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Ich sage es dir nicht.

Mehr bekam ich aus Momo nicht heraus. Ich konnte fragen, sooft ich wollte, mit wem sie auf der Wiese gewesen sei, sie gab mir stets die gleiche Antwort. Ich sage es dir nicht. Weil ich nicht will.

Als ich ihr ihre Lüge, sie sei in der Bibliothek, vorwarf, entschuldigte sie sich. »Tut mir leid. Aber bis sechs war ich wirklich in der Bücherei. Ich habe sogar ein bisschen gelernt.«

Die Formulierung »sogar ein bisschen« belustigte mich etwas. Dennoch war ich verstört. Ich wusste schon gar nicht mehr so genau, weshalb ich mit Momo schimpfte. Weil eine Minderjährige unter elterliche Aufsicht gehörte? Oder weil ein Mädchen fleißig lernen und sich nicht an gefährlichen Orten herumtreiben sollte? Oder wegen meiner Doppelmoral, was das Lügen anging?

»Ich sage es dir nicht«, sagte mir Momo ins Gesicht. Schwach. Ich. Als Mutter. Vor dem Verschwinden meines Mannes war ich viel stärker gewesen. Als Momo noch klein war, hatte ich mit ihr geschimpft, ohne mir groß Gedanken zu machen. Von Anfang an hatte ich genau gewusst, wann und wie ich mein Kind schelten musste. Zumindest hatte ich das geglaubt.

Früher hatte ich auch nie darüber nachgedacht, was es bedeutet, eine Familie zu sein. Damit war es wohl genau das Gleiche. Erst wenn man etwas verloren hat, beginnt man darüber nachzudenken. Und je mehr man nachdenkt, desto unverständlicher wurde es.

»Wer war das?«, fragte ich wieder.

Momo schüttelte den Kopf. »Das sage ich dir nicht«, antwortete sie kraftlos. Offenbar hatte sie es satt, sich wiederholen zu müssen, und ich bekam das Gefühl, sie grundlos zu quälen.

»Wirst du es mir irgendwann einmal sagen?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Momo mit leiser Stimme.

Sie weiß Bescheid, schoss es mir durch den Kopf.

Sie hatte keine Ahnung gehabt. Aber jetzt wusste sie Bescheid. Ich empfand Mitleid.

Früher hatte ich diese Ahnungslosigkeit für bemitleidenswert gehalten. Aber das stimmte nicht. Bescheid zu wissen war viel trauriger.

Ich legte Momo die Hand auf die Schulter. Sie zuckte ein wenig zusammen, und ich spürte ihren Widerstand, spürte, dass sie das Gewicht meiner Hand nur duldete.

Die letzten Arbeiten wurden geschrieben, dann kam die Abschlussfeier. Momo war ein ganzes Stück gewachsen.

Als ich sagte, sie sei nun so groß wie ich, wich sie aus. Wahrscheinlich wollte sie nicht mit mir verglichen werden.

»Mich hat sie schon vor einem Jahr überholt, stimmt’s?«, rief meine Mutter aus der Küche.

»Stimmt«, sagte Momo und gesellte sich zu ihr. Besteck klapperte. Leises Gelächter. Durch die Wand konnte ich Momos Lachen nicht von dem meiner Mutter unterscheiden. In diesem Moment erschien die Frau.

»Bald ist es soweit«, sagte sie. Sie schwebte in der Tür zur Küche. Normalerweise waren die Muster ihrer Kleidung verschwommen, aber heute konnte ich es deutlich erkennen. Sie trug ein anliegendes Kleid mit Sonnenblumen, unter dem sich ihre üppigen Oberschenkel abzeichneten, und auf einer ihrer nackten Zehen war eine große Schwiele, die sehr lebendig wirkte.

»Was ist bald soweit?«, fragte ich.

Die Frau schielte. »Dass das Schiff ablegt.«

»Das Schiff?«

»Ich hatte dir davon erzählt.«

Momo und meine Mutter standen nebeneinander, mit dem Rücken zu mir. Momos Rücken war leicht, der meiner Mutter tief gebeugt. Wasser rauschte, und ich hörte, wie etwas gehackt wurde.

»Hier leben nur Frauen«, murmelte die Frau. Sie neigte den Kopf und drehte sich schwebend in der Hüfte. Das Sonnenblumenmuster auf ihrem Kleid verschob sich.

Ich musste daran denken, wie Momo dem Laptop einen Jungennamen gegeben und gesagt hatte, es gebe ja sonst kein männliches Wesen in der Familie. Die Momo von damals existierte nicht mehr. Es hatte sie gegeben, aber jetzt gab es sie nicht mehr.

Wie war das mit meinem Mann? Nach seinem Verschwinden hatte ich ihn nie mehr gesehen und war wie abgeschnitten von ihm. Ich hatte aber nicht das Gefühl, dass er »nicht mehr da« war. Für mich war er »noch nicht da«, weil er vielleicht irgendwann auftauchen würde.

Nur wer in der Gegenwart präsent ist, dessen vergangene Gestalt kann verschwinden. Wenn jemand jedoch nicht anwesend ist, bleibt sie präsent. Man kann sie nirgendwohin verschwinden lassen. Obwohl die Person gar nicht da ist, verschwindet sie einfach nicht.

»Das Schiff«, sagte die Frau wieder.

»Es geht nicht anders. Ich muss fahren. Nach Manazuru«, sagte ich.

Die Frau verschwand. Im gleichen Augenblick begann es zu regnen.

Die Regenzeit war vorüber, doch es regnete immer weiter.

Momo blieb fast die ganzen Sommerferien zu Hause und hörte Musik. Sie stellte den Ton ab und steckte sich Kopfhörer in die Ohren, aus denen hin und wieder rhythmische Geräusche drangen.

Außerdem schlief sie viel. Wenn ich in ihr Zimmer schaute, weil sie nicht reagiert hatte, als wir sie zum Essen riefen, lag sie meist ausgestreckt auf dem Bett. Ihre gebräunten Beine schauten unter der dünnen Decke hervor, und wenn ich ihren Namen rief, drehte sie sich um.

In diesen Ferien wuchs sie noch weiter. Wie eine Pflanze, sagte meine Mutter. Vielleicht wegen des Regens? Sie gedeiht gut.

»Ich fahre nach Manazuru«, erklärte ich meiner Mutter.

»Wirklich?«, antwortete sie. »Du fährst ziemlich oft dorthin.«

»Es zieht mich dorthin.«

Ich entschied mich für einen Termin, ohne Seijis Antwort abzuwarten, und wollte telefonisch ein Zimmer bei den Sunas reservieren.

Leider ist an dem Tag alles voll, sagte der mutmaßliche Sohn. Ich versuchte es noch bei einigen anderen Unterkünften, aber alle waren ausgebucht.

Als ich in einem für seine Fischgerichte bekannten Gasthaus anrief, erfuhr ich, dass an dem betreffenden Tag ein Fest stattfand. Zum Schluss fiel mir noch das Strandresort ein, in dem ich mit Momo übernachtet hatte. Ja, wir haben noch etwas frei, hieß es. Ein Einzelzimmer, drei Nächte. Sehr wohl.

Vielleicht bekam man dort so mühelos ein Zimmer, weil es etwas weiter weg vom Hafen lag?

»Vier Tage bleibst du?«, fragte meine Mutter, wenn auch nicht gerade vorwurfsvoll, so doch wenig begeistert.

»Ihr müsst mich jetzt fahren lassen. Tut mir leid«, sagte ich nun auch etwas spitz.

Immer nur wir drei Frauen im Haus - mit der Zeit erdrückte mich diese Situation. Bisher war ich noch nie drei oder vier Tage fort gewesen. Kein einziges Mal seit Reis Verschwinden und seit wir bei meiner Mutter wohnten.

»Nimm doch nicht alles so schwer«, sagte meine Mutter mit einem halben Lachen. Ich tat ihr leid. Ihre arme Tochter. Die arme Kei.

Die ständige Feuchtigkeit hatte den Farbton des Fußbodens vertieft. Meine Lider wurden schwer.

Am Morgen hatte es noch geregnet, doch inzwischen war es trocken.

Ich saß links in Fahrtrichtung in einem Zug der Tokaidō- Linie und blickte, einen Arm ans Fenster gelehnt, auf das Meer, das ab und zu zwischen den Häusern und Bergen aufblitzte.

Es glitzerte, schien wie von unzähligen Schuppen bedeckt. »Tschüss«, hatte Momo mir beim Abschied zugerufen. In letzter Zeit kam es häufiger vor, dass sie sich abwandte, wenn ich sie ansprach. Dann wurden meine Fingerspitzen kalt. Wenn sie sich abwandte. Wie schwach ich doch bin. Dachte ich mit meinen kalten Fingern. Dennoch war Momo süß. Frech, aber süß.

»Tschüss« - ich hatte ihre Stimme noch im Ohr. Je weiter der Zug vorankam, desto leichter fühlte ich mich. Mein Geist, mein Körper, alles fühlte sich viel leichter an. Warum hatte ich ein Kind bekommen? Davor hatte ich von alldem nichts gewusst.

Wie auch immer, ich konnte nicht entkommen. Ich musste diese Last tragen. Allerdings war das so schwer auch wieder nicht, eher kompliziert. Umgekehrt hätte man auch sagen können, dass Momo mit mir ihre Last hatte. Das war nicht eindeutig zu entscheiden.

»Zu viel Eindeutigkeit ist auch öde«, sagte die Frau.

Überrascht blickte ich mich um und entdeckte sie draußen vor dem Fenster.

»Du bist aber schnell«, sagte ich. Sie lachte.

»Nicht besonders. Ich renne ja nicht neben dem Zug her.«

»Aha.«

Ich wurde ganz benommen. Durch ihren transparenten Körper sah ich das Meer. Es glänzte wunderschön. Ich liebe Momo. Dachte ich plötzlich. Das Wort Liebe reichte eigentlich nicht aus, aber ein anderes hatte ich nicht. Also dachte ich noch einmal: Ich liebe sie so sehr.

»Du beschäftigst dich zu sehr mit dem Kind«, sagte die Frau.

Sei still!, schrie ich im Geiste. Sie lachte, gewann an Distanz und verschwand in Richtung Meer. Die Wasserfläche glitzerte stärker. Manazuru, nächster Halt Manazuru, ertönte die Durchsage.

Im Hotel hängte ich meine Sachen auf und ließ mich auf das Bett fallen. Müdigkeit überkam mich. Ich muss die Klimaanlage niedriger stellen, dachte ich noch, schlief aber sofort ein.

Als ich aufwachte, ging bereits die Sonne unter, und der Himmel rötete sich. Obgleich ich über zwei Stunden geschlafen hatte, wurde ich nicht richtig wach. Ich ging auf die Veranda hinaus und lauschte den Wellen. Sie rauschten laut. Es war sehr stürmisch. Als ich den Fernseher einschaltete, hörte ich, wie der Sprecher mehrmals von einem »Taifun« sprach.

Ich wusch mir das Gesicht, zog mir die Lippen nach und machte mich fertig zum Ausgehen. Schon lange hatte ich nicht mehr allein zu Abend gegessen. Den Weg, den ich beim letzten Mal mit Momo gegangen war, ging ich nun allein. Der Wind zerzauste mein Haar. Ich fühlte mich verzagt.

Mit der Zeit wurde ich immer verzagter. Früher war es nie so gewesen. Früher hatte mir so etwas nichts ausgemacht. Ob ich allein, zu zweit oder mit mehreren unterwegs war, mir war alles recht gewesen. Jetzt war es anders. Ich gewöhnte mich nicht mehr so leicht an etwas Neues.

Ich konnte mich nicht mehr spontan umstellen. Mal war ich allein, mal waren wir zu dritt. Kaum hatte ich mich an eine Situation gewöhnt, ging einer fort oder einer kam hinzu, und die Atmosphäre veränderte sich. Die Anpassung fiel mir zunehmend schwerer.

Ich setzte mich an den Strand und las in Reis Tagebuch. Vom offenen Meer her strebten die Boote der Küste zu. Wo waren sie an einem so stürmischen Tag gewesen? »Ich habe Gewicht verloren«, hatte Rei einige Male eingetragen.

Hatte er damals abgenommen? Ich konnte mich überhaupt nicht daran erinnern. Dafür erinnerte ich mich sehr gut an unsere Waage. Wir drei - Rei, Momo und ich - lebten in einer kleinen Wohnung. Zweimal am Tag staubsaugte ich. Was ich bei einer so kleinen Wohnung nicht als Anstrengung empfand. Momo trug immer viel Sand und Schmutz hinein.

Die Waage hatte einen orangefarbenen Rand und war mit Kork überzogen. Wir hatten sie von einem mit Rei befreundeten Ehepaar zur Hochzeit bekommen. Rei mochte die Waage nicht.

»Was hast du dagegen?«, fragte ich.

Er runzelte die Stirn. »Sie ist irgendwie so pseudo-kultiviert.«

Du bist ja komisch. Ich lachte. Lach nicht, sagte er. Bei »lach nicht« zerfloss ich. Widerstandslos. Damals.

Das Wort Krankheit kam mir in den Sinn. Ob Rei krank gewesen war? Hatte er erfahren, dass er krank war, und seinen Tod vorhergesehen? Und war deshalb fortgegangen? Manchmal war mir das zu grausam. Dann wieder wünschte ich, es wäre so gewesen.

In jedem Fall waren die, die zurückgelassen wurden, zu bedauern. Aber wer ist bedauernswerter - der, der fortgeht oder der, der zurückbleibt?, fragte die Frau. Darüber will ich nicht nachdenken, erwiderte ich brüsk, und sie verschwand sogleich im Meer. Ihre Beine wirkten sehr weiß.

Am nächsten Morgen stand ich spät auf. Am Abend hatte ich etwas Leichtes gegessen und war bereits um zehn zu Bett gegangen. Ich hatte das Gefühl, unendlich lange schlafen zu können. Wie Momo.

Ich fragte mich, ob der Festlärm zu hören war, und trat auf die Veranda hinaus, aber nur die Wellen rauschten. Das Hotel lag weit von der Straße zurückgesetzt, und vom Verkehr war nichts zu hören. Zum Frühstück trank ich nur einen Kaffee und fuhr dann mit dem Bus zum Hafen.

»Können Sie mir sagen, wo das Fest stattfindet?«, fragte ich die Verkäuferin in einer Sake-Handlung. Am Hafen waren mehr Menschen unterwegs als beim letzten Mal, aber besonders festlich ging es nicht zu, kein Lärm, keine Farben. Von den Mikoshi (*)  - den Sänften, in denen man Gottheiten durch den Ort trägt - war nichts zu sehen.

»Um diese Zeit sind sie sicher noch an den Schreinen«, sagte die Verkäuferin etwas gelangweilt.

Vergeblich hielt ich Ausschau nach der Frau. Wenn man sie braucht, ist sie nicht da, murmelte ich, aber da erschien sie auch schon.

»Aha, du kommst, wenn ich dich rufe.«

»Zufall«, erwiderte sie vollkommen ernst.

»Das Fest fängt gerade erst an«, sagte ich, und sie nickte. Wir wandten uns vom Hafen ab und traten in eine schmale Gasse. Sie führte steil bergauf. Die unmittelbare Küste lag nur wenige Meter über dem Meeresspiegel, doch direkt dahinter wölbten sich die Hügel der Halbinsel. Man konnte sie nicht gerade als Berge bezeichnen, aber einige waren recht hoch.

Ich geriet außer Atem. Der Frau schien die Steigung nichts auszumachen. Sie schwebte hinter mir her.

»Wohin willst du?«, fragte sie.

»Nirgendwohin. Ich gehe einfach.«

Ihr Gesicht verfinsterte sich.

»Was ist?«, fragte ich.

»Ich musste an etwas denken.«

Es wurde dunkler. Eine Wolke war aufgezogen und verdeckte die Sonne. Als ich zum Himmel aufsah, schien die Sonne dahinter hervor. Dann zog sie weiter, und es wurde wieder gleißend hell.

»Gehen wir zum Kap?«, fragte sie und war, ehe ich zustimmen oder ablehnen konnte, verschwunden.

Als ich zum Himmel schaute, blendete mich das ungefilterte Licht. Einen Moment lang konnte ich nichts sehen.

Rei, rief ich.

Es war nie leicht für mich gewesen, ihn direkt mit seinem Namen anzusprechen, doch manchmal, wenn er nicht da war, sagte ich seinen Namen vor mich hin.

Rei.

Mitunter flüsterte ich ihn auch, wenn er neben mir lag und schlief. Wenn er im Büro war, tat ich es auch tagsüber, vor allem nachdem ich Momo gestillt hatte.

In Wahrheit erinnerte ich mich doch an etwas, das in Zusammenhang mit 21.00 Uhr stand.

Drei Tage vor Reis Verschwinden saß ich, nachdem ich Momo schlafen gelegt hatte, am Esstisch und las die Zeitung, die Rei am Morgen gelesen hatte. Ich blätterte die Seiten um, deren Ränder, wenn jemand sie einmal berührt hatte, nicht mehr so scharf waren wie bei Lieferung. Ich las das Fernsehprogramm, den Gesellschafts-, den Lokal- und den Sportteil, dann blieb mein Blick an der Familienseite hängen.

»Abgrund«, stand da als Überschrift. Ich konnte den Blick nicht abwenden.

An den Inhalt des Artikels kann ich mich nicht erinnern. Nur dass ich »Rei!« rief, als ich die Zeichen sah.

Es war totenstill. In einer Ecke des Wohnzimmers lagen ein paar Bauklötze, mit denen Momo am Abend gespielt hatte. Obwohl die rotbemalten, runden und eckigen Klötzchen, die aussahen als wüchsen sie aus dem Parkett, eigentlich ganz alltäglich waren, vermittelten sie mir ein ungutes Gefühl.

Rei!, rief ich noch einmal. Als ich auf die Uhr schaute, war es neun, und an diesem Tag kam es mir vor, als würde ich eine Antwort auf meinen Ruf hören, der für gewöhnlich ins Leere ging.

Kei.

Von der Wohnzimmerdecke ertönte Reis Stimme. Sehr leise.

Mir wurde unheimlich, also faltete ich unter lautem Geraschel die Zeitung zusammen. Reis Stimme verschwand sofort, ebenso der Nachklang meiner eigenen.

Auch als ich die Gasse in Manazuru hinaufstieg, rief ich nach Rei. Genau wie damals.

Schweiß rann mir von der Stirn und brannte mir in den Augen. Über mir der Ruf eines Milans. Mein leerer Magen machte sich bemerkbar. Ich war erleichtert über die körperliche Empfindung. Am Ende einer besonders schmalen Gasse traf ich auf ein chinesisches Restaurant. Energisch schob ich die Tür auf. Meine Augen waren nicht an das Dunkel im Inneren gewöhnt. Ich tastete mich voran, nahm einen Stuhl und setzte mich.

»Was hast du gegessen?«, fragte die Frau.

»Wantansuppe.«

»Hätte ich auch gern gegessen.«

Nach dem Essen setzte ich meinen Weg fort. Ich irrte von einer Gasse in die andere, bergauf und bergab, bis mir die Füße schmerzten. Unterwegs stieg ich in den Bus, der zur Spitze der Landzunge fuhr. Als ich das letzte Mal allein hier herumgewandert war, ging der Winter gerade zu Ende.

»Steig aus«, forderte die Frau mich auf.

Wir sind doch noch nicht an der Endstation, außerdem bin ich müde, sagte ich. Sie funkelte mich böse an. Ist ja schon gut, sagte ich und drückte den Halteknopf. Die Haltestelle lag einsam in einem Forst. Das Laub war so dicht, dass das Licht nur schwach durch die Bäume auf den Weg drang.

Weißt du, sagte die Frau.

In diesem Wald ist eine Frau gestorben.

Sie hatte kaum angefangen zu erzählen, als der Himmel sich verdunkelte. Aus der Ferne ertönte tiefes Grollen.

»Donner?«

»Ein Taifun«, sagte die Frau.

Ich folgte der Frau, als zöge sie mich an einer Leine hinter sich her. In dem Forst, den sie Wäldchen nannte, gab es einen Weg für die Holzfäller. Wir gingen bald nach rechts, bald nach links, so dass ich mit der Zeit jeden Richtungssinn verlor. In Abständen grollte der Donner. Die Frau wurde an eine Kiefer gehängt, erzählte sie leise. Wieder donnerte es. Der Baum ist jedoch später bei einem Taifun umgestürzt, fuhr sie fort. Die Rufe des Milans waren verstummt. Weil der Wind sich gedreht hat, sagte sie.

Der Weg führte bergab. Zur Küste hin wurde er immer steiler. Ab und zu konnte man sehen, wie sich die Wellen an den Felsen brachen.

Sie war ein nettes Mädchen, murmelte die Frau.

Wer?

Die Aufgehängte.

Hör auf mit dieser grusligen Geschichte, sagte ich, aber meine Verfolgerin dachte natürlich nicht daran.

»Man hatte sie an den Füßen aufgehängt. Sie waren mit Glyzinienranken gefesselt.«

Die Abstände zwischen den Donnerschlägen wurden kürzer. Ab und zu blitzte es. Die Frau streckte mir ihre Hand entgegen. Auf dem feuchten Boden fanden die Füße nur schwer Halt, und mehrmals wäre ich fast ausgerutscht. Ihre Hand war kalt. Ich spürte, wie ich mich von den Fingerspitzen her aufzulösen begann.

Da, guck! Sie stieß mich an, und ich blickte aufs Meer. Die Wellen tosten, aber hier hielten große Felsen die Brandung ab, und das Wasser war ruhig.

Ist es hier nicht zu gefährlich, wenn ein Taifun im Anzug ist?, sagte ich.

Die Frau hörte gar nicht zu. Sie ließ meine Hand nicht los. Obwohl ihr Griff gar nicht so fest war, konnte ich mich nicht befreien. Meine Auflösung hatte begonnen, und ich fühlte mich bis in die Arme gelähmt.

Schau genau hin, sagte sie.

Die kleinen Fische schossen wie verrückt in dem Tümpel zwischen den Felsen herum. Es ist besser, wenn sie sich bei dieser Brandung dort verstecken, sagte ich leise. Die Frau lachte. Mir schauderte bei ihrem kargen Lachen, das keine Gefühlsregung preisgab.

Sie erzählte weiter. Es wurde von Geistern entführt, das aufgehängte Mädchen. Sie war ein gutes Kind, wirklich. Am frühen Morgen ging sie schon in den Wald, um Brennholz zu holen, und nachmittags sammelte sie am Strand Muscheln und Seetang. Abends putzte sie und webte. Sie arbeitete ohne Rast und Ruh, und eines Tages vernahm sie im Wald eine Stimme. Die sagte, geh morgen nicht in den Wald und zum Strand.

»Aber das Mädchen ging trotzdem, nicht wahr?«, fragte ich. Die Frau nickte.

Ja, sie ging und wurde von jenem Tag an nicht mehr gesehen. Man suchte und suchte und suchte, und dann fanden Fischer, die aufs Meer hinausfuhren, sie über dem Wasser.

»Über dem Wasser?«, fragte ich, weil ich nicht verstand, was sie meinte. »Nicht im Wasser?«

Nein, über dem Wasser. Sie spiegelte sich darin. Das Mädchen. Ihr Haare standen zu Berge. Sie trug nur noch einen roten Lendenschurz. Ihre Füße waren mit Glyzinienranken zusammengebunden. Als der Fischer einen Blick nach oben warf, sah er sie kopfüber an dem Kiefernast hängen. Ihr Hals und ihre Beine waren ganz weiß.

Es donnerte, und Blitze zuckten. Die Wellen brandeten heran und rissen Sand mit sich.

Warst du dieses Mädchen?, fragte ich die Frau. Nein, erwiderte sie. Wirklich nicht?, fragte ich noch einmal. Ich weiß nicht, ich habe es vergessen, antwortete sie. Der Donner krachte. Die Wellen wurden höher und brandeten über die Felsen. Wir gehen lieber an eine höhere Stelle, sonst wirst du noch mitgerissen, schlug die Frau besorgt vor. Eine grauenhafte Geschichte, dachte ich, während ich ihr folgte. Die Wantansuppe war köstlich, sagte ich absichtlich, um abzulenken. Ich habe noch nie Wantansuppe gegessen, sagte die Frau sehnsüchtig. Es krachte und blitzte nun gleichzeitig. Ich hörte, wie etwas brach. Dann begann es heftig zu regnen.

Obwohl es überall regnete, hatte ich das Gefühl, der Regen galt nur mir.

Ich rannte und rannte, aber der Regen verfolgte mich. Meine dünne Bluse war völlig durchnässt und klebte mir auf der Haut.

»Du wirst ja gar nicht nass«, sagte ich. Die Frau legte den Kopf schräg.

»Würde ich aber gerne«, sagte sie, während sie vollkommen trocken voran ging. Mir dagegen troff das Wasser nur so aus den Haaren, von Gesicht und Wimpern. Mein knielanger weißer Rock war völlig durchweicht und hatte eine dunklere Farbe angenommen.

Die Frau stieg nun zügig eine Treppe hinauf, die in entgegengesetzter Richtung des Weges lag, den wir gekommen waren. Ich konnte ihr folgen, geriet aber außer Puste. Der Regen vermischte sich mit meinem Schweiß und rann zu Boden.

Am Ende der Treppe stand ein weißes Gebäude. Ich erinnerte mich, es gesehen zu haben, als ich das letzte Mal allein hier gewesen war. Im Regen versunken wirkte es verlassen.

»Geh rein«, sagte die Frau und deutete mit dem Finger darauf.

Als ich die Glastür aufschob, strömte mir feuchtwarme Luft entgegen. Durchnässt wie ich war, fröstelte ich. Die Mittagszeit musste vorbei sein, denn nur zwei Personen saßen an einem der langen Reihe von Tischen. Der Eindruck, dass es sich um ein verlassenes Haus handelte, den ich von außen gehabt hatte, war sofort verschwunden.

Am Eingang hatte man achtlos ein paar Plastikmodelle von den Gerichten aufgestellt. Es gab zwei Menüs, eins mit frittierter Rossmakrele und eins mit rohem Fisch. Als ich bei der Bedienung, die müde herangeschlurft kam, einen Kaffee bestellte, sagte sie, ich müsse mir zuerst einen Bon kaufen.

Die Frau war nicht mit hineingekommen. Wider Erwarten war der Kaffee sehr heiß, und ich verbrühte mir die Zunge. Vor dem Panoramafenster, das von der Decke bis zum Boden reichte, schwankten die Kiefern im Sturm. Ich triefte, und zu meinen Füßen bildete sich eine kleine Pfütze.

Plötzlich wurde mir bewusst, dass alle Laute verstummt waren.

Die Kaffeetasse in einer Hand, sah ich, wie sich das Gesicht der Frau in der Pfütze spiegelte. Von der Größe einer Erbse wurde es zusehends größer, dann wie eine Walnuss, bis es schließlich die Größe eines menschlichen Kopfes erreichte.

Es regnete weiter. Und stürmte. Aber lautlos. Auch die Stimmen der beiden Gäste neben der Küche, die ich bis eben noch gehört hatte, drangen nicht mehr zu mir.

Wie aus einem sprudelnden Geysir taucht die Frau aus der Pfütze zu meinen Füßen auf. »Jetzt bin ich auch nass, wie?« Vorhin war sie trotz des heftigen Regens völlig trocken geblieben, aber nun triefte sie.

»Ich bin dir näher gekommen«, sagte sie mit anmutigem Lächeln.

Ob ich deshalb nichts hörte? Aber nicht nur waren die Geräusche verstummt, alles, was sich eben noch bewegt hatte, verharrte in regloser Starre. Die Bedienung und die Gäste waren in ihrer momentanen Bewegung erstarrt wie Tonfiguren, die jemand geknetet hatte.

»Das Licht...« Kaum hatte die Frau das gesagt, fing das Neonlicht über uns an zu flackern. Vor dem Fenster zuckten mehrere grelle Blitze, und danach verloschen alle Neonlampen.

»Ein Blitz hat eingeschlagen«, erklärte die Frau.

Da ich nichts hörte, hatte ich keine Ahnung, ob es ein Blitzschlag gewesen war oder nicht. Komm mit, sagte die Frau und winkte mit der Hand.

Muss - ich - mitkommen? fragte ich laut und horchte, aber es kam kein Ton. Also hatte ich die Worte nicht mit meiner Stimme hervorgerufen, sondern nur in mir selbst.

Kurz darauf ging das Licht wieder an, und beinahe im gleichen Augenblick drangen wieder Geräusche an mein Ohr. Es war ein Gewirr an Tönen, wie bei einem Radio, bei dem die Frequenz nicht richtig eingestellt ist, nur dass es um ein Vielfaches dichter war und ich darin eine Stimme erkannte.

Rei. Das ist Rei, dachte ich. Schon war das Gewirr wieder verstummt. Nur die Frau war ganz deutlich zu hören.

Kann ich zurückkommen?

Natürlich.

Hatte sie mich gefragt oder ich sie? Hatte sie geantwortet oder ich? Ohne unterscheiden zu können, ging ich mit der Frau davon. Ein Blitz zuckte in einem sauberen Zickzack über den ganzen Himmel bis ins Meer.

Natürlich.

Sagte eine von uns beiden noch einmal, und ich sah in den stürmischen Himmel.

Es war ein weiter Weg.

Zumindest kam es mir so vor, aber vielleicht war er gar nicht so weit.

Wir gingen die Promenade am Meer entlang, die von großen Brechern überspült wurde. Wahrscheinlich hätten sie mich sofort mitgerissen, wäre die Frau nicht bei mir gewesen.

»Der Regen hört gar nicht auf. Der Wind auch nicht«, sagte ich. Sie lächelte.

Da, sagte die Frau und zeigte zurück. Als ich mich umdrehte, fiel das weiße Haus gerade in sich zusammen. Zuerst schienen seine Umrisse sich etwas auszudehnen, im nächsten Augenblick jedoch sackte es in sich zusammen. In Zeitlupe. Nicht das Dach brach zuerst ein, sondern das Fundament gab nach. Der obere Teil krachte als Ganzes horizontal herunter. Dabei bog sich auch das Dach, und im nächsten Moment war alles nur noch ein Haufen Schutt. Eine Staubwolke erhob sich, aber der starke Regen brachte sie sofort zum Verschwinden.

»Aber da waren doch Leute drin«, sagte ich. Die Frau drückte einen langen Zeigefinger auf ihre Lippen.

»Pscht«, machte sie. »Sieh hin.«

Als ich gehorsam auf die Stelle blickte, war der Schutt mit einem Mal verschwunden.

»Weg«, sagte ich, und sie nickte kurz.

»Gehen wir.« Die Frau verflocht ihre Finger in meine. Die Wellen überspülten meine Füße. Manchmal gingen sie mir bis an die Hüfte oder die Schultern.

Sie rissen mich fast mit, aber die Frau hielt mich fest.

»Kann ich Rei sehen?«, fragte ich.

»Weiß nicht«, antwortete sie kurz angebunden.

Wir gingen weiter am Ufer der Halbinsel entlang. Währenddessen dachte ich an die unhöfliche Bedienung und das gelangweilt wirkende Paar in dem weißen Haus. Ob sie auch verschwunden sind, murmelte ich. Die Frau schüttelte den Kopf.

»Wir sind es, die verschwunden sind«, sagte sie gleichmütig.

»Momo«, schrie ich in die heranbrandende See. Ich hatte Momo vergessen. Aber nun fiel sie mir ein. Und jetzt, wo ich mich erinnerte, wollte ich zurück. Dorthin, wo das weiße Haus stand. Wo es die Frau nicht gab.

Die Frau verstärkte den Druck ihrer Finger. Ich fing an mich aufzulösen. Eine besonders hohe Welle traf mich, und mir schwanden die Sinne.

Doch sofort kam ich zu mir und spürte wieder den Regen und den Sturm am ganzen Körper.

»Gehen wir auf das Schiff?«, fragte ich.

»Es fährt nicht, wegen des Taifuns«, antwortete die Frau ungerührt.

Eigentlich sollten wir an der Spitze der Halbinsel entlanggehen, aber auf einmal waren wir wieder am Hafen. Es war niemand zu sehen. Ob die festlich gekleideten Menschen irgendwo warteten, dass der Regen aufhörte? Aus der Ferne waren nur Flöten und Trommeln zu hören.

»Die Geräusche sind wieder da«, sagte ich.

Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, falsch.«

Das sind Laute von hier. Nicht von dort, sagte sie ruhig.

Ich verstand nicht, was sie meinte. »Und wenn schon«, sagte ich absichtlich leichthin. Ich hatte ohnehin nicht vor, an diesen seltsamen Ort zu kommen.

Mein »und wenn schon« hörte ich ganz normal. Es war keine Stimme in meinem Inneren, sondern hatte einen realen Klang außerhalb meines Körpers.

»Ich kann nicht weiter mitkommen, wegen Momo«, sagte ich.

Die Frau machte ein zorniges Gesicht.

»Willst du Rei denn nicht sehen?«, fragte sie mit gepresster Stimme.

Also wusste die Frau doch über Rei Bescheid. Ich war erleichtert und verzagt in einem.

»Weißt du überhaupt, was Rei für ein Mann war?«, fragte ich scharf. Ich würde mich nicht unterkriegen lassen.

»Ein belangloser Mann«, antwortete sie unbeeindruckt.

Es stürmte. Der Wind war noch stärker geworden und wehte noch heftiger als zuvor. Im Hafen waren die Wellen noch recht niedrig, dennoch schlugen sie immer stärker gegen die Hafenmauer. Er war also ein belangloser Mann, dachte ich abwesend. Der peitschende Regen schmerzte auf meiner Haut.

»Oh, du bist ja ganz nass«, sagte die Frau und lächelte dünn.

Nun merkte ich, dass nicht nur die Oberfläche meines Körpers nass war, sondern auch das Innere. Unwillkürlich kauerte ich mich zusammen.

Momo!, rief ich. Hilfe, hilf mir, Momo!

»Du willst Hilfe von deinem Kind?« Die Frau lachte höhnisch. Ein erbarmungsloses Lachen, dachte ich bei mir. Wo sie doch noch nicht einmal Wantansuppe gegessen hatte, diese Frau.

Ich wollte die feuchte Stelle in mir biegen und drücken. Ich wollte sie mit Kraft erfüllen.

Nein, sagte ich. Aber die Worte tönten nicht außerhalb meines Körpers.

»In Wirklichkeit willst du sie doch«, sagte die Frau entschieden.

Ihr Tonfall gefiel mir nicht.

Wieso folgte ich dieser Frau?

»Weil du ich bist.«

Stimmt nicht. Ich schüttelte den Kopf. Die Frau lachte nur hämisch.

Ich versuchte, das Zerfließen aufzuhalten, aber ich konnte nicht. Allmählich bemächtigte es sich meiner. Rascher als bei Rei oder Seiji.

Bei Momos Geburt hatte man mir gesagt, ich solle nicht pressen. Der Muttermund war ganz geöffnet, und obwohl das Kind sich drehend langsam hinausglitt, wies man mich streng an, nicht zu pressen. Durchhalten! Es ist noch zu früh. Noch ein bisschen. Noch nicht.

Die fünf Minuten, die es dauerte, kamen mir wie eine Ewigkeit vor. Ebenso hielt ich mich auch jetzt zurück. Aber mein Körper war nicht zu bremsen. Noch ein Zug, noch zwei Züge, wenn ich mich mit zusammengekniffen Augen auf das Zentrum des Zerfließens konzentrieren würde, könnte ich sofort den Höhepunkt erreichen. Aber er kam nicht.

»Nicht die Augen schließen!«, befahl man mir. »Jetzt können Sie wieder pressen. Aber mit offenen Augen. Schauen Sie direkt an die Decke. Spannen Sie Ihre Vagina an. Pressen Sie mit aller Kraft.« Im Kreißbett wurde mir klar, dass die Geburt eines Kindes viel schwerer war, als ich gedacht hatte. Keiner hatte es mir gesagt. Mit dem Wort »schwer« verband ich eine andere Vorstellung. Seltsam, würde vielleicht besser passen, dachte ich. Ein Kind zu gebären ist etwas Seltsames.

Dann presste ich. Beim Pressen selbst konnte ich nichts denken. Seltsam, seltsam, dachte ich hektisch, wenn ich ausatmete.

Obwohl ich mich zurückzuhalten versuchte, kam der Höhepunkt. Ich stöhnte. Dann erwachte ich. Gleichzeitig verschwamm die Gestalt der Frau. Der Sturm war noch immer heftig, aber die Geräusche waren wieder da. Ich konnte auch wieder Leute sehen.

Die Frau war verschwunden. »Ach, Sie sind ja ganz durchweicht. Soll ich Ihnen ein Handtuch bringen«, sagte eine ältere Verkäuferin an einem Souvenirstand. Sie war mollig und sprach in einem gemütlichem Tonfall.

Wieder im Hotel rief ich den Zimmerservice an, um mir etwas Alkoholisches zu bestellen.

»Eine Flasche Whisky und Eiswürfel? Kommt sofort. Soda steht in Ihrem Zimmer bereit.« Zu meiner Verwunderung klang die Stimme des Angestellten am anderen Ende des Haustelefons sehr real. Wo war ich eigentlich gerade gewesen?

Ich sehnte mich danach, Seijis Stimme zu hören, und holte mein Handy hervor. Ich gab seine Nummer ein und hielt es ans Ohr. Kein Rufzeichen ertönte. Ob die Nässe dem Gerät geschadet hatte? Ich versuchte zu Hause anzurufen, aber es blieb stumm.

Ich nahm den Hörer des Zimmertelefons ab und wählte. Momo war am Apparat. Ach, Mama, sagte sie weich. Ob meine Abwesenheit sie milder stimmte? Zögernd begann ich eine Unterhaltung. Geht es Oma gut? Regnet es bei euch auch so furchtbar? Ich bin noch nicht ganz fertig mit der Arbeit, aber übermorgen komme ich nach Hause. Ja. Genau. Ja. Ja, stimmt.

Als ich aufgelegt hatte, wählte ich Seijis Nummer. Doch dann unterbrach ich mich. Ich fürchtete, Seiji würde es spüren. Spüren, wie sehr ich mich in Auflösung befand.

Über der Kommode im Hotelzimmer hing ein großer ovaler Spiegel. Ich sah hinein. Mein Haar, das ich einfach hatte trocken lassen, war wirr. Meine Lippen waren farblos. Unter den Augen hatte ich dunkle Ringe.

Ich ging näher an den Spiegel heran, entblößte meinen Oberkörper und betrachtete mich. Mein Busen war nicht mehr ganz straff. Und ganz weiß. Alle vor der Sonne geschützten Stellen waren weiß. Momos Haut war dunkler. Mitunter hätte ich gern ihre junge glatte Haut berührt. Aber sie ließ sich nicht mehr anfassen. Ich wünschte, ich könnte mit Momo sprechen oder neben ihr gehen oder hinter ihr, ganz mit ihr verbunden sein. Und nicht mit dieser Frau.

Ich sah Momos Gesicht in meinem. In letzter Zeit ähnelte sie wieder mir. Bis vor kurzem hatte sie noch wie Rei ausgesehen. Mit etwas schmaleren Zügen, tiefer liegenden Augen und gezupften Brauen wäre sie mir wie aus dem Gesicht geschnitten. Spiegel waren mir lange Zeit zuwider gewesen. Sie zeigten etwas, obwohl es nicht da war. Auch wenn ich die Hand nach meinem Körper ausstreckte, konnte ich ihn nicht berühren.

Inzwischen hatte ich diese Abneigung nicht mehr. Ich hatte mich an meinen Körper gewöhnt, er ist normal für mich geworden. In Momos Alter war er mir zu viel. Ich wusste nicht, welche Teile wie funktionierten, welche Teile wie reagierten. Das hatte mir Angst gemacht.

Mit wem war Momo an dem Abend zusammen gewesen?

Ich begann in Gedanken zurückzugehen und bekam Angst.

Im Regen stahl sich ein Sonnenstrahl durch eine Lücke in den Wolken. Er fiel auf den Spiegel und reflektierte matt. Ich öffnete die Whiskyflasche und schenkte mir ein. Ich trank ihn pur.

Es war weder ein Traum noch war es Wirklichkeit, ich lauschte einfach nur dem Regen.

Stammte der Regen aus einer anderen Welt? Oder aus dieser?

Das Gesicht der Frau erschien hinter meinen Lidern - sie war es, die die Frage an mich richtete. Doch gleich war sie wieder verschwunden. Als ich aufwachte, stürmte es noch, aber der Regen hatte aufgehört. Aus der Whiskyflasche, die ich auf die Kommode gestellt hatte, fehlte etwa ein Drittel. Einen Kater hatte ich nicht.

Ich setzte mich auf und sah aus dem Fenster. Offenbar war ich bei geöffneten Vorhängen eingeschlafen. Die Morgensonne war schwach. Die Wolken zogen schnell. Ich ging in den Speisesaal, um zu frühstücken. An der Rezeption erkundigte ich mich nach dem Fest, aber man wusste nichts Genaues. Möglicherweise gebe es am Abend ein Feuerwerk. Aber das hänge vom Wetter ab.

Eigentlich hatte ich gar nicht nach dem Feuerwerk gefragt, aber mehr wussten sie eben nicht. Ich habe gehört, heute soll ein Schiff auslaufen, sagte ich. - Tja... Die Frau an der Rezeption schüttelte ratlos den Kopf. Dunst lag über dem Swimmingpool. Ab und zu tropfte es von den am Beckenrand aufgespannten Sonnenschirmen. Auf den weißen Tischen und Stühlen hatten sich kleine Pfützen gebildet.

Ob die Person bei Momo etwa Rei gewesen war?

Der Gedanke war mir am Abend zuvor gekommen. Ohne besonderen Grund. Vielleicht kam ich darauf, da Momo einerseits entspannt, zugleich aber auch etwas unsicher gewirkt hatte.

Also wirklich. Ich schüttelte den Kopf. Was machte ich dann eigentlich hier? Wie oft wollte ich es noch versuchen? Wäre es nicht besser, sofort zu packen und nach Hause zu fahren? Außerdem hatte sich Arbeit angesammelt.

Die Frau erschien.

»Das Schiff fährt wahrscheinlich heute nicht«, sagte sie gleichgültig.

»Wegen des Taifuns?«

»Genau.«

Sie setzte sich auf den Boden und streckte die Beine aus. Der Rock rutschte ihr bis zu den Oberschenkeln hoch. Sie waren blaugeädert.

Hast du Kinder?, fragte ich sie.

»Ja«, antwortete sie.

»Wie viele?«

»Sieben.«

»So viele?«, sagte ich überrascht.

Die Frau machte ein stolzes Gesicht. »Drei Jungen und vier Mädchen, zwei davon sind Zwillinge. Eigentlich hatte mein dritter Sohn auch einen Zwillingsbruder, aber er kam tot zur Welt. Die beiden Mädchen sind gesund herangewachsen.«

»Hatte die Dichterin Akiko Yosano (*)  nicht auch zwei Zwillingspärchen?«, fragte ich. Die Frau blickte mich verständnislos an.

»Was ist mit Akiko?«, murmelte sie.

Neben dem weißen Gebäude, das gestern eingestürzt ist, stand eine Steintafel mit einem Gedicht von Akiko. Sie ist bei dem Einsturz unbeschädigt geblieben. Was ist übrigens aus dem Haus geworden?, fragte ich.

Es steht wieder, antwortete die Frau.

Es war also eine Illusion?

Du stellst komische Fragen. Die Frau lachte. Du fragst ausgerechnet mich, ob es eine Illusion war?

Ich stimmte in ihr Gelächter ein. Ja, wirklich, komisch. Sehr komisch.

»Was machen deine Kinder jetzt?«

»Weiß nicht«, antwortete sie wieder gleichgültig.

Das Schiff legt heute nicht ab, aber es finden Kagura-Tänze (*)  statt. Hochinteressant, diese lokalen Feste. Die Frau redete wie eine Angestellte vom Fremdenverkehrsamt.

Erzähl mir mehr von Rei. Bitte. Ich brachte mein Gesicht ganz nah an ihres heran. Sie wich zurück und drehte sich weg. Ich fragte mich, ob sie verschwinden würde, aber sie blieb. Sie verstummte lediglich.

Als ich mit dem Frühstück fertig war, hatte der Dunst sich verdichtet.

Ich hörte die Frau weinen.

Das Fest war lebhafter als am Tag zuvor. Vom Morgen an zogen geschmückte Wagen durch die Straßen. Prächtig dekorierte Lastwagen voller Musikanten mit Flöten und Trommeln fuhren vor dem Mikoshi her.

Zwischen den Klängen der traditionellen Musik vernahm ich das Weinen der Frau. Einmal schien es jedoch das Heulen des Windes zu sein. Ach, es ist nur der Wind, dachte ich für einen Moment erleichtert, aber dann war es wieder die Stimme der Frau.

Die Flöten und Trommeln klangen heiter. Die Stimme der Frau war düster. Mitunter verlor ich die Festwagen und den Mikoshi aus den Augen. Der Dunst wurde dichter. Wenn ich der Musik folgte, klärte sich mein Gesichtsfeld auf, und ich war wieder mitten im Trubel des Festes.

»Sie war so ein gutes Kind«, schluchzte die Frau.

»Sie?«

»Das aufgehängte Mädchen.«

»Das warst nicht du, sondern deine Tochter, oder?«, fragte ich, aber da ich die Frau nicht sehen konnte, fühlte ich mich verzagt und verunsichert.

»Weiß nicht«, hörte ich nur ihre Stimme.

Warum brachte man Kinder zur Welt? Hunde, Katzen, Füchse, Hirsche, Menschen, alle strebten nach Nachwuchs. Wenn ich mein Herz Rei oder Seiji zuwandte, fiel kein Schatten darauf, alles war klar. Nur, wenn es um Momo ging, zogen Wolken, zog Unsicherheit darin auf. Es war das Gleiche wie in meiner Jugend, als ich noch nicht wusste, wie mein Körper funktionierte und reagierte. Ich hatte keine Ahnung, welche Gefühle ich für Momo hegte, ob ich sie mochte oder nicht, ob ich sie liebte oder hasste, und wie die Mischung dieser Gefühle aussah.

»Mit Fremden ist es einfacher als mit dem eigenen Kind«, murmelte ich. Langsam tauchte die Frau wieder aus dem Dunst auf.

»Wirklich?«, fragte sie.

Vielleicht doch nicht. Als ich lachte, lachte sie auch. Glücklicherweise hatte sie aufgehört zu weinen. Eine weinende Frau ist erbarmungswürdig.

»Schau, ich werde wieder nass.« Die Frau streckte mir ihren Arm hin. Ab und zu nieselte es, dann wieder hörte es auf. Statt den Regen abzustoßen, wurde ihre Haut immer nasser.

»Wir sind einander wirklich nah gekommen, nicht?«, sagte ich. Sie nickte.

»Pass auf dich auf!«, sagte sie und ging an mir vorbei.

Weshalb? Als ich mich umdrehte, war sie bereits verschwunden. Aus meiner Körpermitte breitete sich ein Unwohlsein aus. Ich verspürte einen heftigen Schmerz genau unterhalb der Magengrube.

Ich musste an die Zeile in Reis Tagebuch denken: Ich habe Gewicht verloren. Ich legte mir die Arme um den Körper und umarmte mich fest.