8

Im Lager fuhr Gebbhardt sofort zu Bandeira. Der Polizeihauptmann saß auf einem Klappstuhl vor dem Lazarettzelt und tippte auf einer Reiseschreibmaschine einen Bericht. Dr. Santaluz und Norina hatten die Feierschicht fast durchweg untersucht. Im Behandlungszelt drängten sich die Arbeiter, die bereits in der Voruntersuchung aussortiert worden waren.

»Wird Piraporte eine Freude haben, wenn er zurückkommt«, sagte Bandeira schadenfroh. »Die halbe Schicht hat Santaluz krank geschrieben. Er behauptet, auch Brasilien könne es sich nicht leisten, mit menschlichen Wracks Geld zu verdienen. Wird das eine Aufregung in Ceres und Brasilia geben! Auch Sie müssen umdisponieren, Senhor Carlos. Sie haben nämlich nur noch knapp sechzig Prozent Ihrer Belegschaft einsatzbereit.«

»Es wird Aufregung genug geben, Hauptmann.« Gebbhardt blickte über den weiten Platz. Alegre hatte den Jeep in die Reihe der abgestellten Fahrzeuge zurückgefahren. Jetzt war er in einen erregten Disput mit dem Fuhrparkleiter verwickelt, der von ihm die Erstattung der Benzinkosten forderte. »Ich habe Paulo auf halbem Wege aufgegabelt. Er kam vom Zentrallager. Er hat dort Areras umgebracht.«

Bandeira schien von dieser Mitteilung nicht überrascht zu sein. Er nickte und schob die Schreibmaschine von sich weg.

»Das weiß ich«, sagte er.

»Das wissen Sie?«

»Bereits als Sie abzischten, um den verlorenen Sohn Alegre zu suchen.«

»Und Sie haben mir nichts gesagt? Ich habe Sie doch gefragt …«

»Sie haben gefragt, ob ich etwas Besonderes an Meldungen hereinbekommen hätte. Ich habe das verneint. Das entspricht der Wahrheit.«

Bandeira faßte in die obere Rocktasche, holte zwei lange Zigarillos hervor und bot Gebbhardt eine davon an. Sprachlos, geradezu überwältigt von dem, was er gerade gehört hatte, griff Gebbhardt nach dem schwarzen Stengel und zerbröckelte ihn zwischen seinen Fingern. Bandeira grinste schief.

»Es war Mord«, sagte Gebbhardt tonlos. »Hauptmann, ein Mord!«

»Sie hängen zu sehr an einem Wort, Senhor Carlos.«

»Was ist es denn sonst, wenn man einem Mann den Schädel an der Wand zertrümmert?«

»Schlimmstenfalls ein Unglücksfall. Aber auch das war es nicht. Ich habe meinen Leuten im Zentrallager gesagt, sie sollen den Fall Areras als unlösbar nach Brasilia melden.«

»Bandeira …«, sagte Gebbhardt gedehnt.

»Nun hören Sie mal zu, Sie deutscher Wahrheitsengel. Ich habe Ihnen deutlich genug erklärt, in welcher extremen Situation wir hier leben! Wir befinden uns hier in einer gesellschaftlichen, politischen und menschlichen Ausnahmesituation. Mit dieser Straße sollen Zeichen gesetzt werden … keine Kilometerzähler oder Wegweiser, sondern Zeichen einer neuen Ordnung in diesem faulen Staate.«

»Verdammt noch mal, ja. Das höre ich überall. Davon singt auch Norina Heldenlieder. Aber warum gerade mit dieser Straße?«

»Irgendwo muß man ja anfangen, Sie Narr. Wo denn sonst? In Rio? In Brasilia? In São Paulo? Da sind die Menschen zu satt, da regiert das Großkapital. Die Erneuerung muß von außen in die Städte kommen, genau konträr zu den klassischen Revolutionen.«

»Und was hat das alles mit dem Mord an Areras zu tun?«

»Es war kein Mord.« Bandeira winkte lässig ab. »Es war ein Signal. Und es ist leider physikalisch nicht anders denkbar, als daß ein abgeschossenes Signal zerplatzt und verglüht.«

»Das ist ungeheuerlich!« erklärte Gebbhardt fassungslos. »Sie machen aus Alegre ja einen Helden!«

»Wann gewöhnen Sie sich endlich ab, immer so große Worte hinzuwerfen? Einen Helden!« Bandeira schnippte die weiße Asche von seinem langen schwarzen Zigarillo. »Nichts wird aus ihm gemacht. Das nennt man ›Das Verfahren des schweigenden Krieges‹. Eine Spezialität dieses Landes.« Bandeira erhob sich von seinem Klappstuhl. Er unterstrich damit den Ernst seiner folgenden Worte. »Senhor Gebbhardt, ich möchte Sie davor warnen, eigene Meldungen oder Ansichten nach Ceres zu bringen. Es wäre auch zu spät. Der Vulkan steht kurz vor dem Ausbruch.« Er sah auf die Uhr. »Mit Piraporte wird es hier anfangen.«

»Also doch«, sagte Gebbhardt heiser vor Erregung.

»Was doch?«

»Sie sind der Kopf. Ich habe es geahnt, als Sie hier auftauchten. Auf Ihr Konto gehen auch die Liquidationen der letzten Tage. Bandeira, bevor hier die Hölle ausbricht, lassen Sie mich und Norina abreisen.«

»Gern.« Bandeira wies auf die Lazarettzelte.

Norina Samasina saß vor den bereits entwickelten ersten Filmen der Röntgenreihenuntersuchung und ließ sie durch einen Leuchtkasten laufen. Wenn sie Tuberkelherde auf den Fotos sah, versah sie die Bilder mit einem roten Haken. »Gehen Sie hinein und fragen Sie Norina. Senhor Carlos, warum wollen Sie nicht begreifen, daß auch wir ein Recht haben, unser Land zu lieben.«

Gebbhardt wollte noch nicht mit Norina sprechen. Er wäre dazu auch gar nicht in der Lage gewesen. Gedanken, Überlegungen jagten durch seinen Kopf, vor allem aber immer wieder die eine entscheidende Frage: Wie kann ich Norina und mich aus diesem Vulkan – wie Bandeira es nannte – retten? Bricht er aus, werden wir alle wie glühende Asche in die Luft geschleudert.

Zur selben Zeit tagte in Ceres, wo ein Bataillon Fallschirmjäger lag, eine Art Krisenstab. Sofort nach Areras Tod waren von Brasilia mit einer Militärmaschine ein Vertreter der Regierung und ein hoher Offizier des Generalstabs eingeflogen worden. Sie brachten weitgehende Vollmachten mit. In der Regierung war man sehr beunruhigt von den Meldungen, die Piraporte laufend herüberfunkte. Die Stimmung unter den Arbeitern war explosiv, es war nur eine Frage der Zeit, wann der berühmte Funke in dieses Pulverfaß sprang. Aber auch diese Zeit war knapp, das ahnte jeder. Man wurde in einen Handlungszwang getrieben, auch wenn man gerade jetzt im Land selbst und vor allem vor der Welt eine blutige Auseinandersetzung mit umstürzlerischen Elementen nicht gebrauchen konnte. Mit eisernem Schweigen hatte Brasilien gerade die allgemeine Welle des Entsetzens überstanden, die nach Bekanntwerden der Indianermorde im Amazonasgebiet aufgebrandet war. Das politische Ansehen hatte darunter gelitten, hinzu kamen die Protestreisen des Bischofs Helder Cámara, der in seinen Vorträgen und Predigten ein anderes Brasilien zeigte, als man es vom Karneval in Rio her kannte oder am Strand von Copacabana mit schönen Frauen genoß.

Die Indianermorde gingen im Schweigen unter. Der Amazonas war weit, zu weit entfernt von den Frühstückstischen der übrigen Welt, und die Benzinverknappung war viel wichtiger, denn sie ging jeden an. Für ein paar ausgerottete Stämme nackter, in der Steinzeit lebender Indianer blieb eigentlich nur ein Staunen darüber, daß es überhaupt noch solche Menschen gab. Auch Helder Cámaras Aufrufe verhallten erfolglos, trotz vieler Ehrungen. Das alles war gut gelaufen … und jetzt sollte das neu aufpolierte Bild Brasiliens durch einen Bruderkrieg wieder grell erleuchtet werden und seine wirkliche Fratze zeigen?

Die Besprechung zwischen den Offizieren und dem Vertreter der Regierung fand in einer Stabsbaracke statt, einem Holzhaus auf festem Sockel, das man schnell am Rande von Ceres errichtet hatte, als die neuen Truppen hierher verlegt wurden. An der Stirnwand des großen Zimmers hing nur eine Karte vom Gebiet zwischen Ceres und dem Rio Araguaia. Rot und dick, wie eine Aorta, war die neue Straße darauf eingezeichnet. Kreise bedeuteten Lager, ein fetter großer Punkt stand für das Zentrallager.

»Es steht außer Zweifel, meine Herren«, sagte der Oberst im Generalstab zu den Versammelten, während er mit einem Zeigestock die Straße entlangfuhr, »daß der Mord an Luis Jesus Areras ein politischer Mord war. Die Meldungen, die uns von Hauptmann Piraporte vorliegen, sind eindeutig und lassen keine Alternativen zu. Die an diesem Straßenbau insgesamt eingesetzten viertausend Arbeiter bilden eine Art Privatarmee der Rebellen. Eine Eliteeinheit stellen die beiden Bauspitzen dar – die Fällerkolonne und die Räumkolonne. Ihre Leitung liegt in den Händen von Carlos Gebbhardt, einem Deutschen.«

»Das hat uns gerade noch gefehlt«, sagte der Bataillonskommandeur der Fallschirmjäger trocken. »Ein Deutscher. Die sind immer dabei.«

»Ich muß Sie berichtigen.« Der Oberst im Generalstab lächelte, als wolle er um Verzeihung bitten. »Senhor Gebbhardt ist technischer Leiter. Er hat mit den Vorfällen nur mittelbar zu tun.«

»Aber er ist doch nicht blind. Liegen von ihm Berichte vor?«

»Beschwerden genug.« Der Regierungsvertreter lächelte maliziös. »Er ist ein sehr schreibfreudiger Mann.«

»Beschwerden!« Der Bataillonskommandeur lehnte sich zurück. »Keine Hinweise? Rechnen wir ihn also zu den Sympathisanten der Rebellen.«

»Beißen wir uns nicht an diesem harmlosen Deutschen fest.« Der Oberst fuhr wieder mit dem Zeigestock über die Karte. »Es geht einzig darum, durch eine Blitzaktion jeden offenen Widerstand im Keim zu ersticken. Eine Aktion, die kein Aufsehen erregen darf, gewissermaßen unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Sie wissen, daß es schon Protestmärsche gegeben hat, Plakate, Transparente, Sprechchöre. Damals ist es Areras gelungen, Schlimmeres abzubiegen. Wir haben ein fahrbares Lazarett hingeschafft, wir haben«, der Oberst grinste breit, »den Puff um sieben Mädchen verstärkt, es gibt eine bessere Versorgung der Kolonnen. Nur …« Er machte eine lange Pause und klopfte mit dem Zeigestock gegen die Karte. Es klang wie das tack-tack-tack eines Maschinengewehrs. »Diese Maßnahmen waren lediglich eine Beruhigung. Den Kern trafen sie nicht. Das soll jetzt anders werden. Die Befehle lauten: Besetzung aller Schlüsselpositionen durch Militär. Übernahme der Befehlsgewalt durch ein Offiziersgremium. Fortsetzung der Bauarbeiten unter militärischer Bewachung. Verhaftung aller Rädelsführer. Eine Liste der Namen wird Ihnen gleich überreicht. Bestrafung durch ein Militärgericht an Ort und Stelle.«

Die versammelten Offiziere sahen sich an. An Ort und Stelle – jeder wußte, was das hieß, ›an Ort und Stelle‹. Das hieß: Standgericht.

»Ablösung von Dr. Santaluz«, fuhr der Oberst fort.

Das war eine echte Überraschung. Der Bataillonskommandeur, der Santaluz noch zuletzt zu einem Umtrunk eingeladen hatte, beugte sich über den langen Tisch.

»Irrt man sich da nicht in Brasilia?«

»Dr. Santaluz hat die Hälfte der Arbeiter krank geschrieben.«

Der Regierungsvertreter legte ein dünnes Aktenstück auf den Tisch. »Ein raffinierter Trick, zugegeben. Unter dem Motto ärztlicher Verantwortlichkeit erreicht er eine Lähmung des ganzen Straßenbaus. Hauptmann Piraporte vermutet übrigens in Dr. Santaluz einen Hauptträger der Unruhe.«

»Auch Piraporte kann einen Sonnenstich haben. Ein Arzt wie Dr. Santaluz …«

»War Che Guevara nicht auch Arzt!«

Der Bataillonskommandeur schwieg. Es gibt Argumente, auf die es keine Antwort mehr gibt.

»Wann?« fragte er knapp.

Der Oberst sah auf die Uhr. »Heute nacht um drei werden alle Positionen besetzt. Sie werden auf keinen Widerstand stoßen, Major. Die Arbeiter haben keine Waffen bis auf die als Schutztruppe eingesetzten Einheiten, die Überfälle von Tieren und Indianern verhüten sollen. Sie können mit lauten Protesten rechnen, aber nicht mit Waffengebrauch. Haben Sie noch Fragen, meine Herren?«

Eine Stunde später ertönte bei den Fallschirmjägern in Ceres kriegsmäßiger Alarm.

Die Mittagsschicht wurde abgelöst und kam über den Fluß zurück. Ausgepumpt, hohläugig – Gespenster in zerrissenen, dreckigen Hosen und Hemden. Wie Tiere stürzten sie sich auf die Bänke vor der Küchenbaracke, markierten ihren Sitzplatz mit irgendeinem persönlichen Gegenstand und bildeten dann eine lange Schlange vor der Essenausgabe. Alegre war nicht unter ihnen. Er war nirgendwo mehr gesehen worden. Bandeira schien ihn aus dem Verkehr gezogen zu haben und an einem sicheren Ort zu verwahren.

Auch Gebbhardt kam mit der Schicht zurück. Er war an der Kolonnenspitze gewesen und hatte dort seine Vermessungen kontrolliert. Die Vorarbeiter meldeten ihm unwichtige Vorfälle, wie etwa, daß zwei Fäller Hauptmann Piraporte einen Arschkriecher der Regierung genannt hatten. Piraporte hatte daraufhin die Beiden verhaftet und kurzerhand an die Tür seines Wagens gefesselt.

Die Stimmung war danach ausgesprochen mies. Die Männer murrten, aber es fehlte jemand, der den Funken des Zorns kräftig anblies.

Gebbhardt war zu Piraporte gegangen, um sich den Vorfall erzählen zu lassen. Die beiden Fäller standen, mit Handschellen an den Rahmen des Wagenfensters gefesselt, in der prallen Sonne der Schneise. Ihre Lippen waren bereits aufgedunsen, in den Augenhöhlen saßen die Fliegen wie dicke schwarze Knoten. Sie hatten keine Möglichkeit, sie wegzujagen. Gebbhardt war empört und sagte das auch Piraporte, der, elegant wie immer, auf einem Baumstamm stand und die Kolonnen fotografierte.

Bilder für den Geheimdienst. Erkennungsfotos. Es konnte später keiner mehr sagen, er habe nicht hier an der Spitze gearbeitet.

»Sollen den Männern die Köpfe platzen?« fragte Gebbhardt grob.

»Welchen Männern?« fragte Piraporte erstaunt zurück.

»Ihrer neuen Autoverzierung.«

»In einem Arschloch ist es warm«, sagte Piraporte gemütlich und ließ die Kamera sinken. »Haben Sie schon mal ein Fieberthermometer hineingesteckt? Durchschnittlich sechsunddreißig bis siebenunddreißig Grad. Ich nehme an, Sie haben gehört, warum ich sie verhaften mußte. Nun haben die beiden die Temperatur eines Regierungsarsches.«

»Binden Sie die Männer sofort los!« befahl Gebbhardt. Seine Stimme bebte vor Zorn.

»Ich denke nicht daran.« Piraporte lächelte schief. »Sie glauben doch wohl nicht, daß ich von Ihnen Befehle entgegennehme?«

»Dann werde ich von einem Schmied die Handschellen aufkneifen lassen. Wir haben Stahlscheren genug hier.«

»Das würde ich als einen unfreundlichen Akt ansehen, Senhor Carlos. Aber es steht Ihnen natürlich frei, wieder eine Meldung zu schreiben.«

»Ich werde keine Meldung mehr schreiben. Ich werde nur noch handeln.«

»Die Deutschen lernen schnell.« Piraporte hob blitzartig die Kamera und schoß ein Bild von Gebbhardt. »Ihres fehlte noch. Nach Norinas Lehrstunden gehören Sie mit ins Familienalbum.«

»Lassen Sie Norina aus dem Spiel!«

»Ich gebe doch keine Trumpfkarte aus der Hand. Senhor Carlos, Sie unterschätzen mich. An dieser Straße wurden systematisch durch Einpeitscher die Arbeiter aufgehetzt. Als die Untergrundarbeit beendet war, erschienen die militanten Köpfe. Der eine in Polizeiuniform, der andere im weißen Kittel des Arztes, der dritte in Gestalt eines schwarzhaarigen Engels. Nein, halten Sie den Mund. Wundern Sie sich nicht, daß ich Ihnen das sage. Die Personen, die ich meine, wissen genau, daß ich sie durchschaut habe. Das ist eigentlich mein Gutschein fürs Weiterleben. Sie haben den Zeitpunkt verpaßt, mich zu liquidieren. Jetzt wäre es nur noch ein simpler Mord, keine nationale Tat mehr.«

»Ich wundere mich tatsächlich.« Gebbhardt blickte sich um. Das Krachen der fallenden Baumriesen hörte sich wie ein Gewitter an. Die Motorsägen fraßen sich kreischend durchs Holz. »Sie stehen hier und fotografieren und keiner hängt Sie an den nächsten Ast.«

»Sie haben Angst.« Piraporte grinste breit. »Sie haben keine Waffen. Sie wissen genau, daß Militär hinter ihnen in Bereitschaft liegt. Mit den bloßen Händen gegen Maschinengewehre? Da hört die Lust zur Revolution auf.«

»Und das will man durchhalten? Wie lange noch?«

»Bis zum Rio Araguaia – und noch länger.« Piraporte sprang von seinem dicken Baumstamm.

Er wirkte elegant, ein wenig zu geziert. Fast wie ein Schwuler. Gebbhardt verspürte Übelkeit. Ich könnte vor Abneigung kotzen, dachte er. Aber gleichzeitig begriff er die Tragik dieser Männer, die sich durch den Wald schlugen, von einer besseren Zukunft träumten und in der Gegenwart mit Gewehren in Schach gehalten wurden. Eine moderne Form der Sklaverei. Bandeira hatte recht.

»Haben Sie noch Fragen, Senhor Carlos?« wollte Piraporte wissen.

»Nein. Ich möchte nur über das weitere Schicksal der beiden Verhafteten unterrichtet werden.«

»Ich notiere es mir.«

Mit dem Ausdruck des Widerwillens drehte sich Gebbhardt um und ging zu seinem Wagen.

Am Ende der Schicht waren Piraporte und die beiden Verhafteten verschwunden. Gebbhardt berichtete Bandeira davon, und dieser zeigte deutliche Unruhe.

»Er hat gar keine Befugnisse, jemanden zu verhaften«, erklärte er. »Piraporte hat nur einen Beobachterposten. Davon sind wir informiert worden. Der Teufel soll den gelackten Affen holen!«

Eine Stunde später kam der Dienstwagen zurück, den Bandeira mit drei Polizisten nach vorn geschickt hatte. Er fuhr zum Lazarettzelt. Dr. Santaluz warf einen Blick in den Wagen und ging ins Zelt zurück. Dafür stürzte Bandeira heraus, riß die Hecktür des Kombiwagens auf und begann zu brüllen. Die Schicht, die gerade gegessen hatte und nun, satt von der dicken Suppe, ihre Zigaretten rauchte, lief zu ihm.

»Piraporte muß her!« schrie Bandeira. »Wer hat Piraporte gesehen? Ich setze dreitausend Cruzeiros aus für seinen Kopf!«

Zwei Polizeijeeps rasten zum Fluß, überquerten die schwankende Pontonbrücke und mahlten sich durch den weichen Urwaldboden nach vorn zur Fällerkolonne. Die Erde spritzte unter ihren Reifen weg, als tanzten sie auf Granateinschlägen vorwärts.

Gebbhardt ging hinüber zu Norina. Er hatte sie seit dem frühen Morgen noch nicht wiedergesehen. In der Hoffnung, sie würde zu ihm kommen und ihn fragen, was geschehen sei, war er ihr aus dem Weg gegangen. Doch er wartete vergebens. Sie kam nicht. Jetzt sah er sie, wie sie neben Dr. Santaluz und dem tobenden Bandeira stand.

Vier Arbeiter holten aus dem Kombiwagen zwei Leichen heraus und trugen sie ins Behandlungszelt. Sie waren nur noch ein Zerrbild der beiden Männer, die einmal in Gebbhardts Kolonne an den Motorsägen gestanden hatten. Ihre Köpfe waren zerplatzt, aber nicht von der Sonne, sondern von Genickschüssen, bei denen man den Lauf schräg nach oben gehalten hatte. Die Schüsse hatten beide Hinterköpfe wegrasiert.

Mit zusammengepreßten Zähnen sah Gebbhardt auf die beiden Toten. Sie trugen noch ihre Handschellen. Im Tod noch waren sie aneinandergefesselt – ein Symbol ihrer Situation und der ihrer Kameraden.

»Wir sind dabei, eine glatte Rechnung zu machen«, sagte Dr. Santaluz mit eisiger Ruhe. »Du hast zwei Tote von uns, also schick ich dir zwei Tote von euch. Nur ein Aktivposten bleibt noch offen: Wer kommt für Areras dran?«

»Wir fahren noch heute zurück nach Ceres«, sagte Gebbhardt und ergriff Norinas Hand. »In einer Stunde. Morgen sind wir in Brasilia, übermorgen in Rio …«

»Einen Tag später in Frankfurt …«

»So ist es.«

»So ist es nicht!« Sie befreite sich von seinem Griff. Ihre schwarzen Augen blitzten. »Wir können nicht mehr weg. Selbst du allein könntest es nicht mehr.«

»Ich bin ein freier Mann, verdammt noch mal.«

»Ich zeige dir, wie frei du bist.«

Sie zog ihn ins Zelt, vorbei an Dr. Santaluz, der sie kritisch ansah. Sie nickte nur, zerrte an Gebbhardts Hand und führte ihn durch den abgeteilten Raum, in dem Piraporte geschlafen hatte. Durch eine Öffnung in der Zeltwand hinter einem eisernen Schrank, der Antibiotika enthielt und dessen Kühlaggregat leise summte, kamen sie in eine Art Abstellager, wo Kisten und Säcke, Kartons und Container standen. Hier blieb Norina stehen.

»Soll ich aufräumen?« fragte Gebbhardt spöttisch.

»Einen Augenblick.« Norina zog ein paar leere Kisten zur Seite. Eine Falltür kam zum Vorschein, sie klappte sie hoch, und dabei hörte Gebbhardt auch schon Ticken, Summen und lautes Pfeifen aus dem Erdloch dringen.

»Eine Funkstelle …«, sagte er. »Ihr habt verdammt schnell und heimlich gearbeitet.«

»Darin sind wir ausgebildet worden. Die Antennen stehen oben in den Bäumen. Wir sind mit allen Gruppen in Brasilien verbunden. Wir hören auch den Funkverkehr der Armee ab.«

Sie zeigte in das Loch. Gebbhardt sah eine einfache Holzleiter und tastete sich in die Tiefe. Der Raum war winzig. Er bot höchstens vier Personen Platz. Es tropfte von den Wänden, die mit Kistenbrettern verschalt waren, und man stand knöcheltief im Wasser. Rundherum befanden sich die Funkgeräte. Zwei Sanitäter saßen in Gummistiefeln auf zusammengezimmerten Hockern und hatten Kopfhörer angelegt. Sie grinsten Gebbhardt an, dann wandten sie sich wieder ihren Geräten zu.

»Warum zeigst du mir das?« fragte er resignierend. Es war eine Frage, die schon die Antwort enthielt. »Ihr seid doch alle Phantasten, Norina. Ihr spuckt, und sie haben Kanonen.«

»Du ahnungsloser Engel, du.« Sie zog seinen Kopf an sich und küßte ihn auf die Augen. Die beiden Männer an den Funkgeräten kümmerten sie nicht. »Wir sollten uns lieben, solange es möglich ist. Ich bin dankbar für jede Stunde, die ich mit dir zusammen sein kann. Wenn es Morgen wird, wünsche ich mir die Nacht herbei.«

Es gab keine Nacht mehr für sie.

Sie waren kaum wieder aus dem Erdloch gestiegen und saßen im Arztzelt, um Tee zu trinken, da klingelte das Telefon. Santaluz nahm den Hörer ab. Im gleichen Augenblick kam Bandeira hereingestürzt, sein kleines Funkgerät in der Hand.

»Stefano!« brüllte er in höchster Erregung.

»Ich höre es gerade aus dem Funkraum.« Santaluz legte auf. »Sie haben die Losung ausgegeben: Carlos geht am Ufer spazieren.«

»Ich habe es im Klartext!« schrie Bandeira. »Direkt aus Ceres. Vom Kasernentor. Dort steht einer meiner Polizisten und regelt den Verkehr. Die Fallschirmjäger rücken aus! Kriegsmäßig!«

Gebbhardt durchfuhr es wie ein elektrischer Schlag. »Was bedeutet das?« fragte er.

»Daß es zu spät ist, um nach Frankfurt zu fliegen, mein Liebling.« Norina küßte seine Stirn. Er spürte, daß ihre Lippen plötzlich ganz kalt waren. »Sie können doch nicht einfach …«, sagte er fassungslos. »Wir haben doch keinen Krieg. Fallschirmjäger gegen Waldarbeiter … Sie können doch nicht einfach … gegen waffenlose Menschen …«

»Ich würde Ihnen vorschlagen, Carlos«, sagte Santaluz mit ruhiger Stimme, in der aber eine Art Befehlston mitschwang, »daß Sie im Lazarettzelt bleiben. Es wird hier bald keinen sicheren Platz mehr geben. Das Rote Kreuz auf der Leinwand ist wenigstens eine seelische Beruhigung, wenn man daran glaubt. Bandeira, lassen Sie Alarm geben. Bei allen Kolonnen! Die Spitze sofort zurück!«

»Die sucht Piraporte.«

»Der wird im richtigen Augenblick schon auftauchen.« Santaluz nahm Norinas Teetasse und trank sie leer. »Also los!« sagte er dann. »Ein Bataillon Fallschirmjäger ist von vornherein ein Fehler. Man unterschätzt uns.«

Draußen heulten die Sirenen auf. Katastrophen-Alarm. Was in monatlichen Übungen immer wieder durchgespielt worden war, trug jetzt Früchte. Von allen Seiten rannten die Arbeiter zum großen Zentralplatz. Im Fuhrpark wurden sämtliche Fahrzeuge angelassen, vom kleinen Jeep bis zum urweltlich wirkenden, riesigen Supertraktor und den wie Panzer auf Ketten laufenden Räumern.

Die Sanitäter öffneten die Lazarett-Lastwagen. Aus dem Sanitätszelten trug man Kisten und Kartons heraus. Holz splitterte, die Kistendeckel flogen auf. Von den Lastwagen rutschten die Kisten auf die Erde.

Röntgenersatzteile. Labor. Verbandzeug. Bestrahlung II und III. Achtung! Gift! Medikamente.

Kiste um Kiste.

Aber als die Deckel aufgebrochen waren, kam etwas anderes zum Vorschein. Gewehre, Maschinenpistolen, Munition, Magazine, Revolver, vier schwere Maschinengewehre, drei leichte – sechs Granatwerfer, röhrenartige Aufsätze für Gewehrgranaten, flache Kästen mit Handgranaten, Sprengsätze.

Und wieder standen sie Schlange, Mann hinter Mann, nur hielten sie jetzt nicht ihre Blechschüssel hin, um eine Kelle Suppe zu empfangen. Sie hielten die Hände hin und bekamen ihre Waffen. In der Vorarbeiterbaracke wurden bereits die als Menschenschinder verschrienen Vorgesetzten festgehalten. Mit hinter dem Kopf gefalteten Händen trieb man sie über den Platz zu einem geschlossenen Lastwagen.

Und Paulo Alegre war wieder da. Gebbhardt hörte sein dröhnendes Organ aus dem Lärm der Menge heraus. Er gab Befehle und stellte seine Kampfeinheit zusammen. Dann überdeckte ein Höllenkrach alles andere. Die schweren Räumer und Trecker, die Bagger und Kräne rasselten heran.

Was war dagegen ein Bataillon Fallschirmjäger?

»Jetzt erwacht Brasilien!« rief Norina Gebbhardt zu. Ihre Augen glänzten in höchstem Triumph. »Begreifst du's jetzt, mein Liebling?«

Gebbhardt nickte. »Ich begreife«, sagte er leise, »daß Verzweiflung und Fanatismus blinde Zwillinge sind.«

Der Lärm der aufmarschierenden Maschinen zermalmte seine Worte, ehe sie Norina erreichten.

Das Leben schenkte ihnen noch fünf Stunden.