9

Aus dem Lager wurde eine Festung.

Man hatte es leicht, Barrikaden zu bauen. Die Urwaldriesen, gefällt und zersägt, an der breiten Schneise der verfluchten Straße zu beiden Seiten zum Abtransport gestapelt, lieferten das Material für unüberwindliche Mauern aus uralten Stämmen. Mit Kranwagen und Planierraupen wurden sie aufgetürmt, sogar die schwerfälligen Walzen schoben sie vor sich her. Das Gewirr der abgeschlagenen Äste und Lianen, Dornenranken und Riesenfarne türmte man vor dieser Holzmauer zu dicken Klumpen auf.

Bandeira inspizierte zwei Stunden lang die totale Absperrung und kam zufrieden ins große Arztzelt zurück. Dort war inzwischen die Waffenausgabe beendet. Norina und Gebbhardt saßen auf zwei Klappstühlen und hörten zu, was aus dem Funkbunker an Dr. Santaluz gemeldet wurde.

»Da kommt kein Panzer durch«, sagte Bandeira stolz und zeigte nach draußen. »Jetzt wird der von Gott verdammte Wald unser Freund. Dieses Ast- und Dornengestrüpp ist besser als jeder Stacheldraht, und lebend kommt keiner über die Baummauer. Die hält sogar Granaten größeren Kalibers aus, als die kleinen Schützenpanzer bei sich haben.«

»Sie setzen Fallschirmjäger ein«, sagte Gebbhardt bedrückt. Er hatte zum letztenmal versucht, Norina zu überreden, mit ihm zu kommen. Noch gab es einen Weg. Mit einem weißen Tuch an der Windschutzscheibe konnte man den Regierungstruppen entgegenfahren.

»Gib es auf, Carlos«, hatte Norina geantwortet und sein schweißnasses Gesicht gestreichelt.

Die Luft stand wie bleiern über dem Urwald. Die Sonne glühte und saugte die Feuchtigkeit der letzten Tage aus Erde und Pflanzen. Das Atmen wurde zur Qual. Es war, als inhaliere man einen massiven Brei aus Hitze und Wasser. Der Wald stank nach Moder und Verwesung.

»Überall im Land werden in einer Stunde die Freiheitsgruppen aufstehen«, sagte sie.

Gebbhardt sah sie nachdenklich an. Ihr Glaube an die große Revolution war erschütternd. Er ahnte, daß ihre Enttäuschung und ihr Untergang maßlos sein würden.

»Das glaubst du?« fragte er.

Sie warf die Haare in den Nacken, und ihre schwarzen Augen glühten vor Begeisterung. »Wir haben Funkkontakt mit allen anderen Gruppen. Sie warten auf unser Signal. Überall in Brasilien wird es in einer Stunde heißen: Freiheit! Gerechtigkeit! Menschenwürde!«

»Und das Militär wird auf euch schießen.«

»Fidel Castro brauchte auch kein Militär. Er brauchte nur das Volk. Auch wir haben das Volk hinter uns.«

»Das Volk!« Gebbhardt blickte hinüber zu dem Wall aus Stämmen und diesen Bergen aus Dornengestrüpp. Die schweren Baufahrzeuge waren jetzt zur dritten Sperre aufgefahren, dicht an dicht, eine stählerne Mauer, urzeitlichen Ungeheuern ähnlich, mit hochgereckten Hälsen und aufgerissenen Mäulern. Zwischen dem Stahl, grellrot oder gelb lackiert, hockten die Menschen und starrten die breite, leere Straße hinunter. Ihre Straße! Mit ihrer Kraft, ihrem Schweiß, ihren Flüchen aus diesem riesigen Wald geschlagen. Ihr Schicksal, Meter um Meter. Jetzt wurde sie zu einem Symbol: Die Straße in die Freiheit! Jetzt war man stolz auf sie, die verfluchte, und niemand sah, daß jenseits des Flusses alles wieder im Urwald endete, in Sumpf und Dschungel, und daß diese Straße ein schiefes Symbol war: Sie führte nicht in die Freiheit – sie führte ins Nichts.

»Das Volk!« sagte Gebhardt. Um ihn herum rannten die als Gruppenführer eingeteilten Vorarbeiter. Dr. Santaluz hatte einen Kopfhörer über die Ohren gestülpt und sprach durch ein umgehängtes Mikrofon mit den Außenstellen. Hauptmann Bandeira belud seinen kleinen Jeep mit Handgranaten, zwei Maschinenpistolen und einem Stahlschild. »Ihr verlaßt euch wirklich auf das Volk?«

»Ich weiß, was du denkst.« Norina kniff die Lippen zusammen. Ihr schöner Mund war nur noch ein Strich, eine Narbe in dem herrlichen Gesicht. »Aber unser Volk ist anders als euer Volk. Es kriecht nicht immer nur dem Starken in den Hintern, ist nicht satt und träge – unser Volk hat Hunger! Weißt du, was Hunger ist? Er ist für eine Revolution mehr wert als zehn Atombomben.«

Von der hohen, unüberwindlichen Sperre kamen schrille Sirenensignale. Die Arbeiter rannten nach vorn, kletterten auf die Fahrzeuge und hockten sich in die vierfach gestapelten riesigen Holzstämme.

Bandeira, eine Maschinenpistole vor der Brust, trat zu Gebbhardt. »Sie sollten in die Funkgrube klettern, Carlos«, sagte er. »Da sind Sie halbwegs sicher. Wenn gleich der Tanz beginnt, kann ich Sie nicht mehr schützen.«

»Ich bin dort, wo Norina ist«, sagte Gebbhardt ruhig. Bandeira tippte sich an die Stirn.

»Sie Spinner! Das ist doch nicht Ihre Revolution. Es ist ein Jammer, daß ich Sie so gut leiden kann. Aber wie Sie wollen.« Er sah zu Norina hinüber. Sie hatte sich ebenfalls bewaffnet, hatte einen Stahlhelm über ihre schwarzen Locken gestülpt und sah fremd, merkwürdig unerreichbar und unweiblich aus. Nur ihre Brüste, die sich durch den Blusenstoff drückten, ließen die Erinnerung an ihre unvergleichliche Schönheit zu. »Was ich jetzt sage, Carlos, ist Blödsinn, trotzdem sag ich es: Passen Sie auf Norina auf. Sie wird mutiger als ein Mann sein. Mit diesen ›Bräuten der Revolution‹ können Sie ganze Landstriche anzünden, so glühen sie. Wenn sie zu mutig wird, geben Sie ihr einen Kinnhaken und tragen sie weg.«

»Wo werden Sie sein, Hauptmann?«

»Ich suche Piraporte. Er ist hier in der Nähe, ich spüre es. Das Kommando übernimmt sowieso Dr. Santaluz. Ich bin hier, um für Ordnung zu sorgen.«

»Mit anderen Worten: Sie liquidieren. Sie betrachten Mord als legales Kampfmittel.«

Bandeira sah Gebbhardt stumm an, dann hob er die Schultern und lächelte schwach. »Es hat keinen Sinn, mit Ihnen zu diskutieren«, sagte er. »Wir leben hier in einer Welt, in der es nur eines gibt: Fressen oder gefressen werden. Ich will bei den Fressern sein, verstehen Sie?«

»Sehr gut.« Gebbhardt erhob sich.

Norina war hinüber zu Dr. Santaluz gegangen. Von der Sperre her klangen laute Rufe. Paulo Alegres gewaltige Stimme, durch ein Megaphon verstärkt, brüllte über die Schneise. »Nicht schießen! Es sind die Kameraden vom Basislager! Helft ihnen, über die Mauern zu klettern. Willkommen, Freunde! Freiheit für Brasilien!«

»Freiheit für Brasilien!« antwortete ein Chor aus vielen Stimmen jenseits der Sperre. Gebbhardt hob eine Maschinenpistole vom Boden. Bandeira grinste schief.

»Es kann Sie den Kopf kosten, Carlos, wenn man uns doch überrollen sollte. Ist die Liebe stärker als der moralische Grundsatz, nie gewalttätig zu sein?«

»Ich nehme an, daß die Fallschirmjäger nicht nach meinem Paß fragen, ehe sie schießen.«

»Da haben Sie recht.« Bandeira ging zu seinem Jeep. »Ich wollte es Ihnen nicht so ins Gesicht sagen. Gut, daß Sie es von selbst erkennen. Wenn Sie sich jetzt ein weißes Tuch um den Bauch wickeln und nach Ceres zurückfahren, nimmt Ihnen das keiner übel.«

»Hauen Sie ab zu Ihrem Piraporte!« sagte Gebbhardt grob. »Ihre Revolution wird am vielen Reden zugrunde gehen.«

Sie kamen mit Autos und auf Rädern, mit Bauwagen und Lastenschleppern. Dreihundert Männer und Frauen – singend, fahnenschwingend, johlend und in einer Stimmung, als wären sie alle betrunken. Sie hatten die Fahrzeuge mit Blumenketten und bunten Bändern geschmückt. Es sah aus, als zögen sie zum Karneval und nicht zum großen Sterben.

Die ganze Kantine rollte an – die Freiluftbar und der Omnibus mit dem Einkaufsbazar. Auf einem offenen Lastwagen kreischten und tanzten die Huren. Die Bordell-Omnibusse hatte man im Hauptlager zurückgelassen, aber die Mädchen waren mitgekommen. Auch bei der Revolution braucht man Dirnen. Die einen verbluten, die anderen zucken zwischen den Weiberschenkeln. Jedem das, was ihm das Schicksal gönnt.

Paulo Alegre, der in der gläsernen Kanzel eines großen Krans stand, sah sie zuerst. Man konnte sie nicht übersehen. Sie hockte auf dem Kühler eines Lastwagens und schwang eine Fahne. Alja! Sie trug zerrissene Männerhosen, eine Jacke aus verblichenem blauem Leinen und hatte zwei Munitionsgurte links und rechts über die Schultern gehängt, die sich zwischen ihren Brüsten kreuzten. Ihr dunkelbraunes Gesicht glänzte, sie sang mit den anderen, und Alegre starrte von seinem ›Kommandostand‹ auf sie hinunter. Er dachte an seine Liebe, an all die Pläne, die sie miteinander gemacht hatten, an die Monate viehischer Arbeit an der Straße, um die Cruzeiros für ein kleines Haus und ein Stückchen Land zu verdienen. Er dachte an den reichen Senhor Bolo, der Alja in sein Bett gezwungen hatte, und an den feisten Luis Jesus Areras, dessen Kopf an der Wand zerplatzt war.

»Alja«, sagte Paulo leise und faltete die riesigen Hände. »Du mußt weiterleben. Wir wollen alles vergessen. Aber erst müssen die Krümel vom Tisch gefegt werden. Noch heute abend sieht unsere Welt anders aus.«

Er kletterte aus dem Kran und half mit, die Ankömmlinge über die riesige Sperre zu zerren. Nun war die Mauer vierfach, denn vor dem Wall aus Ästen und Dornen standen jetzt die Baufahrzeuge des Basislagers ineinander verkeilt. Unter dem Gejohle der Huren stürzte man den Basaromnibus um. Kisten mit Verpflegung, der gesamte Bestand der Kantine, wurden über die Sperren gehoben.

»Sie können uns nun auch nicht mehr aushungern«, sagte Dr. Santaluz zufrieden zu Gebbhardt. »Und wenn Sie Bomber einsetzen und schwere Artillerie … wir halten uns so lange, bis im ganzen Land das Feuer der Freiheit brennt. Es gibt kein Halten mehr. Brasilien ist erwacht.«

»Komm nach hinten«, sagte Paulo, als er Alja über die Sperren gezogen und mit geschlossenen Augen geküßt hatte. Sein ganzer riesiger Körper zitterte. Auch er hatte diese Lippen geküßt, durchfuhr es ihn heiß. Auch er hat diesen Körper im Arm gehalten, ein Körper, der nur mir gehört … Senhor Bolo, ich werde für diese Nacht mit Alja bei Ihnen kassieren. »Über den Fluß«, sagte er heiser und zog sie mit sich fort. »In den Wald hinein. Warte, bis ich dich abhole.«

»Und wo bist du?« fragte sie.

»Ich bleibe auf den Barrikaden.«

Alja sah ihn groß an, riß dann die Fahne von dem Knüppel, um den sie das Tuch geknotet hatte und wickelte sie um ihren Leib. Alegre verstand sie, aber er schüttelte wild den Kopf.

»Doch!« sagte sie laut. »Wir haben versprochen, alles gemeinsam zu tun.«

Alles, dachte Paulo, wirklich alles? Dann komm mit, Alja, wenn ich Senhor Bolo den Kopf von den Schultern schraube.

Er legte den Arm um sie, küßte ihre Stirn und ging mit ihr zurück zu seinem Befehlsstand, in die Glaskanzel des großen Krans.

Die Soldaten ließen sich Zeit. Beobachter meldeten Dr. Santaluz über Funk, daß die Kolonne mit der Infanterie zehn Kilometer vor dem Basislager auf der neuen Straße angehalten hatte und zunächst Essen empfing. Zweimal kreiste ein Aufklärer hoch über dem Wald und fotografierte die Sperren. Es war sinnlos, sie zu beschießen. Sie flogen zu hoch.

Santaluz beobachtete die graulackierten Maschinen und zog nervös an seiner Zigarette. »Sie untersuchen, ob sie die Fallschirmjäger hier absetzen können«, sagte er zu Gebbhardt. »Sie können es nicht. So gezielt kann keiner springen. Die Mehrzahl wird in den Bäumen hängenbleiben, und die in den Fluß fallen, haben gegen die Piranhas keine Chance. Unsere Festung ist uneinnehmbar. Niemand kommt an uns heran.«

»Aber niemand von Ihnen kommt auch heraus«, sagte Gebbhardt. »Das ist die Kehrseite. Was hören Sie von den anderen Gruppen im Land? Marschiert die Revolution?«

»Sie warten«, erwiderte Santaluz.

»Worauf?«

»Auf unser Signal.«

»Freiheit auf Knopfdruck? So, wie man einen Lichtschalter dreht?«

Gebbhardt starrte Santaluz an. Eine plötzliche Ahnung überfiel ihn und lähmte fast seinen Atem. Mein Gott, dachte er bestürzt, wenn das wahr ist! Der große Idealist, der plötzlich in der Stunde des Triumphes zum einsamsten Menschen dieser Welt wird. »Sagen Sie mir die Wahrheit, Doktor.« Gebbhardts Stimme klang rauh. »Sie stehen allein, nicht wahr? Die anderen Gruppen tauchen unter. Sie rufen bravo, aber sie unternehmen nichts. Der große Volksaufstand findet nicht statt.«

Santaluz senkte den Kopf. In dieser Minute war er ein Mensch, der die Welt nicht mehr verstand. Man hatte ihn allein gelassen. Warum, das begriff er einfach nicht. Wie kann man Feigheit begreifen, wenn man selbst ein Fanatiker ist?

»Was nun?« fragte Gebbhardt leise.

»Es gibt kein Zurück, Carlos.«

»Ergeben Sie sich dem Militär, bevor das Abschlachten begonnen hat. Das ist der einzige Weg.«

»Für Sie, Carlos. Dieses Land, diese Menschen sind anders als Ihre Europäer. Sie brauchen ein Fanal, einen Märtyrer, dann hält sie keiner mehr auf.«

»Und das wollen Sie sein, Doktor? Sind das die Menschen, die Sie jetzt allein lassen, wert?«

»Brasilien ist es wert.« Santaluz warf den Kopf zurück. Die Minute der Schwäche war vorbei. »Carlos, dieses herrliche Land hat eine Zukunft. Es müssen nur die richtigen Männer kommen … und man muß Zeit haben. Viel Zeit!«

Er wandte sich ab und las die neuen Meldungen durch, die von den Funkern auf den Tisch geworfen wurden – schmutzige Zettel mit rasch hingekritzelten Zeilen.

São Paulo meldete sich nicht. Manaus schwieg. Zu den Gruppen II, VI, XI und XXII war keine Verbindung zu bekommen. Dorias Festos in Brasilia verurteilte die gegenwärtige Aktion.

Santaluz zerknüllte die Zettel. Dorias Festos, der Kontaktmann in der Regierung, vorgesehen als neuer Ministerpräsident.

Er verurteilte … Die Welt war plötzlich klein geworden. So klein wie eine neue Straße durch den Urwald. Von Ceres bis zum Rio Araguaia. Eine halbfertige Straße, eine breite Schneise durch die grüne Hölle. Halbfertig wie alles … nur die Sehnsucht war vollendet. Aber Sehnsucht ist keine reale Kraft, sie zersprengt keine Fesseln.

»Wir werden kämpfen!« erklärte Santaluz entschlossen. »Man wird uns auch keine andere Wahl lassen.«

Hauptmann Bandeira hatte den breiten, trägen Fluß auf der Pontonbrücke überquert und war bis zur Spitze der Schlagkolonne gekommen. Jetzt lag dieser vorderste Posten verlassen da, ein unübersichtliches Gebirge aus gefällten Stämmen, Asthaufen, Büschen, Riesenfarnen, gekappten Lianen, Schlingpflanzen und weichem, von eines Menschen Fuß noch nie betretenem Waldboden. Urland … aus der Unberührtheit von Jahrtausenden ins Licht gerissen.

Bandeira hockte in seinem Jeep, die Maschinenpistole schußbereit auf den Knien, und beobachtete die in den Wald geschlagene Bresche. Ein Platz mit tausend Verstecken. Ein Mensch war in dieser grandiosen Wildnis wie ein Käfer. Wenn Piraporte sich hier verborgen hielt, um das Ende der Kämpfe abzuwarten und dann – er glaubte ja an einen Sieg der Regierung – als der große Rächer aufzutreten, gab es keinen besseren Schutz als dieses grüne, verfilzte Labyrinth.

»Komm raus!« knurrte Bandeira vor sich hin und behielt den Finger am Abzug der MP. »Du siehst mich doch. Ich bin allein. Abraham Piraporte … wir hatten uns bisher noch nie zu Gesicht bekommen, wir hatten nur voneinander gehört … Daß wir uns endlich hier in diesem Scheißwald treffen, ist etwas Schicksalhaftes. Ich hätte dich töten sollen, gleich als du hier ankamst. Es war ein Fehler, dich erst zu beobachten, wie und mit wem du hier gearbeitet hast. Aber nun sind die Würfel gefallen. Komm also endlich raus!«

Plötzlich erstarrte er. Kein Schritt war zu hören gewesen, kein Knacken, nur die Vögel kreischten im Wald, aber das taten sie immer. Trotzdem war Piraporte plötzlich da, als könnte er fliegen.

Bandeira blieb steif sitzen, umklammerte seine Maschinenpistole und freute sich, daß er nur den Finger zu krümmen brauchte. Sein Nacken wurde hart wie ein Stück Holz, sein Herz begann langsamer zu schlagen, keineswegs schneller, wie man immer liest. Was wußten die Schreiberlinge schon, wie man reagiert, wenn der Tod hinter einem steht.

»Guten Tag, Hauptmann Bandeira«, hatte Piraporte gerade gesagt. Seine Stimme war höflich wie immer, glatt wie geölt. »Drehen Sie sich nicht um, ich würde es als Angriff betrachten. Ich stehe unmittelbar hinter Ihnen.«

Er blies Bandeira in den Nacken. Sein Atem strich über Bandeiras Hals und wirkte wie Eis. Das Gesicht des Hauptmanns war zu Stein geworden.

»Eins zu null für Sie, Piraporte«, sagte er rauh. »Nur gefällt mir nicht, daß Sie von hinten kommen. Das ist eines Offiziers unwürdig.«

»Haben Sie etwa immer den legalen Weg eingeschlagen? Ausgerechnet Sie, Dorias.«

»Doch.«

»Die Morde in Rio und Brasilia, in Ceres und an der Straße … das nennen Sie legal?«

»Wir haben immer unsere Visitenkarte hinterlassen. Es hieß nie: Unbekannte Täter. Jeder weiß, wer wir sind.«

»Die ›Todesschwadron‹. Die Henker für die sogenannte Gerechtigkeit. Der verlängerte Arm einer schlafenden Justiz.«

»Einer korrupten Justiz, Abraham.«

»Es bleibt Mord, Bandeira.«

»Das ist Ansichtssache. Auf keinen Fall haben wir jemals einen von hinten erschossen. Das finde ich so gemein an Ihnen, Piraporte.«

»Noch schieße ich nicht.« Bandeira konnte nicht sehen, daß die auf seinen Nacken gerichtete Waffe gesenkt wurde. Er ahnte es, obgleich er nichts hörte oder irgend etwas zu dieser Vermutung Anlaß gab. Um seinen zusammengekniffenen Mund lief ein leichtes Lächeln. Der Finger am Abzug der MP krümmte sich kaum merklich. Die Schrecksekunde wird mein Verbündeter sein, dachte er dabei. Jetzt müssen wir reden, reden … je mehr wir miteinander reden, um so länger wird es dauern, bis er merkt, daß ich schneller sein kann als er.

»Was wollen Sie, Piraporte?« fragte er.

»Ich möchte wissen, ob Sie wirklich so ein großer Idiot sind, wie Sie scheinen, oder ob Ihr Idealismus Ihnen den Blick für Tatsachen völlig getrübt hat. Ihre Revolution ist eine große Scheiße.«

»Sie können mich nicht aus der Reserve locken.« Bandeira grinste. »Piraporte, in einer Stunde flammt an vierunddreißig Stellen zugleich die Revolution auf. Der Tag ist gekommen!«

»Soll ich Ihnen die Namen Ihrer vierunddreißig Stützpunkte nennen?« Piraportes Stimme hatte einen beinahe mitleidigen Klang.

Bandeira sog bestürzt die Luft durch die Zähne. »Das glaube ich Ihnen nicht.«

»Sie wollten eine Revolution ohne das Militär machen, nur allein mit dem Volk, mit dem armseligen, hungernden, ausgebeuteten, rechtlosen Volk. So ein Irrsinn, Bandeira. Man baut einen Staat nicht mit Hungerbäuchen, sondern mit Bajonetten. Das war Ihr erster grundlegender Fehler.«

»Castro hatte auch nur ein Volk«, erwiderte Bandeira hart.

»Sind Sie ein Fidel Castro? Nie, Dorias. Wollen Sie Santaluz mit Che Guevara vergleichen? Beide waren Ärzte, aber beide trennen Welten voneinander. Guevara war ein akademischer Landsknecht – Santaluz ist ein revolutionärer Schöngeist. Da ist das Scheitern schon vorprogrammiert. Und was fand Castro in Kuba vor? Einen von innen her faulenden Misthaufen. Eine Herrschaft des Unterleibs. Wollen Sie damit unser Brasilien vergleichen?«

»Hier liegen die Probleme anders.« Bandeira krümmte den Finger am Abzug, Millimeter um Millimeter. Rede, du Scheißkerl, dachte er, rede nur zu. Du hast nur einen Schuß in der Hand, ich aber einen ganzen Kugelregen. Ich kann dich nicht verfehlen, Rede nur, rede. »Die soziale Ungerechtigkeit, die viehischen Indianermorde, die Herrschaft der Großgrundbesitzer, die Hände, die sich gegenseitig waschen, die Ausbeutung des Landes durch ein paar Reiche wie Hermano Santos Bolo. Jetzt endlich steht das Volk auf, Abraham.«

»Es scheißt euch was.« Piraporte sagte es nüchtern und grob. »Das Militär ist regierungstreu, das allein zählt. Sie und Santaluz und diese mit Freiheitsideen besoffen gemachten Straßenarbeiter, ihr alle steht allein, Dorias. Alle anderen Gruppen sind bereits verhaftet oder vernichtet. Das Land ist völlig ruhig bis auf diesen Urwaldfleck. Und auf den blickt niemand mehr, keiner auf der Welt, Bandeira. Eine Straße zum Rio Araguaia … Millionen können das noch nicht mal aussprechen. Dort haben Arbeiter gemeutert? Was soll's? Warum steht das überhaupt in der Zeitung? Muß man jeden Furz veröffentlichen? Da ist es schon interessanter, ob Liz Taylor einen neuen Mann heiratet.« Piraporte beugte sich vor. Bandeira spürte wieder diesen eisigen Atem in seinem Nacken. »Darum kommt es auch nicht in die Zeitung, Dorias. Was hier geschehen wird, erfährt keiner. Sie und Ihre Anhänger sterben anonym, das ist das Schrecklichste für einen Patrioten, nicht wahr?«

»Noch schrecklicher ist die Dummheit«, sagte Bandeira dumpf. »Man hat uns verraten!«

»So ist es.«

»Man kann keinen Vulkan mit Blut ersticken.«

»Sie sind kein Vulkan, Bandeira. Sie sind nur ein trauriges Feuerchen, das wir austreten werden. Ein Feuer ohne Rauch.«

»Ein Feuer. Wie recht Sie haben, Abraham.«

Bandeira wirbelte herum. Gleichzeitig schoß er. Die MP tanzte in seinen Händen, er ließ sich auf den Rücken fallen und hielt die Waffe einfach gegen seinen Bauch gepreßt. Er sah, wie Piraporte mit einem geradezu katzengleichen Satz zur Seite sprang, die Pistole hob und abdrückte. Er sah, wie die zweite Garbe aus der Maschinenpistole Piraporte traf und wegschleuderte – ein zuckendes Bündel, wie von ungeheuren Windstößen weggefegt. Gleichzeitig nahm er staunend wahr, wie es in seiner Brust zu brennen begann, wie der Wald um ihn herum rot wurde, als läge er in herrlichem Abendsonnenschein.

Nur Sekunden waren es. Dann fiel die Maschinenpistole aus Bandeiras Händen, und er streckte sich aus, so wohlig fast, als liege er in einem weichen Bett. Zu seinen Füßen hing Piraporte über dem Ersatzreifen des Jeeps und blutete aus dem Mund. Was für ein beglückender Anblick, dachte Bandeira. Es lebe die Revolution! Ewiges Brasilien, werde glücklich. Dann versank die rote Sonne, und Dorias Bandeira starb mit einem unendlichen Glücksgefühl.