nie vergessen.

Das sagten Seijis weit geöffnete Augen mir ganz deutlich. Plötzlich bremste das Taxi. Ich ließ mich gegen Seiji fallen. Und setzte mich sofort wieder auf. Ich ärgerte mich. Warum hatte er mich ohne jede Vorwarnung angegriffen? Wie bei einem Tier, das von einem anderen angegriffen wird, stieg heftige Wut in mir auf.

Doch gleich verebbte sie wieder.

Seiji, sagte ich. Seiji, bitte, geh nicht.

»Du bist ein unmöglicher Mensch. Du lässt dich auf nichts und niemanden ein«, sagte er leise.

Warum? Ich zitterte. Meine Wut hatte mich alle Kraft gekostet.

»Du vertraust nichts und niemandem.«

Der dunkelrote Backstein des Bahnhofs leuchtete matt im Schein der untergehenden Sonne.

Seiji, sagte ich noch einmal. Er nahm das Geld aus seinem Portemonnaie, wartete auf die Quittung und stieg dann ruhig aus dem Taxi.

Nein, murmelte ich. Seiji kehrte mir den Rücken zu und ging auf das Bahnhofsgebäude zu. »Entschuldigen Sie«, sagte der Taxifahrer. »Wohin soll es jetzt gehen?«

Ein großer Lastwagen fuhr mit Getöse vorbei. Der kalte Luftzug strich durch meinen hochgestellten Kragen.

Seiji ging weiter. Nein, murmelte ich wieder.

Ich stieg aus dem Taxi und überquerte die Fahrbahn. Ein blauer PKW hupte. Ich schaute auf, und der Fahrer sah mich mit zusammengepressten Lippen vorwurfsvoll an.

Als unsere Blicke sich trafen, entspannten sich seine Züge, und sein Ausdruck wurde neutral.

Erstaunlich, wie deutlich ich das alles sehen konnte. Ich vermochte die kleinste Muskelbewegung in seinem Gesicht zu erkennen. Der Mann umfasste das Lenkrad und fuhr weiter. All das spielte sich innerhalb von Sekunden ab, dennoch kam es mir vor wie eine Ewigkeit.

Ich betrat ein Blumengeschäft auf der anderen Straßenseite und kaufte weiße Blumen. Sie hatten weniger Blütenblätter als Chrysanthemen, aber mehr als Gerbera. Wie sie hießen, wusste ich nicht. Ich nahm einen kleinen Strauß und bezahlte mit einem Tausend-Yen-Schein.

Ich weiß noch, dass ich das Wechselgeld in mein Portemonnaie steckte. Ab dann habe ich eine Gedächtnislücke.

Als nächstes sehe ich mich auf einer Bank zwischen Hochhäusern sitzen. Sie ist von hohen Bäumen umgeben. Ihre Schatten sind schwärzer als die einsetzende Dunkelheit.

Gedankenlos zupfte ich die weißen Blütenblätter aus.

Nach Sonnenuntergang kam niemand mehr hierher. Tagsüber aßen wahrscheinlich die jungen Frauen aus den Büros hier ihr Mittagessen und plauderten. Aber jetzt war es ganz still, es ging nicht einmal eine Brise.

Es sah hübsch aus, wie die weißen Blüten durch die Dunkelheit fielen. Ganz sachte segelten sie zu Boden. Eine nach der anderen.

Es waren viele, und meine Finger hatten unablässig zu tun.

Zu meinen Füßen bildete sich ein kleiner weißer Blütenberg. Ich musste daran denken, wie ich Momo einmal, als sie zwei Jahre alt war, ermahnt hatte, die Blüten einer gelben Blume, die sie auf der Wiese gepflückt hatte, nicht auszurupfen. Das tut der Blume weh, hatte ich zu ihr gesagt. Den weißen Blumen tut es ebenso weh wie den gelben, sagte ich nun im Stillen zu mir selbst.

Stumm, nur in meinem Kopf.

Unangenehm. Meine Stimme klang aufgesetzt. Auch die Art, wie ich es gesagt hatte.

Ich wusste nichts von dem Schmerz, den Blumen empfanden. Ich hatte keine Ahnung davon. Eigentlich hatte ich überhaupt kein Recht, Momo zu ermahnen. Aber sie hatte aufgehört. »Tut Blumen weh«, hatte sie gesagt und gelächelt.

Wir waren aufgestanden und hatten die Wiese verlassen. Ihre Blumen warf Momo fort. Ich tat, als hätte ich es nicht gesehen. Dann waren wir einträchtig Hand in Hand nach Hause gegangen.

Meine Mutter und Momo waren zu Hause, als ich zurückkam.

»Ich bin wieder da!«, rief ich.

»Hallo!«, ertönte es im Chor.

Als ich ins Wohnzimmer trat, merkte ich, dass sich etwas verändert hatte.

An einer ehemals kahlen Wand hingen Fotografien.

»Rei!«, rief ich unwillkürlich aus.

Sie hatten Fotos von früher an die Wand gepinnt.

»Wir haben sie beim Aufräumen gefunden.« Meine Mutter wich meinem Blick aus.

»Ich habe sie aufgehängt«, fügte Momo rasch hinzu.

Es gab nicht nur Fotos von Rei, sondern auch eins von mir mit Momo als Baby im Arm. Dann eins, auf dem Reis Eltern vor halbvollen Gläsern an einem japanischen Tisch saßen. Eines der Fotos zeigte die Söhne meiner Schwägerin am Feiertag für die Sieben-, Fünf- und Dreijährigen. Sie lachten. Rei war schon nicht mehr da gewesen, als meine Schwägerin es geschickt hatte.

Momo hatte die Fotografien mit Absicht unregelmäßig angeordnet, so dass es künstlerisch wirkte.

Auch ein Foto von meinen Eltern und mir hatte sie aufgehängt. Ich konnte mich noch genau an den Tag erinnern, als es gemacht wurde. Es war in den Frühjahrsferien, bevor ich in die elfte Klasse kam. Mein Vater, der damals in einer anderen Stadt arbeitete, war übers Wochenende nach Hause gekommen. Wir wollten in einem Restaurant in Ginza zu Abend essen und hatten uns hübsch gemacht. Vorher sollte im Garten ein Foto aufgenommen werden. Die Frühlingsluft war noch kühl. Mein Vater stellte den Apparat auf einen Torpfosten und schaltete auf Selbstauslöser. Der erste Versuch schlug fehl. Vor dem zweiten wandte meine Mutter ein, drei Personen auf einem Bild brächten Unglück. »Kei, hol doch die kleine Puppe aus dem Flur. Die aus Glas. Man muss sie nicht sehen, du kannst sie einfach in der Hand halten. Hauptsache, sie ist mit dabei.«

Ich lief in den Flur und holte die Puppe. Sie fühlte sich kalt an. Das Foto, auf dem nur wir drei zu sehen waren, hatte mich beunruhigt, weil wir eigentlich vier waren.

Fünfzehn alte Fotos hingen an der Wand.

»Die gab es also noch«, sagte ich.

Momo sah mich an. »Wenn ich sie mir so an der Wand betrachte, kommen sie mir sehr wirklich vor.« Sie sprach das Wort »wirklich« mit Nachdruck aus.

»Sie bilden ja auch die Wirklichkeit ab. So war es ja.«

Momo senkte den Kopf. »Aber ich kann mich nicht daran erinnern, ob es wirklich so war oder nicht.«

Meine Mutter lachte etwas schrill.

Rei hielt den Blick starr auf etwas gerichtet. Was es war, wusste ich nicht mehr.

Ob Seiji mir den Gefallen tun würde, sich mit mir zu verabreden?

Ich war selbst überrascht von meiner Ausdrucksweise. Taten wir uns denn gegenseitig nur einen Gefallen? War das die Basis unserer Beziehung gewesen?

Nein, das konnte nicht sein. Ich schüttelte den Kopf.

Also nahm ich all meinen Mut zusammen und rief ihn an. Ich hatte früher einmal zu ihm gesagt, ich würde nicht gern mit ihm telefonieren, weil ich ihn dabei nicht sehen könne.

»Wie du meinst. Mir ist alles recht«, hatte er geantwortet.

Ich musste ein bisschen lachen. Aber ihm schien wirklich alles recht zu sein. Er wirkte stets ruhig und ausgeglichen, so als würde er sich nie aufregen.

»Ähem...«, setzte ich an.

»Im Augenblick passt es mir nicht«, unterbrach Seiji mich förmlich.

»Aber...«, beharrte ich.

»Es passt wirklich nicht.«

Natürlich konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Ich lauschte auf Geräusche im Hintergrund, aber es war nichts zu hören. Ob er im Büro war oder unterwegs? In einer Besprechung war er wohl nicht, dann hätte er sich sofort gemeldet.

Oder hatte er den Konferenzraum verlassen? Aber das hätte er doch nicht getan, sofern er entschlossen war, das Telefonat gleich wieder zu beenden.

Ich hasse es zu telefonieren, dachte ich einmal mehr.

»Könntest du mich kurz anrufen, wenn du wieder Zeit hast?«

Seiji zögerte. Als würde er mich gleich bitten, ihn nicht mehr anzurufen.

Warum Seiji sich so verhielt, war mir ein Rätsel.

Auch warum er gesagt hatte, ich würde mich auf nichts einlassen, war mir unverständlich. Das stimmte nicht. Sonst hätte ich doch kein Kind auf die Welt bringen können. Auch die Beziehung zu ihm hätte ich nicht eingehen können. Ich würde nicht einmal atmen, um zu leben.

Dennoch beschlich mich die Erkenntnis, dass ich vielleicht wirklich kein Vertrauen zu nichts und niemandem hatte.

Seit dem Tag? Seit dem Tag, an dem Rei verschwunden war?

Ruhig, aber entschieden beendete Seiji das Gespräch. Er kann ohne mich leben, dachte ich, und musste ein bisschen weinen.

»Du bist eine Närrin«, sagte die Frau. Sie war schon länger nicht mehr bei mir gewesen.

»Wenn du die Sache mit Rei meinst - das geht dich gar nichts an«, erwiderte ich etwas beleidigt.

Die Frau lachte. »Die Lebenden sind ständig beschäftigt.« Sie lachte wieder.

Tatsächlich hatte ich unentwegt mit meinem Leben zu tun. Morgens, mittags, abends, nachts und wieder morgens. Ständig änderte sich die Stimmung, immer war etwas anderes los. Aber schließlich trägt man ja auch nicht jahrein jahraus den selben Hut.

»Mit Momo ist jetzt auch alles anders«, fuhr ich fort, obwohl ich mir von der Frau kein Verständnis erhoffte.

»Ja, mit dem eigenen Kind ist es besonders schwierig«, sagte sie mitfühlender, als ich es erwartet hatte. »Man freut sich und frohlockt, wenn es sich gut entwickelt, und dann eines Tages - husch - ist es fort.«

Vor mir erschien Momos Gesicht. Es war mir abgewandt. Die Linie von ihrem Ohr bis zur Wange war weich, dennoch drückte sich ihr unbeugsamer Wille darin aus.

Gestern noch war mein Herz wegen Rei in Aufruhr, heute litt es wegen Seiji. Gestern hatte ich Momo noch fest im Arm gehalten, heute musste ich hilflos zusehen, wie sie sich von mir entfernte.

»So vieles hält mich in Atem. Ich bin wirklich eine Närrin.«

»Alle leiden unter diesen Dingen. Dieser Seiji - so heißt er doch, oder? - ist meiner Meinung nach ebenfalls ein Narr. Warum weist er dich so hartnäckig zurück?«, fragte die Frau.

Wieder verspürte ich diesen Schmerz in der Magengrube. Das Wort »zurückweisen« tat weh.

»Gibt es denn überhaupt etwas, das sich nicht verändert?«, fragte ich. Sie wiegte den Kopf. Es hätte ja oder nein heißen können, vielleicht auch weder noch.

»Einfach ins Meer werfen! Wie wäre das?«, sagte sie schließlich. »Es ist ein gutes Gefühl, etwas weit hinaus ins Meer zu werfen.«

Ich dachte daran, wie sie ihre Zwillinge ins Meer geworfen hatte. Die Wellen waren hoch. Zuerst hatte sie sie liebevoll an sich gedrückt und dann ohne jedes Zögern von sich geschleudert. Mit einer geschmeidigen Armbewegung. Nacheinander beide Kinder von sich geworfen. Sie waren sofort versunken.

Seiji meldete sich nicht. Einen Monat, zwei Monate lang.

Das neue Jahr brach an.

»Nun bin ich wieder ein Jahr älter«, sagte meine Mutter. »Im nächsten Jahr werde ich siebzig.«

»Warum wirst du auf einmal zwei Jahre älter?«, fragte Momo verständnislos.

»Zu Neujahr rechnet man automatisch ein Jahr hinzu. So zählt man das Alter eines Menschen«, antwortete meine Mutter.

»Versteh ich nicht.« Momo lachte. »Warum haben die Leute früher ihr Alter so ungünstig berechnet?«

»Aha, ich bin also von gestern?« Meine Mutter stimmte in Momos Lachen ein. »Früher galt ein hohes Alter als glückverheißend. Deshalb machte man sich wohl gern ein bisschen älter«, fügte sie hinzu. Momo nickte ernst.

Ich musste auch lachen, weil es mir absurd erschien, wie unbekümmert sie über Belanglosigkeiten plauderten, während ich so unglücklich wegen Seiji war.

Meine Mutter und ich bereiteten das Neujahrsessen gemeinsam vor. Neben dem Kasten mit verschiedenen kleinen Speisen gab es natürlich Zoni, die traditionelle Suppe mit Gemüse und Reisklößen.

»Und warum gibt es bei uns keine Seebrasse und keine Garnelen zu Neujahr?«, murrte Momo.

»Die sehen zwar lecker aus, aber schmecken tun sie nicht besonders«, erwiderte meine Mutter.

»Wirklich? Aber bei den fertigen Neujahrskästen, die man im Laden kauft, sind immer Garnelen dabei, manchmal sogar eine ganze Brasse.«

Ich dachte an die Zoni, wie man sie in Reis Heimat zubereitete. Am ersten Neujahr nach unserer Hochzeit hatte ich sie auf diese Weise gekocht - mit einem Seetang-Fond, heller Misopaste, ungerösteten runden Reisklößen, Rettich und leuchtend roten Karotten. Für mich schmeckte sie ungewöhnlich, aber gut. Am zweiten Feiertag machte ich eine klare Suppe mit Chinakohl, Hähnchenfleisch, Dreiblätterkraut und gerösteten Reisklößen nach Tokioter Art, wie ich es von meiner Mutter gelernt hatte.

»Zu Neujahr ist die Luft immer rein.« Rei legte sich auf die Tatami. Sein Gesicht war vom Alkohol gerötet. »Tagsüber hat Sake eine stärkere Wirkung«, erklärte er und fing sogleich an zu schnarchen.

Ob Seiji die Feiertage mit seiner Familie verbrachte?

Der Gedanke versetzte mir einen Stich. Bisher war ich nie eifersüchtig auf seine Frau oder seine Kinder gewesen. Überhaupt war Familie mir ein fremder Begriff. Die Familie, in die ich hineingeboren war, hatte ich nicht selbst gegründet, und mein Versuch, eine eigene Familie zu gründen, war gescheitert. Ich hatte nie eine Familie gehabt, die wirklich zu mir gehörte.

Und jetzt war ich eifersüchtig.

Nicht etwa, weil ich keine Familie mit Seiji hatte, sondern weil seine Familie das Recht hatte, mit ihm zusammen zu sein.

Unser Neujahrskasten wies bereits einige Lücken auf. An diesen Stellen schimmerte feucht der Boden des Lackkastens hindurch. Doch sobald ich die Fächer aufgefüllt hatte, waren die Lücken vergessen.

Ich fühlte mich nicht wohl. Noch immer verspürte ich dieses Stechen im Magen.

»Er ist da, auch wenn er nicht da ist.«

Tippte ich in meinen Laptop.

Seiji hatte mir geraten, einen Roman zu schreiben. Obwohl die Neujahrsfeiertage bereits vorüber waren, hatte er sich noch nicht wieder gemeldet. Vor längerer Zeit hatte ich einmal eine Geschichte über eine Frau geschrieben, die in ihrem Garten Blumenzwiebeln - Krokusse - pflanzte. Doch noch ehe sie aufgingen, verließ die Frau ihre Familie. Hatte ich diese Geschichte geschrieben, weil Rei uns verlassen hatte? Bisher war mir nicht bewusst gewesen, dass darin eine Frau das Gleiche tat, was Rei getan hatte.

»Sie ist nicht glücklich geworden«, sagte Seiji. Er hatte sie erst längere Zeit nach ihrem Erscheinen gelesen, da ich sie nicht für seinen Verlag geschrieben und ihm auch nichts davon erzählt hatte. Dennoch war er darauf aufmerksam geworden.

»Wer?« Ich wusste nicht sofort, von wem die Rede war.

»Diese Frau, die ihre Familie verlassen hat.«

Dabei hatte ich gar nicht geschrieben, was aus der Frau geworden war. Allerdings hatte ich mein ganzes Herz in eine Szene gelegt, in der der verlassene Ehemann versunken die tiefgelb leuchtenden Krokusse betrachtet.

»Deine Geschichte vermittelt keine positive Stimmung.«

Natürlich könne eine Frau, die ihre Familie verlassen habe, nicht so einfach wieder glücklich sein, hatte ich damals geantwortet. Seiji hatte gelächelt, und anschließend bedrückt ausgesehen.

Auch wenn er nicht da ist, ist er da.

In der zweiten Zeile änderte ich die Reihenfolge der Satzteile.

Wie sollte ich überhaupt schreiben? So beschäftigt mit meinem Leben, wie ich es war. Wie konnte ich eine Welt erschaffen, die nicht existierte? Rei, der nicht da und doch da war, und Seiji, der da war und doch nicht da. Ich war verwirrt und unglücklich und sehnte mich entsetzlich nach Seiji.

Es überraschte mich selbst, wie sehr ich an ihm hing. Wahrscheinlich lag es daran, dass er da war. Wäre er nicht mehr da, würde meine Sehnsucht ihren Gegenstand verlieren.

Einfach ins Meer werfen?

Ich musste an das denken, was die Frau gesagt hatte.

Einfach ins Meer werfen? Sollte ich?

Ich hörte Seijis Stimme.

Nicht am Telefon. Ich hatte in einem anderen Verlag etwas zu erledigen. Als ich anschließend in den Aufzug stieg, vernahm ich sie.

»Wir müssen feiern, nicht wahr?«, sagte die Stimme.

Ich schaute auf, aber mein Blick fiel nicht auf Seiji, sondern auf einen fremden, gut aussehenden Mann. Ich starrte ihn an.

»Was haben Sie denn?«, fragte der Mann.

Als wir das Erdgeschoss erreichten, waren alle anderen Fahrgäste bereits ausgestiegen. »Ihre Stimme«, sagte ich leise.

»Was ist denn mit meiner Stimme?«, fragte er und sah mir in die Augen.

»Sie klingt genau wie die eines Mannes, den ich kenne.«

»Was denn für ein Mann?«

»Ein Mann, dessen Stimme ich gern hören würde. Aber das ist nicht möglich.«

Das hatte ich eigentlich nicht sagen wollen. Dass es mir herausgerutscht war, lag nicht an der Ähnlichkeit seiner Stimme mit der Seijis, sondern an der Haltung des Mannes.

»Ich stelle Ihnen meine zur Verfügung«, sagte er und legte unvermittelt den Arm um meine Hüfte. Bei ihm wirkte es ganz natürlich. Wir gingen direkt in ein Hotel.

Ich war schweißgebadet.

Nie hätte ich es für möglich gehalten, einfach so mit einem fremden Mann zu schlafen, wo ich so lange Zeit nur mit Seiji zusammen gewesen war.

Aber es ging ganz einfach.

Also war es auch für Seiji und Rei ganz einfach.

Sich von mir zu entfernen. An einen Ort, wo ich sie nicht sehen konnte.

»Du bist attraktiv«, sagte der Mann.

»Das kommt dir so vor, weil ich es wollte.«

»Ich würde das gern wiederholen.«

»Aber besser als heute wird es nicht werden«, erwiderte ich ehrlich.

»Das genügt mir. So ist es ganz normal. Vorstellung und Realität klaffen ohnehin meist auseinander. Und was wirklich ist, weiß sowieso kein Mensch«, sagte der Mann mit ernster Miene.

Kein Mensch weiß, was wirklich ist und was nicht.

Ich musste an Momo denken. Sie hatte etwas Ähnliches gesagt wie der fremde Mann. Sie hatte es anders ausgedrückt, doch wenn man es zu Ende dachte, lief es wahrscheinlich auf das Gleiche hinaus.

»Also, wir sehen uns«, sagte ich mit einem Lächeln zu ihm, auch wenn ich genau wusste, dass ich ihn nie Wiedersehen würde.

Obwohl ich gründlich geduscht hatte, stieg ein leichter Geruch nach Schweiß von meinen Achseln auf.

Ich war gerade dabei, meine Schlafanzughose auszuziehen. Ein munteres Klingeln ertönte, und ich hüpfte, das linke Bein noch in der Hose, eilig zu meinem Mobiltelefon.

Ich wollte bei meiner Morgentoilette auch gleich Wäsche waschen. Hausarbeit lenkte mich von meinen dauernden Gedanken an Seiji ab. Deshalb ging ich in letzter Zeit kaum aus. In der feuchtwarmen Luft im Haus konnte ich alles vergessen.

Wer wohl so früh am Morgen anrief? Den Pyjama noch am Bein, hob ich ab.

Es war Seiji.

»Oh, guten Morgen!«, sagte ich mit heiterer Stimme. Beinahe hätte ich mich dafür entschuldigt, dass mir die Schlafanzughose noch am Bein hing, aber das wollte ich Seiji lieber nicht sagen.

»Entschuldige, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Geht es dir gut?« Er sprach wie immer in einer Mischung aus förmlich und vertraulich.

»Was ist denn? Ist was passiert?«, fragte ich beunruhigt. Seiji war kein Mensch, der so mir nichts dir nichts zur Tagesordnung zurückkehren konnte, als wäre nichts geschehen. Meine Sorge um ihn überwog nun die Angst und die Enttäuschung, die mich gequält hatten, weil er nicht mehr anrief.

»Nein, gar nichts.«

Wärme durchströmte meinen ganzen Körper, so als hätte ich eine heiße Suppe gegessen.

»Ich bin sehr froh, deine Stimme zu hören«, sprudelte ich hervor, ohne nachzudenken. Seiji schwieg. Ich fühlte mich abgewiesen.

»Was macht dein Roman?«

»Mein Roman?«, wiederholte ich, trotz der Zurückweisung erfreut über seinen Anruf.

»Arbeitest du daran?«

»Ein wenig.«

Der Roman, von dem ich bisher zwei Zeilen geschrieben hatte. Seiji würde mich endgültig verlassen, dessen war ich mir sicher, während ich auf seine Stimme lauschte. Und dennoch war ich froh. Einfach nur, weil ich seine Stimme hörte.

Leb wohl, dachte ich, derweil ich mein linkes Bein von der Hose befreite. Ich warf sie in die oben offene Waschmaschine. Nachdem ich die Maschine eingeschaltet hatte, gab ich einen Messbecher Waschmittel hinzu. Ich umfasste meinen nackten Oberschenkel. Er fühlte sich geschmeidig und weich an. »Könntest du ihn einmal lesen, wenn er fertig ist?«, sagte ich zu Seiji und legte auf. Was er wohl so früh am Morgen gewollt hatte?

Die Trommel drehte sich, und kleine Strudel entstanden. Das Wasser war kalt an diesem winterlichen Morgen. Das Waschpulver löste sich nur schlecht auf und bildete weiße Klümpchen. Es schäumte und spritzte.

Ich hielt mich an der Badzimmertür fest und dachte an Seijis weiche Lippen, die sich anfühlten wie fleischige Blütenblätter. »Seiji!«, rief ich. Niemand antwortete. Niemand war da. Alle verließen mich und gingen fort.