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Jemand folgte mir.
Ob es ein Mann oder eine Frau war, ließ sich nicht ausmachen. Noch zu weit weg. Und wenn schon. Ich ging weiter.
Es war Vormittag, und ich befand mich auf dem Weg von meiner Unterkunft zur Landspitze. Die kleine Pension, in der ich am Abend zuvor abgestiegen war, wurde von einem Paar - dem Alter nach Mutter und Sohn - betrieben. Der Zug brauchte zwei Stunden von Tokio bis hierher. So war es bei meiner Ankunft schon gegen neun gewesen und der Eingang bereits verschlossen. Eingang ist vielleicht zu viel gesagt, es war ein niedriges Eisentor wie bei einem gewöhnlichen Wohnhaus, neben dem sich ein paar magere, knorrige Kiefern wanden. Der Name der Pension stand nicht da, es gab nur ein altes Schild mit dem Zeichen »Suna« - Sand - in Pinselschrift.
»Das ist aber ein ungewöhnlicher Name«, sagte ich zu der Mutter.
»So heißen hier viele«, erwiderte sie.
Der Sohn war schon recht grau, aber kaum älter als Mitte vierzig, also etwa so alt wie ich.
»Mit Frühstück?«, fragte er. Seine Stimme erinnerte mich an jemanden, obwohl ich den Mann ganz sicher zum ersten Mal sah. Aber an wen nur? Es war auch nicht direkt ihr Klang, sondern eher eine gewisse untergründige Schwingung, die mir bekannt vorkam.
Ich verneinte. Er kam hinter der Rezeption hervor und ging mir voran zum letzten Zimmer am Ende des Flurs. »Ich lege Ihnen gleich den Futon aus. Wenn Sie baden wollen - das Ofuro (*) ist im Keller«, erklärte er kurz angebunden. Als er fort war, zog ich die dünnen Vorhänge beiseite. Vor mir lag das Meer. Die Wellen rauschten. Kein Mond. Ich hätte sie gern gesehen und strengte meine Augen an, aber die Straßenbeleuchtung reichte nicht aus. Der Raum war sehr warm. Man hatte ihn wohl schon länger bereit gehalten. Ich öffnete das Fenster, um kühle Luft hereinzulassen.
Das Bad lag im Keller, und es herrschte dämmriges Licht. Hin und wieder fielen Tropfen von der Decke.
Ich dachte an Seiji. Er müsse die Nacht in seinem Büro in Tokio verbringen, hatte er gesagt. Mehrmals schon hatte er mir den Ruheraum in seiner Firma beschrieben, dennoch konnte ich mir nichts Genaues darunter vorstellen.
»Es ist einfach ein kleiner Raum, in dem ein Bett steht«, sagte er. »Wir haben drei davon. Ist einer abgeschlossen, heißt das, es schläft gerade jemand darin.«
Da ich noch nie in einer Firma gearbeitet hatte, malte ich mir eine Art Krankenzimmer aus. Ein Stahlbett mit einer hellbraunen Decke, umgeben von einem Vorhang. Auf dem harten Boden davor, auf dem jeder Schritt hallt, stehen Hausschuhe. Am Kopfende gibt es eine Klingel und eine Fieberkurve.
»Aber nein«, hörte ich Seiji sagen. »Es ist ein ganz gewöhnlicher Raum mit niedriger Decke. Manchmal liegen noch Zeitschriften von anderen Leuten herum.« Er verzog belustigt die Mundwinkel. Denn Seiji lachte lautlos. Das Lachen glitt über sein Gesicht. Anfangs hatte mich das verstört, aber inzwischen war ich daran gewöhnt.
Wenn er dort übernachte, schlafe er immer erst im Morgengrauen ein.
»Bei Tagesanbruch ist es sehr still«, sagte er. »Sobald die Etagenbeleuchtung ausgeschaltet ist, erscheinen alle Geräusche im Gebäude gedämpft. Ich kann noch so erschöpft sein, kaum strecke ich mich auf dem harten Bett aus, bin ich hellwach und kann nicht einschlafen. Als Kind hatte ich ein Ritual, ich habe es ewig nicht gebraucht, aber seit ich öfter im Büro übernachte, wende ich es wieder an. Du musst dir vorstellen, du treibst auf dem Wasser, nicht im Wasser wie beim Schwimmen, sondern so, dass der Körper auf der Wasseroberfläche liegt. Du legst Hinterkopf, Rücken, Po und Fersen sachte auf der glatten Fläche ab und liegst ganz still. Die Teile, die auf dem Wasser ruhen, werden allmählich warm, und du schläfst ein.« Wieder verzog Seiji die Mundwinkel zu seinem lautlosen Lachen.
Im Gegensatz zu Seiji musste ich nicht unbedingt einschlafen und blieb nach dem Baden noch lange wach. Erst als die durch einen Spalt zwischen den Vorhängen sichtbare Schwärze vor dem Fenster in dunkles Blau überging, wurde ich schläfrig. Ob Seiji jetzt auch schlief? Ich löschte das Licht und schloss die Augen.
Es war schon nach neun Uhr, als ich aufwachte, und Tageslicht flutete in mein Zimmer. Die Wellen rauschten lauter als am Abend zuvor. Ich ging an die Rezeption und erkundigte mich nach dem Weg zur Landspitze. Der Sohn nahm ein Blatt Papier und machte mit Bleistift eine Umrissskizze von der Umgebung. In die Mitte zeichnete er den Weg ein.
»Die Form erinnert mich an etwas«, sagte ich.
»Wirklich?«, erwiderte er. Noch immer kam ich nicht darauf, an wessen Stimme mich sein Tonfall erinnerte. Aber woran die Form der Landspitze mich erinnerte, wusste ich sofort: an einen Drachenkopf. Sogar die Schnurrbarthaare an den Nüstern waren zu erkennen.
»Zu Fuß brauchen Sie eine knappe Stunde bis zum Kap«, sagte der Sohn. »Wenn Sie gemütlich gehen, dauert es länger«, rief die Mutter aus dem Inneren herüber.
»Vielleicht werde ich noch eine Nacht bleiben. Haben Sie etwas frei?« Die Pension war leer. Offensichtlich war ich in der Nacht der einzige Gast gewesen. Ich erwartete ein »Ja, natürlich«, aber der Sohn wiegte zweifelnd den Kopf.
»Freitags kommen die Angler«, sagte er. »Bei ruhiger See sind die Zimmer meistens belegt. Rufen Sie lieber von unterwegs noch einmal an.«
Ich nickte unverbindlich und verließ die Pension. Eigentlich hatte ich vor, zuerst mein Gepäck am Bahnhof aufzugeben. Auf dem Fahrplan an der Bushaltestelle sah ich, dass der nächste Bus erst in einer halben Stunde kam. Zu Fuß würde ich ebenfalls eine halbe Stunde brauchen. Zögernd betrachtete ich den steil bergauf führenden Weg und entschied mich zu warten. Dann ging ich hinunter zum Strand.
Langweilig, das Meer. In eintöniger Folge schlugen die Wellen an den Strand. Ich ließ mich auf einem mittelgroßen Felsen nieder und blickte auf die offene See. Es war stürmisch. Ab und zu sprühte Gischt zu mir herüber und benetzte mich. Obwohl dem Kalender nach der Frühling längst begonnen hatte, war es kalt. Funamushi - Strandasseln - wuselten unter meinem Felsen herum.
Mein Besuch war nicht geplant gewesen. Ich hatte einen geschäftlichen Termin im Bahnhof Tokio gehabt, und wir waren schon gegen sieben Uhr mit dem leichten Abendessen fertig gewesen. Eigentlich hatte ich vorgehabt, mit der Chūō-Linie nach Hause zu fahren, aber aus irgendeinem Grund ging ich zum Bahnsteig der Tokaidō-Bahn und stieg dort in einen Zug. Ich wollte bis Atami fahren und dann auf dem Rückweg in Tokio einen Anschlusszug der Chūō-Linie nehmen. Doch auf einmal fühlte ich mich so verloren, dass ich trotz inneren Widerstrebens fast wie unter Zwang irgendwo ausstieg. So war ich nach Manazuru (*) gelangt.
Ich verließ den Bahnsteig durch einen engen Gang und passierte die Fahrkartensperre. Die Information auf dem Bahnhofsplatz war längst geschlossen, und ich bat einen Taxifahrer, mich zu einem Hotel zu bringen. Er kenne eine kleine, aber ganz ordentliche Pension, sagte er und fuhr mich zu dem Haus mit dem Schild »Suna«.
Im Zug hatte ich einen Anruf von meiner Mutter bekommen. Was sie Momo am nächsten Tag in die Schule mitgeben solle. Alles außer dem Hähnchen im Kühlschrank, wollte ich schon sagen, doch dann hielt ich mich zurück. Du kannst alles nehmen, sagte ich. Als ich mich für meine plötzliche Abwesenheit entschuldigte, wehrte sie ab. »Macht doch nichts.« Ihre Stimme klang weit fort.
Auch hier hatte ich das Gefühl, dass mir etwas folgte, und wandte mich um, aber außer mir war niemand auf dem Bahnsteig. Nicht einmal ein Schatten.
Ich blickte aus dem Fenster der Tokaidō-Bahn und vermeinte, das Meer zu sehen. Aber es war so dunkel, dass ich mir nicht sicher war. Es kam hin und wieder vor, dass ich einige Tage dienstlich verreisen musste und meine Mutter und Momo allein ließ, aber noch nie war ich so plötzlich über Nacht fortgeblieben. Auch mit Seiji hatte ich noch nie eine ganze Nacht verbracht. Er hatte Kinder. Drei. Das zweite war so alt wie Momo, also in der neunten Klasse. Und eine Frau.
Ich fuhr also mit dem Bus zum Bahnhof und brach von dort aus zu Fuß zur Landspitze auf.
Eigentlich verwunderlich, dass ich, spätabends und nur mit einer kleinen Tasche, vorbehaltlos und ohne weitere Fragen ein Zimmer bekommen hatte. Am Abend zuvor hatte ich mir kaum Gedanken über den Namen »Suna« gemacht, doch nun beschäftigte er mich immer mehr. Nicht einmal wegen seines Klangs oder seiner Bedeutung, sondern eher, weil ich mir keinen passenden Vornamen dazu vorstellen konnte.
Die Straße führte sachte bergauf. Hinter dem Hafen verlief sie am Meer entlang. Die Autos, die mich überholten, fuhren mit großem Abstand vorsichtig an mir vorbei. In der Nähe des Bahnhofs hatte es noch Passanten gegeben, aber nun begegnete ich niemandem mehr. Nach einer Reihe anscheinend leerer Pensionen und Fischlokale gab es nur noch die ansteigende Straße.
Jetzt fiel mir auch ein, an wen mich die Stimme des Sohnes in der Pension »Suna« erinnerte: an meinen Mann, der vor zwölf Jahren ganz plötzlich spurlos verschwunden war. So hatte seine Stimme geklungen, wenn er kurz vor dem Einschlafen war. Verschwommen und kindlich. Wenn er dann meinen Namen sagte - ich heiße Kei hatte seine Stimme stets eine untergründige Süße. Oberflächlich hörte sie sich erwachsen an, aber für mich klang sie wie die Stimme eines Jünglings an der Schwelle zum Mann.
Mein Mann war spurlos verschwunden. Und ich hatte nie wieder etwas von ihm gehört.
Ob das, was mir folgte, ein Wesen aus dem Meer war? Mein Mann hatte das Meer geliebt.
Ohne darauf zu achten, lief ich weiter der Landspitze entgegen. Ich geriet außer Atem. Kein Wunder, bei der Geschwindigkeit, die ich vorlegte. Bei jedem Schritt schwang die kleine Stofftasche, die ich bei mir trug, hin und her. An einem Getränkeautomaten zog ich mir einen grünen - nach kurzem Zögern - heißen Tee. Die Dose in der Hand setzte ich meinen Weg fort. Das, was mir folgte, entfernte sich.
Zu meiner Rechten war die Sicht auf den Himmel durch einen steilen Berghang begrenzt. Über mir segelte im Tiefflug ein roter Milan. Nur über den ins Meer ragenden Felsen gewann er an Höhe.
Wie entspannt ich nun war. Ich konnte mich kaum erinnern, wie ich die ersten zwei Jahre nach dem Verschwinden meines Mannes überlebt hatte. Ich hatte meine Mutter gebeten, bei ihr einziehen zu dürfen, und jede Arbeit, die sich mir bot, angenommen, um uns einigermaßen über Wasser zu halten. In dieser Zeit war ich Seiji begegnet. Ziemlich bald hatten wir eine Beziehung. Aber was war das überhaupt - eine »Beziehung«?
Als Momo gerade geboren war und ich sie stillte, hatte ich mich unsagbar eng mit ihr verbunden gefühlt. Wie nah ich diesem Kind damals war! Näher sogar noch als während ich sie im Bauch trug. Es war weder Liebe noch Zuneigung. Nur Nähe.
In Beziehungen gibt es diese Nähe nicht. Nicht, dass man sich völlig fern ist. Aber es bleibt immer eine gewisse Distanz zum anderen.
Ein Bus fuhr an mir vorbei. Allmählich wurde ich müde. Die Bushaltestelle lag nur etwa hundert Meter vor mir, aber ich rannte nicht. Der Bus fuhr weiter, ohne anzuhalten. Nach der Haltestelle lagen wieder ein paar Fischlokale an der Straße. Auf den Dächern saßen Möwen. Nur in einem der Lokale brannte Licht, und an der Tür hing ein Schild »geöffnet«. Am Tag wirkt künstliche Beleuchtung deprimierend. Ich ging hinein.
Ich bestellte Rossmakrelentartar.
Der Koch hatte die Makrele nicht wie sonst üblich gehackt, sondern in kleine daumennagelgroße Stücke geschnitten, die mit Shisoblättern (*) und gehacktem Ingwer garniert waren. Die Masse hatte eine angenehm reichhaltige Konsistenz, sie musste eine Weile in Soja-Marinade eingelegt gewesen sein. Dazu gab es Misosuppe (*) aus Fischfond und eine großzügig bemessene Schale Reis. Ich aß restlos alles auf.
Ich war der einzige Gast. Etwas griesgrämig nahm der Wirt meine Bestellung entgegen, ging zurück zur Theke, schöpfte eigenhändig Suppe und Reis in die Schalen und trug sie zu mir herüber. Als er sich vorbeugte, um das Tablett auf den Tisch zu stellen, fiel mir auf, dass ein Stück aufgerissene Naht an der Schulter seines weißen Kittels sorgfältig geflickt war.
Das große Fenster wies zum Meer, über dem der Milan weiter seine Bahnen zog. Auch Möwen waren zu sehen. Draußen hatte ich ihre Rufe und Flügelschläge gehört, doch im Inneren des Restaurants herrschte völlige Stille. Das Verstummen der Geräusche, die ihren Flug eigentlich begleiten sollten, irritierte mich. Es war, als sähe ich einen Stummfilm.
Stummfilme hatte ich schon mehrmals in einem Programmkino gesehen, in dem ich mit meinem Mann gewesen war. Beim ersten Mal trug ein Erzähler in pathetischem Ton die Zwischentitel vor, die sich mit den Bildern abwechselten. Beim zweiten Film gab es keinen Erzähler.
»Mir gefällt es besser ohne«, sagte ich, und mein Mann nickte. Ihm auch.
Neuerdings kam es vor, dass ich meinen Mann vergaß. Früher hatte ich immer sehr intensiv an ihn gedacht, und sein plötzliches Verschwinden hatte diese Intensität sogar noch verstärkt.
Zuerst glaubte ich, es würde regnen, aber es war die Gischt.
Allerdings war das Meer nur etwa zehn Meter entfernt, und es wehte ein heftiger Wind. Ich begann zu frösteln. Sobald man gegessen hat, wird Händen und Füßen die Wärme entzogen.
Alles Blut strömt in den Magen, wie meine Mutter zu sagen pflegte. Ob Momo schon aus der Schule zurück war? Freitags hatte sie nachmittags nur eine Stunde. Momo ähnelte meinem Mann. Abwechselnd sah sie jeweils ein paar Jahre mir und dann ihm ähnlich. Seit sie in der Mittelstufe war, kam sie mit ihrem ausgeprägten Kinn, den großen, wachen Augen und dem dunklen Teint wieder mehr nach meinem Mann.
Ich näherte mich der Landspitze. Der Weg wurde steiler. Die Klippe lag hinter mir, und vor mir tauchte ein Wäldchen auf. Ein Pfad führte hinein.
Wieder folgte mir jemand.
Diesmal war es eine Frau. Ich hatte nie jemandem von diesen Präsenzen erzählt, die ich immer wieder spürte. Meinem Mann damals selbstverständlich auch nicht. An diesem Tag war die Erinnerung an ihn besonders stark. So stark wie schon lange nicht. Ich dachte an seine Heimatstadt an der Inlandsee. Es war hüglig dort. Wo die Wege über die Hügel endeten, die den Wind abhielten, roch es besonders stark nach Meer.
Zwei Jahre vor dem Verschwinden meines Mannes - Momo war ein Jahr alt - war seine Mutter gestorben. Sein Vater lebte noch in dieser Stadt. Ich besuchte ihn nie.
Ob mein Mann sterben wollte?
Oder war er verschwunden, weil er leben wollte?
Vielleicht hatte er gar nicht darüber nachgedacht, ob er leben oder sterben wollte. Die Bäume lichteten sich, der Weg wurde breiter und mündete in einen Kreisel. Es gab dort eine Endhaltestelle, an der ein Bus stand. Wohl der, der mich kurz zuvor überholt hatte. Der Fahrer war nicht da. Die Türen standen offen.
Unvermittelt weitete sich die Aussicht. Tief unter mir lag das von Schaumkronen bedeckte Meer. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich ein paar Menschen, die einen schmalen gewundenen Pfad zu dem wellenumspülten Strand unter der Klippe hinunterstiegen. Sie wirkten nur fingergroß.
Würde ich hinunterspringen, wäre ich sofort tot. Ich verscheuchte den Gedanken, noch ehe ich ihn zu Ende gedacht hatte. Das Wort »sofort« gab mir das Gefühl, etwas Verbotenes zu denken, oder nein, ich verspürte eher eine Art Mattigkeit oder Benommenheit, wie kurz vor einem Fieberanfall. So weit fort, dass ich mit ihm spielen konnte, war der Tod nicht. Doch richtig nah war er auch nicht.
Unterdessen waren die beiden Kletterer, die ich beobachtet hatte, unten ankommen. Sie reckten ihre Arme in die Höhe. Ob sie sich streckten? Sie waren zu klein, als dass ich hätte erkennen können, ob es ein Ausdruck ihres Wohlbehagens war. Immerhin gaben sie ein heiteres Bild ab. Der Wind hatte die Wolken verjagt, und der Himmel war blau. »Manazuru«, sagte ich laut, und als ich eine Weile über die Klippe geschaut hatte, verspürte ich einen Anflug von Begierde.
Es war selten, dass ich konkretes Verlangen empfand. Selten geworden.
Bisweilen vermittelte es mir Freude, dann wieder bodenlose Einsamkeit, und manchmal war dieses Gefühl einfach so da, ohne eine bestimmte Richtung zu haben. Wie dem auch sei, es war ein Verlangen.
Auch nachdem die Abfahrt durchgesagt worden war, blieben die Bustüren geöffnet. Ein Mann und ein Kind stiegen ein. Das Kind rannte auf die hinteren Sitze zu. Der Mann folgte ihm langsam.
Der Bus nahm einen anderen Weg als auf der Hinfahrt. Er wurde nie ganz voll. Fahrgäste stiegen ein, aus und wieder ein. Außer mir fuhren nur der Mann und das Kind auf der hinteren Sitzreihe bis zur Endstation. Auf dem Bahnhofsvorplatz herrschte starker Verkehr. Dabei war es am Abend zuvor so ruhig gewesen.
Der Vater nahm das Kind an die Hand, und sie stiegen aus. Nachdem sie einen Zebrastreifen überquert hatten, klopfte der Mann an die Scheibe eines parkenden Wagens. Die hintere Tür öffnete sich, und er stieg mit dem Kind auf dem Arm ein. Ob sie im Ort wohnten? Und nicht nur auf der Durchreise waren?
Ich warf Geld in den Automaten und zog einen Fahrschein. Eigentlich hatte ich von Anfang an nicht vorgehabt, noch eine Nacht zu bleiben. Nur mal so gefragt. Die Sunas hatten heute wahrscheinlich viele Gäste, die zum Angeln kamen. Der Wind hatte sich gelegt. Ich hatte kaum den Bahnsteig betreten, als auch schon mein Zug kam.
»Ich bin wieder da!«, rief ich.
Momo gab einen unbestimmten Laut von sich.
Sie war in letzter Zeit ziemlich verschlossen. Nicht direkt schlecht gelaunt, nur in diesem Alter, in dem man sich anstrengen muss, um freundlich zu sein. Wenn sie sich keine Mühe gab, wirkte sie mürrisch.
»Ich hab dir was mitgebracht!« Als ich die eingesalzenen Tintenfischinnereien - eine Spezialität aus Odawara - auspackte, nickte sie. Vor dem Umsteigen in den Express war ich eigens in die tiefer gelegene Einkaufspassage hinuntergegangen, um sie zu kaufen. Momo hatte diese salzigen Innereien schon als Kind gern gemocht. Wie mein Mann. Aber ich esse sie auch gern, also kann ich nicht sagen, wem sie darin ähnelt.
Meine Mutter war einkaufen. Der Geruch, der mir beim Öffnen der Tür sogleich entgegenschlug, war ein bisschen anders als sonst. Es roch mehr nach Küche. Ich fragte Momo,was sie in der Schule mitgehabt habe. Sie überlegte kurz und antwortete: »Hähnchen, es war süßlich.«
Ich ging in mein Zimmer, um mich umzuziehen. Der graue Rock, den ich gestern eigentlich anziehen wollte, lag noch auf dem Bett, wo ich ihn hingeworfen hatte, nachdem ich mich dagegen entschieden hatte. Ich hängte den Rock auf. Die Luft im Zimmer entspannte sich allmählich. Nur einen einzigen Tag lang hatte niemand es betreten, und schon hatte die Luft darin ihre Weichheit verloren.
Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, saß Momo vor einer aufgeschlagenen Zeitschrift. »Ob ich mir die Haare abschneiden lassen soll?«, murmelte sie.
»Würde dir sicher gut stehen«, sagte ich, doch sogleich verfiel sie wieder in mürrisches Schweigen. »Heute Abend gibt es Eintopf«, sagte sie nach einer Weile. Seit wann gab es diese Distanz zwischen uns? Nicht, dass sie mir fremd geworden war, aber nah war sie mir auch nicht.
Bevor Momo einen Monat alt war, hatte ich sie nicht in der Badewanne, sondern in einer Metallschüssel mit warmem Wasser gewaschen, die ich auf den abgeräumten Esstisch stellte.
Mit der gespreizten linken Hand ihr Köpfchen stützend, legte ich sie rücklings ins Wasser. Durch den Auftrieb war sie ganz leicht.
Anfangs war sie mager und schrumplig, aber innerhalb von zwei Wochen nahm sie sichtbar zu. An ihren Handgelenken und Knöcheln und auch an anderen Gelenken bildeten sich tiefe Falten, in denen sich die tote Haut sammelte, die bei der Entstehung neuer Schichten abgestoßen wurde. Es dauerte jeweils nur einen Tag, bis die kleinen Würste sich gesammelt hatten. Sie sahen aus wie die, die beim Radieren entstehen, nur, dass sie schneeweiß und geruchlos waren. Sie bildeten sich endlos.
Beim Baden entfernte ich sie säuberlich. Momo lag mit halb geschlossenen Augen da. Manchmal schlief sie sogar ein. Nur beim Kopfwaschen verzog sie das Gesicht und schrie.
Sobald ich sie aus dem Wasser hob, bekam sie wieder Gewicht. Ich legte sie auf das ausgebreitete Badetuch und trocknete sie ab. Anschließend entblößte ich meine Brust und stillte sie. Sie trank geräuschvoll, offenbar hatte sie Hunger.
Eigentlich verspürte ich dabei keine besondere Rührung, sondern empfand ihre heißen Lippen sogar als unangenehm. So erfuhr ich, dass »Unbehagen« und »Liebe« einander nicht ausschlossen. Einen männlichen Körper hatte ich nie als so unangenehm gefunden. Der Körper eines Mannes, meines Mannes, war für mich vor allem eine Notwendigkeit. Momo brauchte ich nicht, aber ich liebte sie.
Was in Momo vorging, wusste ich nicht. Sie war ein Wesen, das hauptsächlich schrie. Wie es Säuglinge eben tun.
Man nennt es Geisterlächeln, wenn ein weniger als zwei Wochen altes Baby lächelt, denn es lächele nicht selbst, so heißt es, sondern ein Geist bringe es dazu.
Momo lächelte oft. Natürlich wusste ich nicht, was sie dazu bewegte. Die Entbindung lag noch nicht so lange zurück, dass ich sie als eigenständiges Wesen betrachtet hätte. Aber als Teil meiner selbst empfand ich sie auch nicht, eher als meinen Besitz. Ich durfte diesem Kind keinerlei Schaden zufügen, es durfte ihm nichts geschehen. Es war äußerst kostbar für mich. Es fühlte sich irgendwie anders an als Mutterliebe.
Ich hatte damals keine Lust auf einen Mann - meinen Mann. Denn Momo gab mir genug Hitze. Als ich sie stillte, hatte ich kein körperliches Verlangen. Mein Mann war nicht wichtig. Und doch, obwohl er nicht wichtig war, liebte ich ihn. Wenn er nachts zu mir kam, empfing ich ihn heiter auf der Oberfläche meines Körpers. Ich hatte immer gedacht, Körper und Geist seien etwas Getrenntes. Aber in Wahrheit gab es nur den Körper. Der Geist war lediglich ein Teil von ihm.
Mit der Zeit verlor sich die Hitze, die Momo abstrahlte, und ihre Haut wurde kühler. Zunehmend entwickelte sie eine individuelle Gestalt. Ich entwöhnte sie, sie lernte laufen, dann sprechen.
»Nächsten Mittwoch ist Elternabend«, sagte Momo. Als ich, während ich mir das Haar zusammenband, das Wohnzimmer betrat, wollte sie sich gerade in ihr Zimmer zurückziehen. Sie duftete nach dem Shampoo, das sie am Abend zuvor benutzt hatte. Ihre Haut schuppte nicht mehr, sondern war schön fest und duftete.
»Du kannst ,ich nehme teil’ ankreuzen, ja?«, sagte ich.
»Jaaa«, erwiderte sie und verschwand. Ich hörte ein Geräusch im Flur. Wahrscheinlich kam meine Mutter nach Hause. Dann spürte ich einen leichten Luftzug. Sie hatte meinen Mann nicht gemocht. Sie hatte es nie gesagt, aber ich wusste es.
Kaum hatte Momo eine eigene Gestalt angenommen, begehrte ich meinen Mann wieder. Gleich, nachdem ich sie entwöhnt hatte. Das kam mir beinahe selbst etwas berechnend und eigennützig vor. Mein Körper wusste, was er wollte. Ich schämte mich der Begierde, die ich so mir nichts dir nichts wieder empfand. Doch meine Scham ging sogleich in der Lust unter.
»Wie war es denn in Manazuru?«, flötete meine Mutter, als sie ins Wohnzimmer kam.
»Ein starker Ort«, erwiderte ich.
Sie musterte mich erstaunt.
»Stark?«, sagte sie wieder in dem gleichen singenden Tonfall. Sie stellte ihren Einkaufskorb ab. Das dichte Geflecht hatte die Form eines umgedrehten Trapezes. Er hatte einen kurzen Griff, und wenn man viel Gemüse und Fische hineinpackte, musste man ihn seitlich umfassen. Ich ging hinter meiner Mutter, die den Korb auf der Hüfte trug und versteckte meine Arme auf dem Rücken, obwohl ich mir wünschte, sie würde meine Hand nehmen. Damals reichte ich ihr gerade bis zu den Schulterblättern.
»Dein wievielter ist das denn?«, erkundigte ich mich. Meine Mutter deutete auf den Korb und sah mich fragend an.
»Ich weiß nicht«, antwortete sie und nahm die Finger zur Hilfe. »Also: Einen hatte ich schon vor deiner Geburt. Dann einen, als du eingeschult wurdest. Das macht zwei. Oder nein, es kann auch sein, dass ich schon drei verbraucht habe.«
Selbst wenn ein Korb rissig werde, könne man ihn noch benutzen und brauche keinen neuen, pflegte sie zu sagen, und nahm jeden Korb, so verschlissen und verbeult er auch war, jeden Tag mit zum Einkäufen, bis er fast auseinander fiel und ihr nichts anderes übrig blieb, als in unserem von einem älteren Ehepaar geführten Haushaltsgeschäft einen neuen zu kaufen.
»So einen, bitte.« Sie hob das völlig zerfranste Ding hoch. Etwas unterhalb der Zimmerdecke verlief ein Holzbalken. Dort war ein großer S-förmiger Haken befestigt, der wie ein Ringelschwanz aussah. An ihm hingen zwischen Strohhüten, Wärmflaschen und Schrauben ineinander gestapelt die Einkaufskörbe.
Ja, sofort, noch einmal den gleichen, sagte die alte Frau, während ihr Mann sich wortlos auf die Zehen stellte, um einen Korb vom Haken zu nehmen. Der hier ist etwas von der Sonne ausgeblichen, ich lasse ihn Ihnen im Preis nach.
1oo Yen, sagte sie. Der Korb war schmucklos, grob geflochten, so dass die Strohspitzen stellenweise herausragten und einen im Sommer in die bloßen Arme piekten. Die Frau: Sie nehmen immer den gleichen. Möchten Sie nicht mal einen anderen? Meine Mutter unbeeindruckt: Nein, ich bekomme diese Körbe nicht über. Sie sind so bequem zu tragen. Dann zahlte sie.
Obwohl ich seit Jahren zu ihnen gehe, sagt die Frau jedes Mal das Gleiche, murrte meine Mutter, nachdem wir den Laden verlassen hatten. Ihre Stimme klang kühl. Als ich erstaunt zu ihr aufsah, lachte sie. Auch ihr Lachen war kühl.
Sie nahm einen Viertel Chinakohl aus dem Korb. Dann ein paar Shungiku (*) - essbare Chrysanthemenblätter - und Shiitake-Pilze. Sofort duftete es nach frischem Grün.
Nach dem Abendessen ging plötzlich der Fernseher an. Von selbst.
Wir drei hatten Udon (*) gegessen, und als ich den Topf, der nicht mehr so heiß war, dass ich ihn nicht hätte anfassen können, dennoch vorsichtshalber mit einem Handtuch über den Henkeln in die Küche trug, schaltete der Apparat sich mit einem leisen Knacken ein.
»Huch, guckt mal, der Fernseher«, sagte Momo und lachte.
»Obwohl wir ihn nicht mal an gefasst haben.« Meine Mutter lachte ebenfalls.
Nach ein paar Sekunden schrillte eine Klingel, durchdringend wie ein Wecker.
»Daran liegt es«, sagte Momo und zeigte auf die Knöpfe, die man mit der Hand bedienen konnte. Eine rote Lampe leuchtete auf. »Da steht ›Timer‹«, erklärte sie und drückte mit dem Finger auf den Knopf. Das Klingeln hörte auf. Der Fernseher blieb an.
Es war genau acht Uhr. Der Timer war eingestellt gewesen, ohne dass wir etwas davon bemerkt hatten. »Wer hat den denn eingestellt?« Momo lachte. Ihr Lachen klang kindlich. Ich stellte den Topf in die Spüle, drehte den Hahn auf und füllte ihn mit Wasser. Einweichen, dachte ich, während ich den Hahn zudrehte. Wenn ich etwas tue, denke ich dabei entweder an die Bezeichnung der Tätigkeit, die ich gerade ausführe, oder stelle sie mir ohne den Begriff bildlich vor. Manchmal denke ich auch überhaupt nichts. Einweichen, sagte ich noch einmal im Geiste.
»Oma, warst du das?«, fragte Momo. »Nein«, antwortete meine Mutter. »Ich wusste nicht mal, dass es einen Timer gibt.« Meine Mutter holte die Bedienungsanleitung aus einer Schublade, setzte ihre Brille auf und las. Vielleicht war das Gerät, als wir es gekauft haben, schon auf acht Uhr eingestellt? Obwohl es bis jetzt nie angegangen ist. Wie kommt das so plötzlich? So was!
Der Fernseher lief weiter. Ein Mann erschien auf dem Bildschirm. Er rannte. Der Himmel war strahlend blau. Wellen schlugen an den Strand. Manazuru, sagte ich im Geiste und musterte den Mann auf dem Bildschirm. Die hageren Wangen gaben ihm ein markantes Aussehen. Das Wort Manazuru und das Bild des Mannes drifteten auseinander. Es gab keine Übereinstimmung zwischen ihnen. Manazuru. Ich sprach den Namen nicht mehr aus, aber er hatte einen gewissen Nachklang.
Es knackte, und der Bildschirm wurde dunkel. Momo hatte die Fernbedienung gedrückt.
Mein Mann hieß Rei. Mit seinem Familiennamen Yanagimoto hatte ich ihn nur ein einziges Mal angeredet - und zwar als ich ihn kennenlernte. Indem ich dem Mann, der mir Rei vorstellte, mit fragendem Unterton nachsprach: Ah, Herr Yanagimoto?
Dennoch war es mir am Anfang schwergefallen, ihn Rei zu nennen. Eigentlich hätte ich seinen Namen gern gesagt, aber irgendwie wollte er mir nicht über die Lippen kommen. Also umging ich die Anrede, was mich zu einer etwas unnatürlichen Ausdrucksweise zwang. Es war, als ob irgendetwas Schreckliches neben einem sitzt, man sich jedoch sein Unbehagen nicht anmerken lassen will und versucht, sich möglichst unbefangen zu geben, aber dennoch unbewusst Abstand wahrt. Man bewegt sich ungelenk und unnatürlich. So ähnlich erging es mir mit meiner Ausdrucksweise, sie wurde steif und unbeholfen.
Selbst einfache Fragen - nach Besprechungen, auf denen er gewesen war, wer was gesagt hatte usw. - gestalteten sich äußerst kompliziert, da ich ihn nicht direkt ansprechen konnte. Als ich ihn nach einer Weile im Eifer des Gefechts doch einmal mit Namen anredete, löste sich so etwas wie ein Pfropfen, und danach ging es besser. Mitunter verhaspelte ich mich auch später noch, wenn ich ihn anreden wollte. Denn beim Aussprechen seines Namens lief mir das Wasser im Mund zusammen.
Ihm war mein Name - Kei - von Anfang an glatt über die Lippen gekommen. Er verrichtete gern handwerkliche Arbeiten, und ich kann mich noch gut an seinen Tonfall erinnern, wenn er mich rief, während er sägte oder hämmerte. Widerstandslos senkten sich die Nägel in die sicherlich harten Bretter, als würden sie in einen sandigen Boden gesogen. Ihre Köpfe, die sich durch das scharfe Hämmern leicht hätten verbiegen können, glänzten auch danach ohne jeden Kratzer, als hätte er einen weichen Gummiball benutzt.
»Es macht Spaß zuzusehen, wie sauber du die Nägel einschlägst«, sagte ich, und er lächelte.
»Sag meinen Namen«, sagte er plötzlich.
»Rei«, sagte ich vorsichtig, und noch zwei Nägel zwischen den Fingern küsste er mich. O nein. Als ich etwas zurückwich, strafften sich seine Schultern. O je, dachte ich, und sagte rasch noch einmal Rei. Die Nägel fielen ihm aus der Hand. Er hob sie sofort wieder auf. Ich entschuldigte mich. Immerhin waren sie spitz, und er hätte sich verletzen können. Rei setzte sie auf das Brett auf. Er schien nun ganz damit beschäftigt, sie einzuschlagen und wandte sich mir nicht mehr zu.
Das, was er da zimmerte, wurde eine Kiste für Momos Bilderbücher. Sie steht noch immer in ihrem Zimmer.
Einmal überlegte ich, ob ich das Schild mit dem Namen Yanagimoto entfernen sollte.
Es war fünf Jahre nach Reis Verschwinden, und ich war nahezu überzeugt, dass er nie wiederkommen würde.
Für tot erklären lassen konnte ihn noch nicht, aber eine Scheidung war möglich. Plötzlich störte es mich, unter dem Namensschild meines Mannes zu leben. Daneben hing, seit wir bei meiner Mutter wohnten, das Schild mit meinem Mädchennamen Tokunaga. Auch dieses Nebeneinander gefiel mir nicht.
Ich fragte mich, ob ich meinen Mann hasste. Um diese Uhrzeit war ich immer allein. Momo war in der Schule und saß wahrscheinlich, den Blick geistesabwesend auf die Tafel gerichtet, in ihrem Klassenzimmer. Meine Mutter war noch nicht aus ihrem Zimmer gekommen. Sie pflegte in Intervallen zu schlafen. Hin und wieder jagte sie mir einen kleinen Schrecken ein, wenn ich sie mitten in der Nacht in der Küche antraf.
Ich fragte mich selbst ganz offen, ob ich Rei hasste.
»Ja, ich hasse ihn«, kam unverzüglich die Antwort.
War »hassen« ein zu starkes Wort? Nein, es war eher zu schwach. Ich hasste Rei. Warum bist du gegangen? Ich hasse dich.
Am Ende entfernte ich das Namensschild nicht. Und nenne mich noch immer Yanagimoto. Aber ich empfand Hass und das nicht nur pro forma. Ja, ich hasste meinen Mann aus tiefster Seele.
Zugleich sehnte ich mich aus ebenso tiefster Seele nach ihm. Es gab etwas in mir, das Seiji nicht zu zähmen vermochte. Nur Rei konnte das. Nicht, weil er mein Ehemann war. Sondern weil er Rei war.
Vielleicht hatte meine Mutter ihn deshalb nie gemocht. Schließlich hatte er ihr den Menschen genommen, der ihr am nächsten stand. Geschickt und mit Leichtigkeit hatte Rei mich in eine Kiste von genau der richtigen Größe - weder zu eng noch zu lose - eingepasst und abtransportiert, ohne auch nur das Geringste zurückzulassen. Dieser Mann namens Rei hatte ihr die Tochter, die ihr so nahe war, einfach entführt.
Waren wir einander wieder näher gekommen, seit wir zusammen lebten? Drei Frauenkörper. Wie Kugeln prallten wir aufeinander. Wir hatten keinen gemeinsamen Kern, jede Kugel hatte ihren eigenen, sie bildeten keine Fläche, jede für sich war ein in sich geschlossenes dreidimensionales Gebilde.
Das Schild mit dem Namen Tokunaga hing oben. Momo hatte einmal gesagt, sie würde lieber Tokunaga heißen, weil Momo Yanagimoto schwer auszusprechen sei. Dabei lachte sie. Sie lacht oft. Auch wenn sie jetzt etwas verschlossen wirkt, sprudelt das Lachen leicht in ihr hoch.
Was mir bei Rei so schwer gefällen war, fiel mir bei Seiji leicht. Sein Name kam mir von Anfang an mühelos über die Lippen, ich konnte sogar spontan von hinten seine Schulter oder seine Hüfte berühren. Seiji hatte eine sanfte Stimme. Ich hatte ihn bei der Arbeit kennengelernt. Er ist fünf Jahre älter als Rei, der wiederum zwei Jahre älter ist als ich. Macht also sieben Jahre, die er älter ist als ich.
Er hatte seinen Sprachstil mir gegenüber nicht verändert, war gleichbleibend höflich. Ganz selten durchbrach er die Distanz mit einer saloppen Redewendung, kehrte aber gleich zur ursprünglichen Förmlichkeit zurück, während ich fast zu vertraulich mit ihm umging.
»Mach’s mir, Seiji«, sagte ich zum Beispiel zu ihm.
Manchmal ging er darauf ein. Wenn nicht, entschuldigte er sich mit der üblichen distanzierten Höflichkeit.
Ich nahm mir vor, ihn zu lieben. Das hatte ich beschlossen, als mir klar wurde, dass ich ihn mochte. Seiji wies mich nicht ab. Meine Gefühle flossen ihm zu. Das war ein Zeichen, dass ich ihn lieben würde. Starke wie schwache Gefühle flossen ihm gleichermaßen zu, vielleicht nicht direkt, aber doch in seine Richtung. Vor allem war ich dankbar, dass er mich nicht zurückwies. Rei war verschwunden, und ich hatte keine Heimat mehr, wusste nicht, wohin mit meinen Gefühlen. Ohne ein Objekt, auf das ich sie richten konnte, wusste ich nicht, wo ich mich befand. Ich war verunsichert, als stünde ich an einem Fluss, ohne unterscheiden zu können, in welche Richtung er floss.
Seiji ist laut, wenn wir es tun, obwohl doch sein Lachen lautlos ist.
Vom Bahnhof aus folgte man der Straße in südlicher Richtung und ging dann ein Stück geradeaus. Dann kam ein Laden mit einem Schild, auf dem in senkrechter Schrift »Musikinstrumente und Schallplatten« stand. Unter dem Schild musste man nach links abbiegen. Die Straße war schmal, aber eine Gasse war sie nicht. An einem Nudelimbiss ging es um die Ecke, und ein paar Häuser weiter befand sich das Mietshaus, in dem Rei vor unserer Hochzeit wohnte.
»Wohnst du in einem einfachen oder in einem etwas teueren Haus?«, hatte ich ihn einmal gefragt. Er überlegte.
»Möchtest du das unbedingt wissen?«, fragte er zurück.
»Nein, ich habe nur so gefragt.«
Auf dem Schild über dem Musikgeschäft war eine Gitarre abgebildet. Und eine Scheibe, die wohl eine Schallplatte darstellen sollte. Der Laden war ziemlich alt. »Hast du schon mal eine Platte dort gekauft?« Wieder musste Rei nachdenken. »Ich weiß nicht mehr. Kann sein, kann auch nicht sein.« Er war ein großzügiger Mensch. Der letzte, der einfach so verschwinden würde. Damit hätte ich nie gerechnet.
Auf dem Weg zu Rei war ich einmal in dem Musikgeschäft gewesen. Ich ging in seine Wohnung, sooft ich Zeit hatte, und nicht nur, wenn er da war.
»Du bist wohl ein Tierchen, das sich überall schnell zu Hause fühlt?«, fragte er mich.
»Nein, so geht es mir zum ersten Mal«, erwiderte ich. Rei lachte. Wie Momo war er ein Mensch, der viel lacht.
Der Laden war warm und viel heller, als man von außen vermutete. Eine Männerstimme schmetterte ein schnulziges Lied. Ein etwa zwanzigjähriger Jüngling mit langen Haaren wippte leicht vor sich hin, aber nicht im Takt. Außer mir gab es keine Kunden.
Während ich die Stapel mit westlicher Musik Platte für Platte durchsah, ergriff mich der starke Drang, Reis Wohnung aufzusuchen. Obwohl ich mich schon ganz in der Nähe befand. Kurz vor dem Ziel konnte ich es dennoch kaum erwarten.
Ich hätte den Laden verlassen können, ohne etwas zu kaufen, trotzdem wählte ich aufs Geratewohl eine Schallplatte aus. Auf dem Cover war ein Schwarzweiß-Foto von einer Frau. Die Sängerin, dachte ich, aber es handelte sich um ausgesprochen rhythmische Instrumentalmusik. In Reis Wohnung, in die ich in aller Eile gestürmt war, packte ich die Platte gleich aus, und wir hörten sie uns an.
»Nicht übel, sie gefällt mir«, sagte Rei. Also schenkte ich sie ihm. Als wir verheiratet waren und ich das schwarzweiße Cover zwischen seinen zahlreichen Schallplatten entdeckte, freute ich mich. Ein Wiedersehen, dachte ich. Ein Wiedersehen. Ein Wort, das seit seinem Verschwinden schwierig war zu denken.
Elternabende waren etwas, an das ich mich nie gewöhnen konnte.
Die staubigen Klassenzimmer, die Kalligrafien der Schüler, die sich an den Wänden wellten, die Körperwärme der Mütter, ihre verschiedenen Parfüms, zwischen ihnen der ein oder andere Vater, stets vorschriftsmäßig im dunkelblauen oder schwarzen Anzug. Es war für mich nicht nachvollziehbar, dass ich früher selbst fast jeden Tag in solch einem Raum verbracht hatte. In der Mittelstufe hatte ich mich im Klassenzimmer ebenso zu Hause gefühlt wie in der Grundschule. Vielleicht, weil ich es nicht anders kannte? Zumindest hatte ich dieses unbehagliche Gefühl, ein Fremdkörper zu sein, damals nicht verspürt.
Früher konnte ich mich anpassen, ohne darüber nachzudenken. Auch Rei war mir gleich so vertraut erschienen, dass ich mich entschied, ihn zu heiraten und mein ganzes Leben mit ihm zu verbringen. Aber Vertrautheit allein hilft nicht. Sie ist wie eine Fata Morgana, eine ferne Landschaft, die über dem Meer schwebt und sich jederzeit auflösen kann.
Mit gesenktem Blick saß ich bei einem dieser ungeliebten Elternabende. Es wurde viel geredet. Der Lehrer: Bitte erzählen Sie uns, wie sich Ihr Kind in letzter Zeit verhält. Die Eltern: Wir sind unschlüssig, ob wir unserer Tochter ein Handy kaufen sollen oder nicht. Seit sie in die neunte Klasse geht, ist sie so aufsässig. Wir haben solche Probleme mit ihr. Oder: Mein Sohn klagt ständig über Müdigkeit. Er weiß sicher selber, dass er viel zu viel unternimmt, aber er kann seine Zeit einfach nicht vernünftig einteilen. Er war schon früher oft krank, und auch heute muss er noch oft zum Arzt. Vielleicht muss er erst mal zu Kräften kommen.
Aber niemand sagte, was er wirklich sagen wollte. Es war nicht der richtige Ort dafür. Ich hörte mir an, wie dieses oder jenes Kind »in letzter Zeit so war«, konnte aber selbst auf dieser Ebene nicht reden. Ich war verwirrt.
»Ich war beim Elternabend«, verkündete ich, als ich nach Hause kam. Momo nickte mürrisch. Wenigstens hast du es mal nicht vergessen.
Ich hatte nämlich schon zweimal einen verpasst. Du warst heute nicht beim Elternabend, sagte Momo beide Male. Sie wusste es, weil die Eltern zuvor immer den Unterricht besuchten. Sie machte mir zwar keine Vorwürfe, aber ich schämte mich trotzdem, weil ich mich vielleicht unbewusst vor etwas gedrückt hatte, das ich nicht mochte.
»Was hast du denn gesagt?«, fragte Momo.
»Dass es dir in der Schule gefallt und so was...«
»Hättest du dir sparen können.«
Ich seufzte. Aber so leise, dass Momo es nicht hörte. Ein schwieriges Alter. Sie schien über ein weitaus größeres Selbstvertrauen zu verfügen als ich. Selbstvertrauen, was das vor ihr liegende Leben anging. Aber vielleicht kam das daher, dass sie noch nicht wusste, was sich jenseits der Klippe befand.
Oder wusste sie womöglich doch Bescheid? Vielleicht schließt die Welt eines jungen Menschen schon sein ganzes Leben ein, ebenso wie in einem Tropfen Wasser der ganze Kosmos enthalten ist? Wie war das bei mir gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern.
»Deine Mutter ist ganz schön dumm, was?«, sagte ich laut.
»Dumm?«, fragte Momo erstaunt und machte lächelnd einen Schritt auf mich zu. Ich hab dich lieb, meine Kleine, dachte ich plötzlich. Du bist ein gutes Kind. Ich hätte sie gern umarmt. Aber ich zögerte. Früher, als wir einander so nah waren, hatte ich dieses Zögern nicht gekannt und Momo, wenn mir danach war, einfach an mich gedrückt.
Kurzentschlossen nahm ich sie in die Arme. Sie lachte und entwand sich mir.
»Würdest du mal mit mir in ein Kaufhaus gehen?« Meine Mutter wollte einem Bekannten, der ihr einen Gefallen getan hatte, ein Geschenk zukommen lassen.
Ich erklärte mich dazu bereit, denn ich hatte einige ähnliche Verpflichtungen. Im Kaufhaus folgten mir mehrere Gestalten. Eine sogar bis ans Ende der überfüllten Lebensmittelabteilung. Auch auf der Rolltreppe spürte ich etwas neben mir.
Meine Verfolger hatten keine ausgeprägte Präsenz. Sie waren blass, bald kamen sie näher, bald fielen sie zurück. Ob sie männlich oder weiblich waren, war nicht zu unterscheiden.
»Was hältst du von getrockneten Pilzen-Shiitake, zum Beispiel?«, fragte meine Mutter.
»Getrocknete Shiitake,ja...« Unverbindliche Zustimmung ist in solchen Fällen das Beste. Bei zu großer Direktheit hätten wir uns beide unwohl gefühlt.
Einschließlich der Geschenke für meine Bekannten gab ich insgesamt vier Päckchen getrocknete Shiitake in Auftrag. Während ich mit einem Kugelschreiber die Bestellscheine ausfüllte, kam eine Verfolgerin hinzu. Eindeutig eine Frau. Obwohl wir im Kaufhaus waren, verfügte sie über eine starke Präsenz.
»Ich muss mal auf die Toilette«, sagte ich, schrieb hastig die Adressen zu Ende, drückte meiner Mutter die Formulare in die Hand und rannte zur Toilette, die in einer versteckten Ecke lag. Im Spiegel sah ich die verschwommene Gestalt einer Frau. Ich musterte sie aus dem Augenwinkel und hastete in eine Kabine. Mir wurde schlecht, und ich musste mich ein wenig übergeben.
Nachdem die Übelkeit sich gelegt hatte, spülte ich mir am Waschbecken den Mund aus. Ich legte den Kopf zurück und gurgelte. Die Frau war noch da. Ob sie mir etwas sagen wollte? So etwas hatte ich noch nie erlebt. Und dass mir auch noch übel geworden war. Ob die Frau die Ursache gewesen war, wusste ich allerdings nicht.
Meine Mutter wartete schon.
»Wollen wir etwas zu Mittag essen?«, fragte sie.
»Lass uns hier in ein Restaurant gehen.«
»Ich nehme vielleicht Chirashizushi.«
Die Umrisse der Frau flimmerten. Als würde eine Kerze flackern, wurde es abwechselnd hell und dunkel um mich. Wenigstens war mir nicht mehr übel. Ich hatte alles Widerwärtige von mir gegeben und ausgespuckt. Gefolgt von der Frau betrat ich das Restaurant. Meine Mutter bestellte Aal, dafür entschied ich mich nun für Chirashizushi. Der Saal hatte eine hohe Decke. Die Stimmen hallten. Meine Mutter und ich aßen unsere Portionen ganz auf. Die Frau verschwand, sobald wir das Kaufhaus verließen.
Bald darauf erschien meine Verfolgerin an zwei Tagen hintereinander. Ich beschloss, noch einmal nach Manazuru zu fahren. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, die Frau könnte etwas mit Rei zu tun haben.
Momo hatte gesagt, sie würde gern ans Meer fahren, also fragte ich sie, ob sie mich begleiten wolle. Sie nickte.
Ich: Es ist noch sehr frisch, du musst dich warm anziehen. Sie: Ja. Ich: Der Zug ruckelt wahrscheinlich ziemlich. Sie: Ja.
Momo wurde leicht reisekrank.
»In letzter Zeit macht mir das nichts mehr aus«, erklärte sie mir. »Ich fahre ja auch mit der Bahn zur Schule.« Als sie den Wunsch geäußert hatte, eine Privatschule zu besuchen, auf der sie von der Mittelstufe bis zum Abitur durchgehend bleiben konnte, hatte ich mir weniger Sorgen um die Aufnahmeprüfung oder die Kosten gemacht, als um die Fahrt mit der Bahn.
»Ach, Mama, du hast mal wieder gar nichts mitgekriegt.« Momo lachte. »Hast du geschäftlich in Manazuru zu tun?«
»Nein.«
»Warum fahren wir dann dorthin?«
»Nur so.«
»Es ist ja nicht gerade die beste Saison, um an die See zu fahren. Kommt Oma auch mit?«, fragte Momo heiter.
»Nein, Oma möchte nicht.«
»Warum nicht?«
Sie wolle keinen so »starken« Ort besuchen, hatte meine Mutter gesagt. »Das ist mir zu anstrengend. Fahrt ruhig nur ihr beide«, sagte sie in ihrem singenden Tonfall. Wie nah sie mir doch war. Singend, lachend und von unbekannten Wesen verfolgt, lebten wir drei Frauen in diesem Haus.
»Ich fahre zum ersten Mal nach Manazuru.« Momo lachte.
»Ich war neulich ja auch das erste Mal dort.« Wir lachten zusammen. Unversehens erinnerte ich mich, wie der Wind mir über Ohren und Gesicht strich, als ich auf der Klippe stand, während der Himmel sich plötzlich weitete und ich tief unter mir das Meer erblickte.