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»Die Eisenbahn macht gar keine Geräusche«, sagte Momo.
»Was für Geräusche?«
Momo lauschte mit geneigtem Kopf. »Naja, so tatat tatat tatat«, sagte sie leise.
Dann drehte sie sich zum Fenster und sah hinaus. Wir saßen einander schräg gegenüber, in einer Vierersitzgruppe. Momo am Fenster, ich am Gang. Der Zug war kurz vor Mittag aus Tokio abgefahren. Momo hatte recht. Das typische rhythmische Rattern schwerer Eisenbahnwaggons fehlte wirklich. Das laute Rauschen wurde vom Gehör nicht als markantes Geräusch wahrgenommen, da es keinen eindeutigen Rhythmus hatte. Ich hatte das Gefühl, in einem lauten Raum zu schweben.
Mein Blick fiel auf Momos Hals. Er war schlank. Aber längst nicht mehr so zart wie in den ersten Jahren, als ich immer die Angst hatte, er könnte bei der leisesten Berührung brechen.
Möchtest du Tee? Ich stellte zwei kleine Pet-Flaschen auf die Fensterbank. Momo griff nach einer, stellte sie aber gleich wieder zurück. Ich schraubte die andere auf und trank. Die Flüssigkeit rann mir durch die Kehle. Kühl und angenehm. Möchtest du nicht doch welchen?, fragte ich wieder. Momo nahm die Flasche. Sie zögerte. Nein, sagte sie, oder doch, und schüttelte die Flasche. Der Tee schäumte.
Hör auf, das ist kein Spielzeug, ermahnte ich sie wie ein kleines Kind. Ich spiele doch gar nicht, erwiderte sie patzig. Die unerwartete Schärfe ihres Tons verletzte mich. Das war sicher nicht Momos Absicht gewesen. Sie hatte nur reagiert.
Allein Momo konnte mich auf diese Weise verletzen. Sie kannte kein Erbarmen. Sorglos traf sie mich an den empfindlichsten Stellen. Ohne zu wissen, dass sie eitern und Narben hinterlassen würden. Allerdings zeigte ich mich ihr auch stets von meiner weichsten Seite, ich konnte nicht anders. Ich hätte mich besser schützen sollen. Doch das Bewusstsein, dass Momo einst Teil meines Körpers gewesen war, hinderte mich daran, Distanz aufzubauen.
»Ein Strandresort, direkt am Meer«, sagte Momo laut.
»Ein Resort - ja, fast etwas peinlich.« Als ich lachte, lachte sie auch.
Ich wollte mit Momo nicht in der Pension mit dem Schild »Suna« übernachten. Der Mann und die Frau, mutmaßlich Mutter und Sohn, strahlten eine eigentümlich erwachsene Atmosphäre aus, und ich wollte dort nicht mit meinem Kind übernachten. Ich ahnte, dass Momo und ich uns fehl am Platz fühlen würden.
Die Zimmervermittlung am Bahnhof hatte uns die Hotelanlage am Strand empfohlen. Wollen wir?, Momo sah mich fragend an. Ihr Gesicht wirkte kindlich. Die Angestellte rief in dem Hotel an. Momo ging nach draußen. Der Himmel war weißlich. Es war nicht sehr kalt. In Tokio herrschten wesentlich niedrigere Temperaturen. Am Meer ist es immer wärmer. »Die Pflaumenblüte hat schon begonnen«, sagte die Frau an der Information. »Eine Übernachtung, ja? Sie können jederzeit einchecken.«
Komm, wir gehen ans Meer, sagte Momo und machte ein paar tänzelnde Schritte.
Das Meer ist hier überall.
Ich war so lange nicht am Meer!
Früher waren wir drei - Rei, Momo und ich - auch immer ans Meer gefahren. Kein Jahr ließen wir aus. Selbst nach Reis Verschwinden fuhren wir noch jedes Jahr hin, bis Momo zehn war. Beim ersten Mal war Momo noch keine drei Monate alt gewesen und konnte ihr Köpfchen noch nicht hochhalten. Kaum standen wir mit ihr am Strand, bekam ich Angst. Um mich selbst hatte ich keine Angst, aber sobald ich mich in Momo, das Baby, hineinversetzte, packte mich die Angst.
Für ein Baby war das alles zu viel, der Wind, das Salzwasser, das Rauschen. Schützend beugte ich mich tiefer über Momo. Sie schrie. Ihr ist zu warm, sagte Rei. Deshalb weint sie.
Dabei hatte sie Angst. Es ist ganz natürlich, dass ein Baby schreit, wenn es Angst hat. Rei verstand überhaupt nichts. Das Meer ist riesig, was?, sagte er zu Momo. Ich will nach Hause, sagte ich. Jetzt sofort. Rei war ganz erstaunt, dass ich so sehr darauf bestand. Von Herzen erstaunt.
Nachdem wir uns für etwa eine Stunde in ein Haus geflüchtet hatten, fuhren wir zurück. Du bist wirklich eine seltsame Nummer, Kei. Auf der Rückfahrt musste Rei immer wieder lachen. Momo schlief fest. Später schimpfte meine Mutter mit mir: »Man bringt doch ein so kleines Baby nicht ans Meer, wo die Sonne so stark ist. Momo hat ja noch nicht einmal Okuizome hinter sich.« Okuizome wird gefeiert, wenn ein Baby drei Monate alt ist und man ihm zum ersten Mal feste Nahrung gibt.
Im nächsten Jahr fuhren wir zur gleichen Zeit wieder zu dritt ans Meer. Ich hatte keine Angst mehr.
Es begann zu regnen, und der Wind frischte auf.
»Jetzt sind wir extra hergefahren, aber so ist es ja blöd.« Momo lehnte sich an mich. Durch die große Scheibe sah man das Meer. Die Wellen tosten. Auf der kleinen Terrasse standen zwei mit Kunststoff bezogene weiße Stühle. Typisch Resort, wirklich. Momo deutete darauf. Die Stühle waren völlig durchnässt.
Die Stirn an die Fensterscheibe gelehnt, schauten wir beide in den Regen. Momos Körper war warm. Ihr Atem ging rasch. Ach, meine arme Kleine, dachte ich.
Kindliche Wesen sind anrührend. Auch durch ihre Unwissenheit. Aber selbst wenn Momo eines Tages alles weiß und erwachsen ist, wird sie mich noch immer auf diese Weise rühren. Wenn vielleicht auch nicht mehr so stark.
Wir legten uns aufs Bett und lasen die Hotelbroschüre. »Es gibt hier ein Gourmetmenü«, sagte Momo mit etwas spöttischem Unterton. »Wollen wir das Gourmetmenü in unserem Strandresort essen? O ja, bitte. Aber bestimmt ist es teuer. Hast du genug Geld dabei, Mama?«
Je nach Windrichtung peitschte der Regen gegen die Scheibe. Obwohl wir in Manazuru waren, wurde ich noch nicht verfolgt. Unser Zimmer war hell und sauber. In einer der tiefen Schubladen des Einbauschranks lagen weiße Bademäntel und Pyjamas. Momo zog den weißen Bademantel über ihre Kleidung. Unbequem, sagte sie, zog den Mantel aus und begann, sich ihrer Kleider zu entledigen. Dann zog sie den Bademantel über T-Shirt und Unterhose. Lässig zurückgelehnt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, saß sie auf der Stuhlkante und blickte zur Decke.
»So einen Bademantel wollte ich schon immer mal anprobieren.« Momo setzte sich auf und befühlte den flauschigen Saum.
Ich musste an Krankenhausgeruch denken. Vielleicht weil das Zimmer so hell war? So hatte es in dem Zimmer gerochen, in dem mein Vater nach seinem Herzinfarkt lag. Anfangs war er auf der Intensivstation gewesen. Das Krankenhaus war eigentlich hell und ruhig gewesen. Mein Vater wirkte sehr klein in seinem Bett. Meine Mutter und ich zogen ihm mit Hilfe einer Schwester behutsam den OP-Kittel aus, den er auf der Intensivstation angehabt hatte, und halfen ihm in den Schlafanzug, den er zu Hause immer trug. Er war bei Bewusstsein, hielt aber die Augen fest geschlossen. An seinen Mund und seine Nase waren Schläuche angeschlossen. Nach einiger Zeit wurde er entlassen, aber nach dem nächsten Anfall im folgenden Jahr kam er nicht mehr nach Hause.
»Der Bademantel steht dir gut«, sagte ich. Sie lachte und zog die Nase kraus. »Und ich habe genug Geld für das Gourmetmenü.«
»Hurra!«
»Wenn der Regen aufhört, gehen wir spazieren.«
»Meinst du, es hört auf?«
»Natürlich, irgendwann.«
»Irgendwann...« Momo spielte weiter mit dem Saum des Bademantels.
Ebenso plötzlich wie er angefangen hatte, hörte der Regen auf.
Das Gras duftete. Es war noch jung und kurz, wie ein zarter Flaum, aber nach dem Regen duftete es. Wir machten einen Rundgang. Momo trug ihre kleine Tasche schräg über der Schulter. Es war noch immer böig. Ihre Haare flatterten. Momo zog eine Spange hervor und befestigte sie mit einem leisen Schnappen in ihrem Haar. Ein paar lose Strähnen fielen ihr in die Stirn.
»Hat Vater...«
»Vater?«
Der Sand war dunkel und feucht. Ich legte ein Taschentuch auf einen großen Felsen, und wir setzten uns darauf.
»Hat Vater geraucht?«
»Ab und zu«, antwortete ich, nach kurzem Nachdenken. Ich wusste es nicht mehr genau.
Mehr fragte sie nicht. Seit ich überlegt hatte, ob ich das Namensschild entfernen sollte, konnte ich wieder von Rei sprechen. Bis dahin hatte ich so getan, als hätte er nie existiert. Konnte weder von ihm sprechen noch an ihn denken. Ich träumte auch nicht von ihm. Sobald man von einem Verlust träumen kann, beginnt die Wunde zu heilen, habe ich gehört.
Als ich wieder von Rei sprechen konnte, hatte ich Momo ein Foto von ihm gezeigt. Vorher hatte sie nie nach ihm gefragt. Sie muss gespürt haben, dass es zwecklos gewesen wäre.
Erzählt hatte ich ihr nur, dass er verschwunden war. Richtiger wäre wohl gewesen, ihr gleich zu Anfang zu sagen, dass wir uns verliebt und geheiratet hatten, glücklich zusammen gewesen waren und aus diesem Grund sie bekommen hatten. Und dass wir auch nach ihrer Geburt bis zu Reis Verschwinden glücklich gewesen waren. Aber ich tat es nicht, denn ich war damals außerstande, mich mit anderen Gefühlen als meinen eigenen zu beschäftigen.
Als ich es endlich tat, war Momo acht Jahre alt. Aha, sagte sie nur. In der Mittelschule sprach sie mich zum ersten Mal darauf an.
»Damals..., weißt du Mama, als du mir alles erklärt hast, habe ich es nicht richtig verstanden. Ich fand es einfach nur gemein von Papa, dass er uns verlassen hat. Aber er war sowieso kaum zu Hause, also war es eigentlich egal, ob gemein oder nicht.«
»Habt ihr euch geliebt?«, fragte sie, als wir auf dem Felsen saßen.
»Ja.«
Geliebt. Ihre Wortwahl erstaunte mich. Der Wind wehte die Strähnen auf ihrer Stirn beiseite und entblößte ihre sanft geschwungenen Augenbrauen, die mich so sehr an Rei erinnerten.
»Wie wäre Vater denn, wenn er noch hier wäre...?«
»Tja... ich weiß nicht.«
»Aber du hast ihn doch gekannt.«
»Als Vater war er ein ganz anderer Mensch.«
Anders. Ein Ehemann und ein Vater waren also zwei verschiedene Wesen? Momo blinzelte. »Mir wird kalt. Gehen wir zurück?«
Das Taschentuch, auf dem wir gesessen hatten, war durch die Feuchtigkeit dunkler geworden. Momo und ich gingen Hand in Hand. Das hatten wir schon lange nicht mehr getan.
Ihre Hände waren kräftig. Fast so groß wie meine. »Es kommt nicht oft vor, dass wir über deinen Vater sprechen«, sagte ich auf dem Rückweg. Ich träumte noch immer nicht von Rei.
Auf dem Weg zurück ins Hotel folgte sie mir. Die Frau.
Auch beim Abendessen war sie da und bediente sich einfach an unserem Essen. Momos und meinem. Offenbar mochte sie Garnelen. Ständig nahm sie von der Platte mit den Meeresfrüchten in Tomatensauce. Solange noch etwas darauf war, konnte sie wieder und wieder zugreifen. In Wirklichkeit wurde der Teller mit den Garnelen nicht leerer, so oft sie auch zugriff. Die Frau konnte essen, so viel sie wollte.
»Hast du Hunger?«, fragte ich. Sie nickte.
»Ich kann noch jede Menge essen«, antwortete Momo.
Dich habe ich gar nicht gefragt, lag es mir auf der Zunge, aber ich sprach es nicht aus. Momo war ein wohlerzogenes Mädchen, das Antwort gab, wenn es gefragt wurde. Ich lächelte ihr zu. Die Frau verzog leicht abschätzig das Gesicht.
Ich erstarrte für einen Moment, als hätte mich ein Stromschlag getroffen.
Gleich darauf spürte ich, wie Wut in mir aufstieg. Die Frau ergriff die Flucht. Ich gestattete es nicht, dass jemand sich zwischen Momo und mich schob.
Am Strand waren wir einander näher gekommen. Momo und ich. Ich war ihr so gerne nah. Umgekehrt war es nicht so. Momo zog sich von mir zurück. Dann näherte sie sich wieder ein bisschen, um sich gleich wieder zu entfernen. Ob sie sich dieses Wechselspiels nun bewusst war oder nicht, sie machte es sehr geschickt.
Diese Wachsamkeit gegen Eindringlinge von außen hatte ich erst nach Momos Babyzeit entwickelt. Damals hätte sich sowieso nichts zwischen sie und mich drängen können, ganz gleich, ob ich es gestattete oder nicht. Wir waren ohnehin vierundzwanzig Stunden am Tag unzertrennlich. Was keineswegs immer ein Vergnügen war. Sondern anstrengend. Ich war ständig auf dem Sprung, wie ein Tier, das auf etwas lauert. Pausenlos war ich in Bewegung, aber keine meiner Bewegungen war nach außen gerichtet. Ich stillte, kochte, putzte, wischte, hängte Wäsche auf und faltete sie zusammen. Und immer mit diesem lauerndem Blick.
»Irgendwas ist vorbeigekommen«, sagte Momo.
»Was denn?«
»Vielleicht ein Flugzeug.«
Nicht die Frau. Momo sah in den Himmel. Der runde Tisch, an dem wir saßen, stand am Fenster, vor dem sich nur Meer und Himmel erstreckten. Ab und zu kam der Kellner, um nachzusehen, ob schon einige der Platten leer waren.
»Hat gut geschmeckt«, sagte Momo zu ihm, als er abräumte. Danke. Er wirkte erfreut. Wieder erschien neben mir die Frau.
Kennst du Rei?, fragte ich die Frau. Momo schlief unter der sanft gewölbten Bettdecke neben mir. Ich konnte ihren Atem nicht hören. Nur beim Umdrehen seufzte sie ein bisschen.
Rei?, fragte die Frau zurück.
Meinen Mann.
Die Frau begleitete mich jetzt ständig: wenn ich Wasser in die Wanne laufen ließ, beim Fernsehen nach dem Bad und auch wenn wir auf der Terrasse frische Luft schnappten. Sie schien mir etwas sagen zu wollen.
Ja, vielleicht, antwortete die Frau. Ihre Gestalt wirkte mal schwächer, mal dichter, war nie konstant. Vor allem hatte sie keine feste Form. Ich wusste nur, dass sie bei mir war. Ich spürte, dass sie Garnelen aß oder schnaubte. Das ging so weit, dass ich zugestimmt hätte, wenn jemand gesagt hätte, sie existiere nur in meiner Einbildung.
Ist Rei noch am Leben? Woher kennst du ihn?
Habe ich vergessen.
Die Antworten der Frau waren unbefriedigend. In Manazuru war ihre Präsenz dichter, dennoch schien es zwecklos, sie weiter zu befragen. Ich bemühte mich einzuschlafen, aber die Frau störte mich. Ich wollte, dass sie verschwand.
Geh weg.
Wohin denn?
Wo du hingehörst.
Ich weiß nicht, wohin ich gehöre.
Die Frau war in Schwierigkeiten. Aber was konnte ich dagegen tun? Mit dem Fuß schleuderte ich die Decke beiseite. Die Klimaanlage war auf niedrige Temperatur eingestellt, es konnte also nicht zu warm sein, dennoch glühte ich plötzlich. Eine eigenartige Situation. Noch nie hatte ich mich mit meiner Verfolgerin unterhalten.
Wie belanglos das doch alles war. Die Frau verschwand.
Auch was mich verfolgte, war belanglos. Völlig unbedeutend. Ob es da war oder nicht, machte keinen Unterschied. Ich schwankte, wie eine Waage, von der man ein Gewicht entfernt hat. Von welcher Seite konnte ich an dem Schwanken nicht erkennen. Ich spürte nur, wie es sich allmählich legte. Es war fast ein wenig traurig.
»Mama, sei guter Dinge!«, sagte Momo.
Das Morgenlicht war grell. Wir nahmen unser japanisches Frühstück im gleichen Saal ein wie das Abendessen. Das Hotel war unerwartet gut besucht.
Am Abend zuvor waren nur zwei Tische besetzt gewesen, aber jetzt war alles voll.
Es gab getrocknete Rossmakrele, Misosuppe mit Rettich und frittierte Tofutaschen, dazu gekochten Spinat mit heißem Tofu. »Ich bin doch guter Dinge«, sagte ich. Momo lachte. »Aber du hast kaum was gegessen.«
Ich hatte weder die Makrele noch den heißen Tofu angerührt. Da Momo einen hungrigen Blick darauf warf, schob ich ihr die Speisen zu. »Ich habe Appetit, ich bin im Wachstum«, erklärte sie und nahm sich noch eine Portion Reis.
Morgen- und Abendlicht sind verschieden. »Man sollte einfach noch mal von vorn anfangen«, sagte ich leise. »Warum denn?«, fragte Momo.
»Hast du am Morgen nicht auch mitunter dieses Gefühl?«
»Es geht dir also doch nicht gut. Denkst du an Vater?«
Geschickt zerlegte Momo die Makrele. Nur noch die Gräten und der Kopf, aus dem sie säuberlich die Augen herauspickte, waren übrig. Auch Rei hatte gern Fisch gegessen. Ich wollte morgens nicht an ihn denken. Sollte ich versuchen, an Seiji zu denken? Das wäre unfair ihm gegenüber. Ihn als Lückenbüßer zu benutzen.
»Momo, gibt es einen Jungen, den du magst?«
»Ja und nein.«
»Wie ist er denn?«
»Ganz normal.«
Ich hatte mich auf eine mürrische Antwort gefasst gemacht, aber Momo war gut gelaunt. Das war ansteckend, und meine Stimmung besserte sich.
»Was magst du an ihm?«
»Er ist irgendwie nett.«
Ich musste lachen, und Momo ärgerte sich. Das war zu viel. Aber das Wort »nett« amüsierte mich. Ich fand sie süß und strich ihr leicht über die Wange. Sie wurde blass und machte eine heftige, abrupte Bewegung mit dem Kopf, wie um meine Hand abzuschütteln. Sie wollte Abstand halten, Abstand zu mir.
Schwierig, dachte ich, und stand auf. Auf dem Weg in unser Zimmer ging Momo hinter mir. Zwischen uns war die Frau.
»Na, wie war’s in Manazuru?«, fragte meine Mutter.
»In Atami waren wir auch«, erklärte Momo. Wir hatten beim Verlassen des Resorts unsere Pläne geändert und einen Abstecher nach Atami unternommen. Ich dachte, mit Momo würde ich mich in Atami wohler fühlen, wo die Wege weniger steil waren und es mehr Menschen und Souvenirstände gab.
Als wir von der Bahnhofsmeile, an der sich die Souvenirläden drängten, an dem ins Meer mündenden Fluss entlangschlenderten, entdeckten wir eine kleine Konditorei. Am anderen Ufer gab es einen Schießstand. Wahrscheinlich war er nicht mehr in Betrieb, er wirkte still und war verrammelt. Die Konditorei war frisch renoviert, bestand aber angeblich bereits seit mehreren Jahrzehnten.
»Die Kakao-Torte war so was von lecker«, erzählte Momo meiner Mutter. »Dazu habe ich warme Milch getrunken.« In der Konditorei war mir der Duft aufgefallen, den Momos Nacken verströmte. Ein süßer Duft. Dass ein Kind erwachsen wird, ist betrüblich. Nicht das heranwachsende Kind selbst, nein, sondern eher der Umstand des Erwachsenwerdens, des Wucherns an sich. Dabei wird auch viel Überflüssiges abgeworfen. Die Person selbst kann nichts dagegen tun. Ich verspürte Midleid. Sie war ja noch ein Kind und wusste von nichts.
Ob ihr Wachstum mich deshalb so beunruhigte? Dieses körperliche und emotionale Wuchern. Auch schwangere Frauen haben dieses Beunruhigende an sich. Ich hatte es sogar an mir selbst empfunden, als ich mit Momo schwanger war.
In Atami machten wir eine Menge Fotos. Die Frau war mir nicht weiter gefolgt. Ab Yugawara war plötzlich nichts mehr von ihr zu sehen. Auch Reis Präsenz hatte sich verflüchtigt. Momo lachte auf jedem Bild.
»Irgendwie künstlich.« Sie deutete auf ihr Gesicht.
»Aber du siehst glücklich aus.«
»Wenn sie lacht, sieht sie genau aus wie du, Kei«, sagte meine Mutter.
Auf der Rückfahrt kamen wir wieder durch Manazuru, und ich schaute aus dem Fenster.
Es war bewölkt. Obwohl in Atami die Sonne geschienen hatte.
Etwas Unheimliches lag über dem Ort. Seine Bewohner merkten nichts davon. Nur die Reisenden.
»Den nächsten Ausflug machen wir aber zu dritt«, sagte ich und warf meiner Mutter einen Blick zu. Sie sah mich mitleidig an. Für sie war ich das ahnungslose Kind.
Wenn ich mich mit Seiji treffe, bin ich immer ein bisschen aufgeregt. Obwohl wir schon so lange zusammen sind.
»Ich war mit meiner Tochter verreist«, erzählte ich ihm.
»Hattet ihr schönes Wetter?«
»Teils, teils.«
Während ich neben ihm herging, redete ich vor lauter Aufregung eine Menge belangloses Zeug. Ich kann nicht gut sortierten, was ich erzählen soll und was nicht. Ich bin wie ein großmaschiger Korb, aus dem alles, was man hineinpackt, wahllos herausfällt.
»Wenn ich mit dir zusammen bin, werde ich immer schläfrig«, hatte Seiji einmal zu mir gesagt.
»Heißt das, ich bin eine Langweilerin?«, fragte ich beunruhigt.
»Nein, ich meine nur, dass ich tief und ruhig schlafen kann, wenn wir zusammen sind.« Er lachte.
Manchmal fand ich mich alt. Zehn Jahre war es her, seit ich Seiji kennengelernt hatte. Für jeden von uns war die gleiche Zeit vergangen, dennoch alterten wir verschieden. Seijis und meine Zeit verliefen getrennt. Ihr Fluss war ein anderer.
»Aber im Grunde passt es.«
»Was passt?«, fragte Seiji.
»Das Ganze.«
»Ja?«
Seiji fragte nicht weiter nach. Was das Ganze sein sollte, wusste ich auch nicht. Das Ganze eben.
»Ich habe versucht, dich anzurufen«, sagte er leise.
»Wann denn?«
»Als du in Manazuru warst.«
»Ach?«, sagte ich überrascht. Offenbar hatte ich die Nachricht auf der Mailbox nicht bemerkt. Ich dachte an die Nacht im Hotel. Das Meer war so nah und schien sich dennoch bis in weiteste Ferne zu erstrecken. Wie wäre es gewesen, wenn ich dort Seijis Stimme gehört hätte?
»Ich möchte es tun«, sagte ich.
»Ja, heute schlafen wir zusammen«, antwortete Seiji.
Unsere nebeneinanderliegenden Körper strahlten Wärme ab.
Bevor wir begannen, verspürte ich den Impuls, ihm auszuweichen - sowohl gefühlsmäßig als auch körperlich.
Ich wollte nicht anfangen. Noch ein wenig.
»Komm«, sagte Seiji. Ich drängte mich näher an ihn heran. Sobald ich seine Haut berührte, dachte ich nicht mehr an Flucht.
Seijis Handflächen sind weich. Gegen meine Finger, die anfangs noch etwas steif waren, fühlten sie sich umso weicher an. Aber dann entspannte auch ich mich. Das Blut, das in meinem Körper stockte, geriet in Bewegung und strömte bis in seine äußersten Spitzen.
Schön, flüsterte ich. Bei Seiji konnte ich mich mit Worten ausdrücken. Bei Rei hatte ich das nicht gekonnt.
Als wir uns umarmten, bekam ich das Gefühl, nur noch aus Konturen zu bestehen. Meine Konturen streiften Seijis Konturen. Nur der Inhalt dieser Konturen, die fast verschmolzen, es dann aber doch nicht taten, vermischte sich, wurde glatt gerührt und noch einmal vermischt. Währenddessen fühlte ich mich weniger aufgelöst als danach. Eine Weile - ungefähr fünf Minuten - konnte ich mich nicht bewegen.
Als ich so da lag, hörte ich ein Rauschen wie vom Meer.
»Was ist das?«, fragte ich. Seiji legte den Kopf schräg.
»Vielleicht das Anfahren eines Autos?«, fragte er zurück.
»Wieso von einem das abfährt und nicht von einem das ankommt?«
»Ankommen klingt forscher, oder?«, sagte er und bettete seine Wange auf das Laken.
Er ist ein Mensch, der Dinge sagt, die die Stimmung verderben, dachte ich. Ob einer ankommt oder abfährt, die Geschwindigkeit ist doch die gleiche, woher willst du das also wissen, hätte ich gerne gesagt. Ich verspürte den Drang, etwas kaputt zu machen, das ohnehin zerbrechen würde.
»Ich habe Hunger«, sagte ich mit absichtlich fester Stimme. Seiji lachte. Mit seinem Lachen verscheuchte er meinen Zerstörungsdrang.
»Ich würde gern etwas Warmes essen.« Ich konnte mich wieder bewegen und setzte mich auf. Ich strich mit dem Finger über Seijis Rücken. Er blieb ruhig ausgestreckt liegen, aber seine Schultern zuckten ein wenig. Fühlt sich das gut an? fragte ich. Es kitzelt, antwortete er.
Nachdem ich mich gestreckt hatte, berührte ich Seiji noch einmal. Mein Finger hinterließ einen leichten Abdruck. Das Meeresrauschen wurde lauter.
Nach dem Essen verabschiedeten wir uns.
Auf dem Heimweg fühle ich mich immer leicht. Leicht und frisch, ganz gleich, ob es Tag ist oder Nacht, Winter oder Sommer.
Als ich an einer Ampel vor dem Bahnhof wartete, sah ich, wie ein Mann die Straße bei Rot überquerte. Er trug einen Hut. Ohne nach links oder rechts zu schauen, eilte er auf die andere Seite.
Achtung!, entfuhr es mir unwillkürlich. Ein weißer Wagen näherte sich mit einiger Geschwindigkeit. Der Mann ging ungerührt weiter, ohne seine Schritte zu beschleunigen oder zu verlangsamen.
Mein Herz hämmerte. Normalerweise vergaß ich, dass ich ein Herz hatte, aber nach dem Schreck machte es sich bemerkbar. Der Mann war in einer Seitenstraße verschwunden. Es wurde grün, und alle Passanten strömten auf einmal über die Straße. Neben mir ging eine Frau. Sie war so groß wie ich, kräftig gebaut, mit kurzem Haar. Langsam stapfte sie über die Straße.
Das Herzklopfen brachte mir meinen Körper stärker ins Bewusstsein. Wie ich meine Beine bewegte. Die Frau und ich gingen im Gleichschritt. Nicht nur die Frau, alle, die die Straße überquerten, gingen im Gleichschritt. Unheimlich.
Bei aller Leichtigkeit und Frische drohte ich in einen seltsamen Zustand zu verfallen.
Um mich abzulenken, dachte ich an Seiji. Vielleicht würde ich dieses Gefühl vergessen. Seiji hatte eine Schwiele vom Bleistift. Am oberen Gelenk seines rechten Mittelfingers. Neuerdings schreibt man nicht mehr so viel mit Bleistift, oder?, sagte ich irgendwann. Seiji schüttelte den Kopf. Ich schon, sagte er. Ich benutze Bleistifte statt Kugelschreiber.
Seiji und ich hatten beide mit Schriftstellerei zu tun - ich schrieb, Seiji ließ schreiben.
Zu Anfang unserer Bekanntschaft hatten wir öfter zusammengearbeitet. Ich schrieb damals jede Woche einen kurzen Essay. Seiji hatte eine eigene Art, andere Menschen zu loben. Es klang nie direkt wie ein Lob, auch wenn es eins war. Schließlich wurden meine Essays in einem Buch veröffentlicht, und ich bekam weitere Aufträge, mit denen ich Momo und mich über Wasser halten konnte.
Im Gedanken versunken kam ich vor unserem Haus an. Ich blieb kurz im Licht der Straßenlaterne stehen. Am Bahnhof waren viele Menschen unterwegs gewesen, aber inzwischen war ich allein. Wohin waren all die anderen gegangen?
Nachdem wir das Hotel verlassen hatten, sagte Seiji, er würde wieder ins Büro gehen. Während er das Taxi heranwinkte und einstieg, erschien sein Rücken mir fremd. Solche Momente gab es immer wieder.
Bei Rei hatte ich dieses Gefühl von Fremdheit nie verspürt. Ich sah ihn noch immer genau vor mir, sein Gesicht, seinen Körper, alles. Die Straßenbeleuchtung war schwach. Ich trat aus ihrem Lichtkegel und drückte sachte das Tor auf.
»Diesmal kann ich meine Medikamente nicht reduzieren«, sagte meine Mutter beunruhigt.
Sie musste morgens und abends etwas gegen ihren hohen Bluthochdruck einnehmen. Da er im Winter meist etwas stieg, brauchte sie in dieser Zeit die doppelte Dosis. Im Frühling konnte sie sie normalerweise wieder heruntersetzen.
»Vielleicht liegt es daran, dass jetzt dieser junge Arzt die Praxis hat. Er geht nur nach Werten und Zahlen. Mein alter Arzt hat alle möglichen Faktoren beachtet«, fuhr meine Mutter fort. Sie streckte sich. Sie klang zwar besorgt, aber es war zu merken, dass sie sich auf den Frühling freute. Kraftvoll und bis in die Fingerspitzen streckte sie die Arme aus.
»Bestimmt kannst du bald wieder deine normale Dosis nehmen«, sagte ich. Meine Mutter nickte. »Ich habe Kaulquappen gesehen«, verkündete sie unvermittelt.
»Wo denn?«
Meine Mutter lachte. »Ich war mit Momo am Teich bei der Universität. Am Sonntag. Als du im Kino warst.«
»Das war doch dienstlich«, murmelte ich schuldbewusst. Meine Mutter lachte wieder. »Du kannst doch ins Kino gehen, sooft du Lust hast.«
Etwas in mir verkrampfte sich, wenn ich mit meiner Mutter über Rei sprach. Denn sie sah ihn, den Mann, mit dem ich verheiratet war, aus einer Art Froschperspektive. Damit will ich gar nicht sagen, dass sie voreingenommen war. Sie weigerte sich nur, ihn als Person wahrzunehmen. Stattdessen sah sie ihn durch eine Linse, die ihn von oben bis unten verzerrte. Ihre Abneigung war nicht so groß, dass sie den Blick hätte abwenden müssen. Oder ihn anstarren. Aber sie legte Wert darauf, dass ihr Bild von ihm möglichst verschwommen blieb.
Ähnlich war es mit meiner Arbeit. Aber Arbeit war eben Arbeit. Sie war vielleicht so etwas wie das Salz oder das Wasser, das man auf den Kamidana, den Hausaltar, stellt. Die Opfergaben waren zwar da, aber da sie zum Gebrauch bestimmt waren, wurden sie bald unsichtbar, sozusagen körperlos.
Aber Rei hatte einen Körper, und das machte es für meine Mutter so schwer.
»Kaulquappen? Jetzt schon?«, fragte ich. »Ist es nicht noch zu kalt?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nur Laich. Du weißt schon, diese gelatineartigen Schnüre mit den vielen schwarzen Punkten. Momo sagt, sie hat zum ersten Mal welche gesehen.«
Die Universität lag etwa zwanzig Minuten zu Fuß von uns entfernt. Neben den Tennisplätzen gab es einen Teich. Dabei fällt mir ein, dass Rei und ich vor unserer Hochzeit dort öfter spazieren gegangen sind. Es ist ein kleiner Teich, von ungepflegtem Gebüsch umgeben. Von seinem Ufer aus konnte man die Tennisplätze nicht sehen. Nur das Schlagen der Bälle klang unerwartet laut und nah. Unter den Büschen hatte Rei mich oft geküsst und meinen Namen geflüstert - Kei.
Die Wasseroberfläche kräuselte sich zu jeder Jahreszeit.
Als es wärmer geworden war, brachte Momo ein Einmachglas mit etwa zehn Kaulquappen mit nach Hause.
»Wasser«, murmelte sie, während sie das Glas gegen die Sonne hielt. »Was da alles drin rumschwimmt.«
Ich näherte mein Gesicht dem ihren und schaute ebenfalls in das Glas. Feine algenartige Teilchen, graue Fussel und Erdpartikel schwebten darin. In dem auf den ersten Blick so klaren Wasser schwamm wirklich alles Mögliche. Unter anderem zappelten mehrere Kaulquappen darin.
»Stammt das Wasser aus dem Teich?«, fragte ich.
Sie nickte. »Als ich es herausgeschöpft habe, sah es ganz sauber aus.«
»Es ist doch sauber«, sagte ich. Momo starrte in das Glas.
Am nächsten Morgen trieb eine der Kaulquappen tot an der Oberfläche, aber die übrigen schwammen noch ganz munter im Wasser. Ihre Schwänze sind so dünn, sagte Momo und lachte. So dünn und süß.
Im Haus herrschte Stille. Momo war in der Schule, und meine Mutter schlief noch. Ich spülte das Geschirr und stellte es zum Abtropfen in den Ständer. Die kleinen Tropfen funkelten im Morgenlicht. Ob in ihnen auch so viele Teilchen schwebten? Man sah zwar nichts, aber bestimmt wimmelte es davon.
Ebenso wie es manchmal um mich herum von Verfolgern wimmelte. Das geschah meist nicht an belebten Orten, sondern eher, wo keine Menschen waren. Dann folgten mir zwanzig oder dreißig auf einmal, um im nächsten Augenblick wieder zu verschwinden.
Ich stellte mein Notebook auf den Esstisch und öffnete es, um zu arbeiten. Bis vor Kurzem hatte Momo das silberfarbene Gerät noch »den kleinen Silbernen« genannt. Ist es denn ein Junge?, hatte ich sie gefragt. Ja, sagte sie, wir haben ja sonst keinen Jungen im Haus. Damals war sie in der siebten Klasse gewesen. Seitdem sind kaum drei Jahre vergangen, und sie ist wortkarg geworden.
Ich hatte vergessen, die Margarine in den Kühlschrank zu stellen. Sie stand schräg hinter dem PC, der Deckel halb offen. Als ich nach dem Behälter griff, um ihn zu schließen, fiel mein Blick durch den Spalt auf die weiche Margarine. Die hellgelbe Masse, sonst fest und kühl, war weich, und ich verspürte Lust, sie zu berühren, mit dem Finger hineinzutauchen und die Margarine davon abzulecken. Ich tat es nicht.
Ich drückte den Deckel zu und stellte die Margarine in den Kühlschrank. Der Kühlschrank brummte.
Als den Kaulquappen nacheinander Hinter- und Vorderbeine wuchsen, starben sechs von ihnen. Momo weinte. Ich wickelte die toten Kaulquappen, deren Schwänze schon verkümmert waren, in eine Mullbinde und begrub sie im Garten.
»Es sind eben deine ersten Haustiere«, sagte meine Mutter und strich Momo über den Kopf. »Kei hat ja mal einen Hund gehabt. Damals haben wir eine Hundehütte gebaut. Aus Fertigteilen, das Dach haben wir rot gestrichen.« Momo hob den Kopf.
Was denn für einen Hund?, fragte sie.
Einen Mischling.
Und wie hieß er?
Wie lange hattet ihr ihn?
Bis vor etwa zwanzig Jahren.
War er niedlich?
Ja.
Im Glas schwammen noch drei Kaulquappen. Sie hatten im Vergleich zu den sechs, die gestorben waren, lange Schwänze. Würden sie auch sterben, wenn sie ihre Schwänze verloren? Vielleicht füttern wir sie nicht richtig, sagte Momo und machte sich fertig zum Gehen. Ich frage mal in dem Zoogeschäft am Bahnhof. Vielleicht brauchen wir ein richtiges Aquarium.
Dann gehen wir zusammen, ich muss auch einkaufen, sagte meine Mutter und machte sich ebenfalls bereit.
»Ich möchte keinen Hund haben«, sagte Momo. »Ich hätte Angst, weil ein Hund so süß ist.«
»Angst?«, fragte meine Mutter.
»Ja, Angst, dass er verschwindet.«
Meine Mutter schwieg. Auch ich schwieg. Mit gesenktem Kopf knöpfte Momo ihren Frühjahrsmantel zu. Wir sprachen zwar nicht ausdrücklich über Reis Verschwinden, aber in letzter Zeit mieden wir das Thema auch nicht mehr so geflissentlich. Jirō war ein kluger Hund gewesen. Er hatte genau gewusst, wann er bellen durfte und wann nicht. Sein Fell war nicht glatt, sondern eher rauh gewesen. Wenn man ihn streichelte, wedelte er mit dem Schwanz.
Wir beerdigten die Kaulquappen im Garten. Die Erde war feucht und dunkelgrün. Sie gab nach und fiel auseinander, als ich mit der Schaufel darin grub.
Das Jackett war dunkelgrün.
Das Jackett, das Rei in dem letzten Sommer gekauft hatte, meine ich. Freitags haben wir jetzt einen krawattenfreien Tag, sagte er, auch das noch. Also gingen wir in ein Kaufhaus, um ein passendes Jackett zu kaufen. Rei suchte höchst ungern Kleidung aus. Seit unserer Hochzeit ließ er sich alles von mir aussuchen. Als ich ihn fragte, ob er bei Krawatten nicht irgendeine Vorliebe habe, schüttelte er den Kopf. Mir ist alles recht, sagte er, solange es kein Panther- oder Drachenmuster ist.
Doch nun fragte er ausnahmsweise von sich aus, ob er vielleicht ein weißes Jackett nehmen solle. Wenn es farblich zu deinen Hosen passen soll, erwiderte ich, würde ich etwas Dunkles besser finden. Rei nickte sofort zustimmend.
Im Nachhinein kam es mir jedoch so vor, als hätte er einen Augenblick lang gezögert. Was mir zuerst nicht aufgefallen war.
Wir gingen nach Hause und entfernten das Preisschild. Ich hielt das Jackett neben eine seiner Hosen im Schrank und sagte, siehst du, die Farbe passt doch gut, oder? Rei sagte nichts. Ich glaubte, er habe mich akustisch nicht verstanden. Einige Male zog er das Jackett tatsächlich ins Büro an. Aber am Ende trug er wieder Anzug und Krawatte. Ungeachtet der Einführung des krawattenlosen Tages trug die Hälfte der Kollegen doch Krawatten. Ich bin einfach zu korrekt, brummte Rei.
Als der Sommer vorüber war, verschwand er. Kurz zuvor hatte ich sein Jackett durchgesehen, da ich es zur Reinigung bringen wollte, und in der Brusttasche einen Zettel mit einer Zahl gefunden, die eine Uhrzeit hätte sein können - 21.00.
Sie stand ganz klein in einer Ecke des Papiers, das etwa die Größe einer Visitenkarte hatte. Ich knüllte es zusammen und warf es weg.
Nachdem feststand, dass Rei verschwunden war, ließ ich das Jackett noch etwa einen Monat in der Reinigung. Irgendwann entdeckte ich den Abholschein in meinem Portemonnaie und machte mich widerwillig auf. Als ich das Jackett entgegennahm, fielen mir die Zahlen - 21.00 - wieder ein. Ich bekam Herzklopfen.
Mit hämmerndem Herzen stürzte ich aus der Reinigung ins Freie. Die Inhaberin schwitzte immer. Schon bevor es richtig Sommer wurde, entschuldigte sie sich ständig, sie könne die Klimaanlage nicht vertragen. Wahrscheinlich beschwerten sich die Kunden dauernd über die Hitze im Laden. Auch wenn der Sommer längst vorbei war, schwitzte die Frau. Sie roch auch ein wenig. Ich hängte das Jackett in die hinterste Ecke in den Schrank, ohne die Plastikhülle abzunehmen. Ich fasste es nicht mehr an, bis ich vor unserem Umzug zu meiner Mutter die Wohnung ausräumte.
Noch immer grübelte ich darüber nach, was diese Zahlen auf dem Zettel zu bedeuten hatten. Doch meine Gedanken gerieten jedes Mal schnell in eine Sackgasse. Im Laufe der Zeit blieb immer weniger von Rei. Auch das Jackett hatte ich nach einigen Jahren weggeworfen. Und dennoch gab es noch genügend Dinge, die er zurückgelassen hatte.
»Du, Seiji?«, sagte ich am Telefon. Wenn ich ihn am Telefon mit seinem Namen ansprach, fühlte ich mich ihm näher, als wenn er direkt vor mir stand. Vielleicht weil alle anderen Wahrnehmungen außer der akustischen ausgeschlossen sind.
»Was ist denn?«
»Glaubst du, wir werden uns eines Tages trennen?«
»Du stellst ja Fragen«, sagte er. »Willst du dich denn von mir trennen?«
»Nein, ich habe nur wieder daran gedacht.«
Seiji weiß, dass ich Rei meine, wenn ich sage, »ich habe wieder daran gedacht«. Ich bin eine scheußliche Frau. Finde ich selbst.
Seiji ist immer liebenswürdig und gütig. Er sagt nur gütige Sachen. Deshalb macht er mir Angst. Aber meine Angst vor ihm ist anders als meine Angst vor Rei.
»Wo würdest du dich mit jemandem verabreden, so gegen 21 Uhr?«, fragte ich ihn.
»Tja, also, die Cafés machen um die Zeit allmählich zu. Dann vielleicht im Foyer oder in der Lounge eines Hotels? Oder in einer Kneipe?« Seiji gab sich Mühe.
Ich wusste ja gar nicht, ob die Zahl 21.00 überhaupt eine Verabredung zu dieser Uhrzeit bedeutete. Dennoch klammerte ich mich an diesen Gedanken, der stets in eine Sackgasse mündete.
»Übrigens habe ich heute Abend um 21 Uhr auch eine Verabredung«, sagte Seiji.
»Ach?«
»Mit einem jüngeren Kollegen in einer Hotelbar.«
»Pass gut auf dich auf«, sagte ich. Seiji lachte. Lautlos, wie immer, aber ich spürte, wie die Luft um seinen Mund sich ausdehnte.
Ob es Reis Verschwinden verhindert hätte, wenn ich ihm gesagt hätte, er solle auf sich aufpassen? Auch dieser Gedanke führte zu nichts. Ich streckte mich und drängte meine Sehnsucht zurück. Rasch fragte ich Seiji, wann wir uns Wiedersehen würden.
»Ich bin gerade furchtbar beschäftigt, sagte er, deshalb wird es diesen Monat wohl nichts mehr mit einem Treffen. Tut mir leid.«
»Verstehe ich doch«, antwortete ich ruhig.
Seiji lachte wieder. »Du bist ja so fügsam heute.«
Die Worte »es wird nichts mehr« hatten mir einen Stich versetzt. Nicht, dass ich mich sehr nach ihm sehnte, es tat mir einfach weh.
Es war nicht nur der Zettel.
Ich hatte auch Reis Tagebuch. Es stand noch immer neben den Wörterbüchern im Bücherregal. Etwa einmal im Monat nahm ich es hervor.
Die Eintragungen waren rein sachlich: ein Päckchen Rasierklingen. Abends Restaurant Tongen. Takamatsu. Kawahara. Einladung Abteilungsleiter. Spielzeugpferd für Momo. Solche Sachen eben, ganz nüchtern. Worte ohne Gefühlswert, dennoch versetzte es mir einen Stich, sooft ich sie las. Allein die aneinander gereihten Zeichen griffen mich an.
Ich hatte nicht gewusst, dass Rei ein Tagebuch führte. Als ich es entdeckte, durchforstete ich es gründlich nach einem Schlüssel zu seinem Verschwinden - vielleicht eine Frauengeschichte oder finanzielle Schwierigkeiten? Erfolglos.
Eine Weile war ich verstört. Nicht, weil ich nichts gefunden hatte, sondern weil ich in Reis Leben herumgeschnüffelt hatte. Es fiel mir schwer, Einträge wie den Preis der Hähnchen-Ei-Reisschale, die er zu Mittag gegessen hatte, die Nummer einer alten Zeitschriftenausgabe oder dienstliche Notizen »Liefertermin 5 Tage früher, Besprechung morgen«, mit meinem Mann Rei, der bis vor kurzem mit mir zusammengelebt hatte, in Verbindung zu bringen.
Eine Zeitlang versteckte ich das Buch ganz hinten im Regal, damit ich es nicht sehen musste. Keine Sekunde hatte ich mich Rei fremd gefühlt, aber seit dem Augenblick, in dem ich sein Tagebuch gelesen hatte, wurde er es. Auf einmal konnte ich mich nicht mehr an sein Gesicht erinnern. Weder an seinen Geruch noch daran, wie seine Haut sich angefühlt hatte, oder an seine Stimme.
Nicht, weil er nicht mehr da war. Sondern weil ich beim Lesen des Tagesbuchs alles darin nicht mit meinen eigenen Augen, sondern mit Reis Augen betrachtet hatte. Wie ekelhaft war es doch, Dinge mit dem Blick eines anderen zu betrachten. Nun schmerzte es mich, wenn ich die Zeichen in seinem Tagebuch ansah. Es tat weh. Sehr. Ich hasste ihn. Rei. Er war anders als ich. Er war mir fern.
Doch in Wirklichkeit hatte ich ja gewusst, dass er mir fern war. Dennoch erschrickt man, wenn es so deutlich wird. Die Gefühle geraten in Aufruhr, man zuckt zurück, als hätte man ins Feuer gegriffen.
Nach einer Zeit stellte ich das Tagebuch wieder vorne ins Regal, wo die Bücher standen, die ich öfter zur Hand nahm. Rei, dieser Idiot, sagte ich manchmal. Es fiel mir ganz leicht, es zu sagen.
Einmal, als ich es sagte, beobachtete Momo mich verstohlen. Von hinten.
Wie erstarrt stand ich mit dem geöffneten Tagebuch in der Hand da, und Momo verließ sofort den Raum. Nicht feindselig, aber die Atmosphäre war dicht und anklagend geworden. Von hinten.
Ich beneidete Momo um die Möglichkeit, jemandem die Schuld zu geben. Auch ich hätte das gern getan, aber mir fehlte ein Angriffziel. Also blieb mir nichts anderes übrig, als sinnlos mit den Armen zu fuchteln.
Die Bäume blühten, und die Luft duftete.
Seiji hatte keine Zeit, und Momo war beschäftigt, seit sie auf die Höhere Schule ging. Also machte ich mich alleine auf den Weg zur Universität. Das Wetter war schön, und ich fühlte mich wohl. Ich ging zu dem Teich an den Tennisplätzen und setzte mich auf den Rasen. Aus den drei überlebenden Kaulquappen waren Frösche geworden. Einige Tage zuvor hatten Momo und ich sie am Teich ausgesetzt. Reglos hatten die kleinen grünen Wesen einen Moment lang im Gras gehockt, dann waren sie davongehüpft und im Gebüsch verschwunden.
An diesem schönen Tag hatte die Gestalt, die mich verfolgte, etwas Leuchtendes. Der Teich kräuselte sich. Ich öffnete den Dosentee, den ich mir unterwegs gekauft hatte, und trank. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie durstig ich war. Diesmal war es ein Mann, der mir folgte. Beim Trinken überlegte ich, ob ich ihn vielleicht von früher kannte.
Ich nahm Reis Tagebuch aus meiner Tasche, schlug es auf und riss willkürlich eine Seite heraus. Wie jedes Jahr. Eines Tages werde ich alle Seiten herausgerissen haben. Aus dem Blatt faltete ich ein Flugzeug. Ich wollte es über den Teich segeln und darin versinken lassen.
Beim Falten berührten meine Finger die Zeichen, die Rei geschrieben hatte. Zu meinem Erstaunen entdeckte ich unter dem mit dickem schwarzem Füller geschriebenen Eintrag »20 Briefmarken zu je 62 Yen. Saitō-AG, erledigt« das Wort Manazuru. Ich faltete das Blatt auseinander, um mich zu vergewissern. Mein Mann hatte es etwa einen Monat vor seinem Verschwinden mit einem feinen Kugelschreiber geschrieben.
Ich faltete das Blatt zweimal und legte es in das Tagebuch zurück. Manazuru, sagte ich leise. Ich hatte es nie bemerkt. Oder vergessen. Manazuru, murmelte ich noch einmal. Der Teich glitzerte. Auch mein Verfolger funkelte im Licht. Der Wind frischte auf. Das Rauschen der Blätter erfüllte die Luft. Es war so gleißend hell, dass ich nichts mehr sehen konnte.