4

Gebbhardt, der in seinem Bauwagen saß und den Tagesbericht schrieb, blickte erstaunt auf, als sich die Tür öffnete. Im Halbdunkel erkannte er zunächst nichts, aber dann schälte sich aus der Dämmerung eine schmale Gestalt in engen Hosen und Pullover.

»Sie?« sagte er gedehnt. Sein Herz begann heftig zu klopfen. Er sprang auf. Beinahe hätte er in seiner Hast den Tisch umgeworfen. »An diesem Tag hören die Überraschungen nicht auf.«

»Reden Sie kein dummes Zeug, Senhor Carlos.« Norina Samasina kam näher und setzte sich auf den wackligen Stuhl. So blieb sie im Lichtkreis der kleinen Lampe.

»Ich bin ganz still und höre nur zu.«

Sie schlug die schönen langen Beine übereinander, und er bewunderte wieder ihre Brüste, deren Anmut durch den enganliegenden Pullover noch betont wurde. Das schwarze Haar hatte sie mit einem roten Band zusammengebunden. Wieder fragte sich Gebbhardt, ob ihm wohl je eine so schöne Frau begegnet war. Die vergangenen Stunden hatten sich in ihr Gesicht eingegraben. Es sah herber aus, aber dadurch reifer und noch geheimnisvoller.

»Die Verletzten werden überleben«, sagte sie.

»Gratuliere«, antwortete er.

Dann war wieder Stille zwischen ihnen. Sie sahen sich an, und das geheimnisvolle Feuer entbrannte sofort wieder zwischen ihnen. Aber keiner von beiden hatte den Mut, es zu zeigen.

»Warum arbeiten Sie hier?« fragte sie endlich.

»Eine deutsche Firma hat mich dafür empfohlen und beurlaubt. Vielleicht bekommt sie sogar Geld für mich – ich weiß es nicht.«

»Man hat Sie also auch verkauft?«

»Wenn man es so simpel sieht, sind wir alle verkauft.«

»Man muß es so sehen, Carlos.«

Sie ließ das ›Senhor‹ weg, und Gebbhardt spürte in sich ein unbändiges Glücksgefühl. Sie musterte ihn nachdenklich, und wenn sie wirklich ein persönliches Interesse verspürte, wußte sie es vollendet zu überspielen.

»Sie denken genau wie Santaluz«, sagte er.

»Wäre ich sonst mit ihm hier?«

»Sind Sie seine Freundin?«

»Was verstehen Sie darunter?«

Gebbhardt kaute an der Unterlippe. Sie gibt sich als Revolutionärin, dachte er. Dann darf sie keine Hemmungen kennen. Die Sprache der Revolution ist ungeschminkt, frei von bürgerlichen Schnörkeln. Sie hatte den herrlichen Kopf etwas zur Seite geneigt und sah ihn an, als betrachte sie ein Bild.

»Ich meine«, sagte er geradeheraus, »haben Sie mit Santaluz geschlafen?«

»Interessiert Sie das?« Sie war gar nicht beleidigt.

»Sehr.«

»Warum?«

»Wenn ein Mädchen freiwillig in diese Hölle geht, tut sie es aus Liebe, oder sie ist verrückt.«

»Ein Drittes gibt es nicht?«

»Ich kann es mir nicht denken.«

»Natürlich nicht. Das satte Europa! Wie kann ein fetter Bauch Ideale haben? Wo gibt es Probleme, wenn der Hintern dicker ist als das Hirn!« Sie beugte sich in den Lichtkreis. Ihre schwarzen Augen glänzten. »Nein. Ich habe nicht mit Santaluz geschlafen.«

»Für diesen Satz«, sagte Gebbhardt fast feierlich, »könnte ich Ihnen die Füße küssen …«

Die Stimmen des Urwaldes drangen durch die dünnen Holzwände der Bauhütte. Papageiengeschrei, das Schreien irgendwelcher Tiere, das Rauschen der turmhohen Bäume. In der Ferne ratterten wieder die breiten elektrischen Baumsägen, krachten die gewaltigen Stämme ins Unterholz und rissen die kleineren Bäume mit. Es tönte das rhythmische Schlagen der Macheten, mit denen die gefällten Riesen entlaubt wurden. Dazwischen der Gesang der Arbeiter, monoton, aber anfeuernd, die Müdigkeit vertreibend, die Gedanken betäubend. Das Elend war vergessen. Es waren meist die Indios, die diese alten Lieder sangen. Erinnerungen an das freie Leben im unberührten, unbekannten Wald.

Weiter … weiter … zum Rio Araguaia … Für jeden, der einen Meter zusätzlich schafft, gibt es eine Prämie. Die Cruzeiros lachen, und mit ihnen lachen die Weiber, denen man sie zwischen die festen Brüste steckt. Schnaps wird es geben, viel Schnaps – und damit neues Vergessen. Warum denken, camarados? Denken kostet Geld, und was Paulo Alegre erzählt, ist zwar richtig, denn wir werden ausgebeutet, wir sind Arbeitstiere, und der große Senhor Bolo in Brasilia verdient sich an uns einen goldenen Arsch … aber wer kann's ändern? Wir? Du und ich? Wir kleinen dreckigen Straßenarbeiter? Revolution ist etwas für den, der sie sich leisten kann. Wir brauchen die Cruzeiros, wir haben Hunger, wir haben irgendwo im Land Frau und Kinder, die wollen auch leben. Also weiter, weiter, camarados, freßt euch in den verdammten Wald hinein. Legt die Baumriesen. Schlagt die Schneise durch die Unendlichkeit, zwölf Meter breit. Und denkt nicht nach. Denkt bloß nicht nach. Die mit dem Boot umgekippt sind und unter die Piranhas fielen, haben gedacht. Was haben Sie nun davon? Liegen da, nur noch halbe Menschen, und wenn sie's überleben, sind sie Krüppel, und keiner kümmert sich um sie. Am wenigsten der große Senhor Bolo. Und Paulo Alegre auch nicht. Er ist doch genauso ein armes Schwein wie wir. Nur etwas mehr Hirn hat er. Was nützt ihm das? Die Reichen sind die Mächtigeren, daran muß man sich gewöhnen …

Norina Samasina lehnte sich wieder zurück. Ihre schwarzen Augen verschwanden aus dem Lichtkreis von Gebbhardts armseliger Lampe. Sie zog die Beine hoch und schlang die Arme um die Knie. Die engen Jeans, verwaschen, wie es Mode war, umspannten ihre langen Schenkel und die schmalen Hüften.

»Warum sind Sie gekommen?« fragte Gebbhardt.

»Haben Sie das nicht schon einmal gefragt?« entgegnete sie kühl.

»Ich weiß nicht, vielleicht. Eine Antwort haben Sie aber nicht gegeben.«

»Ich kann nicht schlafen. Ist das eine Antwort?«

»Eine simple.«

»Das ganze Leben ist simpel, wenn Sie so wollen. Man kann nicht schlafen, weil man sich Gedanken macht, und man geht zu jemandem, von dem man glaubt, mit ihm sprechen zu können. Das ist alles.« Sie stand auf. »Schlafen Sie gut, Carlos.«

»Bitte bleiben Sie noch, Norina«, sagte Gebbhardt gepreßt. »Ich kann auch nicht schlafen. Dieser Tag heute … das Unglück, das nach Hauptmann Bandeiras Ansicht Mord war …«

»Ja, es war wirklich Mord. Die Verunglückten gehörten einer Gruppe an, die bei Luis Jesus Areras gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen protestiert hat.«

»Dann müßte man mich längst umgebracht haben.«

»Wegen Ihrer ständigen Berichte und Beschwerden? Nein.« Sie lächelte schwach, fast mitleidig. »Papier läßt sich zerknüllen, und man zerkleinert es in Zerreißmaschinen. Sie können sich die Finger blutig schreiben, für die Herren da oben bleiben Sie immer der deutsche Idealisten-Trottel, der meckernde Bürokrat. Völlig ungefährlich. Wenn Sie die Arbeiter durch Reden aufhetzen würden, ja dann … Aber dieser Typ sind Sie ja nicht. Sie sind kein Revolutionär der Faust. Sie schreiben Papier voll. Die deutsche Form des Protestes.«

»Aber Sie können die Faust gebrauchen?«

»Ja!«

»Diese schöne kleine Faust …«

»Sie fallen mir mit diesem Geschwätz auf die Nerven, Carlos.« Norina schob ihr schwarzes Haar aus der Stirn. Der enge Pullover spannte sich über ihre festen Brüste. Sie sah herrlich aus, begehrenswert und unerreichbar. »Ich muß gehen.«

»Warum? Bitte, bleiben Sie.«

»Die ganze Nacht?«

»Wenn Sie die ganze Nacht Zeit für mich haben …«

Sie hob die Schultern und stützte sich auf die Lehne des grobgezimmerten Stuhles, auf dem sie zuvor gesessen hatte. »Sie wollen mit mir schlafen, Carlos, nicht wahr?« sagte sie nüchtern. Ihre gleichmütige Stimme, die so etwas Großes, Herrliches, Traumhaftes aussprach, war für ihn ein Schlag ins Gesicht. Er senkte den Kopf, als hätten seine Augen ihn und seine Wünsche verraten.

»Ich weiß nicht …«, sagte er zögernd.

»Warum lügen Sie? Natürlich wollen Sie mit mir schlafen. Sie bitten mich doch nicht, hierzubleiben, nur weil Ihnen meine klassenkämpferischen Reden gefallen.«

»Ich … ich mag Ihre Gegenwart, das ist alles.« Er stand auf und ging um den Tisch herum. Sie blieb stehen, fast unbeweglich, nur ihre großen Augen verfolgten ihn. Als er vor ihr stand, hob sie mit einem Ruck den Kopf. Er war fast einen Kopf größer als sie.

»Was nun?« fragte sie, als Gebbhardt sie nur stumm anstarrte. »Tun Sie etwas, Carlos …«

»Ich denke an Ihre Faust, die Sie so gut gebrauchen können, Norina …«

»Ich habe auch offene Hände, die streicheln können.«

»Das ist ein Vabanquespiel.«

»Das ganze Leben ist ein einziges Risiko, Carlos.« Sie schloß die Augen und legte den Kopf noch weiter in den Nacken. »Nun küß mich endlich!« sagte sie. Ihre Stimme war dunkler und wärmer geworden. »Da ist ein Kerl, der eine Straße durch den Urwald schlägt und Angst vor einer Frau hat. Carlos …«

Es war kein gewöhnlicher Kuß mehr. Ihre Lippen wurden völlig eins, und ihre Umarmung war so leidenschaftlich, als müsse aus zwei Körpern einer werden.

»Daran habe ich gedacht, als ich dich zum erstenmal sah«, sagte sie. »Ich weiß, daß es Unsinn ist, und du weißt es auch, aber in diesem Wald muß man leben von Stunde zu Stunde, und das hier ist unsere Stunde.«

Sie zog sich mit einer Selbstverständlichkeit aus, als habe sie nie etwas anderes vor Gebbhardt getan. Sie streifte die Jeans ab, zog den Pullover über den Kopf, drehte sich um, damit Gebbhardt ihren Büstenhalter aufknöpfen konnte, und legte sich in ihrer wundervollen Nacktheit auf das schmale Feldbett im Hintergrund des Bauwagens. Er starrte sie an, als wäre ein Engel vom Himmel gefallen. Dann zog auch er sich aus und legte sich zu ihr.

Die Wärme ihres glatten Körpers durchströmte ihn mit unsagbarem Gefühl, wie er es ähnlich noch nie gekannt hatte – bei keiner Frau, die vor Norina gewesen war, und er wußte, daß es auch bei keiner Frau, die nach ihr kam, wieder so sein würde.

»Ich liebe dich …«, sagte er heiser vor Ergriffenheit. »Mein Gott, wie sehr liebe ich dich …«

»Red' nicht so dumm!« antwortete sie fast grob. »Daß wir uns lieben, wissen wir – warum darüber sprechen?«

Er nickte, wandte sich ihr zu und streichelte ihre Brüste. Sie warf mit einem Seufzer den Kopf zurück, und ihr schlanker Leib spannte sich wie eine Sehne, von der gleich ein Pfeil abschnellen sollte. Durch die glatte Haut wölbten sich die Muskeln, alles an ihr war wie zum Zerbersten bereit. Dann schlang sie die Arme um Gebbhardts Schultern, drückte ihn an sich und biß ihn in die Brust. Sie wurde zum Raubtier, mit dem man um Leben und Tod rang.

Es gab keine zweite Frau wie Norina Samasina …

Sie merkten nicht, daß jemand den Bauwagen betreten hatte und an der Tür stehengeblieben war. Erst als sich die dunkle, im Schatten stehende Gestalt räusperte, fuhren sie auseinander, fielen zur Seite wie zwei Hälften einer durchgeschlagenen Frucht und starrten schwer atmend in den Raum. Die trübe Lampe über dem Tisch, ihr schwacher Lichtschein, war wie eine Schranke. Sie erkannten nicht, wer hereingekommen war.

»Gehen Sie hinaus!« befahl Gebbhardt keuchend. »Verdammt noch mal, was suchen Sie in der Nacht in meiner Bude?«

»Carlos!« Es war die Stimme Bandeiras.

Norina strich sich das schweißnasse Haar aus dem Gesicht, aber sie deckte sich nicht zu. Sie schämte sich nicht. Warum auch? Die Liebe war doch etwas Natürliches – wer sie sehen sollte, konnte ruhig hinsehen. Im Urwald ist auch der Mensch nur ein winziges Stück der großen Natur.

»Hatte das nicht Zeit bis morgen?« fragte sie. Ihre Stimme war wieder so nüchtern wie am Tag.

Polizeihauptmann Bandeira trat in den schmalen Lichtkreis. Er hatte seine blutige Uniform ausgezogen und trug jetzt eine Zivilhose und ein sauberes, hellblaues Polizeihemd. »Sie sollten einiges erfahren, ehe Sie am Morgen wieder an der Spitze Ihrer Kolonne stehen, Carlos«, sagte er. »Und für Sie ist es auch interessant, Norina.«

Er setzte sich auf den Stuhl. Norina richtete sich auf und legte das Kinn auf die angezogenen Beine.

Ihre völlige Schamlosigkeit verwirrte Gebbhardt. Vielleicht ist das so bei Revolutionären, dachte er. Ich habe keine Erfahrung darin. Liebe ist ein Teil ihrer großen Befreiung – das wird es sein. Die Weltanschauung geht bis in die Seele.

»Was ist daran so wichtig?« fragte er und schämte sich seiner Nacktheit. Er deckte ein Handtuch über seine Lenden und setzte sich neben Norina.

»Ich habe die angeblichen Täter verhört. Natürlich leugnen sie. Es sind zwei Bauarbeiter, die früher bei Areras in der Kolonne waren, als dieser noch Vorarbeiter war. Alle wissen, daß sie Spitzel sind, aber man kann es ihnen nicht beweisen. Ich habe aber erfahren, daß die Bauleitung ihnen ein Stück Land und Kredit zum Bau einer eigenen kleinen Hazienda versprochen hat, wenn sie fleißig alle unzufriedenen Arbeiter melden. Wenigstens das haben sie gestanden.«

»Ich verstehe.« Norina erhob sich und begann sich anzuziehen. »Wie schwer sind sie verletzt?«

»Man erkennt sie noch«, antwortete Bandeira sarkastisch. Gebbhardt starrte ihn entsetzt an.

»Mein Gott! Sie haben sie gefoltert?« fragte er heiser. Sein Blick wanderte zu Norina. Sie streifte den Pullover über die bloßen Brüste.

»Manche Menschen sind wie verschlossene Türen, zu denen man die Schlüssel verloren hat«, erwiderte Bandeira ruhig. »Man muß sie aufbrechen. Oft ist dahinter Leere … hier war es ein Stück Land und eine Hütte.«

»Ich komme mit«, sagte Gebbhardt und stand auf.

»Nein. Bleib hier, Carlito.« Norina schüttelte den Kopf und drückte Gebbhardt aufs Bett zurück. »Warte hier auf mich. Ich komme bald zurück.«

»Ich bin verantwortlich für meine Leute«, rief Gebbhardt. »Ich protestiere, Hauptmann Bandeira!«

»Gut, ich nehme Ihren Protest zur Kenntnis. Schreiben Sie einen Bericht nach Brasilia.«

»Ich werde keine Berichte mehr schreiben!« schrie Gebbhardt und sprang auf. Das Handtuch fiel zu Boden. »Ich werde überhaupt keine Berichte mehr schreiben.«

»Sie haben ihn schnell und gut erzogen, Norina«, sagte Bandeira anerkennend. »Gut, kommen Sie mit, Carlos. Vielleicht schadet es wirklich nicht, wenn Sie aus Ihrem humanistischen Tempel herauskommen. Wissen Sie, was Hermano Santos Bolo an jedem Kilometer dieser Höllenstraße und an jedem dieser ausgebeuteten Sklaven verdient? Auch an Ihnen? Der Regierung reicht er überhöhte Rechnungen ein, und er zahlt nur die Hälfte an seine Leute aus. Jeder Schweißtropfen, der hier vergossen wird, ist für ihn ein blanker Cruzeiro. Aber die Leute nehmen es hin. Krepieren oder von Bolos Gnaden weiterleben, das ist die Alternative.« Er blickte zu Norina hinüber, die sich ihr verschwitztes Gesicht mit dem Handtuch abtrocknete. »Gehen wir?«

»Ja.«

Draußen empfing sie der Lärm der Fällerkolonnen und das nächtliche Konzert der Urwaldtiere. Die Lagerfeuer waren niedergebrannt, die freie Schicht schlief ihren totenähnlichen Schlaf. Wolken von Moskitos surrten durch die Nacht und belagerten die kleinen Zelte. Vor den Eingängen hingen die Moskitonetze. Bei den Lazarettwagen brannten die Batteriescheinwerfer. Das große Zelt mit dem Roten Kreuz war aufgerichtet, auch hinter seiner Leinwand schimmerten Lichter. Dr. Santaluz war damit beschäftigt, die ›Verhörten‹ wieder herzurichten. Neben dem Eingang zum Lazarett wartete eine breite dunkle Gestalt: Paulo Alegre.

»Ich weiß nicht, ob Sie uns verstehen, Carlos«, sagte Bandeira, als sie über den Kahlschlag gingen, Norina zwischen sich.

»Bestimmt nicht!«

»Sie hassen Gewalt.«

»Terror als Mittel der Freiheit ist absurd.«

»Das sagt ein satter Europäer. Die Welt hier in Lateinamerika ist nicht die Welt, wie man sie am Biertisch kennt. Hier lebt der kleine Mann von der Laune der Großen. Hier zwängt man die Hungrigen hinter Gitter und verleiht den großen Verbrechern Orden. Das alles haben Sie doch jetzt gesehen.«

»Ja. Es hat mich erschüttert.«

»Gut, es hat Sie erschüttert. Die ganze Welt ist davon erschüttert. Aber ändert das etwas? Macht ein mitleidiger Blick die Armen reicher und die Reichen gerechter? Was hilft uns das Mitgefühl der Welt? Wir müssen uns die Freiheit selbst erkämpfen. Man bestaunt nicht eine ruhige Wiese, sondern nur einen feuerspeienden Berg.« Sie blieben vor dem großen Lazarettzelt stehen. »Gibt es etwas Neues, Paulo?«

Alegre sah Gebbhardt an, dann wanderte sein Blick zu Norina. »Ich habe erfahren, daß Areras jeden Tag meine Alja belästigt. Er lauert ihr auf, bietet ihr Geld, greift ihr an die Brüste und an den Hintern …«

»Auch das noch!« Bandeira zerrte das Moskitonetz auseinander. Der Geruch von Blut, vermischt mit dem Dunst der heißen Luft, schlug ihnen entgegen. Die beiden Arbeiter, die das Boot umgestoßen haben sollten, saßen auf Hockern vor Dr. Santaluz. Ihre Gesichter waren verquollen und blutig, man konnte sie kaum erkennen. Die nackten Oberkörper sahen aus, als hätten sie auf einem Grill gelegen. Breite blutige Striemen zogen sich darüber hin.

»Statt Salben sollte man ihnen Pfeffer in die Wunden streuen!« knurrte Bandeira. »Doutôr, wie geht es ihnen?«

»Sie sind wieder klar, Hauptmann.« Dr. Santaluz wandte sich um. Sein Blick traf Gebbhardt wie ein Pfeil, dann wanderte er weiter zu Norina Samasina. Sie hielt dieser Musterung mit trotzigem Stolz stand. Ja, schien ihr Blick zu sagen, ich habe mit dem Deutschen geschlafen, Stefano. Mit ihm und nicht mit dir. Frag nicht, warum – ich gebe dir keine Antwort darauf.

Gebbhardt ging zu den Mißhandelten und betrachtete sie stumm. Dann wandte er sich um und bemerkte die Mauer aus feindseligem Schweigen: Santaluz, Norina, Bandeira und Paulo Alegre waren sich einig in ihrer Mitleidslosigkeit.

»So also sieht die Freiheit aus«, sagte er bitter.

»Nein. Was Sie sehen, sind Steine, die wir aus der Wand unseres Gefängnisses herausgebrochen haben.« Bandeira trat vor und verabreichte jedem der Mißhandelten eine schallende Ohrfeige. Ihre geschwollenen Köpfe zuckten zurück, aber sie gaben keinen Laut von sich. »Wer hat den Auftrag gegeben, die Boote umzustoßen?« fragte Bandeira.

Die beiden Arbeiter schwiegen. Bandeira trat achselzuckend zurück.

»Sind sie gehfähig?« fragte er Santaluz.

»An den Beinen haben sie nichts«, erwiderte der Arzt.

»Arbeitsfähig?«

»Sie können auch die Arme bewegen.«

»Raus mit euch!« befahl Bandeira. »Zur Brückenkolonne!«

Die beiden Arbeiter erhoben sich und taumelten, sich gegenseitig stützend, durchs Zelt.

»Halt!« sagte Gebbhardt laut. »Hauptmann Bandeira, Sie sind für die Sicherheit im Camp abkommandiert. In den Arbeitsprozeß einzugreifen, haben Sie kein Recht. Wer hier arbeitet oder nicht, bestimme ich.« Die beiden Mißhandelten starrten Gebbhardt aus verquollenen Augen an. »Wie heißt ihr?«

»Felipe.«

»José.«

»Ihr habt eine Woche Ruhe bei vollem Lohn. Legt euch in euer Zelt.«

»Danke, patrão Sie senkten die Köpfe, und wären die anderen nicht dabeigewesen, hätten sie Gebbhardt die Hände geküßt. Dann taumelten sie hinaus und verschwanden in der Nacht.

»Jetzt sind Sie aber stolz, was?« sagte Bandeira ruhig. »Das sind Mörder, Senhor!«

»Sie sind noch nicht überführt.« Gebbhardt sah Norina an.

»Kommst du mit?«

»Nein.« Ihre schwarzen Augen sprühten Blitze. Santaluz lächelte.

»Ich bin für Gerechtigkeit«, erklärte Gebbhardt. »Ich helfe mit, menschenwürdige Zustände zu schaffen. Und ich bin nicht blind. Ich weiß, daß wir hier die ärmsten Kerle zur schwersten aller Arbeiten einsetzen. Ich bejahe den Sozialismus. Wir müssen aus dieser modernen Sklaverei herauskommen. Aber ich verabscheue Gewalt und Terror, Chaos und Blutvergießen.«

»Das klingt großartig.« Bandeira gab einem der Schemel einen Tritt. Er flog bis in die hinterste Zeltecke. »Dann versuchen Sie es doch mal anders. Fahren Sie nach Brasilia und lecken Sie Hermano Bolo die Fußsohlen oder den Arsch. Er wird Ihnen sagen, wo er's am liebsten hat.«

Die schöne, von der Liebe verzauberte Nacht war vorbei. Gebbhardt ging wütend zurück in seinen Bauwagen, warf sich auf das Feldbett und starrte zur Decke. Sein innerer Zwiespalt war nun vollkommen.

Keine Gewalt, dachte er. Das sagt sich so leicht daher, wenn man jederzeit dieses Land wieder verlassen und dahin zurückkehren kann, wo Milch und Honig fließen. Wie sollen diese rechtlosen Menschen Recht bekommen, ohne sich auf ihre schlafende Kraft zu besinnen? Reden? Aufrufe? Klagen? Darüber lacht man in den Schaltstellen der Macht. Gibt es wirklich nur den einen Weg der Revolution? Verändert man den Menschen wirklich nur mit Blut?

Mein Gott, was soll man tun? Was konnte der kleine Ingenieur Karl Gebbhardt tun gegen das Monopol von Geld und Macht, manipuliertem Recht und käuflicher Moral? Was konnte man tun …

Irgendwann in dieser Nacht ging wieder die Tür. Gebbhardt hob den Kopf. Ein schmaler Schatten glitt in den Bauwagen.

»Du?« fragte er.

»Ja.«

»Was willst du?«

Sie zog sich aus, kletterte nackt über ihn hinweg und drückte sich an die Wand.

»Das …«, sagte sie und streichelte seinen Körper. »Wir haben vorhin von Sklaven gesprochen. Es gibt sie wirklich. Ich bin einer geworden.«

Dann suchten ihre Lippen seinen Mund. Sie warf sich über ihn wie ein hungriges wildes Tier.

Am Morgen waren die beiden Verhörten, Felipe und José, nicht mehr im Camp. Ihr Zelt war leer, niemand hatte sie gesehen. Alegre schwieg feindselig. Er lenkte den schweren Bulldozer über die Schneise, zog die entlaubten Stämme zur Seite und walzte den dem Wald abgerungenen Boden glatt. Auf Gebbhardts Fragen hob er nur die breiten Schultern. Sein großflächiges braunes Gesicht blieb unbeweglich.

Natürlich wußte auch Dr. Santaluz von nichts. Die Sanitäter brauchte man erst gar nicht zu fragen, und Hauptmann Bandeira knurrte Gebbhardt an: »Sie sehen doch, ich schreibe gerade meinen Bericht. Diese Arbeit müßten Sie doch am besten kennen.« Die Arbeitskameraden der beiden hatten anderes zu tun, als sich um Felipe und José zu kümmern. Der tägliche Kampf gegen den Urwald war wichtiger. Es geht um Cruzeiros, Senhor. Felipe und José bezahlen uns nicht, sondern die Stundenzettel sind wichtig, die bei Areras im Büro gesammelt und ausgezählt werden.

»Sie werden geflüchtet sein«, meinte Bandeira später. »Dieses Land schluckt Halunken wie eine Lokomotive Kohlen. Vergessen wir sie.«

Am Nachmittag fand man Felipe und José. Sie lagen abseits der neuen Straße im dichten Farn. Mit dem Gesicht nach unten lagen sie da, hingerichtet durch zwei Genickschüsse.

Es gab keine große Aufregung, als man sie zum Lazarett trug, wo Dr. Santaluz der Form halber ihren Tod bestätigte. Hauptmann Bandeira stand daneben und rauchte eine Zigarette.

»Jetzt haben wir nachweisbare Mörder im Camp«, sagte Gebbhardt laut. »Das ist nun wirklich eine Sache der Polizei.«

»Wir werden uns darum kümmern, verlassen Sie sich darauf.« Bandeira ging hinaus. Vor dem Lazarettzelt hielt er Gebbhardt am Ärmel fest. Es war ein harter Griff, den man nicht ohne Mühe abschütteln konnte. »Ein Wort noch, Senhor Carlos: Norina ist verrückt. Ich meine das im übertragenen Sinne. Natürlich ist sie eine verdammt kluge Frau, aber im Zusammenhang mit Ihnen ist sie nun mal verrückt. Sie liebt Sie.«

»Wollen wir dieses Thema nicht lieber abbrechen, Hauptmann«, sagte Gebbhardt steif.

»Ich möchte es gern, Carlos. Ich möchte mit Ihnen über Norina ganz anders sprechen. Eigentlich möchte ich Ihnen gratulieren zu dieser einmaligen Frau … wenn Sie in Rio im Palast-Hotel mit ihr im Bett liegen würden und nicht in einem Bauwagen am Rande der Hölle. Aber Sie sind nun mal hier, und diese Liebe ist keine Liebe, in der man sich wie im Land der Seligen sonnen kann. Ich ahne, ja befürchte, daß Sie gar nicht wissen, was diese Liebe für Sie bedeutet.«

»Sie müssen mich für einen fürchterlichen Idioten halten.«

»In gewisser Beziehung – ja«, erwiderte Bandeira. »Wir sprachen gestern nacht von dem Vulkan, auf dem wir leben. Ein Vulkan aufgestauter menschlicher Leidenschaften, politischer Ideen, sozialer Wünsche. Norina Samasina ist einer der Zündkörper, die diesen Vulkan zur Explosion bringen werden. Ist Ihnen das nicht klar?«

»Doch. Wir haben lange darüber diskutiert. Sie ist stolz, Revolutionärin zu sein.«

»Und ist Ihnen klar, was es heißt, eine Revolutionärin zu lieben?« Bandeira ließ Gebbhardts Jackenärmel los. Sie standen mitten auf dem Kahlschlag, vor sich den verschlammten Fluß, über den man die Pontonbrücke montiert hatte. Fällerkolonnen hatten auf schwankenden Brettern den Fluß bereits in der Nacht überquert und das jenseitige Ufer mit Macheten, Äxten, Motorsägen und kleinen Bulldozern gesäubert. Die ersten Baumriesen hingen schräg in der elastischen Wand von Lianen, Schlingpflanzen und verfilzten Zweigen. Der Wald wehrte sich noch gegen die breite Wunde, die der Mensch ihm schlug.

»Sie müssen mitmachen, Carlos … das heißt es«, sagte Bandeira ernst. »Mitmachen … oder Norina aus Ihrem Bett werfen. Da gibt es keine Halbheiten oder Kompromisse mehr. Mit dieser Liebe sind Sie auch Revolutionär geworden.«

»Ich sehe das anders, Hauptmann Bandeira.«

»Dann sehen Sie es falsch.«

»Ich werde Norina mit nach Deutschland nehmen.«

Bandeira schien alles mögliche erwartet zu haben, nur das nicht. Er sah Gebbhardt an, als habe ihm dieser gerade ein Messer in die Brust gestoßen. »Weiß sie das?«

»Nein.«

»Sie haben es ihr noch nicht gesagt?«

»Mir ist dieser Gedanke gestern im zweiten Teil der Nacht gekommen, nachdem ich die beiden mißhandelten Arbeiter gesehen habe. Norina wird in diesem Land nicht mehr weiterleben.«

»Ich glaube, wenn Sie ihr das sagen«, sagte Bandeira langsam, »wird Norina Sie umbringen. Carlos, ich hatte recht vorhin: Das ist keine Frau für Sie. Ihnen sind die Konsequenzen nicht klar, die sich ergeben, wenn man Norina zur Geliebten hat. Nach Deutschland wollen Sie sie bringen? Einfach in ein Flugzeug steigen und wegfliegen! Brasilien zurücklassen, gewissermaßen mit einem Fußtritt: Seht zu, wie ihr allein fertig werdet. Euer großes menschliches Problem … es ist nicht mein Bier. Ich habe zu Hause die vollen Fleischtöpfe.« Bandeira packte Gebbhardt an den Rockaufschlägen und zog ihn nahe zu sich heran. »Ich warne Sie. Nicht vor mir, nein. Vor Norina. In diesem Land ist es möglich, daß eine Frau nach einer Liebesnacht ihrem Geliebten die Kehle durchschneidet. Und sie tut es als Heldin, für ihre Ehre.«

»Nicht Norina. Wollen Sie mich bitte loslassen, Hauptmann?«

»Verzeihung, Carlos.« Bandeira ließ die Hände sinken. »Ich mache mir Sorgen um eure Liebe. Ist das nicht absurd? Euer Problem ist meines. Und warum? Weil Sie ein so verdammt anständiger Kerl sind, Carlos. Aber das Schicksal hat Sie nun mal in diesen Urwald verschlagen. Sie besitzen die schönste Frau, die ich kenne, und Sie werden in das ganze blutige Chaos hineingezogen werden, ob Sie wollen oder nicht. Es sei denn, Sie reisen ab. Heute noch.«

»Ich habe einen Vier-Jahres-Vertrag, Bandeira.«

»Mit Sterbeverpflichtung?« Bandeira lachte rauh. »Diese Deutschen! Pflichterfüllung bis zwei Meter unter die Erde.«

»Wie Sie, Hauptmann.«

»Ich bin Brasilianer. Es ist mein Land, mein Vaterland. Sie hält nur ein Vertrag hier. Ein Stück Papier, das auch zum Hinternputzen zu gebrauchen ist.«

»Jetzt hält mich Norina in Ihrem Land.«

»Dann müssen Sie auch Revolutionär sein!« sagte Bandeira laut. »Carlos, ich kann Ihnen nicht helfen. Diese Entscheidung nimmt Ihnen keiner ab. Nur vergessen Sie eines nicht: Norina ist zuerst Patriotin und erst dann Geliebte, nicht umgekehrt. Das ändern Sie nie.«

Er wandte sich um und ging in militärisch strammer Haltung schnell davon. Gebbhardt blickte ihm nachdenklich nach.

Aus dem Lazarettzelt wurden die beiden Leichen herausgetragen. Sie waren in Zeltplanen gewickelt. Die Füße hingen heraus und schlenkerten hin und her. Die Neger, die die Toten wegtrugen, grinsten Gebbhardt breit an und marschierten in den gelichteten Urwald hinein. Dort gab es schon mehrere Gräber. Gebbhardt hatte die nach Brasilia gemeldete Statistik im Kopf: Pro Woche im Durchschnitt vier Ausfälle, wie man es in der Amtssprache nannte. Ein anonymes Sterben in nackten Zahlen. Todesursache: Bluthusten, Vergiftungen, Entkräftung, Darmbluten, ungeklärte Messerstiche, Unfälle und besonders häufig Quetschungen durch die niederbrechenden Riesenbäume. Man begrub die Toten in einem ordnungsgemäßen Grab, man stellte sogar ein Kreuz darauf, egal ob Christ oder nicht Christ. Bisher hatte der Sanitäter immer das Gebet gesprochen. Das konnte er besser, als mit seiner Sanitätstasche umgehen.

Aber später sah man kein Grab mehr. Wo die Straße eine feste Decke hatte, wo sie einmal der Stolz von Brasilien sein sollte, störten die Beweise einer unmenschlichen Arbeit. Gebbhardt hatte festgestellt, als er nach Ceres zur Planungszentrale fuhr, daß die Straßenränder eingeebnet waren. Die Strecke sollte einmal ›Die Straße der Freiheit‹ heißen – nicht ›Straße des Todes‹!